Persönlichkeitspsychologie WS 11/12 (Neyer ... - FSR Psychologie
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1 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
DAS EIGENSCHAFTSPARADIGMA<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Entwickelte sich unabhängig von Psychoanalyse und Behaviorismus aufgrund naiver<br />
Persönlichkeitstheorie bzw. Alltagspsychologie. --> Präzisiert<br />
alltagspsychologische Eigenschaftsbegriffe und nutzt diese für die Diagnostik.<br />
Genügt empirischen Ansprüchen<br />
Von zentraler Bedeutung für die <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> (hat lange dominiert und<br />
wurde oft ergänzt)<br />
Nach William Stern und Gordon P. Allport<br />
ALLGEMEINES MENSCHENBILD<br />
Füllt Black Box mit Eigenschaften, die zwischen komplexen Situationen und komplexem<br />
Verhalten vermitteln: D.h. die funktionale Abhängigkeit zwischen Situation und Reaktion wird<br />
durch Eigenschaften (nicht Lerngeschichte) erklärt bzw. Eigenschaften erzeugen stabile<br />
Beziehungen zwischen Situationen und Reaktionen bei einer Person.<br />
Situation Eigenschaften Reaktion<br />
Eigenschaften sind nicht beobachtbare, aber aus Verhaltensregelmäßigkeiten entstehende,<br />
mittelfristig stabile (aber auch langfristig veränderbare) Verhaltensdispositionen.<br />
PERSÖNLICHKEITSBILD<br />
Persönlichkeit ist das System aller individualtypischen Eigenschaften. (Ziel insgesamt ist es<br />
individuelle Besonderheiten mit Eigenschaften zu beschreiben.)<br />
Zwei Ansätze:<br />
Individuumszentrierter Ansatz:<br />
Eigenschaften eines Individuums werden<br />
unabhängig von Eigenschaften anderer<br />
Individuen beschrieben (z.B.<br />
Körpergröße, Sehstärke)<br />
Differentieller Ansatz:<br />
Eigenschaftsdifferenzen innerhalb einer<br />
Population: Individuelle<br />
Eigenschaften relativ zu<br />
Eigenschaften anderer (z.B. IQ)<br />
INDIVIDUUMSZENTRIERTER ANSATZ:<br />
<br />
<br />
Eigenschaften müssen operationalisiert werden (Skala, Häufigkeit, Tests)<br />
Eigenschaften müssen auf Stabilität über kürzere Zeiträume nachgewiesen werden<br />
(Tagebuchmethodik)<br />
Bsp. nach Simonton (1998): Rekonstruktion der körperlichen und mentale Gesundheit und der<br />
politischen & persönlichen Belastung von König George III: Ergebnis der historiometrischen<br />
Analyse ergab Belastungsveränderungen ca. 9 Monate vor Gesundheitsveränderungen. -><br />
Unklar, ob zutreffend für alle/ Politiker oder nur ihn -> Studie macht keine Aussage über die<br />
Persönlichkeit des Königs!<br />
Rein individuumszentrierte Eigenschaftsbeschreibungen sagen nicht über die<br />
Persönlichkeit aus!
2 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Bsp. 2 nach Asendorpf und Wilkes (1999): Konfliktstärke mit Bezugspersonen: zeigt:<br />
Der Individuumszentrierte Ansatz kann Eigenschaften und ansatzweise<br />
individuelle Organisation beschreiben, aber weder<br />
Persönlichkeitseigenschaften noch Persönlichkeit. Dazu muss man mit einer<br />
Referenzpopulation vergleichen (Altersangehörige des gleichen Landes).<br />
Aussagen über Persönlichkeitseigenschaften sind von der Referenzpopulation<br />
abhängig!<br />
(Persönlichkeitsaussagen können sich aber ändern, wenn man mit anderer Referenzpopulation<br />
vergleicht: z.B. Skinhead mit Deutschen vs. mit anderen Skinheads verglichen)<br />
DIFFERENTIELLER ANSATZ:<br />
Unterschiede zwischen Personen einer bestimmten Population in ihren<br />
Persönlichkeitsmerkmalen.<br />
Vier differentielle Ansätze nach Stern:<br />
Variablenorientiert:<br />
Variationsforschung: Variation<br />
eines Merkmales innerhalb der<br />
Population (Bsp. Intelligenzvariation<br />
innerhalb der Population)<br />
Korrelationsforschung:<br />
Kovariation zweier Merkmale<br />
innerhalb der Population (Bsp.<br />
Zusammenhang zwischen Schönheit<br />
und Intelligenz innerhalb der<br />
Population)<br />
Personenorientierter Ansatz:<br />
Psychographie: Testen einer Person in<br />
unterschiedlichen Merkmalen ergibt<br />
Persönlichkeitsprofil (Bsp. Untersuchung<br />
der spezifischen Intelligenz einer Person +<br />
Erstellung eines Intelligenzprofils)<br />
Komparationsforschung: Vergleich der<br />
Persönlichkeitsprofile mehrerer Individuen<br />
(Bsp. Vergleich der Intelligenzstruktur<br />
(nicht des Intelligenzniveaus) -> kann in 3<br />
Typen klassifiziert werden:<br />
Merkmal 1 < Merkmal 2<br />
Merkmal 1 > Merkmal 2<br />
Merkmal 1 = Merkmal 2
3 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Persönlichkeit = Profil in allen Merkmalen, die sich innerhalb der<br />
Referenzpopulation unterscheiden. Veranschaulichung durch<br />
Persönlichkeitsprofil.<br />
Im personenorientierten Ansatz lassen sich Personen nach<br />
Persönlichkeitstypen klassifizieren. Ein Typ besteht aus Personen mit<br />
ähnlichem Persönlichkeitsprofil.<br />
Ansätze sind nicht gegensätzlich! Sinnvolle Strategie: Erst<br />
individuumszentrierte Einzelfallmessung und dann differentielle Messung!<br />
METHODIK<br />
INDIVIDUUMSZENTRIERTE DATENERHEBUNG:<br />
Merkmale einer Person werden unabhängig von ihrer Ausprägung bei anderen Personen<br />
erhoben:<br />
<br />
<br />
„Weiche“ Methoden: keine Messungen im empirischen Sinne (Bsp. Freie Beschreibungen,<br />
Biographien…)<br />
„Harte“ Methoden: Messung von Merkmalen, sodass Merkmalen Merkmalswerte<br />
zugeordnet werden -> Unterschiede zwischen Merkmalswerten entsprechen dann<br />
Unterschieden zwischen den Zahlen<br />
o Beispiele: Role Construct Repertory Test nach Kelly (1955)<br />
o Oder Q-Sort nach Stephenson (1953)<br />
Q-Sort nach Stephenson (1953):<br />
Sortierung von Eigenschaften einer Person nach ihrer Salienz (Typischkeit) für diese<br />
Person ergibt Q-Sort-Profil:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Entstehen eines Eigenschaftsprofiles durch individuumszentrierte Messung von<br />
Merkmalen (nicht komplett individuumszentriert, da Beurteiler automatisch zu<br />
Beurteilenden mit Anderen vergleicht)<br />
Urteiler beurteilt in Kategorien wie charakteristisch das Merkmal ist. Zu beurteilende<br />
Eigenschaften werden vorgegeben. Möglich sind Selbst-, Bekannten-,<br />
Expertenbeurteilungen.<br />
Q-Sort ist damit eigentlich eine Mischung von individuumszentrierter und<br />
differentieller Methodik! (Q-Sorts sind immer leicht differentiell, da in eine<br />
individuumszentrierte Messung die auf Beurteilungen basiert immer differentielle<br />
Überlegungen des Beurteilers mit einfließen.)<br />
Individuumszentrierte strenge Messungen erfordern absolute Messungen (z.B.<br />
Körpergröße, Sehstärke…)<br />
DIFFERENTIELLE DATENERHEBUNG:<br />
Erhebung von Merkmalen/Dispositionen im Vergleich zu anderen (Peers):<br />
Drei Hauptmethoden:<br />
<br />
<br />
<br />
Persönlichkeitsskalen<br />
Beurteilung in Situations-(Reaktions-)Inventaren<br />
Verhaltensbeobachtung
4 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Persönlichkeitsskalen:<br />
Jede Skala misst eine Persönlichkeitseigenschaft, die aus verschiedenen Items aufgebaut<br />
ist. Die Items werden auf einer Antwortskala beurteilt. Es gibt mehrere Items, um durch<br />
Mittelung Messfehler reduzieren zu können.<br />
Bsp. NEO-FFI nach Borkenau und Ostenford (1993): fünf Eigenschaftsdimensionen werden mit je<br />
<strong>12</strong> Items (Eigenschaftsbeschreibungen) gemessen.<br />
Antwortskalen werden Zahlen zugeordnet, diese werden zu Skalenwert gemittelt, der<br />
Eigenschaft beschreibt. Aus den Skalenwerten einer Person in verschiedenen Bereichen<br />
ergibt sich das Persönlichkeitsprofil.<br />
Fehlerquellen werden durch mehrmaliges Erfragen einer Eigenschaft verringert<br />
(Mittelung der Items). Items müssen innerhalb der Stichprobe einer Population kovariieren.<br />
Beurteilung durch Person selbst (Selbstbeurteilung) oder durch andere (Fremdbeurteilung).<br />
Aber: Problem von Persönlichkeitsskalen: Unkontrollierbare, nicht vorgegebene<br />
Situationen, Situationen werden nicht systematisch variiert-> Eigenschaftsbeurteilung<br />
fallen stark unterschiedlich aus, da Zuordnung der Verhaltenstendenz zu Situationen den<br />
Urteilern überlassen wird.<br />
Situations-(Reaktions-)Inventare:<br />
Systematische Variation von Situation und Reaktion + Mittelung aller Urteile pro Person<br />
Bsp. Fear Survey Schedule nach Wolpe & Lang (1964):<br />
Rot und Blau haben das gleiche Profilniveau<br />
Rot und Gelb haben die gleiche Profilgestalt<br />
Messbar sind dabei:<br />
<br />
<br />
<br />
Allgemeine Eigenschaften (z.B. Ängstlichkeit) -> mittlere Niveau<br />
Individuelles Situationsprofil<br />
Individuelles Reaktionsprofil (Mittelwert der Situationen pro Reaktion)<br />
Man kann dann zwei Personen anhang ihres Profilniveaus bzw. ihrer Profilgestalt vergleichen.<br />
Trotzdem verzerrt: Beurteilender will zu Beurteilenden in gutem Licht erscheinen lassen,<br />
Erinnerungs- und/oder Wahrnehmungsverzerrungen des Verhaltens (sind nur<br />
hypothetische Situationen))<br />
Verhaltensbeobachtung:
5 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Direkte Verhaltensbeobachtung (Video oder Beobachter) in realen Situationen.<br />
Bsp.: Bearbeitung von Leistungstests, soziale oder emotionale inszenierte Szenen im Labor/<br />
Beobachtung im Alltag<br />
Prüfung der Stabilität hierbei ist besonders wichtig<br />
Begrenzt durch:<br />
<br />
<br />
<br />
Nur beobachtbares Verhalten, kein subjektives Erleben<br />
Beobachter muss ständig anwesend sein -> sehr aufwändig<br />
Eingriff in Privatsphäre bei Beobachtung intimen Verhaltens<br />
Verhaltensbeobachtung umgeht Probleme der Persönlichkeitsbeurteilung, kann aber nur<br />
bestimmte Persönlichkeitsbereiche erfassen.<br />
Beurteilung des Erlebens: kann z.B. direkt nach der Situation oder mit Hilfe von<br />
videounterstütztem Erinnern erfolgen, bei dem die Person ihr Erleben in der Situation anhand<br />
einer Videoaufnahme ihres Verhaltens in der Situation einschätzt.<br />
Beurteilungsfehler: Gelten auch für globale Verhaltensbeobachtungen, Alternative: Kodierung<br />
spezifischer Verhaltensweisen.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Mangelhaftes Verständnis der Items/Antwortskala/Person<br />
Selektive Kenntnis der relevanten Situationen<br />
Erinnerungsverzerrungen<br />
Tendenz zu sozial erwünschten Antworten (Selbst- und Fremdtäuschung)<br />
Tendenz zu (nicht) extremen Urteilen<br />
Halo-Effekte (Bsp. Schönheit und IQ)<br />
Schlechte Beobachtbarkeit der Eigenschaft<br />
(Grundbegriffe der Methodik…)<br />
Anwendung von Korrelationen:<br />
<br />
<br />
<br />
Variablenorientierter Ansatz: Charakterisierung von Stabilität von Populationen<br />
durch Prüfung der mittelfristigen Stabilität über Kovariation von<br />
Merkmalen/Merkmalsprofilen zu verschiedenen Zeitpunkten. -><br />
Merkmalsprofilvergleich ist ein empirischer Nachweis über Zeitstabilität der<br />
Persönlichkeit<br />
Personenorientierter Ansatz: Stabilität einzelner Personen-Profile durch<br />
zweimalige Messung einer Person: Merkmal -> Persönlichkeitseigenschaft, wenn Profil<br />
stabil bleibt.<br />
Qualität der einzelnen Items eines Skala: Korrelation zwischen diesem Item und dem<br />
Mittel der restlichen Items ist die so genannte Trennschärfe der Items (unter 0.2<br />
schlecht): Trennschärfe ist ein Maß der Qualität einer Skala
6 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Reliabilität von Eigenschaftsmessungen (Zuverlässigkeit, Messgenauigkeit der Skala)<br />
Reliabilität= wahre/beobachtete Varianz<br />
Wird bestimmt durch die Korrelation zwischen<br />
zwei parallelen Messungen mit gleich großem<br />
Fehler oder Schätzung einer solchen<br />
Korrelation<br />
Drei mögliche Messverfahren:<br />
Cronbach-Alpha: schätzt die interne Konsistenz des Gesamttests aufgrund der Korrelation<br />
zwischen k und parallelen testteilen mit Hilfe der Spearman-Brown-Formel.<br />
<br />
<br />
Trennschärfen: Qualität von Items, Beurteilern und Variablen<br />
Reliabilitäten: Qualität von Skalen, mittleres Urteil aller Beurteiler, mittleres<br />
Gütemaß aller Variablen<br />
Validität von Eigenschaftsmessungen:<br />
Validität = Gültigkeit, d.h. es wird gemessen, was gemessen werden soll. Damit begrenzt durch<br />
die Reliabilität.<br />
Die erfassten Inhalte<br />
repräsentieren ganzes Konstrukt.<br />
Korrelation mit<br />
Kriterium, das bereits gut<br />
validiert ist, sollte hoch<br />
sein.<br />
Korrelation mit<br />
anderen schlechten<br />
oder niedrig<br />
validierten Variablen<br />
sollte niedrig sein.<br />
Validität einer Variable wird durch die<br />
Korrelation mit Außenkriterium<br />
bestimmt: Je höher die Korrelation, desto<br />
besser die Validität!
7 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Gefahr eines Zirkelschlusses bei Kriteriumsvalidierung:<br />
Test A ist valide, weil A mit B korreliert, B mit C und C<br />
wiederum mit A. Alternative, bessere Sichtweise ist das<br />
nomologische Netzwerk:<br />
Aggregationsprinzip:<br />
= Mittelungsprinzip: Die Spearman-Brown-Formel beschreibt ganz allgemein das<br />
Aggregationsprinzip, nach dem die Reliabilität und deshalb auch die Validität von<br />
Eigenschaftsmessungen durch Aggregation/Mittelung über viele Messungen erhöht<br />
werden kann.<br />
Aggregiert werden kann z.B. über parallele Items eines Tests, Situationen, Reaktionen,<br />
Beobachter, Zeitpunkte.<br />
Das Aggregationsprinzip hat seine Grenzen in der Voraussetzung paralleler Messungen und<br />
der Interpretierbarkeit der aggregierten Messungen.<br />
(EMPRIRISCHE) BEWÄHRUNG DES EIGENSCHAFTSPARADIGMAS<br />
Beurteilerübereinstimmung:<br />
<br />
<br />
<br />
r=.60-.80 -> 1-2 Beurteiler reichen bei Verhaltensbeobachtung aus<br />
bei Beurteilungen in Persönlichkeitsskalen, Q-Sorts selten über .50, da Beurteilungen<br />
zwischen Selbst/Eltern/Partner/Freunden sich auf verschiedene Situationen beziehen.<br />
-> Diskrepanz kann nicht verhindert werden, Mittelung verschiedener Urteile<br />
notwendig<br />
Interne Konsistenz:<br />
Bei Eliminierung von ungeeigneten Items: .75-.85<br />
Itemselektion durch Trennschärfenmessung: danach Kreuzvalidität mit anderer<br />
Stichprobe, da sonst zufällig hohe Trennschärfen möglich.<br />
Probleme:<br />
o Unzureichende Konstrukterklärung (Items messen falsches Konstrukt)<br />
o Erfahrungsferne des Konstrukts (VPN ohne Wissen)<br />
o Zu breites Konstrukt (Items gut messbar, aber wenig Korrelation untereinander)<br />
Validität:<br />
Begrenzt durch Beurteilerübereinstimmung -> weniger, = .50<br />
Auch bei Verhaltensbeobachtung so wenig, da Eigenschaften nur in wenigen Situationen<br />
beobachtet werden -> trotzdem noch ausreichend für Forschung und Praxis!
8 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Zeitliche Stabilität:<br />
<br />
Retestreliabilitäten bei .75-.85 -> aber nur Erfassung der Urteils- nicht der<br />
Verhaltensstabilität!<br />
Transsituative Konsistenz der Persönlichkeit:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
= Korrelation von Verhaltensdispositionen zwischen verschiedenen Situationen<br />
(Menschen verhalten sich nicht immer gleich)<br />
Beispielstudie von Hartshorne & may (1928): Ehrlichkeit ist nicht ausreichend konsistent<br />
Es ergab sich nur eine mittlere Korrelation zwischen den Situationen von .19 und damit<br />
nach der Spearman-Brown-Formel eine interne Konsistenz der Messungen von .65.<br />
Mischel postulierte 1968 die „magische Grenze“ von .30 für die transsituative<br />
Konsistenz von Eigenschaftsmessungen und zog daraus den Schluss, dass es keine<br />
Eigenschaften gäbe (es handle sich nur um Fiktionen der Alltagspsychologie)<br />
Konsistenzdebatte folgte.<br />
Aber eigentlich ist eine hohe transsituative Konsistenz nicht notwendig für den<br />
Eigenschaftsbegriff (Mischels Kritik war ein Missverständnis!) -> Notwendig ist<br />
nur eine hohe zeitliche Stabilität: Unterschiede in stabilen Situationsprofilen sind<br />
mit dem Eigenschaftsbegriff vereinbar.<br />
Lösung des Problems der mangelnden transsituativen Konsistenz:<br />
o Unterscheidungen von Situationsprofil-Typen, z.B. aggressiver gegenüber<br />
Kindern als gegenüber Erwachsenen<br />
o Differenzierung einer Disposition in untergeordnete situationsspezifischere<br />
Dispositionen z.B. „aggressiv gegenüber Kindern/Erwachsenen“<br />
Reaktionskohärenz:<br />
<br />
<br />
<br />
= Korrelation zwischen eigenschaftstypischen Reaktionen (oft niedrig)<br />
Reaktions-Inkohärenzen lassen sich durch Bildung von Profiltypen oder durch<br />
reaktionsspezifischere Dispositionen auflösen (analog zu transsituativen<br />
Inkonsistenzen)<br />
(aber auch gute Ergebnisse bei Studien, bzw. Vorhersagen zu Reaktionshierarchien<br />
können getroffen werden)<br />
BEWERTUNG<br />
Präzisierung des alltagspsychologischen Begriffes der Persönlichkeitseigenschaft +<br />
Ermöglichung der Messung durch empirischen Zugang und operationale Messungen -> Lösung<br />
der Alltagspsychologie<br />
Begriff der Eigenschaft ist nicht zirkulär, wenn klar zwischen beobachtbarem Verhalten und<br />
daraus geschlossener Disposition unterschieden wird.<br />
Rein individuumszentrierte Betrachtung nicht möglich –> Vergleich mit Referenzpopulation<br />
notwendig -> Aussagen sind Populationsabhängig!
9 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Probleme des Eigenschaftsparadigmas:<br />
<br />
<br />
<br />
Keine Aussagen über Prozesse der Situationsverarbeitung („Black Box“) -> enthält<br />
Eigenschaften, keine Prozesse<br />
Eigenschaftsbegriff ist statisch, keine Aussagen über<br />
Persönlichkeitsveränderungen<br />
Keine Begründung, warum Menschen sich unterscheiden (Anlehnung an<br />
Alltagspsychologie oder Entnahme aus diagnostischen Anforderungen)<br />
DAS NEUROWISSENSCHAFTLICHE PARADIGMA<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Hatte vor allem die letzten zwanzig Jahre zusammen mit der Entwicklung der kognitiven<br />
Neurowissenschaften Zulauf.<br />
Zugang zu <strong>Psychologie</strong> durch Hirnaktivität und Hirnprozessen.<br />
Neuronale Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts.<br />
Untersucht individuelle Unterschiede im Nervensystem und die Zusammenhänge zu<br />
Persönlichkeit<br />
ALLGEMEINES MENSCHENBILD<br />
Untersuchung der Informationsverarbeitung im Nervensystem & anderen damit in<br />
Wechselwirkung stehenden Systemen:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Motorisches (Muskeltonus, Bewegungen)<br />
Hormonelles (Psychoneuroendokrinologie)<br />
Herz-Kreislauf (kardiovaskuläre Psychophysiologie)<br />
Immunsystem (Psychoneuroimmunologie)<br />
Korrelieren die individuellen Persönlichkeitsunterschiede mit Systemeigenschaften?<br />
Hypothalamus-Hypophysen-<br />
Nebennieren-Achse<br />
Hypothalamus-Hypophysen-<br />
Gonaden-Achse
10 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Elementare,<br />
reflexartige<br />
Bewegungen<br />
Grenzen von Lokalisationsannahmen:<br />
Jedes Neuron ist mit jedem anderen Neuron (evtl. bis zu vier Neurone<br />
zwischengeschaltet) verbunden.<br />
Emotionen finden im ganzen Körper statt, nicht nur im limbischen System. Man denkt<br />
mit rechter und linker Gehirnhälfte.<br />
Komplexe psychische Funktionen: weiträumige Erregungs- und Hemmungsprozesse +<br />
Wechselwirkungen mit anderen Systemen jenseits des Nervensystems.<br />
Psychoneuroendokrinologie (Hormonelles System):<br />
Substanzwirkung variiert stark<br />
räumlich und zeitlich (keine hohe<br />
Korrelation von Testosteron in Blutund<br />
Speichelproben) und steht in<br />
Wechselwirkung mit anderen<br />
Substanzen (z.B. Hormone mit<br />
Neurotransmittern).<br />
Einfache Zuordnung zu<br />
Funktionen nicht möglich.<br />
Vorteil des biochemischen<br />
Ansatzes: Experimentellpharmakologische<br />
Beeinflussbarkeit<br />
Bsp.: Behinderung der<br />
Dopaminaufnahme durch<br />
Rezeptorenblocker in<br />
Experimentalgruppe, Placebo in<br />
Kontrollgruppe.<br />
Limbisches System: Verarbeitung<br />
emotionaler Reaktionen/<br />
Bewertungen + emotionales<br />
Gedächtnis
<strong>11</strong> <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Interaktionistische Sichtweise:<br />
Biologistische Auffassungen: Ursachen psychischer Phänomene sind primär psychologisch<br />
(Bsp. Sex vergrößert daran beteiligte Neurone) und psychologistische Auffassungen:<br />
Ursachen biologischer Phänomene sind primär psychologisch (Bsp. Es gibt keine<br />
„Krebspersönlichkeit“) sind verkürzt!<br />
Interaktionistische Sichtweise gilt stattdessen:<br />
Es gibt eine<br />
Wechselwirkung,<br />
aber man kann nicht<br />
von Einem<br />
Rückschlüsse auf das<br />
Andere ziehen!<br />
PERSÖNLICHKEITSBILD<br />
Persönlichkeitsunterschiede können beruhen auf der:<br />
<br />
<br />
<br />
Architektur der biologischen Systeme -> universell (Außnahme:<br />
Geschlechtsunterschiede)<br />
Anatomischen Feinstruktur der biologischen Systeme (Variiert deutlich: z.B.<br />
mehr Synapsen und Dendriten in anregenden Umwelten – umweltabhängige<br />
Vernetzung von Neuronen; Myelinisierungshypothese der Intelligenz)<br />
Physiologischen Aktivität biologischer Systeme (Suche nach Unterschieden in<br />
physiologischen Aktivierungsparametern: z.B. autonomes Nervensystem bei Stress.)<br />
METHODIK<br />
Vier grundlegende methodische Zugänge zu Persönlichkeitsunterschieden:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Korrelativer Ansatz<br />
Multivariate Psychophysiologie<br />
Systemorientierter Ansatz<br />
Ambulantes Monitoring<br />
KORRELATIVER ANSATZ<br />
Wichtig dabei:<br />
<br />
<br />
Parameter der Physiologie und des Erlebens und Verhaltens müssen zeitstabil sein<br />
(Problem!)<br />
Messung muss in eigenschaftsrelevanten Situationen erfolgen (z.B. bei Aggressivität)
<strong>12</strong> <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Beispiel 1: Herz-Kreislauf-Reaktionen bei Ärger<br />
Befund: Korrelationen zwischen<br />
<br />
<br />
Defensivität und chronischer Ärgerunterdrückung und diastolischer Blutdruck (im<br />
Experiment)<br />
Feindseligkeit und koronare Herzerkrankung (epidemiologisch)<br />
Mögliche Interpretation: Ärgerverarbeitung -> Blutdruck -> Herzerkrankung<br />
Aber eigentlich ist Ursache bei Korrelation nicht direkt ersichtlich! Eventuell auch noch<br />
dritte genetische Variable!<br />
Alternative Interpretation:<br />
Genetische Dispositionen<br />
Umweltbedingungen<br />
Erhöhter Blutdruck bei Ärger,<br />
Feindseligkeit<br />
Herzerkrankung<br />
Korrelativer Ansatz kann das nicht entscheiden, da hier keine Aussagen über<br />
Richtungswirkungen möglich sind!!<br />
Beispiel 2: Immunaktivität bei Stress<br />
Allgemeiner Befund (Intraindividuell): Zunächst Abnahme von Killer- und Helferzellen, dann<br />
kompensatorisches Überschießen<br />
Differentieller Befund (interindividuell): Bei Neurotizismus und negativer Affektivität ist<br />
Abnahme oft stärker. Aber es besteht kein Zusammenhang mit Erkrankungsrisiko.<br />
MULTIVARIATE PSYCHOPHYSIOLOGIE<br />
<br />
<br />
<br />
Mehrere physiologische Reaktionen und mehrere Situationen<br />
Hoffnung war, interindividuell kovariierende Reaktionen in bestimmten<br />
Situationen zu finden.<br />
Deutschland: Freiburger Schule (Fahrenberg, Myrtek, Stemmler)<br />
Problem: Trotz hoher intraindividueller<br />
Korrelationen nur geringe interindividuelle<br />
Korrelationen! (interindividuelle = differentielle<br />
Zusammenhänge)<br />
(blaue Korrelationen = Mittelung über Personen sind<br />
größer als rote Korrelationen: Mittelung über<br />
Situationen)
13 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
SYSTEMORIENTIERTER ANSATZ<br />
Ausgangspunkt: Möglichst genau umschriebenes System (Anatomie, Biochemie, Physiologie).<br />
Interindividuelle Unterschiede in der Reaktivität des Systems werden auf beurteilte oder<br />
beobachtete Persönlichkeitsdispositionen bezogen.<br />
Überprüfung durch Manipulation (experimentell<br />
situativ und/oder pharmakologisch) der<br />
Systemparameter und Messung der AV aktuelles<br />
Erleben und Verhalten in der Situation und andere<br />
Systemparameter.<br />
Beispiel nach Wacker et al. (2006):<br />
Dopaminerges System wurde aktiviert durch Belohnung bei Bearbeitung kognitiver Aufgaben.<br />
„Challenge-Test“ behinderte pharmakologisch in Experimentalgruppe Dopaminausschüttung,<br />
Kontrollgruppe erhielt Placebo.<br />
Positive Emotionalität wurde vorher selbst beurteilt. AV: EEG- und Reaktionszeitmaße<br />
Wie auf der Basis von Vorläuferstudien erwartet, bearbeiteten unter Placebo die positiv<br />
Emotionalen die Aufgaben schneller als die weniger positiv Emotionalen, während es bei<br />
Dopamin-Blockierung zu einer Umkehrung kam; entsprechendes ergab sich für linksfrontale<br />
EEG-Aktivierung.<br />
AMBULANTES MONITORING<br />
Physiologische Reaktionen werden im Alltag („Feld“) mit tragbaren Geräten gemessen,<br />
statt im Labor. (Technik wurde von Medizinern für Herz-Kreislauf-Patienten entwickelt)<br />
Replikation von Laborbefunden im Feld/Alltag<br />
Beispiel 1: gehemmte Kinder und Herzrate im Labor vs. im Alltag<br />
Kagan et al. (1987): gehemmte Kinder reagieren mit erhöhter Herzrate auf unbekannte<br />
Situationen im Labor<br />
Asendorpf & Meier (1993):An normalen Schultagen sprachen gehemmte Kinder in Schulpausen<br />
und auf Spielplätzen weniger, aber die Herzrate war normal; Sprechen erhöhte im Alltag<br />
Herzrate um 9 Schläge/Minute.<br />
Wie kann man den Widerspruch zwischen Labor und Feld erklären?<br />
Kein Widerspruch, da die gehemmten Kinder in hemmenden Situationen einerseits weniger<br />
sprechen, andererseits vermutlich stärker erregt waren: Trade-Off von zwei Wirkungen auf<br />
Herzrate (Aktivität und Erregung).
14 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Ohne Überprüfung von Laborbefunden im Feld können deren Ereignisse nicht auf den<br />
Alltag verallgemeinert werden.<br />
So sind bei Panik-Patienten subjektiv als lebensbedrohlich erlebte Herzattacken im Alltag nicht<br />
in Protokollen des ambulanten Herz-Monitoring nachweisbar, wobei aber Gehen versus Sitzen<br />
oder Gehen versus Treppensteigen klar nachweisbar ist.<br />
KORRELATIVER ANSATZ:<br />
BEWÄHRUNG<br />
Korrelationen zu gering, zeigen keine systematischen Zusammenhänge, da:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Physiologische Messungen oft nicht ausreichend aggregiert sind (Messung nur in<br />
einer Situation, häufigere Messungen in verschiedenen Situationen wären besser)<br />
Selbstbeurteilungen Verzerrungstendenzen unterliegen (z.B. zu sozial erwünschten<br />
Antworten)<br />
Individuelle Reaktionshierarchien die Korrelationen dämpfen (z.B. niedrige Herzrate<br />
bei Sportlern)<br />
Messungen oft dem technisch Machbaren folgen anstatt systemspezifisch zu sein und so<br />
meist durch viele unterschiedliche physiologische Systeme beeinflusst werden (z.B.<br />
Herzrate) – messen können vs. messen sollen<br />
MULTIVARIATER ANSATZ:<br />
Haupteffekt der Personen ist meist gering relativ zu statistischen Interaktionen Personen<br />
x Reaktionen, bei situationaler Variation auch Interaktionen mit Situationen.<br />
D.h. Persönlichkeitsunterschiede manifestieren sich in Abhängigkeit von a) Reaktionen und b)<br />
Situationen.<br />
Dies verweist auf die Bedeutung individualtypischer Reaktions- bzw. Situationsprofile.<br />
SYSTEMORIENTIERTER ANSATZ:<br />
Noch zu wenig verfolgt, auch wegen fehlenden Wissens über physiologische Systeme und<br />
deren Wechselwirkung. -> erscheint aber vielversprechend!<br />
AMBULANTES MONITORING:<br />
Intraindividuelle Variabilität ist im Alltag größer als im Labor.<br />
Nach statistischer Kontrolle der Bewegungseffekte sind Effekte kognitiver und emotionaler<br />
Belastung ähnlich schwach wie im Labor.<br />
Interindividuelle Nullkorrelationen zwischen subjektivem Erleben oder<br />
selbsteingeschätzter Persönlichkeit und physiologischen Messungen im Alltag bestätigen<br />
Laborbefunde (z.B. subjektive Beschwerden und Herz-Kreislauf-Parameter sind meist<br />
unkorreliert -> „gesunde Kranke“).
15 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
BEWERTUNG<br />
Hauptproblem: Graben zwischen neurowissenschaftlich Messbarem und subjektiv-verbal<br />
Berichtbarem<br />
Überwindung erfordert Lösung des Bewusstseinsproblems und des Gedächtnisproblems, und<br />
selbst dann verbleiben vermutlich klare Unterschiede aufgrund emergenter Eigenschaften<br />
(Eigenschaften können auch aus sich heraus ohne physiologische Grundlage entstehen) der<br />
psychologischen Ebene.<br />
Ertrag der Neurowissenschaft für das inhaltliche Verständnis von<br />
Persönlichkeitsunterschieden ist derzeit gering.<br />
DYNAMISCH-INTERAKTIONISTISCHES PARADIGMA<br />
Untersucht die Wechselwirkungen zwischen Persönlichkeit und Umwelt – Entwicklung im<br />
Laufe der Zeit in Abhängigkeit von der Umwelt.<br />
ALLGEMEINES MENSCHENBILD<br />
Person & Umwelt sind mittelfristig konstant, können sich aber langfristig ändern.<br />
Veränderungen beruhen auf:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Veränderungen innerhalb der Person<br />
Veränderungen innerhalb der Umwelt<br />
Einflüsse der Umwelt auf die Person<br />
Einflüsse der Person auf die Umwelt<br />
Modell der Umwelt nach Bronfenbreener (1979):<br />
(Mikro- und Mesosystem sind vor allem für die<br />
<strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> relevant!)<br />
Vier Entwicklungsmodelle: (Verschiedene Messzeitpunkte, U=Umwelt, P=Persönlichkeit)<br />
Umweltdetermination: naiver Environmentalismus<br />
(behavioristische Sichtweise) -> Umwelt(in)stabilität beeinflusst<br />
die Persönlichkeit -> Einzelne Persönlichkeiten hängen aber nicht<br />
zusammen.<br />
Entfaltung: Anfangspersönlichkeit ist schon angelegt,<br />
Umweltbedingungen können die Persönlichkeiten beeinflussen.<br />
Die späteren Persönlichkeiten entstehen aber nur aus P0 heraus,<br />
P1 hat zum Beispiel keinen Einfluss auf P2
16 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Kodetermination: Von Umwelt abhängige Entwicklung +<br />
genetisches Programm: Persönlichkeit läuft ab, entwickelt sich<br />
weiter und wird zusätzlich durch die Umwelt beeinflusst.<br />
Dynamische Interaktion: Persönlichkeit gestaltet Umwelt -><br />
Rückwirkung der Umwelt auf die Persönlichkeit -> Persönlichkeit<br />
gestaltet Umwelt -> … (Bsp. Musikalität)<br />
Unterscheidung des dynamisch-interaktionistischen Paradigmas von Alltags-,<br />
psychoanalytischer und behavioristischer <strong>Psychologie</strong> durch Einflüsse der Person<br />
auf die Umwelt! -> kontinuierliche Wechselwirkung (Transaktion)<br />
Drei Einflussarten:<br />
<br />
<br />
<br />
Auswahl (Bsp. Partnerwahl)<br />
Herstellung (Bsp. Beziehungen knüpfen: Dating, Mating, Relating)<br />
Veränderung (Bsp. heiraten, sich scheiden lassen)<br />
Zwei Interaktionskonzepte:<br />
Statistische Interaktion:<br />
X und Y wirken nichtadditiv auf Z, z.B.<br />
Dynamische Interaktion<br />
X und Y beeinflussen sich wechselseitig im Zeitverlauf,<br />
z.B. bei sozialer Interaktion<br />
PERSÖNLICHKEITSBILD<br />
Die Persönlichkeit ändert sich nur, wenn es differentielle Veränderungen (nicht individuelle!)<br />
gibt. – Differentielle Veränderungen = anderer Verlauf gegenüber der Referenzpopulation<br />
Dynamisch-interaktionistisches Paradigma nur für<br />
differentielle Veränderungen der Persönlichkeit und der<br />
Umwelt. (Auch Umwelt ändert sich.)
17 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
METHODIK<br />
Messung des Einflusses der Umwelt auf die Persönlichkeit durch Vergleiche von<br />
Experimentalgruppen mit Intervention gegenüber Kontrollgruppen ohne Intervention.<br />
Aber Problem der Umweltintervention, besonderes Problem bei der Umkehrung<br />
Persönlichkeit wirkt auf die Umwelt.<br />
Nutzung naturalistischer Experimente (Quasiexperimente -> VPN bringen die<br />
Voraussetzungen für eine bestimmte Gruppe schon mit)<br />
Beispiel: Wirkung erster stabiler Partnerschaft auf Neurotizismus (<strong>Neyer</strong> und Asendorpf,<br />
2001)<br />
Alternative: Korrelationen von Persönlichkeit und Umwelt<br />
Problem: Mehrdeutigkeit von Korrelationen (Bsp. Storchenzahl und<br />
Geburtenzahl pro km^2; Aggressivität des Kindes und autoritärer<br />
Erziehungsstil…)<br />
Verbesserung: Korrelationen über die Zeit: Wenn X(1) -> Y(1) gilt,<br />
kann Y(2) nicht X(1) beeinflusst haben.<br />
Trotzdem bleibt Problem bestehen: Fortpflanzung von<br />
Einflüssen bei stabilen Merkmalen muss kontrolliert werden.<br />
Kreuzkorrelationen können nicht direkt interpretiert<br />
werden, wenn Stabilitäten unterschiedlich sind. Vielmehr<br />
müssen Pfadkoeffizienten interpretiert werden:<br />
Kreuzkorrelation: nicht<br />
direkt interpretierbar, da<br />
indirekte Einflüsse<br />
berücksichtigt werden<br />
müssen<br />
Pfadkoeffizient: entspricht<br />
direktem Effekt, errechnet<br />
sich: Produkt indirekter Pfade<br />
+ direkter Pfad -> K<br />
Beispiele fürs Verständnis:<br />
<br />
<br />
<br />
Mütterliche Erziehung späte Persönlichkeit<br />
Effekte von Schüchternheit auf Beziehungen in Umwelt (Gestaltung der Umwelt durch<br />
die Persönlichkeit bewirkt evtl. keine Änderung von Schüchternheit durch neue<br />
Studienumwelt, mehr Einflüsse der Persönlichkeit auf die Umwelt als andersherum ab<br />
dem Jugendalter) Asendorpf & Wilpers (1998)<br />
Umwelt Intelligenz (Schlechte Umwelt in der Kindheit bewirkt einen differentiellen<br />
Unterschied im späteren IQ) Sameroff et al. (1993)
18 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
BEWÄHRUNG<br />
Vereinfachung: Katapultmodell: Untersuchung der frühen Umwelt und der späteren<br />
Persönlichkeit (aber keine Kontrolle für frühe Persönlichkeit!)<br />
Ist angemessen bei sensitiven Perioden in der Entwicklung<br />
Beispiel: Unterscheidung r/l bei japanischen Kindern<br />
BEWERTUNG<br />
<br />
<br />
<br />
Dynamisch-interaktionistisches Paradigma ist umfassendes Modell der<br />
Persönlichkeitsentwicklung<br />
Die empirische Analyse von Einflüssen durch (naturalistische) Experimente und<br />
Kreuzkorrelationsstudien ist aber sehr aufwändig, deshalb dominieren einfache<br />
korrelative Designs z.B. das Katapultmodell<br />
Es gibt bisher wenig Untersuchungen zu den Prozessen, die zwischen Persönlichkeit<br />
und Umwelt vermitteln<br />
EVOLUTIONSPSYCHOLOGISCHES PARADIGMA<br />
MENSCHENBILD<br />
Menschliches Erleben und Verhalten ist das Resultat der Evolution (d.h. des Prozesses der<br />
genetischen Anpassung der Lebewesen an die jeweils vorherrschenden Umweltbedingungen)<br />
-> Wir sind der Umwelt unserer Vorfahren besser angepasst als der heutigen Umwelt (z.B.<br />
Fettkonsum, Ängste)<br />
Darwin (1859): Entstehung der Arten (Phylogenese) durch Variation und Selektion:<br />
<br />
<br />
<br />
Variation aufgrund von Genetik<br />
Selektion durch Fortpflanzungserfolg in bestimmter Umwelt auf Ebene einzelner<br />
Gene (nicht Individuum, „survival of the fittest“ sondern Genotypen)<br />
Fitness = f (Gen, Umwelt) -> Dawkins „selfish gene“<br />
Auch heute spielen evolutionäre Prozesse noch eine Rolle: z.B. Einfluss der Kinderzahl über<br />
Partnerwahl, Schwangerschaftsverhütung, Investition in eigene Kinder<br />
Reproduktionsrelevant sind nicht nur Klima, Nahrungsangebot, Krankheitserreger, vor allem<br />
soziale Umweltbedingungen (Partnerpräferenzen, Rivalität mit eigenem Geschlecht) -> nach<br />
Darwin: intersexuelle (Suche nach „bestem“ Menschen) und intrasexuelle (gleiches Geschlecht<br />
konkurriert untereinander um anderes Geschlecht) Selektion.<br />
Selektionsvorteil: Sexuelle Fortpflanzung & Unterstützung des gleichen Gentyps (inklusive<br />
Fitness -> Reproduktionserfolgs der eigenen Gene, wenn man sich für genetisch Verwandte<br />
aufopfert) (Beispiel: Hamilton (1964): Inklusive Fitness unter Einschluss des Reproduktionserfolgs<br />
genetisch Verwandter, man würde sich für drei Geschwister aufopfern da 3*50% meiner Gene etc.)
19 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Soziobiologie vs. Evolutionspsychologie<br />
Wilson (1975): Grundlage rein ultimate<br />
Erklärungen (Angepasstheit unter<br />
vermuteten vergangenen<br />
Umweltbedingungen) -> lange Kontroverse<br />
in Sozialwissenschaften!<br />
Cosmides et al. (1992): Auch Angabe<br />
proximater Mechanismen (in Form von<br />
bereichs-, kontextspezifischen, genetisch<br />
fixierten evolvierten psychologischen<br />
Mechanismen -> EPM) (d.h. man gibt<br />
ultimate Mechanismen unter Zugabe der<br />
proximaten Mechanismen als EPMs an.)<br />
EPM erklärt ultimaten<br />
Mechanismus in proximater<br />
<strong>Psychologie</strong><br />
Bsp. Schlangenangst der Mitteleuropäer (EPM:<br />
leichtes Erlernen der Angst Schlangen<br />
gegenüber)<br />
Ultimate Erklärungen von Verhalten begründen es durch Reproduktionsvorteile in der<br />
evolutionären Vergangenheit (biologisch, Soziobiologie); proximate Erklärungen geben an, wie<br />
das Verhalten konkret zustande kommt (psychologisch, Evolutionspsychologie))<br />
Beispielstudie: <strong>Neyer</strong> und Lang (2003):Eingeschätzte emotionale Nähe zu Bezugspersonen<br />
korreliert intraindividuell im Mittel .50 mit dem genetischen<br />
Verwandtschaftsgrad r.<br />
Rein ultimate Erklärung wäre: Die Beziehung zu Verwandten ist<br />
stärker wegen der inklusiven Fitness.<br />
EPM für Hilfeleistung (proximate Erklärung) wäre z.B.:<br />
Emotionale Nähe scheint enger mit der Vertrautheit<br />
zusammenzuhängen als mit der genetischen Verwandtschaft:<br />
Hypothese: Genetische Verwandtschaft -> Vertrautheit -> emotionale Nähe -><br />
Hilfeleistung!<br />
Hypothese erklärt proximat den Zusammenhang zwischen genetischer Verwandtschaft und<br />
Hilfeleistung, der aus Überlegungen zur inklusiven Fitness abgeleitet wird.<br />
Ergebnis: Zusammenhang zwischen Hilfeleistung und emotionaler Nähe > als<br />
Zusammenhang zwischen Hilfeleistung und genetischer Verwandtschaft!!<br />
Ultimate und proximate Erklärungen können teilweise divergieren<br />
(auseinandergehen)<br />
Beispiel 2: Vaterschaftsunsicherheit:<br />
Aus ultimaten Erklärungen können neue psychologische Mechanismen abgeleitet werden:<br />
Unterstützung durch Verwandte sollte bei mütterlicher Linie wegen Vaterschaftsunsicherheit<br />
stärker sein!
20 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
PERSÖNLICHKEITSBILD<br />
Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden durch:<br />
<br />
<br />
Genetische Variation: Mutation, sexuelle Rekombination (vgl. genetische Variabilität<br />
bei Viren)<br />
Umweltunterschiede, die durch EPMs vermittelt sind: Warum wirken besimmte<br />
Umweltbedingungen auf die Persönlichkeit? (geht damit über die Erklärung des<br />
dynamischen Interaktionismus hinaus)<br />
Drei spezifischere Erklärungsprinzipien:<br />
<br />
<br />
<br />
Frequenzabhängige Selektion<br />
Konditionale Entwicklungsstrategie<br />
Strategische Spezialisierung<br />
FREQUENZABHÄNGIGE SELEKTION<br />
Fitness eines Gens ist abhängig von der Häufigkeit in der Population<br />
(Fortpflanzungsgemeinschaft). (z.B. Geschlechterverhältnis führt nicht haargenau zu 1:1, aber zu<br />
evolutionär stabilem Verhältnis)<br />
Trotzdem Änderung des Verhältnisses durch Umwelt möglich: z.B. Krieg -> Selektionsvorteil der<br />
übergebliebenen Männer (genauer: Selektionsvorteil der Paare mit Jungen) aber irgendwann<br />
wieder Ausgleich zu 1:1<br />
Beispiel nach Gangestad und Simpson (1990): Soziosexualität (Anzahl der Sexualpartner) von<br />
Frauen:<br />
Zwei Kriterien für die Partnerwahl von Frauen:<br />
<br />
<br />
Investition des Mannes in die Kinder<br />
„gute Gene“ bzgl. Gesundheit und sexueller Attraktivität (beides fördert den<br />
Reproduktionserfolg) -> Problem: Diese Männer sind weniger treu und investieren<br />
deshalb weniger in ihre Kinder!<br />
Bildung zweier alternativer, frequenzabhängiger Strategien (die in evolutionär stabilem<br />
Verhältnis stehen):<br />
<br />
<br />
Restriktiv: Sicherung eines investierenden Mannes<br />
Unrestriktiv: viele Männer mit „guten Genen“<br />
Frequenzabhängige Auslese bedeutet, dass es keine absolute Fitness einer<br />
Persönlichkeitseigenschaft gibt! Fitness ist immer relativ zu alternativen Eigenschaften.<br />
KONDITIONALE ENTWICKLUNGSSTRATEGIEN:<br />
Sind genetisch fixierte EPM, die die Individualentwicklung in Abhängigkeit von<br />
alternativen Umweltbedingungen der Kindheit in jeweils eine adaptive Richtung lenken:<br />
Umwelt 1 -> Eigenschaft 1 ; Umwelt 2 -> Eigenschaft 2
21 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Beispiel: Väterliche Investition in die eigenen Kinder:<br />
Reiche Umwelten -> geringe Investition vs. arme Umwelten -> starke Investition<br />
Beispiel nach Draper und Harpending (1982): Väterliche Anwesenheit in der frühen Kindheit (=<br />
Umweltmerkmal) -> signalisiert zu erwartende väterliche Investition und führt deshalb zu<br />
konditionaler Entwicklungsstrategie bei Mädchen:<br />
‣ Vater anwesend -> späte Geschlechtsreife, späterer erster Sex, wenige Sexualpartner<br />
‣ Vater abwesend -> frühe Geschlechtsreife, früher erster Sex, viele Sexualpartner<br />
(Bei Jungen kein Unterschied, da mütterliche Investition immer hoch sein sollte)<br />
In mehreren Kulturen bestätigt: r=.43 zwischen positiver Vater-Tochter-<br />
Beziehung in der Kindheit und Zeitpunkt der ersten Regelblutung!<br />
Mögliche proximate Mechanismen nach Ellis et al (1999):<br />
<br />
<br />
<br />
Beschleunigung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe männlicher<br />
nichtverwandter Artgenossen (bei Tierarten und Menschen eher bestätigt! -><br />
Anwesenheit anderer wichtiger als Abwesenheit des Vaters)<br />
Hemmung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe des eigenen Vaters<br />
Alternative Erklärung durch interindividuell variierende Gene, die Väter und<br />
Töchter teilen. Kann durch Adoptionsstudien entschieden werden.<br />
STRATEGISCHE SPEZIALISIERUNG:<br />
Tendenz zu alternativen Reproduktionsstrategien, z.B. in Form von frequenzabhängiger<br />
Selektion oder konditionaler Entwicklungsstrategien<br />
Beispiel: Geschwisterposition nach Sulloway (1997): Erstgeborene besetzen Nischen innerhalb der<br />
Familie und zwingen so Spätgeborene zu höherer sozialer Kompetenz und größerer Offenheit<br />
gegenüber neuen Erfahrungen.<br />
Sollen auch nach Verlassen des Elternhauses noch sichtbar sein, daher konditionale<br />
Entwicklungsstrategien!<br />
Empirische Belege:<br />
<br />
<br />
Korrelation zwischen Geschwisterposition & Offenheit vs. Konservatismus r=.20<br />
(Problem: Altersunterschiede: Ältere sind generell konservativer)<br />
Historische Analysen der Akzeptanz wissenschaftlicher Neuerungen (Akzeptanz<br />
der Evolutionstheorie von Darwin durch 405 Wissenschaftler seiner Zeit) aber bisher<br />
keine unabhängigen Bestätigungen<br />
Alternativerklärung: Geburtspositionseffekt: Spätgeborene bekommen mehr weibliche<br />
Hormone wegen verschobenem Hormonstatus der Mutter ab (wurde belegt durch zwei<br />
Adoptionsstudien zu Offenheit und Geschwisterposition)
22 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
METHODIK<br />
Entscheidend: Qualität des Nachweises, dass psychologische Mechanismen ein EPM sind.<br />
(da vergangene Umwelten wenig bekannt sind, sind ultimate Erklärungen recht spekulativ!)<br />
Kriterien für EPM:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Angabe des gelösten adaptiven Problems in der Vergangenheit<br />
Angabe des psychologischen/physiologischen Mechanismus<br />
Plausibilität der genetischen Fixiertheit des Mechanismus<br />
Kriterien für adaptives Design erfüllt (z.B. Ökonomie, Effizienz, Zuverlässigkeit)<br />
Förderlich, nicht notwendig, ist Nachweis homologer EPM (Ähnlichkeit und/oder<br />
Vorkommen bei gemeinsamen Vorfahren, über Artverwandte im Verhalten meistens schwer<br />
nachweisbar)<br />
Nicht erforderlich: EPM ist heute adaptiv -> viel cooler für EPM: er war damals adaptiv,<br />
heute aber nicht mehr! (z.B. Präferenz für süße und fette Nahrung (als ob das cool oder<br />
praktisch wäre…^^)<br />
BEWÄHRUNG<br />
Noch zu jung, um definitive Aussagen über Eignung für <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> treffen zu<br />
können. Aber derzeit aktives und innovatives Forschungsfeld.<br />
BEWERTUNG<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Chance, Persönlichkeitsunterschiede und ihre Abhängigkeit von Genverteilungen &<br />
Umweltbedingungen besser zu verstehen<br />
Anforderungen an Erklärungen höher als in Alltagpsychologie und<br />
Informationsverarbeitungsmodellen<br />
Risiko von Scheinerklärungen: Erfindung adaptiver Erfolgsgeschichten um bekanntes<br />
evolutionär verständlich zu machen<br />
EPM schwer zu trennen von zufälligen, selektiv neutralen, relativ seltenen nicht<br />
adaptiven Varianten & nicht adaptiven Ergebnissen seltener oder neuer<br />
Umweltbedingungen.
23 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
PERSÖNLICHKEITSFAKTOREN UND PERSÖNLICHKEITSTYPEN<br />
KLASSIFIKATIONEN DER PERSÖNLICHKEIT<br />
Alle Klassifikationen beziehen sich auf stabile Eigenschaften:<br />
z.B. für<br />
Personalauswahl,<br />
klinische<br />
Diagnostik etc.<br />
genutzt<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Persönlichkeitsfaktoren: kontinuierliche Eigenschaftsvariablen (Vgl. von<br />
Variablen über Personen, variablenorientierter Ansatz nach W. Stern)<br />
Persönlichkeitstypen: Persönlichkeitsprofile (personenorientierter Ansatz<br />
nach Stern, Vgl. von Persönlichkeitsprofilen über Personen)<br />
Persönlichkeitsstörungen: Pathologische Symptome<br />
Gestaltmerkmale sind nicht geeignet für die Persönlichkeitsbeschreibung!!<br />
PERSÖNLICHKEITSFAKTOREN<br />
= statistisch durch Faktorenanalyse gewonnene Eigenschaftsdimensionen<br />
Sollen untereinander möglichst wenig korrelieren und Persönlichkeitsunterschiede<br />
insgesamt oder in einem begrenzten Bereich der Persönlichkeit erfassen.<br />
Beispiele: 16 Skalen des 16PF (Sixteen Personality Factors Quastionnaire nach Catell); 3 Skalen des<br />
EPI (Eysenck Personality Inventory nach Eysenck)<br />
Drei Schritte zur Faktorengewinnung:<br />
<br />
<br />
<br />
Eingrenzung des Bereichs<br />
Erstellung einer Eigenschaftsliste in Form von Fragebogenitems<br />
Reduktion der Liste auf wenige Faktoren durch Faktorenanalyse<br />
Faktorenanalyse:<br />
Teilt Variablen aufgrund statistischer Korrelationen in Gruppen hoch korrelierender<br />
Variablen ein<br />
Jede Gruppe wird dann durch ein gewichtetes Mittel aller Variablen = Faktor charakterisiert.<br />
Korrelationen der Variablen mit dem Faktor = Ladungen = Gewichte der einzelnen<br />
Variablen (Variablen sollen dabei nur mit dem jeweiligen Faktor korrelieren) -> Variablen<br />
haben mit der eigenen Gruppe hohe, mit anderen Gruppen dagegen niedrige Ladungen.<br />
Faktoren repräsentieren „fundamentale Eigenschaften“ (inhaltlich stark positiv/negativ auf den<br />
Faktor ladend)<br />
Je heterogener Variablen & je repräsentativer die Stichprobe (der diese Variablen<br />
Beurteilenden) desto eher handelt es sich um fundamentale Eigenschaften<br />
alltagspsychologischer Persönlichkeitsbeschreibungen.<br />
Lexikalischer Ansatz: Beruht auf der Sedimentationshypothese nach Goldberg 1981:<br />
Persönlichkeitsunterschiede manifestieren sich in Eigenschaftsworten der Sprache -><br />
Aufgrund von Lexika und Ausschluss von Synonymen schließlich 300 Worte -> Beurteilung der<br />
Items -> Interkorrelationen durch Faktorenanalyse reduziert sie auf wenige fundamentale<br />
Faktoren, dann inhaltliche Interpretation
24 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Durch lexikalischen Ansatz und Faktorenanalyse entstanden die BIG FIVE<br />
Gültig für germanische Sprachen (GB, D, NL), aber z.B. nicht in romanischen Sprachen<br />
replizierbar.<br />
In letzten Jahren gab es Abwandlungen:<br />
Big Seven: Erweiterung um stark positiv/negativ bewertete Eigenschaften (Almagor et<br />
al. 1995)<br />
Big Three: Interkulturell gut replizierbare Faktoren: Extraversion, Verträglichkeit,<br />
Gewissenhaftigkeit (Saucier und Goldberg 2001)<br />
Big Six: 6. Faktor: Ehrlichkeit/Bescheidenheit (Ashton et al. 2004)<br />
Häufigste Fragebogen der Big Five für Erwachsene:<br />
NEO-FFI: NEO Five Factor Inventory mit 5*<strong>12</strong> Items<br />
NEO-PI-R: NEO Personality Inventory Revised: 6 Unterfaktoren (Facetten) mit jeweils 8<br />
Items -> 5*6*8=240 Items<br />
(Der NEO-FFI ist ein Teiltest des NEO-PI-R ohne Unterscheidung von Unterfaktoren)<br />
Kritik des lexikalischen Ansatzes:<br />
„Parabel: Die Alchemisten des Mittelalters waren auf der Suche nach der Formel für Gold. Sie<br />
nahmen an, dass sich Gold aus anderen Elementen synthetisieren ließe. Ihre Strategie war:<br />
Klassifiziere Stoffe nach ihren Eigenschaften, finde Grundeigenschaften heraus und reduziere so<br />
die Möglichkeiten der Stoffkombinationen für die Syntheseversuche auf ein praktikables<br />
Minimum.<br />
Man stelle sich nun vor, die Alchemisten hätten Fragebögen verteilt, in denen Stoffe jeweil auf<br />
Eigenschaften wie hart-weich, leicht-schwer oder glänzend-stumpf einzuschätzen geweisen<br />
wären. Hätten sie die chemischen Elemente des Goldes durch Faktorenanalysen der<br />
Fragebogenantworten herausgefunden?
25 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Was die Faktorenanalytiker unter den Alchemisten herausgefunden hätten, wären bestimmte,<br />
sinnlich leicht wahrnehmbare Oberflächeneigenschaften von Stoffen, an denen sich die<br />
Alltagschemie ihrer Zeit orientierte.<br />
Das Periodensystem der Elemente wäre so aber nicht entdeckt worden.“<br />
Prüfungsfrage: Sind die Big Five mit dem Periodensystem der Elemente vergleichbar?<br />
Nein, da nur oberflächlich durch Korrelationen ermittelt wurde. Sind eine Repräsentation<br />
der Alltagspsychologie, aber keine Grundlage der Persönlichkeit (trotzdem wurde durch die<br />
Big Five viel gewonnen!)<br />
Bewertung der Big Five:<br />
Sind eine präzise Reproduktion alltagpsychologischer<br />
Persönlichkeitsbeschreibungen.<br />
Haben eine gute Validität.<br />
Sind aber keine Persönlichkeitstheorie!!<br />
PERSÖNLICHKEITSTYPEN<br />
Personenorientierter Ansatz möchte die Personen in eine überschaubare Zahl von<br />
Persönlichkeitstypen einteilen. (Klassifikationsproblem.)<br />
Ansatz 1: Extremgruppenbildung nach zwei Variablen (Bsp.<br />
Represser – Niedrig-, Hochängstliche)<br />
Ansatz 2: Prototypen (durch Q-Faktorenanalyse gebildet)<br />
Bei der Q-Faktorenanalyse werden Q-Sort-Profile von Personen faktorenanalysiert<br />
(Komparationsforschung nach Stern), nicht wie im üblichen Fall Eigenschaftsvariablen<br />
(Korrelationsforschung nach Stern).<br />
Die resultierenden Faktoren beschreiben deshalb Prototypen von Persönlichkeiten. Reale<br />
Personen können dann aufgrund ihres Q-Sort-Profils dem ähnlichsten Prototyp zugeordnet<br />
werden.<br />
Dieses Verfahren funktioniert nur, wenn Mittelwert und SD jedes Q-Sorts für alle Personen<br />
identisch sind (deshalb erzwingt man beim Q-Sort Gleich- oder Normalverteilung über die<br />
Salienzkategorien.)<br />
Beispiel: 3 Persönlichkeitsprototypen von Kindern nach Asendorpf und van Aken (1999):siehe<br />
nächste Seite
26 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Prototypen bei Kindern(rechts) und bei Erwachsenen (links) als Big-Five-Profile (Asendorpf et al.<br />
2001):<br />
Aber: in kulturvergleichenden Studien erwies sich die 3-Prototypen-Lösung als nur mäßig<br />
replizierbar. Versuche, replizierbare Untertypen zu finden, scheiterten auch.<br />
-> Vorzug des Typenansatzes besteht weniger in seiner empirischen Begründung als in der<br />
besseren Kommunizierbarkeit an ein breites Publikum, weil die Aussagen sich auf<br />
Personengruppen beziehen, nicht auf Variablengruppen. Persönlichkeitstypen sind der<br />
Alltagspsychologie verständlicher als Persönlichkeitsdimensionen!<br />
PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN<br />
= stabile, pathologische Persönlichkeitsmuster, die seit Beginn des Erwachsenenalters<br />
bestehen, breite Bereiche des Erlebens, Verhaltens und der sozialen Beziehungen<br />
betreffen und mit subjektiven Beschwerden oder Leistungseinbußen einhergehen (aber<br />
nicht auf ein Intelligenzdefizit zurückzuführen sind).<br />
Klassifizierung im DSM-IV und im ICD-10<br />
Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen zutreffen, damit eine Persönlichkeitsstörung<br />
vorliegt:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Deutliche Unausgeglichenheit in mehreren Funktionsbereichen (Erleben, Verhalten,<br />
soziale Beziehungen)<br />
Das Persönlichkeitsmuster ist stabil<br />
Es ist tiefgreifend und in vielen Situationen eindeutig unangemessen<br />
Störungsbeginn in Kindheit oder Jugend, Manifestation auf Dauer im Erwachsenenalter<br />
Störung führt zu deutlichem subjektivem Leiden
27 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
<br />
Störung ist mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen<br />
Leistungsfähigkeit verbunden<br />
Beispiel: Ängstliche Persönlichkeitsstörung: Die Kriterien der Persönlichkeitsstörung und<br />
mindestens vier dieser Kriterien müssen erfüllt sein:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Andauernde, umfassende Gefühle von Anspannung und Besorgtheit<br />
Überzeugung, selbst sozial unbeholfen, unattraktiv oder minderwertig zu sein<br />
Übertriebene Sorge vor Kritik oder Ablehnung<br />
Persönliche Kontakte nur bei Sicherheit, gemocht zu werden<br />
Eingeschränkter Lebensstil wegen des Bedürfnisses nach körperlicher Sicherheit<br />
Vermeidung beruflicher oder sozialer Aktivitäten aus Furcht vor Kritik oder Ablehnung<br />
Spezifische Störungen:<br />
/Antisoziale<br />
Hatten meistens ADHS in Kindheit,<br />
aber nicht zwingend<br />
Schauspielern (Kränkung, Ohr<br />
abkauen, warum…) -> Kränkung<br />
wegen Aufmerksamkeit<br />
Kränkung im aggressiven Sinne<br />
Persönlichkeitsstörungen treten meistens kombiniert auf!<br />
Werden meist aufgrund strukturierten Interviews diagnostiziert (Bsp: IPDE (International<br />
Personality Disorder Examination) -> Antworten zu den einzelnen Fragen werden auf einer dreistufigen<br />
Skala 0 – 1- 2 kodiert, deren Werte itemspezifisch variieren.
28 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Beurteilerübereinstimmung für Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung ist für identische<br />
Interviews ausreichend, ebenso für Zahl der erfüllten Kriterien für eine spezifische Störung.<br />
Probleme:<br />
<br />
<br />
Nur Übereinstimmung für dasselbe videografierte Interview mit demselben<br />
Interviewer. Unreliabilitäten aufgrund unterschiedlicher Interviewstiele verschiedener<br />
Interviewer bei demselben Patienten werden nicht erfasst!<br />
Problem der Mehrfachinterviews bei denselben Patienten.<br />
Prävalenz (% Vorkommen innerhalb einer bestimmten Population gegenüber der Basisrate)<br />
<br />
<br />
10% in repräsentativen Stichproben (25% allgemeinärztlich, 40% klinisch)<br />
Spezifische Prävalenzen für Persönlichkeitsstörungen variieren: 2% (schizoid,<br />
narzisstisch) – 15% (ängstlich, Borderline)<br />
Starke Komorbidität (gleichzeitiges Vorkommen unterschiedlicher Persönlichkeits-<br />
Störungen bei denselben Patienten): 70% (zwanghafte) – 100% (paranoide) – Reinform<br />
ist eher selten!<br />
Beziehung zu Persönlichkeitstypen:<br />
<br />
<br />
Unterkontrolliert: dissoziale, emotional-instabile<br />
Überkontrolliert: ängstliche, abhängige<br />
Beziehung zu Big Five:<br />
Bis auf Offenheit zeigen alle Big Five Faktoren systematische Beziehungen zu<br />
Persönlichkeitsstörungen. Aber: Nur 30-50% der Störungsvarianz können durch Big Five<br />
Facetten vorhergesagt werden. -> Diagnostik daraus ist unmöglich!<br />
Debatte derzeit: Persönlichkeitsstruktur kann evtl. bei Klassifikation der<br />
Persönlichkeitsstörungen helfen; bisher aber nur Eingrenzung der Suche<br />
möglich.<br />
GESTALT<br />
Gestalteigenschaften = stabile, unmittelbar wahrnehmbare (daher sozial relevante)<br />
körperliche Merkmale (z.B. Größe, Gewicht, Körperbau, Gesicht, Schönheit)<br />
Gestalt = Gesamtheit aller Gestalteigenschaften<br />
Gibt es tatsächlich Zusammenhänge zwischen Gestalt und sonstiger Persönlichkeit?<br />
Typologie nach Kretschmer (1921): Leptosom, athletisch, pyknisch
29 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Zusammenhänge der drei Typen mit psychiatrischer<br />
Diagnose: (Kretschmer 1921)<br />
Scheinzusammenhang wegen Konfundierung mit dem<br />
Alter!<br />
Innerhalb stark eingegrenzter Altersgruppen gibt es<br />
keinen Zusammenhang mehr<br />
Spätere Untersuchungen von Sheldon zum<br />
Zusammenhang zwischen Körperbau und Charakter:<br />
Beurteilungsfehler durch Beurteiler, die beides<br />
Beurteilten (Halo-Effekte, sie waren nicht blind<br />
bezüglich der Hypothese)<br />
Durch die Fehler von Kretschmer und Sheldon und dem Missbrauch von Charakter-<br />
Klassifikationen in der Nazizeit (jüdischer vs. arischer Typ) geriet die psychologische<br />
Untersuchung des Körperbaus in Misskredit.<br />
Zusammenhänge gibt es vor allem für Schönheit (physische Attraktivität), daneben neuerdings<br />
subtile körperliche Asymmetrien (z.B. Fingerlängenverhältnis D2:D4; siehe später bei<br />
Geschlechtsunterschiede).<br />
Physische Attraktivität:<br />
Korrelation zwischen Urteilen über Schönheit und Urteil über Intelligenz ca .30 -><br />
geht aber auf Halo-Effekt zurück, eigentliche Korrelation ist nahe Null.<br />
Korrelation von Schönheit mit beobachteter sozialer Kompetenz .25<br />
Schönheit mit Beliebtheit in der Klasse .31<br />
Schönheit mit selbstbeurteilter Einsamkeit -.15<br />
Schönheit mit selbstbeurteiltem Selbstwertgefühl nahe Null<br />
Bei alten Menschen: Umkehrung des Schönheitsvorteils: negative Korrelation ehemaliger<br />
Schönheit in der Jugend mit aktuellem Selbstwertgefühl: individueller Kontrasteffekt.<br />
Attraktivität des Gesichts:<br />
Attraktivitätseindruck beruht wesentlich auf dem Gesicht. Morphing-Studien ergaben zwei<br />
zentrale Gesichtsmerkmale für Attraktivitätseindruck: Durchschnittlichkeit und Symmetrie<br />
Asymmetrie führt zum Eindruck von Hässlichkeit, während perfekte Symmetrie nicht maximal<br />
schön wirkt. Evolutionär gut erklärbar: Symmetrie = Gesundheit. Alternative:<br />
Symmetrie erleichtert Inforverarbeitung.<br />
Attraktivität des Körperbaus:<br />
Frauen: Taille-Hüfte-Verhältnis nahe 0.7<br />
Männer: Taille-Hüfte-Verhältnis nahe 0.6
30 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
TEMPERAMENT<br />
= derjenige Teil der Persönlichkeit, der sich auf die Formaspekte des Verhaltens (unter<br />
Ausschluss von Intelligenzaspekten) bezieht -> d.h. die individuellen Unterschiede in der<br />
Umsetzung des Verhaltens<br />
Formaspekte: Wie läuft Verhalten bezüglich Affekt/Aktivierung/Aufmerksamkeit ab? -><br />
Parameter von Erregungs- und Hemmungsprozessen auf neurophysiologischer Ebene und deren<br />
soziale Repräsentation in Selbst- und Fremdurteilen.<br />
Beispiele für Temperamentsmerkmale:<br />
Aktivität<br />
Ängstlichkeit<br />
Ausdauer<br />
Cholerisches Gemüt<br />
Emotionale Ausdauer<br />
Extraversion<br />
Gehemmtheit<br />
Impulsivität<br />
Introversion<br />
Irritierbarkeit<br />
Nervosität<br />
Neurotizismus<br />
Schnelligkeit<br />
Schüchternheit<br />
Oft zitierte Definition nach Buss & Plomin (1984):<br />
Temperamentsmerkmale sind diejenigen<br />
Persönlichkeitsmerkmale, die<br />
<br />
<br />
<br />
Schon im ersten Lebensjahr beobachtbar sind<br />
Stark genetisch bedingt sind<br />
Eine hohe langfristige Stabilität aufweisen<br />
Aber Probleme:<br />
<br />
<br />
Definition trifft auch auf andere<br />
Persönlichkeitsmerkmale zu, insbesondere Intelligenz<br />
Es gibt Temperamentsmerkmale, wie z.B. sexuelle<br />
Reaktivität, die diesen Kriterien nicht genügen.<br />
TEMPERAMENTSTHEORIE VON EYSENCK<br />
Hans Eysenck (Berlin 1916 – London 1997) – Theorie besteht aus zwei Teilen:<br />
1) Temperamentsunterschiede variieren auf zwei unabhängigen Dimensionen:<br />
Extraversion und Neurotizismus<br />
2) Diese beiden Temperamentsdimensionen beruhen auf interindividuellen<br />
Unterschieden in retikulärer bzw. limbischer Aktivierung.<br />
ARAS – aufsteigendes retikuläres<br />
Aktivierungssystem (Nervennetzwerke an<br />
Hirnstamm)<br />
Motorik, Herz-Kreislauf, Schlaf-Wach-<br />
Rhythmus -> entspricht Extraversion!<br />
Mandelkern (Amygdala), Hippocampus,<br />
Gyrus<br />
Verarbeitung von Emotion -><br />
entspricht Neurotizismus<br />
EYSENCKS THEORIE TEIL I:<br />
Temperamentsunterschiede variieren auf zwei unabhängige Dimensionen: Extraversion<br />
und Neurotizismus<br />
Teil 1 ist auf Faktorenanalysen von Fragebogenitems, die Temperamentseigenschaften<br />
beschreiben, begründet.
31 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Resultierende Faktoren:<br />
<br />
<br />
Neurotizismus: labil stabil<br />
Extraversion: extravertiert introvertiert<br />
(verwandt mit den Wundtschen Dimensionen der<br />
Emotionalität: „Stärke der Gemütsbewegungen“ und<br />
„Schnelligkeit des Wechsels der Gemütsbewegungen“. –<br />
auch Beziehung zu den hippokratischen Typen (4-Säfte-<br />
Theorie: Blut/Schleim/schwarze Galle/gelbe Galle))<br />
Gemessen wird mit dem Eysencks Personality<br />
Inventory (EPI)<br />
Validität der Eysenckschen Dimensionen:<br />
Selbstbeurteilte Extraversion korreliert mittelhoch mit:<br />
<br />
<br />
<br />
Fremdbeurteilter Extraversion<br />
Selbst- und fremdberichteter Häufigkeit und Intensität positiver Affekte (Freude)<br />
Selbst- und fremdberichteter Geselligkeit<br />
Beurteilte Extraversion ist damit eine Mischung aus dem Temperamentsmerkmal<br />
„positive Affektivität“ und dem Motiv „Geselligkeit“.<br />
Selbstbeurteiler Neurotizismus korreliert<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Mäßig mit fremdbeurteiltem Neurotizismus<br />
Mit erhöhter Variabilität der Leistung unter Belastung<br />
Stark mit der selbstberichteten Häufigkeit und Intensität negativer Affekte -> mit<br />
negativer Affektivität<br />
Mit beliebigen subjektiven körperlichen Beschwerden, nicht aber mit<br />
objektivierbaren Beschwerden (Der Zusammenhang mit subjektiven Beschwerden<br />
besteht auch dann, wenn Neurotizismus nur durch Items erfasst wird, die sich nicht auf<br />
körperliche Beschwerden beziehen.)<br />
Neurotizismus hat erhebliche praktische Konsequenzen -> neurotische Menschen suchen<br />
Ärzte auf, ohne wirklich krank zu sein.<br />
<br />
<br />
Diagnose: „vegetative Dystonie“ oder<br />
„psychovegetative Labilität“: Unterstellung, dass<br />
ihre Beschwerden eine objektivierbare<br />
physiologische Basis haben, ohne das wirklich<br />
nachzuweisen.<br />
Ca. 40% werden medikamentös behandelt, obwohl<br />
sie über Beschwerden ohne objektivierbare<br />
Grundlage klagen.
32 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Untersuchungen von Myrtek et al (1998): Neurotizismus korreliert nicht mit Messungen diverser<br />
Indikatoren physiologischer Erregungen. (z.B. korrelieren berichtete Herzbeschwerden<br />
stark mit Neurotizismus, echte EKG-Maße aber nicht.)<br />
Diskrepanzen zwischen subjektivem und objektivierbaren Beschwerden können beruhen<br />
auf:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Ungenauigkeit der Interozeption (d.h. der Wahrnehmung eigener Körpervorgänge)<br />
Einfluss von Neurotizismus auf das aktuelle Erleben<br />
Sozialer Verstärkung von Krankheitssymptomen (sekundärer Krankheitsgewinn<br />
durch emotionale Zuwendung anderer, Vermeidung unangenehmer Situationen,<br />
finanzielle Vorteile)<br />
Evtl. auch Verzögerungen zwischen objektivierbaren und subjektiven Symptomen<br />
(Längsschnittstudien vonnöten)<br />
Evtl. auch unzureichendem medizinischem Wissen über objektivierbare Symptome<br />
EYSENCKS THEORIE TEIL II:<br />
Die beiden Temperamentsdimensionen beruhen auf interindividuellen Unterschieden in<br />
retikulärer bzw. limbischer Aktivierung. -> Physiologische Grundlagen von Extraversion<br />
und Neurotizismus.<br />
Extraversion wird auf Unterschiede in der retikulären Aktivierung (ARAS-System im<br />
Hirnstamm) bezogen.<br />
Nichtlineare Beziehungen zwischen dem Aktivierungspotential von Situationen und der<br />
retikulären Aktivierung: Introvertierte sind schneller erregbar, Extravertierte<br />
langsamer.<br />
Transmaginale Hemmung bei<br />
Introvertierten: ab einem<br />
mittleren Erregungsniveau<br />
nimmt aber das positive<br />
Gefühl schon ab.<br />
Deutlich späteres Maximum an<br />
Erregung für gute Gefühle bei<br />
extravertierten benötigt.<br />
Aus Eysencks Theorie lassen sich Hypothesen über Unterschiede zwischen Introvertierten<br />
und Extravertierten in schwach-mittelstark aktivierenden Situationen ableiten:<br />
<br />
<br />
<br />
Stärkere EEG-Desynchronisation (typisches EEG-Muster bei ARAS-Aktivierung) von<br />
Introvertierten<br />
Größere Leistungsfähigkeit von Introvertierten (da die maximale Leistungsfähigkeit<br />
nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz bei mittelstarker Erregung erzielt wird)<br />
Größeres Wohlbefinden von Introvertierten<br />
Aber diese Hypothesen wurden nicht bestätigt! Befunde sind widersprüchlich!
33 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Nur die Befunde über die phasische Hautleitfähigkeit bestätigt Eysencks Theorie für<br />
Extraversion (Matthews & Gilliland, 1999)<br />
Seine Theorie für Neurotizismus konnte angesichts der Schwierigkeit, limbische<br />
Aktivierung zu messen, ebenfalls nicht bestätigt werden.<br />
Insgesamt:<br />
Teil I wurde gut bestätigt (Extraversion und Neurotizismus sind ja auch Teil der Big Five) -><br />
Teil I geht in das Fünffaktormodell der Persönlichkeit auf!<br />
Teil II wurde nicht bestätigt. (Eysencks Konzepte zu retikulärer und limbischer Aktivierung<br />
sind zu undifferenziert, da es mehrere Aktivierungssysteme auf deren Ebenen gibt.)<br />
Jeffrey Gray (London: 1943-2004)<br />
TEMPERAMENTSTHEORIE VON GRAY<br />
Modifikation beider Teile von Eysencks Theorie 1982: Unterscheidung von drei<br />
Verhaltenssystemen:<br />
<br />
<br />
<br />
Verhaltensaktivierungssystem<br />
Verhaltenshemmungssystem<br />
Angriff/Flucht-System<br />
Verarbeitung konditionaler Reize für<br />
Strafe/Nichtbelohnung und<br />
Belohnung/Nichtbestrafung<br />
Verarbeitung unkonditionaler Reize<br />
für Strafe/Nichtbelohnung<br />
Verarbeitung unkonditionaler Reize<br />
für Belohnung/Nichtbestrafung gibt es<br />
nach Gray nicht.<br />
Temperamentsunterschiede resultieren aus unterschiedlichen Stärken des<br />
Verhaltensaktivierungs- und des Verhaltenshemmungssystems.
34 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Kombination beider Systeme: zweidimensionales Modell mit den Dimensionen Gehemmtheit<br />
und Aktiviertheit<br />
(beschreibt den gleichen Temperamentsraum wie Teil I von Eysencks Theorie, ist aber um 45°<br />
gedreht)<br />
schüchtern<br />
Aggressiv,<br />
erregbar,<br />
wechselhaft<br />
Friedlich,<br />
kontrolliert,<br />
bedächtig<br />
Wenig<br />
schüchtern,<br />
wenig<br />
gehemmt<br />
Validität im Bezug auf soziale Situationen: Theorie wird unterstützt durch Befunde zu<br />
Schüchternheit/sozialer Ängstlichkeit (= Gehemmtheit in sozialen Situationen)<br />
<br />
<br />
Schüchternheit korreliert mittelhoch mit Introversion und Neurotizismus<br />
Schüchternheit wird situativ durch Fremde, erwartete Ablehnung oder Nichtbeachtung<br />
hervorgerufen<br />
Beleg durch hypothetische Situationsbeurteilungen und durch experimentelle Herstellung<br />
schüchternheitsauslösender Situationen (Asendorpf 1989)<br />
Revision der Theorie von Gray & McNaughton (2000):<br />
Unterscheidung zwischen konditionierten und unkonditionierten Reizen wird aufgegeben:<br />
Flight-flight-Freezing System (FFFS) vs. Behavioral Approach System (BAS)<br />
Bei gleichzeitiger Aktivierung in unbekannten Situationen wird Behavioral Inhibition System<br />
(BIS) aktiviert.<br />
Ebenfalls konsistent mit Befunden zu Schüchternheit.
35 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
ZUCKERMAN: SENSATION SEEKING<br />
Sensation Seeking (= einzelnes komplexes Merkmal) zerfällt in vier Subdimensionen<br />
(unabhängige Facetten, die das Merkmal bilden):<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Thrill and adventure seeking (Bsp. Bungee)<br />
Experience seeking (Bsp. Drogen ausprobieren)<br />
Disinhibition (Enthemmtheit)<br />
Boredom susceptibility (schnelle Langeweile)<br />
Selbstbeurteilung z.B. durch Sensation Seeking Skala V (Beauducel et al. 2003)<br />
Physiologische Hypothesen zu Zusammenhang mit MAO-B Enzym im Blut: Kontroverse Befunde,<br />
unwahrscheinlich, da MAO-B die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann. Eher Hinweis auf<br />
genetische Aktivität.<br />
Einflussreich, aber übervereinfachend (1987):<br />
CLONINGERS DREIFAKTORENTHEORIE<br />
Erfassung durch Tripartite Personality Questionnaire (TPQ) nach Defeu et al. 1995<br />
Am ehesten noch schwacher Zusammenhang zwischen Neuheitssuche und dopaminerger<br />
Aktivierung bestätigt.<br />
Neuere Theorien beziehen Wechselwirkungen der drei Systeme mit ein (Depue & Collins,<br />
1999)<br />
POSITIVE/ NEGATIVE AFFEKTIVITÄT<br />
Korrelieren nur gering negativ: Sind eher unabhängige Dimensionen mit Neigung zu<br />
Extraversion und Neurotizismus<br />
Erfassung durch PANAS Skalen nach Krohne et al. 1996<br />
Hypothese von Davidson (1992):<br />
- Positive Affekte = linkshemisphärische Aktivierung<br />
- Negative Affekte = rechtshemisphärische Aktivierung
36 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Fraglicher Schluss von intra- auf interindividuell<br />
Widerlegung durch Harmon-Jones & Allen 1998: bei Ärger(lichkeit) überwiegend<br />
linkshemisphärisch: eher Annäherungs-/Vermeidungstendenz?<br />
ÄNGSTLICHKEIT<br />
Selbstbeurteilte allgemeine Ängstlichkeit korreliert hoch mit Neurotizismus. -> Gleichsetzung<br />
auf Konstruktebene nicht möglich!<br />
Wenn Ängstlichkeit situationsspezifisch differenziert wird gibt es nur eine geringe transsituative<br />
Konsistenz. -> es gibt nicht eine einheitliche Ängstlichkeit, sondern einer Hierarchie von<br />
mehr oder weniger situationsspezifischen Ängstlichkeiten (Angstsituationen).<br />
Je spezifischer die Situationen gewählt werden, desto geringer ist die Korrelation zwischen den<br />
entsprechenden Ängstlichkeitsskalen.<br />
Selbstbeurteile Ängstlichkeit korreliert in angstauslösenden Situationen nicht/sehr<br />
selten mit beobachteter oder physiologisch erfasster Ängstlichkeit<br />
(gleiches Problem wie bei Neurotizismus bzw. subjektiven Krankheitssymptomen)<br />
+ Problem der mangelnden Kohärenz verschiedener Angstreaktionen aufgrund<br />
individueller Reaktionshierarchien:<br />
Korrelation verschiedener physiologischer Angstmaße (Puls, Herzrate, Schweiß,<br />
Hautleitfähigkeit) zwar intraindividuell mit zunehmend empfundener Angst, nicht aber<br />
interindividuell in ein und derselben Situation (manche Menschen haben evtl. sowieso<br />
höheren Puls, es gibt individuelle Reaktionshierarchien).
37 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
ZUSAMMENFASSUNG<br />
Ein empirisch gut bestätigtes Temperamentskonzept, in dem selbstberichtete,<br />
beobachtete und physiologisch gemessene Indikatoren systematisch aufeinander<br />
bezogen sind, gibt es nach wie vor nicht.<br />
Vielmehr korrelieren selbstberichtete Temperamentsindikatoren oft nicht nur nicht mit<br />
beobachteten oder physiologisch gemessenen Indikatoren, sondern auch letztere korrelieren<br />
untereinander gering bist gar nicht.<br />
Ein einheitliches Temperamentskonzept, wie es in der Alltagspsychologie besteht, konnte<br />
also bisher nicht psychophysiologisch bestätigt werden.<br />
FÄHIGKEITEN<br />
Fähigkeiten sind Persönlichkeitseigenschaften, die Leistungen ermöglichen.<br />
Leistungen sind Ergebnisse von Handlungen, die nach einem Gütemaßstab bewertbar<br />
sind: das Ergebnis ist gut oder schlecht.<br />
Leistungen hängen nicht nur von Fähigkeiten, sondern auch von der Anstrengung ab.<br />
Deshalb können Leistungsunterschiede nur dann als Fähigkeitsunterschiede interpretiert<br />
werden, wenn alle Getesteten sich maximal anstrengen (Kompetenz-Performanz-Problem).<br />
-> Fähigkeiten werden deshalb durch maximale Leistung zu erfassen gesucht (andere P-<br />
Merkmale dagegen durch typisches Verhalten).<br />
Verwandt mit Fähigkeitskonzept: Begabung. -> aber nicht in <strong>Psychologie</strong> verwendet, da es<br />
Annahmen über Ursachen (angeboren, durch lernen kaum veränderbar) enthält, die nicht Teil<br />
der Definition sein sollten, sondern der empirischen Prüfung überlassen werden sollten.<br />
(Ausnahme: extrem hohe Fähigkeiten (2% der Bevölkerung) -> auch <strong>Psychologie</strong> spricht von<br />
Hochbegabung)<br />
Es gibt viele Fähigkeitsbereiche: Psychologisch untersucht sind die intellektuellen, sozialen<br />
und emotionalen Fähigkeiten<br />
Intellektuelle Fähigkeiten sind im Fünffaktorenmodell der Persönlichkeit im Faktor<br />
Intellekt (auch Kultur oder Offenheit für neue Erfahrungen) repräsentiert: Faktorenanalysen<br />
von Items des Offenheitsfaktors ergeben oft drei Unterfaktoren:<br />
<br />
<br />
<br />
Intelligenz<br />
Kreativität<br />
Nachdenklichkeit<br />
Intelligenz ist daher nur ein Aspekt von Offenheit, korreliert deshalb mit Offenheit!
38 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
„Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen“<br />
INTELLIGENZ<br />
‣ 1884: Öffentliche Sinnesprüfungen von Francis Galton im „anthropometrischen<br />
Labor“:<br />
Spezifische Sinnesleistungen (Reaktionszeiten, Wahrnehmungsschwellen, Sehschärfe etc.)<br />
korrelierten jedoch nur minimal untereinander. Außerdem gab es keine Korrelationen<br />
dieser mit dem Studienerfolg (nach MacKeen Catell) -> Sackgasse der Intelligenzforschung!<br />
‣ Alfred-Binet-Test (1905): höheres Komplexitätsniveau (ursprünglich entwickelt zur<br />
Einweisung von Kindern in Sonderschulen)<br />
Versuch, Intelligenz auf das mittlere Intelligenzniveau eines Geburtenjahrgangs zu<br />
beziehen, indem das Intelligenzalter eines Kindes durch mittelschwere Aufgaben für<br />
benachbarte Altersgruppen getestet wurde.<br />
Intelligenzalter= Grundalter + <strong>12</strong>*k/n<br />
<br />
<br />
<br />
Grundalter (in Monaten) = Alter, bis zu dem alle Aufgaben gelöst wurden<br />
k = Zahl der zusätzlich gelösten Aufgaben<br />
n = Zahl der zu lösenden Aufgaben pro Alter<br />
(Aufgaben für 3-15 Jahre alte)<br />
Problem: Intelligenzunterschiede sind zwischen Altersgruppen nicht vergleichbar, da der<br />
Leistungszuwachs in Intelligenztests mit wachsendem Alter geringer wird!<br />
‣ William Stern 19<strong>11</strong>: Intelligenzquotient<br />
IQ = 100 * Intelligenzalter/Lebensalter<br />
Empirisch hatten die IQ-Werte eine ähnliche Standartabweichung von<br />
etwa 15 innerhalb von Altersgruppen im Bereich von 3-13 Jahren und<br />
waren deshalb zwischen den Altersgruppen vergleichbar.<br />
Aber: Auch die Sternschen IQ-Werte sind problematisch für Personen<br />
über 13, da der IQ-Zuwachs dort nicht mehr linear verläuft.<br />
‣ Wechsler (1939) führte die so genannte Normierung innerhalb von Altersgruppen<br />
ein:<br />
IQ = 100 + 15*z
39 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Z ist die z-transformierte erziele<br />
Gesamtpunktzahl im Test in einer<br />
umfänglichen Normstichprobe mit gleichem<br />
Geburtsjahr.<br />
Testmanuale enthalten im Anhang Tabellen, in<br />
denen pro Altersgruppe der IQ für eine<br />
bestimmte Gesamtpunktzahl angegeben ist.<br />
-> Damit erlauben IQ-Messungen nur noch<br />
differentielle Aussagen! (da Normierung an<br />
einer Eichstichprobe)<br />
Problem der Normierung: Säkularer Trend zu höherer Intelligenzleistung in westlichen<br />
Kulturen im 20. Jahrhundert (Flynn-Effekt)<br />
Tests müssen immer neu normiert werden, da sonst der IQ die tatsächliche Intelligenz<br />
zunehmend überschätzt.<br />
Da die Schulleistung diesem Trend oft nicht folgt, ergeben sich zusätzliche Probleme bei der<br />
Legastheniemessung durch Differenz von IQ minus Lese-/Rechtschreibleistung: Bis zur<br />
Neunormierung des IQ nimmt die Zahl der Legastheniker zu, dann wieder ab.<br />
Intelligenzstruktur:<br />
Intelligenztests: Untertests, die spezifischere Leistungen erfassen (sprachliche,<br />
mathematisch, räumliches Vorstellungsvermögen etc.)<br />
Spearman 1904: Zwei-Faktoren-Theorie mit globalem g-Faktor<br />
(allgemeine Intelligenz) und untereinander nicht korrelierten<br />
spezifischeren Faktoren.<br />
Theorie trifft aber nicht zu!!<br />
Annahme: Die Struktur von Intelligenztests ist vielmehr eine empirische Frage, die von<br />
den speziellen Untertests abhängt.<br />
Typisch sind Unterscheidungen:<br />
<br />
<br />
Verbale – nichtverbale Intelligenz<br />
Fluide (nicht kultur- und erfahrungsbedingt) – kristalline (erfahrungs- und<br />
kulturbedingt) Intelligenz<br />
Die einzelnen Untertests korrelieren untereinander typischerweise mit r=.30<br />
Bei ausreichend großer Zahl ist deshalb der Gesamttest durchaus intern konsistent -> Nutzung<br />
des Aggregationsprinzips.
40 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Beispiel: Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WIE)<br />
Berliner Intelligenzstrukturmodell BIS (Jäger et al.<br />
1997):<br />
4 Operationen x 3 Inhalte = <strong>12</strong> Untertesttypen<br />
Operationen:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Bearbeitungsgeschwindigkeit<br />
Gedächtnis<br />
Einfallsreichtum<br />
Verarbeitungskapazität<br />
Inhalte:<br />
<br />
<br />
<br />
Figural-bildhaft<br />
Verbal<br />
numerisch<br />
Beispiele: Culture Fair Intelligence Test (CFI) -> sehr reliabel und messgenau, Frage nach<br />
Validität und Vorhersage bleibt noch offen.<br />
Verbale und nichtverbale Intelligenz:<br />
<br />
<br />
Verbaler IQ korreliert stärker mit<br />
sozialer Schicht als nichtverbaler IQ<br />
Mittlere Schulnote korreliert gleich hoch<br />
mit beidem.<br />
Validität des IQ:<br />
Korrelation mit Grundschul-Gesamtnote: um .50<br />
Korrelation mit Abitur-Gesamtnote: um .30<br />
Korrelation mit Bildungsniveau: um .70<br />
Korrelation mit Berufsprestige mit 40: um .70<br />
Aber: Korrelation mit Erfolg in Beruf nur .20-.30<br />
Grund: Varianzeinschränkung innerhalb von Berufen und Unreliabilität des Erfolgskriteriums<br />
(z.B. Vorgesetztenurteil)<br />
Nach Kontrolle beider Fehlerquellen ist geschätzte „wahre“ Korrelation zwischen IQ und<br />
Berufserfolg in der Metaanalyse von Schmidt & Hunter (1998) bei r=.51<br />
Bei Studienerfolg (Kriterium „Abschlussnote“) weist IQ inkrementelle Validität gegenüber<br />
der Abiturnote auf; -> Deshalb gelten Intelligenztests bei der Studierendenauswahl als sinnvoll.
41 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Die meisten Zulassungstests zum Studium sind verkappte IQ-Tests (z.B. Medizinertest,<br />
geplante Tests für <strong>Psychologie</strong>studierende); Sie werden nur wegen der Akzeptanzprobleme von<br />
IQ-Tests in der Öffentlichkeit nicht so genannt.<br />
Beim Studienerfolg (Noten) besitzen Zulassungstest inkrementelle Validität gegenüber<br />
der Abiturnote: Beispiel: Vorhersage medizinisch schriftliche Vorprüfung bei 27.000<br />
Studierenden (nach Trost 2004):<br />
Abiturnote: .48<br />
Medizinertest: .53<br />
Abiturnote und Medizinertest: .58<br />
Weitere Korrelationen des IQ mit:<br />
Schnelligkeit der Unterscheidung von „---„ mit „----„ nichtverbaler IQ .45, verbaler IQ .18<br />
Schnelligkeit Zugriff zum verbalen KZG: nichtverbaler IQ .05, verbaler IQ .43<br />
IQ misst unter anderem die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung bei einfachen<br />
Aufgaben, aber er erfasst auch komplexere Fähigkeiten, die Nachdenken erfordern. -> Er ist<br />
deshalb so valide, weil er beides erfasst.<br />
Definition von Sternberg (1985): Intelligenz ist die Fähigkeit, kontextuell angemessenes<br />
Verhalten in neuen Situationen oder während der Automatisierung des Umgangs mit bekannten<br />
Situationen zu zeigen. -> Insofern erfasst Intelligenz auch Lernfähigkeit.<br />
Neurophysiologische Grundlagen:<br />
<br />
<br />
<br />
Myelinisierungshypothese<br />
Neuronale Plastizitätshypothese<br />
Weitere Ansätze (Schulter & Neubauer, 2005): Kürzere Latenz evozierter Potentiale im<br />
EEG, Befundlage aber nicht einheitlich. Neuronale Effizienz: Geringere räumliche<br />
Kohärenz der kortikalen EEG-Aktivierung, geringerer Energieverbrauch (gemessen mit<br />
PET und MRT)<br />
Kausalfrage ungelöst: IQ -> Effizienz oder Effizienz -> IQ, Drittvariable?<br />
Multiple Intelligenzen:<br />
Gardner (1983) kritisierte das psychologische Intelligenzkonzept als zu eng und schlug<br />
eine Erweiterung auf 7 „multiple Intelligenzen“ vor:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Sprachliche<br />
Logisch-mathematische<br />
Räumliche<br />
Musikalische<br />
Körperlich-kinästhetische<br />
Interpersonale<br />
Intrapersonale<br />
Damit verwechselte er Intelligenz mit Fähigkeiten; eine Gleichsetzung würde das<br />
Intelligenzkonzept verwässern.
42 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
KREATIVITÄT<br />
Beispiel: Neun-Punkte-Problem zeigt, dass die Lösung eine „Erweiterung<br />
des Problemlöseraumes“ erfordert.<br />
Kreativitätstheorie nach Guilford (1950):<br />
Intelligenz erfordert konvergentes Denken, Kreativität dagegen<br />
erfordert divergentes Denken.<br />
Vier Komponenten des divergenten Denkens:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Sensitivität gegenüber Problemen<br />
Flüssigkeit des Denkens<br />
Originalität des Denkens<br />
Flexibilität des Denkens<br />
Schwellenmodell für Zusammenhang zwischen Intelligenz und Kreativität: Bis zu einer IQ-<br />
Schwelle starker Zusammenhang, bei höherem IQ kein Zusammenhang mehr -> d.h. Kreativität<br />
erfordert Minimal-IQ.<br />
Empirische Bewährung der Theorie von Guilford:<br />
Problem: Verschiedene Kreativitätstests korrelieren untereinander nur mäßig: Diese<br />
Korrelation geht vor allem auf Korrelationen mit dem IQ zurück; nach statistischer Kontrolle<br />
sind Korrelationen der Kreativitätstests untereinander oft geringfügig oder gar null.<br />
Das Schwellenmodell für Zusammenhang IQ-Kreativität konnte nicht empirisch bestätigt<br />
werden.<br />
Was sind gute Validitätskriterien für die Validierung von Kreativitätstests?<br />
z.B.:<br />
<br />
<br />
<br />
kreative Schüler, beurteilt durch Lehrer?<br />
Kreative Architekten, beurteilt durch Berufskollegen?<br />
Kreative Ingenieure, Kriterium: Anzahl der angemeldeten Patente?<br />
Es gibt bisher keine validen Kreativitätstests für Leistungen innerhalb eines Berufs.<br />
Aber: Vorhersage Ausübung kreativer Beruf mit 52 Jahren<br />
durch Prädiktoren bei Abschluss der Kunsthochschule mit 24<br />
durch CPI-Selbstbeurteilung (California Personality<br />
Inventory) „Kreatives Temperament“ (Helson et al. 1995)<br />
Selbst- und fremdbeurteilte Kreativität sind also<br />
valide, zumindest was die Berufswahl angeht.<br />
Es fehlen aber „objektive“, nicht verfälschbare<br />
Kreativitätstests, die dasselbe leisten und möglicherweise sogar die mehr oder weniger<br />
kreative Ausübung desselben Berufs vorhersagen.<br />
Von daher ist die Kreativitätsforschung bisher weniger erfolgreich als die<br />
Intelligenzforschung.
43 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
SOZIALE KOMPETENZ<br />
Soziale Kompetenz ist die Fähigkeit, mit anderen gut zurecht zu kommen.<br />
In der Regel werden zwei Komponenten angenommen:<br />
<br />
<br />
Durchsetzungsfähigkeit und Beziehungsfähigkeit<br />
Oder Sensitivität (Empathie) und Handlungskompetenz<br />
Ein erstes Problem ist, dass diese beiden Komponenten jeweils nur geringfügig korrelieren,<br />
denn:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Durchsetzungsfähigkeit bedroht gute Beziehung<br />
Gute Beziehung bei Aufgabe eigener Interessen<br />
Hoch sensitive, handlungsunfähige Menschen<br />
Aktivisten, die „über Leichen gehen“<br />
Zweites Problem: Komplexer Gegenstand: Beispiel:<br />
Prototypisch sozial kompetentes Verhalten (Amelang et<br />
al. 1989)<br />
Konvergente und diskriminante Validität von Beurteilungen verschiedener Kompetenzen<br />
(Amelang et al. 1989)<br />
Soziale Kompetenz ist also alltagspsychologisch klar von Intelligenz trennbar!<br />
Messung sozialer Kompetenz:<br />
Zur Messung sozialer Sensitivität wurden diverse Empathietests entwickelt:<br />
Beispiel: Videoclips über soziales Verhalten anderer soll korrekt interpretiert werden (zum Teil<br />
sehr kurze Clips wie im Profile of Nonverbal Sensitivity Test – PONS nach Rosenthal et al., der zur<br />
Auswahl von FBI-Agenten eingesetzt wurde)<br />
Problem: Die Tests korrelieren nur geringfügig untereinander, wobei diese Korrelation<br />
meist über den IQ vermittelt ist (siehe Kreativitätstests).
44 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Zur Messung von Handlungskompetenz gibt es drei Verfahren:<br />
<br />
<br />
<br />
Lösen hypothetischer sozialer Probleme: Korrelieren aber „zu hoch“ mit dem IQ und<br />
erwiesen sich als invalide im Vergleich mit tatsächlich gezeigter Kompetenz<br />
Selbstbeurteilung sozialer Fertigkeiten: Wenig valide, da Tendenz zu sozial<br />
erwünschten Antworten (Beispiel: Interpersonal Competence Questionnaire ICQ nach<br />
Riemann et al. 1993)<br />
Beobachtung tatsächlicher Kompetenz in inszenierten Situationen:<br />
o Beobachtung elementarere sozialer Fertigkeiten in Verhaltenstests<br />
differenzieren nicht zwischen mittlerer und hoher Kompetenz (z.B.<br />
Selbstsicherheitstrainings)<br />
o Rollenspiele von Konfliktsituationen aus dem beruflichen Alltag: Künstliche<br />
Situation, die wenig Aufschluss über typisches Verhalten gibt<br />
o Präsentation vor Publikum: Valide, erfasst aber nur spezifische Kompetenz<br />
o Gruppenverhalten: Etwas künstliche Situation, gibt nur begrenzt Aufschluss über<br />
typisches Verhalten<br />
‣ Reliabilitäten von .50 oder .75 können zwar erreicht werden, aber die<br />
transsituative Konsistenz der Urteile ist gering und die Korrelation zwischen<br />
unterschiedlichen Urteilsdimensionen aufgrund von Halo-Effekten überhöht.<br />
‣ Unterscheiden lassen sich meist nur zwei Faktoren: Selbstvertrauen/Dominanz<br />
und Freundlichkeit/Kooperativität<br />
EMOTIONALE KOMPETENZ<br />
Konzept einer einheitlichen „emotionalen Intelligenz“ (EQ) wurde vom Journalisten Goleman<br />
1995 publik gemacht.<br />
Nach Mayer et al. (2000) lassen sich hierbei unterscheiden:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Wahrnehmung von Emotionen bei sich und anderen, emotionale Expressivität<br />
Förderung des Denkens durch Emotionen<br />
Verstehen und Analysieren von Emotionen<br />
Regulation von Emotionen<br />
Erfassung durch Meyer-Salovey-Caruso Emotional Intelligence Test (MSCEIT) nach Mayer et al.<br />
(2000): Angemessene Antworten für hypothetische emotionale Situationen werden erfragt<br />
(Testautoren haben festgelegt, was angemessen ist) -> aber: Geringe Reliabilität, unklare<br />
Validität (vgl. soziale Kompetenzmessung durch hypothetische Situationen)<br />
(Beispiel: Matthews et al. (2006) brachten MSCEIT und NEO-FFI in Konkurrenz bei Vorhersage<br />
Erleben und Verhalten bei Leistungsstress. -> NEO-FFI sagte Erleben vor Stress gut vorher; NSCEIT<br />
erklärte nur 5% zusätzliche Varianz. Paradoxerweise korrelierte MSCEIT mit Zunahme erlebter<br />
Belastung während Stress und überhaupt nicht mit der Leistung unter Stress; diese wurde aber<br />
durch Gewissenhaftigkeit und Offenheit vorhergesagt. -> MSCEIT besaß keine Validität!)
45 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Nach Zee et al. (2002): Analyse von Selbst- und Fremdbeurteilungen emotionaler Kompetenz<br />
ergab zwei unabhängige Faktoren, die nicht oder sogar negativ mit dem IQ korrelieren:<br />
Empathie für Emotionen und Emotionale Kontrolle (analog zur sozialen Kompetenz: soziale<br />
Sensitivität und Handlungskontrolle)<br />
Trierweiler et al. (2002): Emotionale Expressivität ist nicht konsistent zwischen<br />
verschiedenen Emotionen (wer Ärger klar ausdrückt tut dies nicht unbedingt bei Angst…)<br />
Es gibt kein einheitliches Konstrukt der emotionalen Kompetenz, sondern mehrere<br />
unabhängige Dimensionen emotionaler Kompetenzen (ähnlich sozialer Kompetenz)!<br />
Definition:<br />
ASSESSMENT CENTER (AC)<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
In der Personalauswahl für gehobene Positionen verwendete Sequenz von Situationen,<br />
in denen die Teilnehmer alleine oder in Kleingruppen zusammen mit anderen<br />
Teilnehmern und Beobachtern berufsrelevante Aufgaben bearbeiten, insbesondere<br />
solche, die soziale Kompetenzen erfordern.<br />
Verfahren dauert 1-3 Tage<br />
Akzeptanz bei Teilnehmern und Unternehmensführung ist höher als bei Tests, so dass<br />
dieses Verfahren trotz der hohen Kosten weit verbreitet ist.<br />
Typische Aufgaben:<br />
o Präsentation bei kurzer Vorbereitungszeit<br />
o Rollenspiel einer Konfliktsituation<br />
o Gruppendiskussion<br />
o Postkorb (Aufgaben in optimaler Sequenz ordnen)<br />
Validität:<br />
Thorton et al. (1987): Metaanalyse von 50 Studien: Mittlere Validität für das<br />
Vorgesetztenurteil nach Kontrolle von Unreliabilität und Varianzeinschränkung: .37, allerdings<br />
große Heterogenität der Ergebnisse zwischen den Studien<br />
Validität variiert mit Beurteilungskriterien und –zielen:<br />
Schmidt & Hunter (1998): Metaanalyse: Vergleich von IQ und AC: AC erbringt gegenüber dem<br />
IQ nur eine minimale inkrementelle Validität. -> Aufwand lohnt sich eigentlich nicht!
46 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Studie von Scholz & Schuler (1993) zeigt das<br />
Gleiche:<br />
Allerdings: Je geringer die Intelligenzunterschiede zwischen den Getesteten sind, desto<br />
eher sind AC geeignet, zusätzlich zum IQ das Vorgesetztenurteil vorherzusagen.<br />
Schuler et al. (1995): Entwicklungsingenieure<br />
Vorhersage durch IQ, Fragebögen und AC: .57<br />
Vorhersage durch IQ und Fragebögen: .46<br />
Bei hoher Bildung der Getesteten oder hohen Kosten von Fehlentscheidungen sind AC ok!<br />
HANDLUNGSEIGENSCHAFTEN<br />
Handlungseigenschaften sind kein etablierter begriff in der <strong>Psychologie</strong>, sondern vielmehr eine<br />
Überschrift über ein heterogenes Gebiet der <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong>, in dem<br />
Persönlichkeitsunterschiede im zielgerichteten Handeln im Mittelpunkt stehen.<br />
Dispositionen mit Bezug auf<br />
Verhaltensrichtung:<br />
Dispositionen mit Bezug auf<br />
Überzeugungen über eigenes Handeln:<br />
<br />
<br />
<br />
Bedürfnisse<br />
Motive, Persönliche Ziele<br />
Interessen<br />
<br />
<br />
<br />
Erwartungsstile<br />
Kontrollüberzeugungen<br />
Attributionsstile<br />
BEDÜRFNISSE<br />
Konzept der Bedürfnisse dominierte die Psychoanalyse, die Ethologie von Lorenz und ältere<br />
Motivationspychologie, in der Motive in Analogie zu Hunger, Durst und sexuellen<br />
Bedürfnissen in Form von Regelkreismodellen konzeptualisiert wurden.<br />
Regelkreismodelle von Bedürfnissen: Annahme von individuell<br />
charakteristischen Sollwerten (z.B. Sattsein, sexuelles<br />
Befriedigtsein) -> Persönlichkeitsunterschiede = Sollwerte!<br />
Sollwerte werden mit dem aktuellen Ist-Zustand verglichen<br />
(Abweichungen motivieren Verhalten)<br />
<br />
<br />
<br />
Hunger und Durst: Abweichungen primär intern produziert<br />
Sex intern<br />
Neugier primär extern
47 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
(nach Bischof 1985)<br />
Hierarchie der Bedürfnisse nach Maslow<br />
(1954): Mangelbedürfnisse vs.<br />
Wachstumsbedürfnisse (keine Übersättigung) –<br />
empirisch ungeprüftes Modell:<br />
MOTIVE<br />
Heutige Motivationspsychologie: Rationale Zielbildungsprozesse, die Erwartungs x Wert-<br />
Modell folgen. Am besten für Leistungsmotivation ausgearbeitet.<br />
Motivationsstärke ist aktueller Zustand einer Person in motivierender Situation Motiv ist<br />
überdauernde Tendenz zu bestimmtem Motivationsstärken in motivanregenden<br />
Situationen: Motiv ist Persönlichkeitsmerkmal!<br />
Motiv = Bewertungsdispositionen für Handlungsfolgen (nach Heckhausen & Heckhausen<br />
2006)<br />
MOTIVMESSUNG<br />
Motive werden oft durch projektive Tests gemessen:<br />
Beispiel: TAT (Thematischer Apperzeptionstest von Murray 1943)<br />
Proband soll Geschichten zu mehrdeutigen Bildern erzählen, die bestimmte Motive<br />
mittelstark erregen. Häufigkeit, mit der ein bestimmtes Motiv in den Geschichten vorkommt,<br />
wird als Motivstärke interpretiert: Motiv wurde in Geschichten „hineinprojiziert“. Die so<br />
gemessenen Motive sind den Probanden nicht unbedingt bewusst. Ziel der Verfahren: Latente/<br />
implizite Motive erfassen.<br />
Kritik am TAT:<br />
<br />
Interne Konsistenz nur ca .50 bei ca. 6 Bildern: Verteidigung -> Motivwechsel durch<br />
Sättigungseffekt
48 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Retestreliabilität über wenige Wochen nur ca. .50: Verteidigung -><br />
Kreativitätseffekte bei wiederholter Testung (Winter & Stewart 1977)<br />
Unklarheit der Interpretation:<br />
o Eigenes Motiv oder nur Sensitivität für Thema?<br />
o Lassen sich Trait- und Stateanteile unterscheiden?<br />
Asendorpf (1944): Kinder mit hohen Werten um Aggressions-TAT sind entweder tatsächlich<br />
stark aggressiv (Erzieherurteil) oder sie erkennen diese Reize besonders gut (Sensitivität<br />
gegenüber Aggressionsthematik)<br />
Verteidigung: Moderne Kodiersysteme für implizite Motive nutzen thematische<br />
Motivindikatoren, die experimentell validiert wurden: Methode der Experimentellen<br />
Differenzierung.<br />
Experimentelle Differenzierung: Beispiel aus<br />
unserem Labor:<br />
Thematische Kategorien indizieren<br />
motivationale Zustände. Es bleibt jedoch unklar,<br />
inwieweit von motivationalen Zuständen auf<br />
stabile Motivdispositionen geschlossen werden<br />
kann.<br />
Alternativen zum TAT:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Operanter Motiv-Test (OMT) nach Kuhl & Scheffer (1999) mit mehr Bildern aber nur<br />
Bitte, Stichworte statt ausformulierter Geschichte zu schreiben<br />
Partnerschaftsbezogener Agency und Communion Test (PACT) nach Hagemeyer und<br />
<strong>Neyer</strong> (20<strong>12</strong>) misst beziehungsspezifische Motive<br />
Motiv-Gitter von Schmalt (1976) mit vorgegebenen Antwortalternativen ist nur<br />
semiprojektiv<br />
Motiv-IAT von Brunstein & Schmitt (2004) implizites Konzept der eigenen Kompetenz<br />
Reliabilität ist zwar besser, Validität steht aber zum Teil noch aus!<br />
Bewusste (explizite) Motive können mit<br />
Fragebögen erfasst werden:<br />
Beispiel: Skalen der Personality Research<br />
Form (PRF):<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Leistungsstreben<br />
Geselligkeit<br />
Aggressivität<br />
Dominanzstreben<br />
Ausdauer<br />
Bedürfnis nach Beachtung<br />
Risikomeidung<br />
Impulsivität<br />
Hilfsbereitschaft<br />
Ordnungsstreben<br />
Spielerische Grundhaltung<br />
Soziales Anerkennungsbedürfnis<br />
Anlehnungsbedürfnis<br />
Allgemeine Interessiertheit
49 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Projektive Tests und Fragebögen für dasselbe Motiv korrelieren meist nur äußerst gering<br />
Nach McClelland et al. (1989) erfassen z.B. beim Leistungsmotiv:<br />
<br />
<br />
Projektive Tests operantes Leistungsverhalten (intrinsisch motiviert)<br />
Fragebögen respondentes Leistungsverhalten (extrinsisch motiviert)<br />
Metaanalyse von Spangler (1992): Korrelation von Selbsturteil und projektiv nur .09<br />
Nur schwache Bestätigung von McClelland. Vorhersage von<br />
Leistungsverhalten durch Leistungsmotiv war generell<br />
schwach: Fähigkeiten wurden nicht berücksichtigt.<br />
LEISTUNGSMOTIV:<br />
Risikowahlmodell von Atkinson (1957) I:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Leistungsmotivation L<br />
Subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit W<br />
Leistungsmotiv M<br />
M x (1-W) -> Wertkomponente der Motivation<br />
W -> Erwartungskomponente der Motivation<br />
L = M x (1-W) x W<br />
M besteht aus<br />
Erfolgsmotiv Me, Erfolg anzustreben<br />
Misserfolgsmotiv Mm, Misserfolg zu meiden<br />
Beide sind nur schwach negativ korreliert, daher:<br />
W – W^2 bzw. (1-W) x W ist maximal bei W=0.5<br />
L = Me x (1-W) x W – Mm x (1-W) x W<br />
= (Me – Mm) x (W – W^2)<br />
Folgerungen:<br />
Erfolgsmotivierte wählen eher<br />
Aufgaben mittlerer Schwierigkeit<br />
und bearbeiten diese besser und<br />
ausdauernder.<br />
Misserfolgsmotivierte wählen eher<br />
sehr leichte oder sehr schwere<br />
Aufgaben und bearbeiten diese besser<br />
und ausdauernder.<br />
Annahmen empirisch bestätigt<br />
(allerdings eher für W = 0.7 als W =<br />
0.5)
50 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
ANSCHLUSSMOTIV<br />
Unter dem Anschlussbedürfnis wird seit Murray (1938) das Bedürfnis nach Aufnahme und<br />
Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen unabhängig vom Grad der erreichten<br />
Vertrautheit verstanden.<br />
Davon unterschieden wird seit McAdams (1980) das Intimitätsbedürfnis, das sich auf<br />
Aufnahme und Aufrechterhaltung intimer Beziehungen bezieht (intim im Sinne eines<br />
intensiven, positiven Austauschs, nicht notwendig sexuell).<br />
(Wohl eher Anschluss- und Intimitätsmotiv?!)<br />
Anschlussmotiv kann wie das Leistungsmotiv in eine Erfolgs- und eine Misserfolgskomponente<br />
aufgespalten werden: Hoffnung auf Anschluss und Furcht vor Zurückweisung<br />
Klassifikation nach Asendorpf (1989):<br />
(Beispiel zur Unterscheidung:<br />
Ungesellige von schüchternen Kindern<br />
unterscheiden sich darin, dass<br />
ungesellige Kinder nie viel mit anderen<br />
machen, Schüchterne aber nur in<br />
großen Gruppen gehemmt sind aber eigentlich viel mit Vertrauten machen.) -> Schüchternheit<br />
korreliert deshalb auch nur mäßig mit Geselligkeit (.30)<br />
MACHTMOTIV:<br />
Unter dem Machtmotiv wird das Bedürfnis nach sozialer Einflussnahme und Prestige<br />
verstanden (Winter, 1973).<br />
Motivumsetzungsstile beschreiben auf welchem Wege, d.h. in welchen Situationen und durch<br />
welche Verhaltensweisen Bedürfnisse befriedigt werden.<br />
<br />
<br />
Sozialisiertes Machtmotiv: Einflussnahme durch sozial erwünschtes Verhalten wie<br />
Helfen, Ratgeben, Lehren, Übernahme von Verantwortung.<br />
Personalisiertes Machtmotiv: Einflussnahme durch dominantes, aggressives,<br />
impulsives Verhalten.<br />
Forschungsfrage: Setzen Frauen ihr Machtmotiv sozialisierter um als Männer?<br />
Winter (1988): Metaanalyse: Weder Geschlechtsunterschiede in der allgemeinen Stärke<br />
noch in der sozialisierten oder personalisierten Umsetzung des Machtmotivs.<br />
Vielmehr scheinen Sozialisationserfahrungen wie die Präsenz jüngerer Geschwister oder<br />
eigener Kinder eine sozial verträgliche Umsetzung des Machtmotivs zu begünstigen.
51 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
PERSÖNLICHE ZIELE:<br />
Individuelle, für wichtig gehaltene, bewusst repräsentierte mittel- oder langfristige Ziele. Ziele<br />
sind spezifischer als Motive, lassen sich aber auf Motive beziehen, z.B. „gut Klavier spielen<br />
können“ auf das Leistungsmotiv.<br />
Erfassung durch idiographische Zielinventare oder standardisierte Fragebögen.<br />
Persönliche Ziele sind weitgehend unabhängig von projektiv erfassten Motiven.<br />
MOTIVKONGRUENZ:<br />
McClelland et al (1989): Weichen Motive und Ziele stark oder dauerhaft voneinander ab, so<br />
hat dies negative emotionale Konsequenzen.<br />
Brunstein et al (1995): Inkongruente Motiv-Ziel-Konstellationen sind mit beeinträchtigtem<br />
emotionalen Wohlbefinden assoziiert.<br />
Ähnliche Befunde wurden in der Folge für mehrfach für alle drei Basismotive berichtet.<br />
INTERESSEN<br />
Interessen beziehen sich darauf, ob bestimmte Tätigkeiten als anziehend oder abstoßend<br />
empfunden werden.<br />
Mögliche Unterscheidung zweier Bewertungsaspekte:<br />
<br />
<br />
Wie angenehm ist die Tätigkeit?<br />
Wie interessant ist die Tätigkeit?<br />
Wenig entwickeltes Gebiet der <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong>, obwohl es direkte Anwendung in der<br />
Berufsberatung hat. Hierfür gibt es Berufsinteressentests.<br />
Beispiel: Sechs Faktoren des Berufsinteresses (Holland, 1975):<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Praktisches<br />
Wissenschaftliches<br />
Künstlerisches<br />
Soziales<br />
Unternehmerisches<br />
Interesse an Büroberufen<br />
Sechseckstruktur des Berufsinteresses nach Prediger 1982: Lage der sechs Holland-Faktoren<br />
in einem zweidimensionalen Raum für Schüler (blau) und Schülerinnen (rot):<br />
Sechs Interessen liegen drei Dimensionen<br />
zugrunde:<br />
<br />
<br />
<br />
G-Faktor: Wie viel Interesse<br />
grundsätzlich<br />
Mensch-Dinge: Soziale Dimension<br />
Daten-Ideen: Konkrete Dimension
52 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Die Passung zwischen Berufsinteressen und Arbeitsinhalten korreliert positiv mit der<br />
Arbeitszufriedenheit, Kausalrichtung aber unklar: Passung -> Zufriedenheit vs. Zufriedenheit -<br />
> Passung<br />
Berufswahl wird durch Fähigkeiten aber besser vorhergesagt als durch Interessen!<br />
HANDLUNGSÜBERZEUGUNGEN<br />
„Handlungsüberzeugungen“ ist kein etablierter Begriff in der <strong>Psychologie</strong>. Gemeint sind damit<br />
Überzeugungen über das eigene Handeln.<br />
Schritt 1: Persönlichkeitsunterschiede in<br />
Erwartungsstilen (z.B. Erfolgserwartung vs.<br />
Misserfolgserwartung) & Motiven<br />
Schritt 2: Regulierung, z.B. drohender<br />
Misserfolg<br />
Persönlichkeitsunterschiede im<br />
Handlungskontrollstil<br />
Schritt 3: Ursachenzuschreibung:<br />
internal vs. external<br />
Persönlichkeitsunterschiede in der<br />
Ursachenzuschreibung/ im<br />
Attributionsstil<br />
Diese drei korrelierenden, in verschiedenen Schritten auftretenden<br />
Handlungsüberzeugungen haben gemeinsamen Faktor = Handlungsoptimismus<br />
Handlungsoptimismus:
53 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Selbstwirksamkeitserwartung: (besondere Form des Erwartungsstils, neben Erfolg vs.<br />
Misserfolg)<br />
Erwartungsstil Selbstwirksamkeitserwartung bezeichnet die Erwartung, zu einem<br />
bestimmten Verhalten fähig zu sein (z.B. Erlerntes in einer Prüfung reproduzieren können).<br />
Der Bezug zum eigenen Handeln grenzt Selbstwirksamkeitserwartungen von<br />
(Miss)Erfolgserwartungen ab: -> Optimistische Fatalisten können eine hohe Erfolgserwartung<br />
bei niedriger Selbstwirksamkeitserwartung haben.<br />
Erfassung z.B. durch Skala nach Schwarzer & Jerusalem (1989)<br />
Handlungskontrollstile<br />
Handlungskontrollstile beziehen sich auf die Ausführung einer Handlung. Man unterscheidet<br />
handlungsorientierte und lageorientierte Handlungskontrollstile.<br />
Drei Formen der Handlungs-/Lageorientierung:<br />
<br />
<br />
<br />
Zögern vs. Initiative<br />
Unbeständigkeit vs. Ausdauer<br />
Präokkupation (lange über etw. nachdenken) vs. Disengagement<br />
Erinnerung an Motive: Furcht vor Misserfolg ist keine homogene Dimension, sondern zerfällt in<br />
zwei trennbare Motive:<br />
<br />
<br />
Tendenz, Misserfolg handlungsorientiert aktiv zu vermeiden<br />
Tendenz, über eingetretenen Misserfolg lageorientiert zu grübeln<br />
Attributionsstile:<br />
Bei der Bewertung von Handlungsergebnissen<br />
wurden vor allem beim leistungshandeln<br />
untersucht:<br />
Attributionsstile bei<br />
(Miss)Erfolgsmotivierten:<br />
Handlungsoptimismus ist also durch<br />
ein selbstwertdienliches<br />
Attributionsmuster<br />
gekennzeichnet: Erfolg wird auf<br />
Fähigkeit, Misserfolg auf<br />
mangelnde Anstrengung<br />
zurückgeführt.
54 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Allgemein:<br />
Alle Handlungsüberzeugungen lassen sich für verschiedene Situationsbereiche getrennt<br />
erfassen, z.B. für intellektuelle Leistungen, sportliche Leistungen und soziale Beziehungen.<br />
Wird das getan, zeigt sich eine geringe transsituative Konsistenz: z.B. kann eine<br />
Handlungsoptimist in Bezug auf die Studienleistung ein Handlungspessimist in Bezug auf<br />
Partnerbeziehungen sein oder umgekehrt.<br />
BEWÄLTIGUNGSSTILE<br />
Bewältigungsstile (auch Copingstile) wurden zuerst in der Stressforschung untersucht<br />
(Lazarus 1966)<br />
Unter Stress werden in der <strong>Psychologie</strong> Belastungen verstanden, die subjektiv als<br />
Überforderung erlebt und deshalb von negativen Emotionen begleitet werden.<br />
Vier Phasen der Stressverarbeitung:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Primäre Bewertung der Situation: bedrohlich?<br />
Sekundäre Bewertung: Bewältigungsstrategien?<br />
Bewältigungsstil anwenden<br />
Neubewertung<br />
Drei Arten von Bewältigungsstilen:<br />
<br />
<br />
<br />
Intrapsychische Stile verändern nicht die<br />
Situation, aber deren Bewertung und die<br />
ausgelösten Gefühle, Bsp. Verdrängung,<br />
Verleugnung<br />
Problemorientierte Stile verändern die<br />
Situation, Bsp. Flucht, Umgestaltung<br />
Ausdruckskontrollstile verändern den<br />
Emotionsausdruck (Bsp. Ärger verbergen),<br />
nicht aber die Situation oder deren<br />
Bewertung<br />
Für unterschiedliche Situationen sind unterschiedliche Bewältigungsstile optimal. -><br />
Jeder Bewältigungsstil hat eine situative Nische, in der er angemessen ist.<br />
(Bsp.: Verdrängung vor unvermeidbaren OPs geeignet, aber in Rehabilitationsphase nicht<br />
mehr!)<br />
Bewältigungsstile sind innerhalb bestimmter Situationsbereiche zeitlich ausgesprochen<br />
stabil, auch bei drastischen Situationsänderungen (Bsp. Krebspatienten im Verlauf der<br />
Krankheit).<br />
Entgegen der Meinung in der frühen Stressforschung sind sie deutlich mehr durch die<br />
Persönlichkeit als durch Phasen der Stressverarbeitung bedingt.
55 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Da die Bewältigungsstile persönlichkeitsabhängig und stabil sind, kann man sie bei<br />
Belastungen nicht optimal einsetzen.<br />
(Im Gegenteil zeigen Untersuchungen zur Aufklärung von Patienten vor bedrohlichen Operationen,<br />
dass weder eine schonungslose Aufklärung noch das Herunterspielen von Risiken generell hilfreich<br />
ist: optimal ist vielmehr ein Grad an Aufklärung, der zum individuellen Bewältigungsstil des<br />
Patienten passt. (Miller, 1990).)<br />
Gute Passung zwischen Bewältigungsstil und Bewältigungsangebot erleichtert die<br />
Bewältigung mehr als das Vermitteln einer „besten“ Bewältigungsform!<br />
Beispiel: Ärgerausdruckskontrolle:<br />
Persönlichkeitsunterschiede spielen eine Rolle:<br />
<br />
<br />
<br />
Anger-In (Ärger in sich hineinfressen)<br />
Anger-Out (Ärger offen ausagieren)<br />
Konstruktiver Ausdruck (klarer aber konstruktiver, nicht verletzender Ärgerausdruck)<br />
Gesundheitspsychologische Untersuchungen legen nahe, dass sowohl Anger-Out als auch Anger-<br />
In schädlich sind, da sie mit einem erhöhten Risiko für (unterschiedliche) Erkrankungen<br />
korrelieren.<br />
Probleme:<br />
NOCHMAL ALLE HANDLUNGSEIGENSCHAFTEN ALLGEMEIN:<br />
<br />
<br />
Inflationäre Entwicklung neuer Konstrukte, deren Abgrenzung voneinander unklar ist<br />
Erfassung durch Selbstbeurteilung: Wie bewusst sind Handlungsüberzeugungen? Meist<br />
wird prozedurales Wissen erfragt.<br />
ANWENDUNG: POLITIKVORHERSAGE<br />
Gibt es typische Persönlichkeitsmerkmale von Führern in Organisationen? (z.B. Päpste,<br />
Präsidenten, Mafiabosse, Vorstandsvorsitzende, Gewerkschaftsführer?)<br />
Gibt es eine typische Führungspersönlichkeit? (z.B. charakterisiert durch Machtinstinkt,<br />
Sitzfleisch, diplomatisches Geschick, Kompromissfähigkeit, Kaltblütigkeit?)<br />
Dafür sprechen:<br />
<br />
<br />
<br />
Führerrolle erfordert „Führungsqualitäten“<br />
Selektionsmechanismen der Organisation für Aufstieg zum Führer<br />
Persönlichkeitsveränderungen beim Aufstieg zum Führer<br />
Metaanalyse von Lord et al. (1986) zum Zusammenhang von<br />
Persönlichkeit mit durch Gruppenmitglieder eingeschätzter<br />
Führungsqualität: Problem: Die meisten Untersuchungen beziehen<br />
sich auf Führer in Schüler- oder Studentengruppen.
56 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Alternative ist Historiometrie (Woods, 19<strong>11</strong>) -> empirische Analyse historischer Quellen.<br />
Simonton untersuchte Expertenbeurteilung von politischen Führern (Könige, Präsidenten der USA):<br />
Umgekehrt U-förmige Beziehung zwischen Intelligenz und Führungsqualität.<br />
Optimal scheint es zu sein, wenn IQ des Führers 18 Punkte über dem Gruppendurchschnitt<br />
liegt (ca. durchschnittlicher Abiturient) – (Argument gegen höheren IQ:<br />
Kommunikationsprobleme mit der Mehrheit)<br />
Weitere nichtlineare Beziehungen:<br />
<br />
<br />
Politische Effizienz absolutistischer Herrscher(innen) war besonders hoch entweder<br />
bei sehr hohe oder bei sehr niedriger Moral<br />
Historisch besonders einflussreiche US-Präsidenten waren entweder besonders<br />
idealistisch oder besonders pragmatisch.<br />
Winter 1987: Kodierung aller Antrittsreden US-amerikanischer Präsidenten für Intimitäts- und<br />
Machtmotive + Ergebnisse in Beziehung gesetzt mit Merkmalen der US-amerikanischen Politik<br />
in deren Amtszeiten.<br />
Korrelationen von Winter beruhen auf einer Kombination der individuellen Motive des<br />
Präsidenten und anderen Einflussgrößen, z.B. strategischen Überlegungen und Zeitgeist.<br />
Vorhersage von Winter 2009 für die Präsidentschaft Obamas: Kodierung impliziter Motive in seiner<br />
Antrittsrede:<br />
<br />
<br />
<br />
Hohes Macht- und durchschnittliches Leistungsmotiv -> Effektivität und Charisma<br />
Hohes Machtmotiv: aggressivere Außenpolitik mit Militäreinsätzen<br />
Obama zeigt ähnliches Profil wie Harry Truman und John F. Kennedy<br />
SELBSTBEZOGENE DISPOSITIONEN<br />
ICH UND MICH<br />
William James (1842-1910): Einführung der Unterscheidung zwischen Ich (self as knower)<br />
und Mich (self as known) ein.<br />
<br />
<br />
Ich -> Urheber der eigenen Handlungen<br />
Mich -> Objekt des eigenen Wissens
57 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
SELBSTKONZEPT<br />
Das Selbstkonzept enthält das Wissen über sich selbst. -> Es ist der dispositionale Aspekt<br />
des Mich<br />
Es enthält universelles und individualtypisches Wissen. Letzteres ist eine<br />
Persönlichkeitseigenschaft.<br />
Nutzung von scheinbar individualtypischem Wissen z.B. in Horoskopen -> Tatsächlich halten<br />
90% der Studierenden diese Aussagen für sich ganz persönlich zutreffend.<br />
Selbstkonzept übt wie andere Wissensbestände auch die Funktion eines kognitiven Schemas<br />
aus, indem es die Verarbeitung selbstbezogener Informationen beeinflusst:<br />
<br />
<br />
Markus (1977): Worte werden besser/schneller verarbeitet, wenn sie mit dem<br />
Selbstkonzept kompatibel sind.<br />
Deutsch et al. (1988): Spontan genannte Eigenschaften des Selbst werden besser<br />
verarbeitet als spontan genannte Eigenschaften anderer von deren Selbst.<br />
SELBSTWERTGEFÜHL<br />
Das Selbstwertgefühl ist die Zufriedenheit mit sich selbst (affektive Bewertung des<br />
Selbstkonzepts)<br />
Das allgemeine Selbstwertgefühl wird z.B. durch die Self-Esteem-Scale von Rosenberg (1965) auf<br />
einer Zustimmungsskala erfasst.<br />
Es ist ein zentraler Indikator für Lebenszufriedenheit (siehe später) und psychische<br />
Gesundheit (bei höher Ängstlichkeit und Depressivität).<br />
Shavelson et al. (1976) kritisierten die Eindimensionalität des allgemeinen<br />
Selbstwertgefühls und erfassten es in Form einer Selbstwerthierarchie mit<br />
untergeordneten bereichsspezifischen Selbstwertfaktoren. -> hierarchische Organisation<br />
wurde bestätigt.<br />
Schon Vorschulkinder haben die Selbstwerthierarchie ansatzweise, ab der 2. Klasse ist sie schon<br />
gut ausdifferenziert.<br />
Konvergente und diskriminante Validität des<br />
bereichsspezifischen Selbstwertgefühls (Asendorpf &<br />
van Aken 1993):<br />
Zusammenhang zwischen Verhalten und Selbstwert wird durch intraindividuelle<br />
Kontrasteffekte deutlich gemindert:<br />
Beispiel: Selbstwert in Deutsch vs. Mathe nach Marsh & Hau<br />
2004:Mentale Kontrastierung findet statt: Der subjektive<br />
Selbstwert überlagert den objektiven Wert (1,7 ist schlecht,<br />
wenn 1,0 Selbstwert)
58 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Stabilität des Selbstwertgefühls ggü. Stabilität des bereichsspezifischen<br />
Selbstwertgefühls: (Asendorpf & van Aken 1993)<br />
Normalerweise ist allgemeines Selbstwertgefühl<br />
weniger stabil als spezifische Selbstwertgefühle.<br />
Das eher abstrakte Urteil über das allgemeine<br />
Selbstwertgefühl ist stärker situations- und<br />
stimmungsabhängig als das konkretere<br />
bereichsspezifischere Urteil.<br />
Depressivität sagt daher eher niedrigen allgemeinen<br />
Selbstwert vorher als umgekehrt.<br />
SELBSTWERTDYNAMIK<br />
1) Selbstwahrnehmung und<br />
Selbsterinnerung<br />
2) Soziales Spiegeln<br />
3) Sozialer Vergleich<br />
4) Selbstdarstellung<br />
SELBSTWAHRNEHMUNG UND SELBSTERINNERUNG<br />
Selbstwahrnehmung und Selbsterinnerung sind Quellen des Selbstkonzepts, das<br />
Gegenstand des Selbstwertgefühls ist.<br />
Tendenz zur Selbstkonsistenzerhöhung verzerrt Prozesse der Selbstwerkdynamik:<br />
<br />
<br />
Selbstwahrnehmung: Wir tendieren dazu, und so zu sehen, wie wir zu sein glauben<br />
Selbsterinnerung: Wir erscheinen in unserer Erinnerung eher konsistent mit unserem<br />
aktuellen Selbstbild, dadurch glauben wir zu wissen, wer wir sind.
59 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
SOZIALES SPIEGELN:<br />
Wir tendieren dazu, uns so zu sehen, wie wir glauben, dass andere uns sehen: Wir sehen daher<br />
subjektive Reaktionen auf uns (nicht objektive) und ziehen daraus Schlüsse, die evtl.<br />
selbstkonsistenzerhöhend sind.<br />
<br />
<br />
Nach einer Studie von Swann et al.: Bei negativem Selbstwert werden positivere<br />
Leistungsrückmeldungen eher unterschätzt und negative Rückmeldungen eher beachtet<br />
und erinnert als bei einem positiven Selbstwert.<br />
Nach einer Studie von Kenny & DePaulo (1993): In Studentengruppen korreliert der<br />
wahrgenommene Eindruck anderer über die eigene Person mit über .80 mit dem<br />
Selbstkonzept (Projektion) und Unterschiede zwischen anderen in deren Eindruck<br />
werden nicht valide wahrgenommen.<br />
Spricht gegen die Annahme des symbolischen Interaktionismus (Mead 1934):<br />
Selbstbild wird durch die Generalisierung der Rückmeldungen anderer geformt.<br />
Allerdings nicht beliebiger anderer sondern „significant others“ – solche<br />
Rückmeldungen wurden in der Studie aber nicht untersucht.<br />
SOZIALER VERGLEICH<br />
Bezugsgruppeneffekte auf das Selbstwertgefühl kommen dadurch zustande, dass man sich<br />
selbst mit anderen aus einer bestimmten Bezugsgruppe vergleicht (Big-Fish-Little-Pond<br />
Effekt nach Marsh & Hau 2003).<br />
Beispiel: Übergang ins Gymnasium und kognitiver Selbstwert:<br />
NARZISSMUS – ÜBERDURCHSCHNITTLICHE SELBSTÜBERSCHÄTZUNG<br />
Persönlichkeitspsychologisch gibt es zahlreiche selbstbezogene Dispositionen, die in der<br />
Selbstwertdynamik eine Rolle spielen: Eine davon ist Selbstüberschätzung vs.<br />
Selbstunterschätzung<br />
<br />
<br />
Mäßige Selbstüberschätzung (Diskrepanz zwischen Selbstbild und dem Bild andere<br />
oder objektiven Leistungen) ist normal.<br />
Gnadenloser Realismus oder Unterschätzung finden sich eher bei Depression oder<br />
sehr niedrigem Selbstwert.
60 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
<br />
Stark überdurchschnittliche Selbstüberschätzung ist aber problematisch, da sie mit<br />
sozial unerwünschten Eigenschaften und einem negativen Bild andere korreliert (=<br />
Narzissmus)<br />
Nach Freud und Kernberg: Starke Selbstüberschätzung = Narzissmus, charakterisiert durch<br />
„grandioses Selbstbild“ und verteidigt mit viel Abwehr-Aufwand -> muss fragil sein.<br />
Merkmale:<br />
<br />
<br />
<br />
Mangelnde Empathie<br />
Überempfindlichkeit gegenüber Kritik<br />
Starke Stimmungsschwankungen<br />
Narzissmus = Persönlichkeitsstörung (DSM-IV und ICD-10, erfasst speziell durch Narcisstic<br />
Personality Inventory (NPI))<br />
NPI fand:<br />
<br />
<br />
<br />
Narzissmus korreliert (bei Studierenden) mit Überschätzung der eigenen Intelligenz und<br />
physischen Attraktivität, der eigenen Leistung in Gruppen, der zu erwartenden eigenen<br />
Note<br />
Korreliert in Tagebuchstudien mit starken Stimmungs- und<br />
Selbstwertgefühlsschwankungen von Tag zu Tag<br />
Fernsehstars sind unabhängig von Karrieredauer narzisstischer (aber Selektionseffekt,<br />
nicht professionelle Verbiegung!)<br />
Neben der Tendenz zur Konsistenzerhöhung haben Selbstüberschätzung und –<br />
Unterschätzung Einfluss auf die Selbstwertdynamik.<br />
SELBSTDARSTELLUNG<br />
Das Sozialverhalten unterliegt Einflüssen, es an das Selbstbild oder ein erwünschtes<br />
davon abweichendes Bild (z.B. Idealselbst) anzupassen.<br />
Goffman (1956): In der Öffentlichkeit sind alle Selbstdarsteller oder Schauspieler, da wir<br />
versuchen, Einfluss auf den Eindruck anderer von uns auszuüben (Eindrucksmanagement).<br />
Selbstüberwachung<br />
Persönlichkeitsunterschiede im Eindrucksmanagement durch Selbstdarstellung werden<br />
seit Snyder (1974) als Selbstüberwachung (self-monitoring) bezeichnet.<br />
Faktorenanalysen ergaben zwei klar trennbare Faktoren:<br />
<br />
<br />
Soziale Fertigkeit: Fähigkeit zur Selbstdarstellung (Bin ich ein guter Schauspieler?)<br />
und korreliert negativ mit Neurotizismus und Gehemmtheit<br />
Inkonsistenz: Abhängigkeit des eigenen Verhaltens von Erwartungen anderer und<br />
korreliert positiv mit Neurotizismus und Gehemmtheit
61 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Andere Differenzierung beruht auf der Unterscheidung von Arkin (1981) zwischen:<br />
<br />
<br />
Akquisitive Selbstdarstellung (Suche nach positiver Bewertung)<br />
Protektive Selbstdarstellung (Vermeidung negativer Bewertung)<br />
Laux und Renner (2002) entwickelten dafür Skalen und fanden durch Clusteranalysen vier<br />
Typen:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Schwache Selbstdarsteller (beides schwach)<br />
Akquisitive Selbstdarsteller<br />
Protektive Selbstdarsteller<br />
Starke Selbstdarsteller (beides stark)<br />
Geben starkes Bedürfnis nach authentischer<br />
Selbstdarstellung an (andere nicht)<br />
WOHLBEFINDEN<br />
Dispositionshierarchie für psychische Gesundheit:<br />
Korreliert stark mit:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Allgemeinem Selbstwertgefühl<br />
Selbstwirksamkeit<br />
Hohe Extraversion und niedriger<br />
Neurotizismus<br />
Religiosität<br />
Aber keine eindeutigen Kausalitäten!<br />
Die Lebensumstände (Gesundheit, materielle…)<br />
tragen erstaunlich wenig bei:<br />
Wohlbefinden korreliert in Industrienationen nur um .10 mit realem Einkommen<br />
37 der 100 reichsten US-Bürger gaben unterdurchschnittliches Wohlbefinden an,<br />
Rollstuhlfahrer, Blinde und unverheiratete Sozialhilfeempfänger sind überwiegend<br />
glücklich.<br />
Diener & Diener (1996) in den USA: „Most people are happy most of the time.“<br />
Wohlbefinden anderer wird demnach stark unterschätzt, vor allem von Doktoranden der<br />
<strong>Psychologie</strong> (“klinischer Bias”)<br />
Längsschnittstudien: Wohlbefinden geht auch bei extremen Änderungen der<br />
Lebenssituation weitgehend zum vorherigen Ausgangswert zurück.<br />
Vorhersage des Wohlbefindens aufgrund Extraversion und Neurotizismus beträgt .60,<br />
Berücksichtigung positiver und negativer Lebensereignisse erhöht auf .75 aber nur bzgl. der<br />
Ereignisse in den letzten drei Monaten.<br />
Wohlbefinden kann als Sollwert eines Regelkreises des Glücks, also als<br />
Persönlichkeitseigenschaft aufgefasst werden (nach Headey & Wearing 1989)!!
62 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Neuere Analysen einer großen repräsentativen dt. Längsschnittstudie führten aber zu<br />
einer Revision:<br />
UMWELT UND BEZIEHUNGEN<br />
SITUATIONSEXPOSITION<br />
Umwelt: Gesamtheit aller externen Bedingungen, die das Verhalten und Erleben einer<br />
Person beeinflussen.<br />
Situation: Aktuelle Umweltbedingung einer Person.<br />
Situationsexposition: Häufigkeit oder Dauer, mit der eine Person Situationen eines<br />
bestimmten Typs ausgesetzt ist. Die Situationsexposition ist eine Eigenschaft der Person<br />
und ihrer Umwelt. Ihre Stabilität ist ähnlich hoch wie die von Persönlichkeitseigenschaften.<br />
Setting: „Objektive“ Situation, die durch äußere Beobachter vollständig beschreibbar ist.<br />
Beispiel nach Gosling et al. 2002:<br />
Beurteilerübereinstimmung für Big Five des Bewohners<br />
ca. .50, aber eigentlich Korrelation mit den Big Five des<br />
Bewohners .20 (Verträglichkeit) bis .65 (Kultur)<br />
Abhängigkeit der Situationsdefinition von der<br />
Persönlichkeit, wenn es sich nicht um Settings handelt.<br />
Beispiel: Freund (ist kein Setting-Bestandteil)<br />
Sarason et al. (1987): Selbstbeurteilte Einsamkeit korrelierte:<br />
<br />
<br />
<br />
-.28 mit Zahl der Beziehungen<br />
-.53 mit Zahl der als unterstützend erlebten Beziehungen<br />
-.63 mit Zufriedenheit mit der Unterstützung
63 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Messverfahren:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Retrospektive Einschätzung (ungenau bereits für vorangegangenen Tag, sehr<br />
unzuverlässig für vergangene Woche)<br />
Tagebuch, Logbuch (z.B. Palmtop, Internet; wichtig zur Kontrolle des<br />
Aufzeichnungsdatums.)<br />
Piepsertechnik (6-10 pro Tag in<br />
randomisierten Abständen) -> Beispiel<br />
Piepsertechnik von (unaussprechlicher Name<br />
und Larson 1984): Zeitanteile US-Oberschüler<br />
Direkte Beobachtung (Protokollierung durch<br />
Beobachter oder kontinuierliche Messung)<br />
(Beispiel nach Asendorpf & Maier:<br />
Verhaltensmessung mit abendlichem<br />
Situationsprotokoll)<br />
PERSÖNLICHE UMWELT<br />
Persönliche Umwelt ist Gesamtheit der stabilen Situationsexpositionen einer Person.<br />
Stabilität ist meist ähnlich hoch wie bei Persönlichkeitseigenschaften!<br />
Beispiel Asendorpf & Wilpers (1999): Zwischen 1. Und 2. Semester:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
.84 Zahl Interaktionen/Tag<br />
.74 Anteil Peers<br />
.78 Anteil Mutter<br />
.71 Zahl unterschiedlicher Interaktionspartner<br />
Aber:<br />
<br />
.50 Anteil romantische Interaktionen
64 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Proximale vs. distale Umweltmerkmale:<br />
Beispiel: Sozioökonomischer Status der Familie:<br />
Operationalisierung meist durch:<br />
<br />
<br />
<br />
Bildungsgrad der Eltern<br />
Berufsprestige der berufstätigen Eltern<br />
Einkommen der Familie<br />
Mischung von proximalen Umweltmerkmalen und Persönlichkeitsmerkmalen, z.B.<br />
<br />
<br />
<br />
Bei berufstätigem Vater -> Persönlichkeit<br />
Bei Eltern -> Mischung Persönlichkeit + proximale Umwelt<br />
Bei Kind -> proximale Umwelt<br />
In der Soziologie wird sozialer Status meist als distale Variable behandelt. Probleme am<br />
Beispiel nach Steinkamp & Stief (1979):<br />
Persönlichkeitspsychologische Umformulierung:
65 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
UMWELTSYSTEME<br />
Aus systemischer Sicht besteht die Umwelt einer Person aus einem System mit einer von<br />
ihr unabhängigen Struktur.<br />
Beispiel: Soziogramm Schulklasse (nach Moreno 1934)<br />
Um Umweltsysteme auf die Persönlichkeit eines Individuums beziehen zu können,<br />
müssen sie auf einzelne Dimensionen reduziert werden, die seinen Systemstatus<br />
beschreiben:<br />
Beispiel Soziometrie: Soziometrischer Status:<br />
BEZIEHUNGEN<br />
Eine soziale Beziehung ist ein zeitstabiles Merkmal eine Dyade (Personenpaar).<br />
Aus Sicht einer der beiden beteiligten Personen ist die andere Person eine Bezugsperson, die<br />
Teil der persönlichen Umwelt ist. Die Beziehung selbst ist eine Relation zwischen Persönlichkeit<br />
und Umwelt.<br />
<br />
<br />
<br />
Behavioristisch: stabiles Interaktionsmuster („Interaktionsdisposition“)<br />
Kognitiv: Beziehungsschema (Selbstbild in Beziehung, Bild der Bezugsperson,<br />
Interaktionsskript)<br />
Affektiv: Beziehungsqualität<br />
Beziehungsqualität hängt von der Persönlichkeit beider Bezugspersonen und ihrer<br />
Interaktionsgeschichte ab. -> Deshalb lässt sich die Beziehungspsychologie nicht<br />
auf die <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> reduzieren.
66 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
BEZIEHUNGSNETZWERK<br />
Ein systematischer Ansatz ist für Beziehungen nicht<br />
ausreichend. Beispiel van Aken & Asendorpf (1997): Bezugspersonen<br />
von <strong>12</strong>-Jährigen:<br />
Deshalb Netzwerkansatz: Individuelles Netzwerk<br />
(„egozentriertes Netzwerk“) aller sozialen Beziehungen<br />
untersuchen.<br />
Merkmale des Beziehungsnetzwerks korrelieren mit der Persönlichkeit (eher schwach),<br />
weil sie persönlichkeitsabhängig definiert sind, die Persönlichkeit Beziehungen beeinflusst und<br />
Beziehungen die Persönlichkeit beeinflussen: Beispiel Asendorpf & Wilpers (1998):<br />
Im jungen Erwachsenenalter beeinflusst die Persönlichkeit stärker als umgekehrt, wie sich<br />
durch Pfadmodelle zeigen lässt (vgl. dynamischer Interaktionismus; Asendorpf & Wilpers 1998):
67 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
BINDUNGSSTILE BEI KINDERN<br />
Besonders enge, Sicherheit vermittelnde Beziehungen werden als Bindung bezeichnet,<br />
stabile Unterschiede in der Qualität der Bindung als Bindungsstile.<br />
Sigmund Freud: Eltern als Objekte der Triebdynamik. -> Später: Objektbeziehungen (Eltern,<br />
Partner, Analytiker).<br />
Melanie Klein (1948), Sandler & Rosenblatt (1962): Mentale Repräsentationen<br />
frühkindlicher Beziehungen bestimmen die Persönlichkeitsentwicklung.<br />
Bolwby (1969): Verknüpfung des Konzepts der mentalen Repräsentationen von Beziehungen<br />
mit evolutionsbiologischen und systemtheoretischen Vorstellungen: Evolviertes<br />
Bindungssystem, das bei Gefahr die Nähe zwischen Kind und primärer Bezugsperson durch<br />
Suchen nach Nähe bzw. Spenden von Sicherheit gewährleistete. Die frühen Erfahrungen des<br />
Kindes mit solchen Situationen seien in Form eines inneren Arbeitsmodells von Beziehungen<br />
gespeichert, die spätere Erwartung an Beziehungen präge und so eine Ähnlichkeit des<br />
Bindungsstils in Kindheit und Erwachsenenalter bedinge.<br />
Anwendung zunächst: Waisenhäuser, klinische Störungen<br />
Ainsworth et al. (1978): Erweiterung dieses Ansatzes auf normale Varianten von Bindungsstilen<br />
bei <strong>12</strong>-18 Monate alten Kindern (Verhaltensbeobachtungen in USA und Uganda)<br />
Drei Bindungsstile – operationalisiert durch Fremde-Situation-Test:<br />
<br />
<br />
<br />
B = sicher (Keine Vermeidung des Kontaktes und der Nähe zur Mutter)<br />
A = vermeidend (Ignorieren oder Vermeiden der Nähe zur Mutter)<br />
C = ängstlich-ambivalent (Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt)<br />
Main & Solomon 1986: Erweiterung um D = desorganisiert-desorientiert -> „the look of fear<br />
and nowhere to go“, d.h. Zusammenbruch der normalen Verhaltens- und<br />
Aufmerksamkeitsstrategien.<br />
Am häufigsten wird B gefunden, D am häufigsten in klinischen Stichproben. In westlichen<br />
Kulturen tritt A häufiger als C auf.<br />
<br />
<br />
<br />
Sicherer Bindungsstil mit <strong>12</strong>-18 Monaten sagt sozial kompetentes Verhalten mit<br />
Gleichaltrigen im Grundschulalter vorher.<br />
Vermeidende Bindung korreliert mit: Aggressivität<br />
Ängstlich-Ambivalente Bindung korreliert mit Schüchternheit und Ängstlichkeit<br />
(Kibbuzkinder sind näher an Tagesmutter gebunden als eigene, daher ist primäre<br />
Bindungsperson die Tagesmutter.)<br />
Stabilität: Befunde zur mittelfristigen Stabilität sind widersprüchlich: Risikostichproben<br />
haben eine geringere Stabilität, aber auch bei stabilen Familien kann es schon über 6 Monate<br />
nicht stabil sein.<br />
Konsistenz: Form der Unsicherheit zeigt eine mittelhohe Konsistenz zwischen Eltern,<br />
Bindungsstil ist aber nicht konsistent zwischen Mutter und Vater<br />
Bindungsstil ist beziehungsspezifisch, d.h. Merkmal einer sozialen Beziehung<br />
und kein generalisiertes Persönlichkeitsmerkmal!
68 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Inkonsistenz des Bindungsstils für sicher-unsicher legt nahe, dass Bindungssicherheit von<br />
Persönlichkeit der Bezugsperson abhängig ist:<br />
<br />
<br />
Korrelation: Bindungssicherheit mit Einfühlsamkeit der Bezugsperson in<br />
kindliche Bedürfnisse am höchsten.<br />
Höhere Konsistenz für unsichere Bindung: Hängt von Merkmalen des Kindes ab:<br />
Emotionale Labilität (Temperament) korreliert mit Typ C .20<br />
Interventionsstudie von van den Boom (1994): Eltern emotional labiler Kinder wurde ein Training<br />
in Einfühlsamkeit gegeben: Bindungssicherheit in Experimentalgruppe war bis zu 40 Monate höher<br />
als in Kontrollgruppe.<br />
Längsschnittstudien: Bindungsstil im frühen Kindesalter korreliert nicht oder nur mäßig<br />
mit Bindungsstil im Erwachsenenalter (an Partner oder Eltern), vor allem nicht in<br />
Risikofamilien.<br />
Psychoanalytiker & Bindungstheoretiker überschätzten langfristige Wirkung der frühkindlichen<br />
Bindung.<br />
Inneres Arbeitsmodell scheint sich noch deutlich im Verlauf der Entwicklung zu<br />
ändern.<br />
Untersuchung mit<br />
BINDUNGSSTILE BEI ERWACHSENEN<br />
<br />
<br />
Interviewmethode (AAI)<br />
Selbstbeurteilung prototypischer<br />
Bindungsstile<br />
Adult Attachment Interview (AAI) nach George, Main et al. (1985): Erwachsene beschreiben<br />
Beziehung zu Mutter und Vater in der Kindheit durch Adjektive und sollen es mit konkreten<br />
Erlebnissen belegen.<br />
Extrem aufwändig -> 1-2 Stunden Interview + 8 Stunden Auswertung<br />
Indirekte Messung aufgrund Abwehrtheorie: Idealisierung, nicht konkret belegbare<br />
Beschreibungen und Widersprüche werden als Ausdruck unsicherer Bindung<br />
interpretiert.<br />
Klassifikation entsprechend der Ainsworth-Typen B, A, C und D:<br />
o Autonom sicher<br />
o Unsicher-distanziert<br />
o Unsicher-verwickelt<br />
o Unverarbeitet<br />
Hohe Validität: AAI-Bindungstyp der Mutter vor Geburt sagt Bindungstyp des Kindes<br />
mit <strong>12</strong>-18 Monaten gut vorher (69% Übereinstimmung)
69 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Transmissionslücke: Mütterliche Einfühlsamkeit korreliert nur mäßig mit AAI unsichersicher<br />
und Kind unsicher-sicher -> erklärt Zusammenhang nicht ausreichend -> Muss weitere<br />
relevante Merkmale der Mutter geben. (Genetische scheiden aber aus, da auch Validität des<br />
AAI mit Adoptivkindern hoch ist.)<br />
Partner ist bei Erwachsenen die primäre Bindungsperson (nach Doherty & Feeney 2004):<br />
Wenn vorhanden, dann in 77%, wenn nicht vorhanden, dann Mutter oder beste(r) Freund(in)<br />
(jeweils 37%)<br />
Entwicklung von AAI Varianten für Partner: nach Treboux et al. 2004 gibt es mäßige<br />
Übereinstimmung zwischen AAI-Diagnosen für Eltern bzw. Partner<br />
Furman et al. (2002): Untersuchung der Bindungsstile von Jugendlichen mit AAI und analogen<br />
Interviews:<br />
<br />
<br />
Korrelationen zwischen Eltern und Freunden und Freunden und Partnern, aber keine<br />
zwischen Eltern und Partnern:<br />
Eltern -> Freunde -> Partner!<br />
Bindungsstile sind (unabhängig von Messmethode) auch im Jugend- und<br />
Erwachsenenalter stark beziehungsspezifisch!<br />
Geringe – völlig fehlende Übereinstimmung zwischen selbsteingeschätzten Bindungsstil zum<br />
Partner und wirklichen Bindungsstil (Hazan & Slaver (1987), Ankreuzen aufgrund portotypischer<br />
Beschreibungen von Stilen)<br />
Cook (2000): Untersuchung von Familien mit zwei Eltern und zwei Jugendlichen und Schätzung des<br />
Bindungsstils zu allen drei Familienmitgliedern: Unterschiede zwischen Stilen beruhten primär auf<br />
der Interaktion Urteiler x Beurteilter und den Urteilern, sekundär auf den Beurteilten.<br />
Metaanalyse von Roisman et al. (2007): AAI korreliert mit selbsteingeschätztem Bindungsstil<br />
um .09 -> Validität selbsteingeschätzter Bindungsstile ist aber auch zahlreich belegt?<br />
Beispiel-Studie von Mikulincer et al. (1993): Im ersten Golfkrieg berichteten an den Partner sicher<br />
Gebundene (Prototypen-Ansatz) über mehr Suche nach Unterstützung und weniger Angst und<br />
Depression als ängstlich-ambivalente und vermeidend Gebundene.<br />
<br />
<br />
Galt aber nur in Gebieten mit hohem Risiko für irakische Raketenangriffe. -> Gefahr<br />
Zusammenhang zwischen Bindungsstil und Angst/Depression ließ sich nicht durch den<br />
Bewältigungsstil erklären: Gefahr -> Bindungsstil -> Angst/Depression<br />
Bartholomew (1990): Erweiterung des Drei-Typen-Modells nach Hazan & Shaver:<br />
Vermeidender Stil wurde aufgeteilt in einen abweisenden und einen ängstlichdifferenzierten<br />
Stil, der ängstlich-ambivalente Stil wurde als besitzergreifender Stil<br />
interpretiert:<br />
<br />
<br />
<br />
Sicher<br />
Abweisend (Unabhängigkeit und Selbstständigkeit wichtig, geht mir auch ohne enge<br />
gefühlsmäßige Bindung gut)<br />
Ängstlich (Furcht vor Verletzung, vor zu viel Nähe, Nähe ist unangenehm, Angst vor<br />
Vertrauen und Abhängigkeit)
70 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
<br />
Besitzergreifend (Will anderen sehr nahe sein, aber andere weisen ab, geht mir nicht gut<br />
ohne enge Bindung)<br />
Annahme von Bartholomew<br />
(1990) vs.<br />
Befunde nach Asendorpf,<br />
Wilpers & <strong>Neyer</strong> (1997)<br />
Modell nach Mikulincer & Shaver (2003):<br />
Anregung zu<br />
kognitionspsychologischen<br />
Experimenten: Weitgehende<br />
Bestätigung!<br />
Bettet die Bindungsforschung erstmals<br />
in das<br />
Informationsverarbeitungsparadigma<br />
ein, beschreibt Bedingungen für die<br />
Aktivierung des Bindungssystems<br />
und interpretiert ängstliche bzw.<br />
vermeidende unsichere Bindung als<br />
hyper- bzw. deaktivierende<br />
Strategien.<br />
Nach diesem Modell variieren<br />
Bindungsstile primär auf der<br />
Dimension sicher-unsicher,<br />
sekundär auf der Dimension<br />
Hyperaktivierung - Deaktivierung<br />
SOZIALE UNTERSTÜTZUNG<br />
Neben der Bindungsqualität wurde besonders die soziale Unterstützung durch Beziehungen<br />
untersucht, vor allem im gesundheitspsychologischen und klinischen Kontext.<br />
Stresspuffer-Hypothese nach Cohen & Wills (1985): Soziale Unterstützung fördert die<br />
Bewältigung von Belastungen (puffert sie ab).
71 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Unterschieden werden verschiedene Formen der Unterstützung, die in unterschiedlicher Weise<br />
mit dem Bewältigungserfolg bei Belastungen zusammenhängen:<br />
Beispiel: Tod der Ehefrau:<br />
Modell der Unterstützung nach Sarason et al. (1990):<br />
Nicht immer ist Unterstützung hilfreich!<br />
Beispiel: Bolger et al. (1996): Bei brustamputierten Patientinnen: Erhaltene Unterstützung durch<br />
Angehörige nahm mit subjektivem Leiden der Patientin ab und beeinflusste weder deren<br />
subjektives Leid noch den objektiven Schweregrad der Erkrankung.<br />
Beispiel Schmerzpatienten (Flor et al. 1987, 1995): Erhaltene Unterstützung durch den Partner<br />
während Rückenschmerzperioden steigerte die Schmerzen und trug zur Chronifizierung der<br />
Schmerzen bei (Unterstützung verstärkt Schmerzen und senkt Schmerzschwelle)
72 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
GUTER PARTNER<br />
Welche Persönlichkeit hat ein „guter Partner“?<br />
Antwort ist abhängig von Kriterium:<br />
<br />
<br />
Zufriedenheit mit Partnerschaft (individuell)<br />
Partnerschaftsstabilität (dyadisch)<br />
Prädiktoren:<br />
<br />
<br />
Individuelle Persönlichkeit<br />
Dyadische Passung der Persönlichkeit<br />
Bezüglich individueller Persönlichkeit ist der Neurotizismus beides der beste Prädiktor für<br />
aktuelle Unzufriedenheit und künftige Unzufriedenheit und Trennung.<br />
Beispiel-Studie nach Kelley & Conley (1987): Aus<br />
Bekanntenurteilen im Alter von 20-30 Jahren<br />
zum Zeitpunkt der Heirat wurde der Ehestatus<br />
45 Jahre später vorhergesagt (angegeben sind<br />
z-Werte):<br />
Bezüglich Passung der Persönlichkeiten der Partner zueinander gibt es schwache<br />
Beziehungen derart, dass die Ähnlichkeit in manchen Merkmalen die Zufriedenheit mit der<br />
Beziehung fördert, z.B. in:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Radikalität der politischen Einstellung<br />
Sexuelles Verlangen<br />
Gewissenhaftigkeit<br />
Neurotizismus<br />
Also sind z.B. zwei neurotische Partner zufriedener miteinander, als man nur bei Betrachtung<br />
der individuellen Werte erwarten würde.<br />
Ähnlichkeit in den Einstellungen der Partner fördert dagegen die Stabilität der<br />
Partnerschaft.
73 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG: ENTWICKLUNGSVERLÄUFE,<br />
STABILITÄT, KONTINUITÄT UND VORHERSAGEKRAFT<br />
ENTWICKLUNGSVERLÄUFE<br />
In der Entwicklungspsychologie wird zwischen individueller, universeller, durchschnittlicher<br />
und differentieller Entwicklung unterschieden:<br />
In der <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> werden durchschnittliche Veränderungen manchmal auch als<br />
Persönlichkeitsveränderungen bezeichnet.<br />
Beispiel: Kulturvergleichende Querschnittstudien (nach McCrae et al. 1999, 2000) zeigen<br />
übereinstimmend ab dem Alter von 20 Jahren eine:<br />
<br />
<br />
Abnahme des Neurotizismus<br />
Zunahme von Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit<br />
Allerdings könnte dies auch durch Kohorteneffekte bedingt sein (unterschiedliche<br />
Geburtsjahrgänge werden verglichen). Eine Metaanalyse von Längsschnittstudien von Roberts et<br />
al. bestätigte aber die querschnittlichen Ergebnisse von McCrae et al.<br />
Eigentlich aber nicht Persönlichkeitsveränderungen, sondern typische<br />
Altersveränderungen!<br />
Persönlichkeitsveränderungen im strengen Sinne sind differentielle Veränderungen.<br />
Sie können auch stattfinden, wenn es keine durchschnittlichen Veränderungen gibt. -> Insofern<br />
sind Persönlichkeitsveränderungen prinzipiell unabhängig von durchschnittlichen<br />
Veränderungen. -> Allerdings finden sich empirisch bei deutlichen durchschnittlichen<br />
Veränderungen durchweg auch deutliche differentielle Veränderungen.
74 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
McCrae et al. interpretierten die kulturell universellen durchschnittlichen Veränderungen<br />
als intrinsische Reifung, d.h. als genetisch bedingt.<br />
Sie übersahen, dass es auch kulturell universelle durchschnittliche Umweltveränderungen<br />
geben kann, die verantwortlich für die gefundenen durchschnittlichen<br />
„Persönlichkeitsveränderungen“ sein können.<br />
Beispiel: Studie von <strong>Neyer</strong> und Asendorpf (2001) zeigte, dass der Neurotizismus im jungen<br />
Erwachsenenalter durch die erste stabile Partnerschaft abnimmt, nicht jedoch bei Singles:<br />
Abnahme erklärt durch Umweltveränderung.<br />
LANGFRISTIGE STABILITÄT<br />
Bei differentieller Entwicklung in einem Merkmal ändert sich die Rangfolge der Personen in<br />
diesem Merkmal. Das senkt die Stabilität des Merkmals (genauer: die Stabilität der<br />
interindividuellen Unterschiede in diesem Merkmal)<br />
Umgekehrt liegt bei langfristiger Instabilität differentielle Entwicklung vor: differentielle<br />
Entwicklung = langfristige Instabilität<br />
Individuelle und durchschnittliche Veränderungen sind gerichtet (Zu- oder Abnahme).<br />
Instabilität besagt nur, dass Veränderungen stattgefunden haben: Veränderung ist gerichtet,<br />
Instabilität ungerichtet.<br />
Erfasst wird die langfristige Stabilität einzelner Persönlichkeitseigenschaften durch<br />
Längsschnittstudien, in denen die Eigenschaft bei denselben Personen in größerem Abstand<br />
mindestens zweimal gemessen wird: Die Korrelation zwischen den Messzeitpunkten ist ein<br />
quantitatives Maß der langfristigen Stabilität der Eigenschaft. Methode ist also dieselbe wie<br />
bei kurzfristiger Retestreliabilität, nur dass der Messabstand typischerweise mehrere Jahre<br />
beträgt.<br />
Rangordnung/Retestreliabilität:<br />
Langfristige Stabilität des IQ (Metaanalyse<br />
nach Conley 1984): Jedes Kreuz bezeichnet den<br />
Stabilitätsbefund einer Längsschnittstudie an<br />
vielen Personen; die Linien verbinden<br />
Mehrfachmessungen derselben Stichprobe.
75 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
<br />
Erstes Prinzip der Eigenschaftstabilität: Die Stabilität nimmt mit zunehmenden Messabstand<br />
ab, bedingt durch größere Chancen für Persönlichkeitsveränderungen.<br />
Conley (1984): Die Abnahme ist nicht linear; sie wird recht gut approximiert durch die Funktion<br />
Stabilität = Reliabilität x Einjahresstabilität^n (n = Messabstand in Jahren)<br />
Allerdings sinkt die Stabilität von neurotizismus über sehr lange Zeiträume etwas weniger als<br />
nach der Conley-Formel zu erwarten ist.<br />
Alternativ schlugen Fraley & Roberts (2005) deshalb ein<br />
Mischmodell aus dynamischen Interaktionismus und<br />
Entfaltungsmodell vor, in dem ein konstanter Faktor<br />
(Genom, frühe Umweltfaktoren) wirkt:<br />
So wird auch verständlich, dass der IQ über sehr lange<br />
Zeiträume erstaunlich stabil bleibt, wenn die Vorhersage erst<br />
in der späten Kindheit beginnt: Bei Schotten aus Edinburgh betrug Stabilität von <strong>11</strong>-80 Jahren .66<br />
(Deary et al., 2004)<br />
<br />
Zweites Prinzip der Eigenschaftsstabilität: Es gibt eine Hierarchie der Stabilität:<br />
Intelligenz -> Temperament -> Selbstwert, Wohlbefinden<br />
Im Erwachsenenalter betragen die 10-Jahres-Stabilitäten ca.:<br />
o Intelligenz .80<br />
o Temperament .60<br />
o Selbstwert, Wohlbefinden .50<br />
<br />
Drittes Prinzip der Eigenschaftsstabilität: Die Stabilität ist bei instabiler Umwelt<br />
typischerweise niedriger als bei stabiler Umwelt.<br />
Beispiel nach Asendorpf (1992): Schüchternheit 4-7-Jähriger Kinder war umso instabiler, je<br />
häufiger Veränderungen der sozialen Umwelt (Umzug, Einschulung etc.) vorkamen.<br />
Beispiel nach Lehnart & <strong>Neyer</strong> (2006): Die Bindungsstile junger Erwachsener waren umso<br />
instabiler, je instabiler ihre Umwelt war (Operationalisiert durch Partnerwechsel, der zu<br />
differentiellen Veränderungen des Bindungsstils beiträgt)<br />
<br />
Viertes Prinzip der Eigenschaftsstabilität: Die Stabilität steigt mit dem Lebensalter.<br />
Beispiel: Stabilität des IQ nach Wilson<br />
1983:
76 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Ausnahme von der Regel der zunehmenden Stabilisierung sind differentielle Veränderungen,<br />
die durch unterschiedlichen Pubertätsbeginn bedingt sind und zu einer vorübergehenden<br />
Destabilisierung führen können. (Beispiel: Körpergröße und Gewicht).<br />
Metaanalyse von Roberts & DelVecchio (2000):<br />
Angegeben sind 7-Jahres-Stabilitäten<br />
Zeigt, dass Persönlichkeitsunterschiede sich<br />
nur langsam stabilisieren, bis sie im Alter<br />
von ca. 50 Jahren ihre maximale Stabilität<br />
erreicht haben.<br />
Spricht klar gegen die psychoanalytische<br />
Annahme, dass die frühe Kindheit bereits<br />
prägend ist.<br />
Vielmehr gibt es noch viele differentielle<br />
Veränderungen, auch nach Erreichen des<br />
Erwachsenenalters.<br />
Ursachen für die zunehmende Stabilisierung:<br />
<br />
<br />
<br />
Zunehmende Reliabilität der Eigenschaftsmessung<br />
Verfestigung des Selbstkonzepts<br />
Wachsender Einfluss der Person auf die Umwelt, die passend ausgewählt oder<br />
gestaltet wird: Kumulative Stabilität nach Caspi et al. 1989<br />
Beispiele für kumulative Stabilität:<br />
<br />
<br />
<br />
Partnerwahl nach ähnlichem IQ und ähnlichen Einstellungen und Werthaltungen<br />
Anschluss aggressiver Jugendlicher an deviante Gruppen<br />
Rückkehr Krimineller nach der Entlassung in kriminelle Reise<br />
KONTINUITÄT<br />
Instabilität kann bedingt sein durch:<br />
<br />
<br />
<br />
Geringe Stabilität auf Konstruktebene<br />
Geringe Konstruktvalidität des Messverfahrens für einen oder beide Zeitpunkte<br />
Geringe Kontinuität des Konstrukts<br />
Beispiel1: Vorhersage des Flügelmusters von Schmetterlingen aus dem Raupenstadium<br />
Beispiel2: Intelligenzmessung im Säuglingsalter: Bis 1985 typischerweise durch Bayley-Skalen zur<br />
Erfassung der (korrelierten) motorischen und kognitiven Entwicklung: Problem daran: Die<br />
Bayley-Skalen im Alter von 6-<strong>12</strong> Monaten korrelieren nur um .20 mit IQ-Tests im Vorschulalter:<br />
Mangelnde Stabilität der Intelligenz, geringe Kontinuität der Intelligenz oder geringe<br />
Konstruktvalidität der Bayley-Skalen? -> Ab 1985 Alternative: Visuelle Habituationstests
77 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Visuelle Habituationstests sind zwar – ähnlich wie andere kognitive Tests für das Säuglingsalter –<br />
nur mäßig reliabel (Retestreliabilität um .45), aber sie korrelieren fast genauso hoch mit IQ-tests<br />
im Vorschulalter (nach Korrektur für ihre Unreliabilität zu .70 nach Bornstein & Sigman 1986)<br />
Schlussfolgerung: Intelligenz zeigt hohe Kontinuität und Stabilität zwischen Säuglings- und<br />
Vorschulalter; die Bayley-Skalen erfassen Intelligenz im Säuglingsalter nur schlecht.<br />
Visuelle Habituation – Vorschul-IQ-Tests: -> Heterotype Stabilität.<br />
Heterotype Stabilität der Aggressivität: Vorhersage antisozialen Verhaltens im Alter von 30<br />
Jahren aus Aggressivitätsurteilen von Klassenkameraden im Alter von 8 Jahren (Huesmann et al.<br />
1984):<br />
In derselben Studie wurde auch die Aggressivität der Eltern bzw. Kinder erhoben. Die Stabilität<br />
über 22 Jahre war dabei geringer als die Vorhersage der nächsten Generation im gleichen Alter:<br />
Erklärung: Stabilitätsminderung durch mangelnde Kontinuität von Aggressivität:
78 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
VORHERSAGEKRAFT<br />
Beste Studie zur langfristigen Vorhersage psychiatrischer und krimineller Merkmale aus<br />
frühen Persönlichkeitsmerkmalen: Dunedin Longitudinal Study in Neuseeland:<br />
Repräsentative Stichprobe von über 1000 drei-Jährigen wurde beobachtet und mit<br />
Clusteranalyse in fünf Persönlichkeitstypen eingeteilt, darunter:<br />
<br />
<br />
<br />
Überkontrollierte bzw. gehemmte<br />
Unterkontrollierte<br />
Gut angepasst bzw. resiliente (Kontrollgruppe)<br />
Die Stichprobe wurde das ohne Drop-Outs bis (bisher) 26 Jahre untersucht.<br />
Drei Typen unterschieden sich im Alter von 21 Jahren signifikant unter Anderem in:<br />
Niedriger IQ führt zu früherem Tod nach Deary et al. 2004:<br />
Terman-Studie: 1000 hochintelligente 1910 in Kalifornien geborene Kinder werden bis ins<br />
hohe Alter untersucht.<br />
Friedman et al. (1995) konnten aus Persönlichkeitsbeurteilungen im Alter von <strong>11</strong> Jahren die<br />
Todeswahrscheinlichkeit im Alter von 70 Jahren überzufällig vorhersagen:<br />
Risikofaktoren waren:<br />
<br />
<br />
Niedrige Gewissenhaftigkeit (Konnten teilweise über Alkoholismus, Rauchen und<br />
Unfälle erklärt werden.)<br />
Hohe Fröhlichkeit: Unerwartet; möglicherweise auch über Leichtsinnigkeit vermittelt.<br />
Nonnen-Studie (Danner et al. 2001): 180 katholische Nonnen vom Eintritt ins Kloster (14-32<br />
Jahre) bis hohes Alter untersucht. Alle mussten bald nach Klostereintritt eine kurze<br />
Autobiografie schreiben.
79 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Bis 2000 waren 38% der Nonnen mit den häufigsten positiven Aussagen gestorben (oberstes<br />
Quartil), aber 70% der Nonnen mit den seltensten positiven Aussagen (unterstes Quartil).<br />
Häufigkeit negativer Aussagen sagte die Todesrate nicht vorher.<br />
Der scheinbare Gegensatz zur Terman-Studie könnte an der ungewöhnlich risikoarmen Umwelt<br />
im Kloster liegen.<br />
Die Vorhersagestärke der letzten drei Studien zeigte folgende Rangfolge:<br />
Dunedin-Studie < Terman-Studie < Nonnen-Studie<br />
Entspricht dem Alter bei der Erhebung der Prädiktoren für Vorhersage:<br />
3 Jahre < <strong>11</strong> Jahre < 18-32 Jahre<br />
Hier zeigt sich wieder die zunehmende Stabilisierung der Persönlichkeit mit<br />
wachsendem Alter!<br />
EINFLÜSSE AUF DIE PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG<br />
Fragestellung: Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden: Warum entwickeln<br />
unterschiedliche Menschen eine unterschiedliche Persönlichkeit?<br />
<br />
<br />
Erklärung in Alltagspsychologie: Deterministische Regel auf Einzelfall anwenden<br />
Erklärung in der <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong>: Empirisch begründete Regeln finden in<br />
Form probabilistischer Wenn-dann-Aussagen.<br />
Erklärungen sind nie monokausal: Mehrere Einflüsse fließen zusammen!<br />
SCHÄTZUNGSARTEN<br />
Direkte Einflussschätzung: Prädiktor – Eigenschaftsvariable<br />
Beispiel: Aggressivität der Mütter – Aggressivität der Kinder<br />
Interpretationsmöglichkeiten:<br />
<br />
<br />
<br />
Aggressivität der Mütter -> Aggressivität der Kinder<br />
Aggressivität der Mütter
80 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Bei korrelierten Prädiktoren kann der<br />
relative Beitrag durch Pfadanalyse (multiple<br />
Regression) ermittelt werden:<br />
Direkte Einflussschätzung setzt voraus, dass mögliche Prädiktoren bekannt sind und gemessen<br />
werden können.<br />
Manchmal interessieren aber nicht bestimmte einzelne Prädiktoren, sondern der<br />
Gesamteinfluss einer ganzen Klasse von Prädiktoren, die im Einzelnen nicht bekannt sind<br />
oder nicht gemessen werden können.<br />
Beispiele:<br />
<br />
<br />
Ehepartner werden sich ähnlicher, weil sie (unbestimmte) Einflüsse auf ihre Entwicklung<br />
teilen<br />
Aggressivität ist beeinflusst durch (unbestimmte) Gene<br />
Indirekte Einflussschätzung durch den Vergleich der Ähnlichkeit von Personenpaaren,<br />
die bestimmte Einflüsse teilen bzw. nicht teilen:<br />
Je ähnlicher sich die Paare sind, die die Einflüsse teilen relativ zu den Kontrollpaaren, die sie<br />
nicht teilen, desto stärker sind die Einflüsse:<br />
Empirisch: Die Varianz des Merkmals wird zerlegt in die geteilte<br />
und die spezifische Varianz. Die Korrelation zwischen den<br />
Personen misst die geteilte Varianz.<br />
GENOM UND UMWELT<br />
Mit der indirekten Einflussschätzung kann vor allem die Frage beantwortet werden, wie stark<br />
Persönlichkeitsunterschiede durch genetische Unterschiede zwischen den Personen<br />
bedingt sind: der relative Anteil von Genomen und Umwelten an<br />
Persönlichkeitsunterschieden:<br />
V(X) = V(G) + V(U) + V(F)<br />
Hierzu wird die genetische Ähnlichkeit bestimmter Personenpaare genutzt: Der Anteil der von<br />
ihnen geteilten Allele. Dieser variiert je nach genetischer Verwandtschaft zwischen 0 und<br />
100%.
81 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
ZWILLINGSMETHODE:<br />
Verglichen werden eineiige Zwillinge (r=100%) mit zweieiigen Zwillingen (r=50%)<br />
Eine höhere Ähnlichkeit eineiiger Zwillinge wird interpretiert als halber genetischer<br />
Einfluss, denn der Unterschied in der Ähnlichkeit ein- und zweieiiger Zwillinge geht darauf<br />
zurück, dass 50% der Allele von zweieiigen Zwillingen nicht geteilt werden.<br />
Der gesamte genetische Einfluss würde geschätzt, indem die Ähnlichkeit eineiiger<br />
Zwillinge mit der von Adoptivgeschwistern verglichen würde, denn letztere teilen keine<br />
Allele.<br />
Empirisch wird die Ähnlichkeit der Paare in einer Persönlichkeitseigenschaft durch die<br />
Korrelation der Eigenschaft zwischen vielen Paarlingen geschätzt (die Aufteilung eines Paares in<br />
zwei Paarlinge ist zufällig.)<br />
Damit schätzt die Differenz zwischen der Korrelation für eineiige Zwillinge und der<br />
Korrelation für zweieiige Zwillinge den halben genetischen Einfluss. Der genetische<br />
Einfluss beträgt also das Doppelte der Korrelationsdifferenz.<br />
Ergebnis der genetischen<br />
Einflussschätzungen mit der<br />
Zwillingsmethode: Der genetische<br />
Einfluss auf IQ und die<br />
(selbstbeurteilten) Big Five<br />
beträgt also ungefähr 50%.<br />
ADOPTIONSMETHODE:<br />
Vergleich von Adoptivgeschwistern (r=0%) mit leiblichen Geschwistern (r=50%). Eine höhere<br />
Ähnlichkeit leiblicher Geschwister wird interpretiert als halber genetischer Einfluss, denn<br />
der Unterschied in der Ähnlichkeit geht darauf zurück, dass leibliche Geschwister 50% der Allele<br />
teilen.<br />
Damit schätzt die Differenz zwischen der Korrelation für leibliche Geschwister und der<br />
Korrelation für Adoptivgeschwister den halben genetischen Einfluss. Der genetische<br />
Einfluss beträgt als das Doppelte der<br />
Korrelationsdifferenz.<br />
Ergebnis der genetischen Einflussschätzungen<br />
mit der Adoptionsmethode: Der genetische<br />
Einfluss auf den IQ beträgt ca. 50%, auf die<br />
selbstbeurteilten Big Five aber weniger:<br />
Widerspruch zur Zwillingsmethode!
82 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Widersprüche liegen an zahlreichen methodischen Problemen der Zwillings- und<br />
Adoptionsmethode:<br />
Deshalb wird vermehrt die KOMBINATIONSMETHODE verwendet, bei der die Ähnlichkeiten<br />
von drei und mehr Arten von Personenpaaren in einer einzigen statistischen Analyse<br />
verglichen werden (z.B. leibliche Geschwister, Halbgeschwister, Adoptivgeschwister).<br />
Ergebnis:<br />
In der German Observational Study of Adult Twins (GOSAT) wurden ein- und zweieiige Zwillinge<br />
in 15 verschiedenen Situationen gefilmt. Beobachter schätzten dann jeweils einen Paarling in<br />
einer Situation ein: Unabhängigkeit der Beurteilungen zwischen Paarlingen und Situationen.<br />
Ergebnis für die Big Five: Genetischer Anteil im Mittel 41%, also ähnlich wie bei<br />
Selbstbeurteilungen in Kombinationsstudien.<br />
Insgesamt sind damit genetischer Einfluss und Umwelteinfluss auf IQ und die Big Five<br />
annähernd gleich stark!
83 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Oft vorgebrachter Einwand nach Schiff et al. (1982): Vergleich des IQs und Schulvorhersagen<br />
zwischen franz. Unterschichts-Geschwisterpaaren, bei denen jeweils ein Paarling im Alter von ca. 4<br />
Monaten in die Oberschicht wegadoptiert worden war:<br />
Ergebnis:<br />
<br />
<br />
IQ-Gewinn des wegadoptierten von 14 IQ-Punkten, d.h. fast eine Standardabweichung<br />
17% der Wegadoptierten blieben bis zur 6. Klasse sitzen, aber 66% ihrer Unterschicht-<br />
Geschwister.<br />
Aber kein Widerspruch zu den indirekten Schätzungen, da 95%-Erwartungsbereich für genetische<br />
Schätzung des IQ +/- 20 IQ-Punkte beträgt.<br />
Zu beachten: Ein genetischer Einfluss auf eine Eigenschaft besagt nicht, dass es Gene gibt,<br />
die die Eigenschaft direkt bedingen.<br />
Beispiel: In Australien ist die Einstellung zur Todesstrafe zu ca. 50% genetisch bedingt.<br />
Erklärung: Eine positive Einstellung zur Todesstrafe korreliert negativ mit dem IQ und andere<br />
genetisch beeinflussten Persönlichkeitsmerkmalen. Deren genetische Beeinflussung überträgt sich<br />
auf alle hiermit korrelierenden Merkmale, z.B. Einstellung zur Todesstrafe.<br />
Zu beachten: Die indirekten Einflussschätzungen sind populationsabhängig, da sie von der<br />
Variabilität der Gene und Umweltbedingungen und deren Wechselwirkung innerhalb der<br />
untersuchten Population abhängen.<br />
Insbesondere sind sie deshalb kulturabhängig.<br />
Änderungen der wirksamen Umweltbedingungen können den genetischen Einfluss<br />
verändern. Z.B. erhöht maximale individuelle Förderung den genetischen Einfluss auf die dann<br />
noch verbleibenden Leistungsunterschiede:<br />
Chancengleichheit erhöht den genetischen Einfluss.<br />
Umwelteinflüsse:<br />
UMWELTARTEN<br />
Studien mit eineiigen Zwillingen werden auch genutzt, um den Einfluss von<br />
Umweltbedingungen direkt nachzuweisen (Kontrollzwillingsdesign).<br />
Beispiel nach Caspi et<br />
al. (2004): Negative<br />
mütterliche<br />
Bewertung sagt<br />
antisoziales Verhalten<br />
zwei Jahre später<br />
vorher:
84 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Mit Hilfe der indirekten Schätzungsmethode können zwei Arten von Umwelteinflüssen auf eine<br />
Eigenschaft unterschieden werden:<br />
<br />
<br />
Von Geschwistern geteilte Umwelteinflüsse -> machen Geschwister ähnlich; geschätzt<br />
durch Korrelation von Adoptivgeschwistern<br />
Von Geschwistern nicht geteilte Umwelteinflüsse -> machen Geschwister unähnlich;<br />
geschätzt durch die Differenz zwischen Reliabilität der Messung und Korrelation<br />
eineiiger Zwillinge (deren Unähnlichkeit beruht auf Umwelteffekten)<br />
Mit Ausnahme des IQ und bestimmter<br />
Werthaltungen (z.B. Religiosität) bis zum<br />
Verlassen des Elternhauses sind die nicht<br />
geteilten Umwelteinflüsse größer als die<br />
geteilten:<br />
Naheliegend ist die Annahme, dass (nicht) geteilte Einflüsse auf (nicht) geteilten objektiven<br />
Umweltbedingungen beruhen:<br />
(blau: von Zwillingen eher<br />
geteilte Umwelten)<br />
Der Einfluss spezifischer nicht geteilter Umweltbedingungen kann durch die direkte<br />
Methode der Einflussschätzung bestimmt werden, indem Umweltunterschiede zwischen<br />
Geschwistern derselben Familie mit Persönlichkeitsunterschieden zwischen ihnen korreliert<br />
werden.<br />
Ergebnis: Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern lassen sich durch<br />
Umweltunterschiede zwischen ihnen nur wenig erklären (ca. 5%): Widerspruch zu<br />
indirekten Einschätzungen nicht geteilter Umwelteinflüsse.<br />
Widerspruch aber nur scheinbar, da nicht geteilte Umwelten ähnliche<br />
Einflüsse auf Geschwister ausüben können und geteilte Umwelten<br />
unähnliche Einflüsse:<br />
(Nicht)Geteilte Umwelt ≠ (Nicht) Geteilter Umwelteinfluss!
85 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Geteilte Umweltbedingungen wie z.B. der Tod der Mutter können je nach Alter des Kindes und<br />
dessen Persönlichkeit unterschiedliche Wirkungen haben und damit zu nicht geteilten<br />
Umwelteinflüssen werden: Die Persönlichkeit moderiert den Einfluss der auf sie wirkenden<br />
Umweltbedingungen.<br />
Dass die nicht geteilten Umwelteinflüsse so stark sind, scheint an mehreren Faktoren zu liegen:<br />
<br />
<br />
<br />
Dieselbe Umweltbedingung wirkt je nach Persönlichkeit anders<br />
Viele unterschiedliche Umweltbedingungen beeinflussen dieselbe Eigenschaft<br />
Zufall in Wirkungsketten<br />
ALTERSABHÄNGIGKEIT<br />
Da die indirekten Einflussschätzungen populationsabhängig sind, können die Ergebnisse<br />
innerhalb derselben Kultur mit dem Alter variieren.<br />
Wie verändern sich genetische Einflüsse mit wachsendem Alter?<br />
Für den IQ steigt der genetische Einfluss bis zum Alter<br />
von 65 Jahren.<br />
Längsschnittstudie nach Wilson 1983:<br />
Für die Big Five wurden dagegen keine deutlichen Veränderungen des genetischen Einflusses<br />
mit dem Alter gefunden.<br />
Insgesamt findet sich nie eine Abnahme, sondern eher eine Zunahme des genetischen<br />
Einflusses auf Persönlichkeitsunterschiede. (Warum wird später erläutert)<br />
STATISTISCHE INTERAKTION: GENOM X UMWELT<br />
Bei einer statistischen Interaktion zwischen Genom und Umwelt hängen die genetischen<br />
Wirkungen wesentlich von den Umweltbedingungen ab und umgekehrt.<br />
Beispiel: Studie von Cadoret et al. (1983):<br />
Genetische und Umweltbedingungen wirkten<br />
also nicht additiv, sondern multiplikativ.<br />
Dieselbe Interaktion wurde in zwei<br />
skandinavischen Studien gefunden.
86 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Allerdings wurde der genetische Einfluss jeweils nur indirekt durch antisoziale Tendenzen der<br />
leiblichen Mutter der wegadoptierten Kinder geschätzt. Er kann auch über von der Mutter<br />
bedingte Umwelteffekte während der Schwangerschaft und Geburt gewirkt haben (z.B. Rauchen<br />
oder Drogenkonsum während der Schwangerschaft.)<br />
GENOM-UMWELT-KOVARIANZ<br />
Bei der Genom-Umwelt-Kovarianz finden sich bestimmte Genome gehäuft in bestimmten<br />
Umwelten.<br />
Nach Plomin et al. 1977 gibt es drei Arten:<br />
<br />
<br />
<br />
Aktive Genom-Umwelt-Kovarianz: Bei der Umwelten aus genetischen Gründen<br />
ausgewählt oder umgestaltet werden (Bsp. Partnerwahl)<br />
Reaktive Genom-Umwelt-Kovarianz: Bei der die soziale Umwelt auf genetisch<br />
bedingte Merkmale reagiert (Bsp. Zuweisung von Kindern aufgrund ihrer Intelligenz zu<br />
Schultypen)<br />
Passive Genom-Umwelt-Kovarianz: Bei der genetisch Verwandte durch ihr Verhalten<br />
bestimmte Umwelten bieten (Bsp. Bildungsmilieu der Familie)<br />
Wegen der Genom-Umwelt-Kovarianz können Korrelationen zwischen<br />
Umweltbedingungen und Persönlichkeitseigenschaften bei Kindern teilweise genetisch<br />
bedingt sein.<br />
Beispiel: Korrelation zwischen Zahl der Bücher im Haushalt und IQ der Kinder (wird teilweise<br />
über IQ der Eltern vermittelt). -> Reine Umweltinterpretationen derartiger Korrelationen<br />
sind nur im Falle von Adoptivfamilien möglich.<br />
Annahme von Scarr & McCartney (1983) zu Veränderungen der Kovarianz mit wachsendem<br />
Alter:<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Die passive GUK nimmt ab, insbesondere nach Verlassen des Elternhauses<br />
Die aktive GUK nimmt zu, insbesondere ab der Pubertät<br />
Die reaktive GUK bleibt gleich<br />
Die aktive GUK nimmt stärker zu, als die passive abnimmt<br />
Letzteres würde den wachsenden genetischen Einfluss auf manche Eigenschaften<br />
erklären: Die persönliche Umwelt gerät zunehmend unter genetischen Einfluss und<br />
verstärkt ihn dadurch.
87 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
WECHSELWIRKUNGSPROZESSE ZWISCHEN PERSÖNLICHKEIT<br />
UND UMWELT<br />
Welche Prozesse liegen genetischen und Umwelteinflüssen auf die Persönlichkeit<br />
zugrunde, aber auch Einflüssen der Persönlichkeit auf genetische Aktivität und Umwelt?<br />
WECHSELWIRKUNGSPROZESSE ZWISCHEN GENOM UND UMWELT<br />
Das Genom ist zeitlebens konstant. Fehlschluss: Der genetische Einfluss auf die<br />
Persönlichkeit ist konstant.<br />
Das Genom ist zwar konstant, aber sein Einfluss variiert im Verlauf des Lebens, weil Einflüsse<br />
nicht auf Genen, sondern auf aktivierten Genen beruhen, und die Aktivität von Genen<br />
variiert beträchtlich (An- und Abschalten der Strukturgene durch Regulatorgene).<br />
Zwischen genetischer Aktivität (nicht<br />
Genen!), neuronaler Aktivität, Verhalten<br />
und der Umwelt besteht im Prinzip eine<br />
vollständige Wechselwirkung:<br />
Insofern ist die Vorstellung falsch, Gene „bewirkten“ Entwicklung und Verhalten (Beispiel:<br />
„Strick-Gen“). Das Genom ist kein „Programm“, das die Entwicklung „steuert“. Adäquater ist die<br />
Vorstellung, es sei ein Text, von dem im Verlauf des Lebens immer wieder Teile gelesen werden.<br />
Der Text legt fest, was gelesen werden kann, aber nicht, was zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />
gelesen wird.<br />
Klassisches Beispiel für Umweltwirkung auf genetische Einflüsse: Phenylketonurie bedingt<br />
durch Allel auf dem <strong>12</strong>. Chromosom. Bei homozygoter Form Phenylalanin-Überschuss, der<br />
massiv intelligenzmindern wirkt.<br />
Bei Phenylalanin-armer Diät im Kindeshalter und entsprechender Medikation kann der<br />
intelligenzmindernde Effekt fast ganz unterdrückt werden; Umwelt (Kinderarzt -> Eltern)<br />
verändert den genetischen Einfluss.<br />
Umgekehrt können Umweltwirkungen durch<br />
Veränderung der Genaktivität oder Veränderung<br />
des Genoms durch Gentechnologie verändert<br />
werden (noch fiktiv, aber prinzipiell möglich):
88 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Bei Phenylketonurie ist der Umwelteingriff nur während der Hirnreifung erforderlich, da nur<br />
dann das kritische Allel seine Wirkungen entfaltet.<br />
Andere Gene werden erst spät im Leben aktiv, z.B. das Allel auf dem 4. Chromosom, das für die<br />
Chorea Huntington (Veitstanz) verantwortlich ist. Die Wirkung setzt im Mittel mit 43 Jahren ein:<br />
vorher sind Allel-Träger gänzlich unauffällig.<br />
Genetische Wirkungen sind altersabhängig. Sie können stabilisierend, aber auch<br />
destabilisierend auf die Persönlichkeit wirken.<br />
Molekulargenetische Persönlichkeitsforschung:<br />
QTL Ansatz (quantitative trait loci) ab 1994:<br />
QTL-IQ-Projekt: Bisher keine überzeigend replizierbaren Ergebnisse für den IQ.<br />
Umstritten wegen widersprüchlicher Befunde: DRD4-Gen auf dem <strong>11</strong>. Chromosom und Streben<br />
nach Neuigkeit (Sensation Seeking).<br />
Bisher kein überzeugender Nachweis eines QTL für normale Persönlichkeitsvarianten.<br />
Erster Hinweis auf eine spezifische Gen-Umwelt-Interaktion in der Dunedin Longitudinal<br />
Study (Caspi et al. 2002):<br />
Bei Allel für niedrige MAOA-Aktivität und Kindesmisshandlung ist antisoziales Verhalten bei<br />
Männern deutlich häufiger (z.B. dreimal so viele Verurteilungen) als beim häufigeren Allel für<br />
starke MAOA-Aktivität und Kindesmisshandlung: Letzteres „schützt“ weitgehend vor dem Effekt<br />
von Kindesmisshandlung. Repliziert für vier verschiedene Indikatoren antisozialen Verhaltens.<br />
Vermittelnder Prozess: Das Enzym MAOA reduziert die exzessive Produktion von Serotonin,<br />
Noradrenalin und Dopamin, die typischerweise bei starkem Stress auftritt (experimentell:<br />
knock-out Mäuse).<br />
Ergebnis repliziert die Befunde indirekt geschätzter Genom-Umwelt-Interaktionen aus<br />
Adoptionsstudien, ist aber viel spezifischer, weil (ein) das verantwortliche Gen und (eine) die<br />
verantwortliche Umweltbedingung identifiziert wurden.<br />
Studie Cadoret et al. (1983):
89 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Ziel der molekulargenetischen Persönlichkeitsforschung kann nicht sein, psychologische<br />
Diagnosen durch genomanalytische Diagnosen zu ersetzen, weil letztere alle Umwelteinflüsse<br />
ignoriert und deshalb äußerst ungenau ist.<br />
Beispiel IQ: Erwartungsbereich bei IQ-Testung:<br />
<br />
<br />
+/- 9 Punkte mit 95% Sicherheit, aber<br />
+/- 20 Punkte mit 95% Sicherheit bei Genomanalyse oder reiner Umweltdiagnose<br />
Deshalb: Genom und Umwelt müssen berücksichtigt werden!<br />
INTELLEKTUELLE LEISTUNGEN<br />
Rahmenmodell für intellektuelle Leistungen I<br />
<br />
Bedeutsamkeit genetischer Einflüsse und geteilter Umweltbedingungen auf die Intelligenz:<br />
Studie von Burks (1928): Nach Kontrolle<br />
der passiven Genom-Umwelt-Kovarianz<br />
bestand ein signifikanter, aber nur<br />
geringer Zusammenhang zwischen<br />
objektiven Umweltmerkmalen und<br />
Intelligenz.<br />
Die von Klassenkameraden geteilten Umweltbedingungen (vor allem: Unterrichtsqualität<br />
der Lehrer) zeigen keinen Zusammenhang mit dem mittleren IQ der Klassen. Das besagt<br />
aber nicht, dass die Unterrichtsqualität keinen Einfluss auf die Leistungen der Klasse hat, denn<br />
sie kann sie unabhängig von der Intelligenz beeinflussen. Die zentral vermittelnde Variable ist<br />
das durch den Unterricht erworbene Wissen.
90 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Längsschnittstudien zum Zusammenhang zwischen Unterrichtsqualität und Leistungszuwachs<br />
während des Schuljahres fanden deutliche Zusammenhänge (nach Weinert et al. 1989)<br />
Rahmenmodell für intellektuelle Leistungen II<br />
Die zentrale Rolle des Wissens wurde zuerst in der Forschung zu Höchstleistungen nach dem<br />
Experten-Novizen-Paradigma deutlich.<br />
<br />
Beispiel: Erinnerungsleistung von Fußballexperten und –novizen der 2. Und 4. Klasse in<br />
Abhängigkeit von ihrem IQ (Schneider & Bjorklund 1992):<br />
Wenig intelligente Experten waren (nur) auf ihrem Gebiet so gut wie intelligente Novizen.<br />
Wissen konnte also mangelnden IQ kompensieren.<br />
<br />
Bei statistischer Kontrolle des jeweils anderen Prädiktors sagt das Vorwissen zu Beginn des<br />
Schuljahres den Leistungszuwachs während des Schuljahres besser vorher als die<br />
Intelligenz (Weinert et al. 1989)<br />
<br />
Nicht-schulisches Wissen wird vor allem durch Lesen erworben, nicht durch Fernsehen (Stanovich<br />
& Cunnigham 1993): Nach Kontrolle des IQ korrelierten lesen und Wissen immer noch .61: Lesen<br />
fördert das Wissen unabhängig von Intelligenz.<br />
Leistung hängt wesentlich vom Wissenserwerb ab und dieser wiederum von Intelligenz<br />
und Lernumwelt.
91 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Rahmenmodell für intellektuelle Leistungen III:<br />
Zusätzlich zu Intelligenz und Wissen fördert das Interesse am Stoff die Schulleistung.<br />
Die Korrelation zwischen Interesse und Leistung beträgt .30, ist aber nur schwer kausal zu<br />
interpretieren. Vermutlich fördert Interesse Leistung über verstärkten Wissenserwerb,<br />
Leistungserfolge fördern Interesse, und beides hängt auch von Intelligenz ab.<br />
ANTISOZIALES VERHALTEN<br />
Unter antisozialem Verhalten wird aggressives, krimineller oder sonstiges Verhalten<br />
verstanden, das soziale Normen verletzt, auch Schule schwänzen.<br />
Schwerere Formen wie physische Aggressivität und<br />
Delinquenz nehmen im Jugendalter stark zu und<br />
dann wieder ab, wobei dieser Effekt in westlichen<br />
Kulturen in den letzten Jahrzehnten stark<br />
zugenommen hat.<br />
Beispiel: Straftaten bei drei Geburtsjahrgängen englischer<br />
Männer (Farrington et al. 1986):<br />
Diese Zunahme im Jugendalter beruht nicht drauf,<br />
dass alle Jugendlichen so reagieren, sondern dass<br />
sich zwei Formen antisozialer Tendenzen<br />
überlagern: eine überdauernde Form und eine<br />
pubertätsgebundene Form (nach Moffitt, 1993):
92 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Zusätzlich wurde inzwischen eine dritte Form antisozialer Tendenzen gefunden, die sich im<br />
Jugendalter manifestiert und dann stabil bleibt (Moffitt 2002).<br />
Die überdauernde Form wird meist als antisoziale Persönlichkeit bezeichnet; schwerere<br />
Formen erfüllen das Kriterium der antisozialen Persönlichkeitsstörungen.<br />
Adoptionsstudien und eine Studie nach Caspi et al. (2002) legen nahe, dass die antisoziale<br />
Persönlichkeit auf genetischen Risikofaktoren beruht, die aber nur dann wirksam werden, wenn<br />
sie durch Umweltrisiken verstärkt werden (Genom-Umwelt bzw. Gen-Umwelt-Interaktionen).<br />
ENTWICKLUNGSMODELL DER ÜBERDAUERNDEN FORM<br />
Teil 1:<br />
Zu den neuropsychologischen Risiken gehören Störungen der pränatalen Entwicklung, die<br />
sich zum Teil in minimalen körperlichen Anomalien zeigen, und perinatale Probleme, z.B.<br />
Sauerstoffmangel.<br />
Nach der Geburt ist der Hauptrisikofaktor ein schwieriges Temperament (Thomas & Chess<br />
1977):<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Aufmerksamkeitsschwäche<br />
Motorische Unruhe<br />
Irritierbarkeit<br />
Schwer zu beruhigen<br />
Keine stabilen Biorhythmen<br />
Verstärkt wird das schwierige Temperament durch mangelnde Einfühlsamkeit der Eltern,<br />
was zu einer vermeidenden Bindung (A) führt, und durch einen rigide-autoritären<br />
Erziehungsstil, wobei das elterliche Verhalten sowohl Konsequenz als auch Bedingung für das<br />
schwierige Temperament ist.
93 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
In der Kindheit etabliert sich hierdurch ein Teufelskreis aus Aggression – erfolgloser<br />
Kontrollversuch durch Eltern und Geschwister – verstärkte Aggression: Prozess der<br />
gegenseitigen Nötigung (coercive Process; Patterson 1982)<br />
Der Prozess der gegenseitigen Nötigung betrifft zunächst Familienmitglieder, dann aber auch<br />
Gleichaltrige und Erwachsene (z.B. Lehrer), so dass Beurteilungen des antisozialen Verhaltens<br />
eine ungewöhnlich hohe Konsistenz zwischen Eltern und Lehrern zeigen (um .60).<br />
Experimentell ließ sich zeigen, dass aggressive Kinder mehrdeutiges Verhalten anderer eher als<br />
feindselig interpretieren als andere Kinder; dadurch kommt es zu Aggressionen, die für andere<br />
überraschend sind und so ihren schlechten Ruf fördern.<br />
Studie von Dodge (1980): Jungen der 2.-6. Klasse sollten Puzzle zusammensetzen; dafür gab es<br />
einen Preis. Das Puzzel wurde dann zu einem angeblichen Jungen in den Nachbarraum getragen.<br />
Fiktive Verhaltensrückmeldung durch Tonband:<br />
<br />
<br />
<br />
Puzzel wurde fluchend heruntergeworfen<br />
Puzzle fiel herunter, Junge versuchte es wieder zusammenzusetzen<br />
Puzzle fiel herunter (mehrdeutige Bedingung)<br />
Aggressive Jungen reagierten (nur) auf mehrdeutige Bedingung aggressiver.<br />
Entwicklungsmodell Teil II:
94 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Wegen ihres störenden Verhaltens werden aggressive Kinder von Gleichaltrigen und<br />
Familienmitgliedern eher abgelehnt. Die Reaktion hierauf ist mit Eintritt in das Jugendalter<br />
unterschiedlich:<br />
<br />
<br />
Die Mehrheit der antisozialen Jugendlichen befreundet sich mit ähnlichen Gleichaltrigen,<br />
insbesondere durch Anschluss an eine deviante Gruppe. Dadurch werden ihr<br />
Selbstwert und ihr Verhalten weiter gestärkt: Gruppentäter!<br />
Es kommt zu einer Selbstwertminderung und sozialem Rückzug: Einzeltäter!<br />
Prozessmodell für antisoziales Verhalten zwischen 4. und 6. Klasse nach Patterson & Banks<br />
1989:<br />
<br />
<br />
<br />
Basisrate (Kästchen)<br />
Übergangswahrscheinlichkeit<br />
(Bögen)<br />
Unerklärte Varianzanteile<br />
(Pfeile)<br />
Endgültiges Entwicklungsmodell:
95 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Entwicklungsmodell ist dynamisch-interaktionistisch, d.h. Wirkungen früher Ursachen<br />
können zu Ursachen nachfolgender Veränderungen werden.<br />
Beispiel: Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und restriktiv-autoritärem<br />
Erziehungsstil der Eltern: Früher immer interpretiert als Wirkung des Erziehungsstils auf die<br />
Kinder. Erst Bell und Harper (1977) wiesen auf umgekehrte Einflussmöglichkeit hin: Kindliche<br />
Aggression beeinflusst den Erziehungsstil ihrer Eltern.<br />
Belege für Einfluss der kindlichen Aggressivität auf Erziehungsstil der Eltern (Lytton 1990):<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Medikamentöse Dämpfung (z.B. Ritalin) wirkt sich auch auf Erziehungsverhalten aus<br />
Instruiertes aggressives Verhalten ruft rigide-autoritäres Verhalten der Mütter vorher<br />
Aggressive Jungen brauchten Mütter nicht aggressiver Kinder zu rigide-autoritärem<br />
Verhalten<br />
Mütter aggressiver Jungen provozierten nichtaggressive Jungen nicht zu Aggressionen<br />
Bestrafung fördert bei aggressiven Kindern Aggressionen, mindern sie bei<br />
Nichtaggressiven.<br />
Jungen sind im Durchschnitt aggressiver als ihre Schwestern (haben aber dieselben<br />
Eltern).<br />
Adoptierte Kinder ähneln in ihrer Aggressivität eher dem leiblichen Vater als dem<br />
Erziehenden.<br />
PUBERTÄTSGEBUNDENE ANTISOZIALE TENDENZ:<br />
Im Jugendalter sehr viel häufiger als überdauernde Form: Nur 5% der männlichen Jugendlichen<br />
weisen die überdauernde Form auf.<br />
Die Mehrheit fällt im Jugendalter durch antisoziales Verhalten auf.<br />
Erklärungsansätze:<br />
<br />
<br />
Reifungslücke (in heutigen westlichen Kulturen)<br />
In-Group-Out-Group Differenzierung<br />
SCHÜCHTERNHEIT<br />
Nach Grays Temperamentstheorie ist Schüchternheit bedingt durch eine starke<br />
Verhaltenshemmung in neuen oder evaluativen sozialen Situationen.<br />
Nach der Zweifaktorentheorie von Asendorpf (1989) kann Schüchternheit auf einem<br />
Temperamentsmerkmal beruhen (Stärke des Verhaltenshemmungssystems) oder auf<br />
häufiger sozialer Ablehnung.<br />
Da die Stärke des Verhaltenshemmungssystems die Sensitivität gegenüber sozialer Ablehnung<br />
erhöht, potenzieren sich die Wirkungen von Temperament und Ablehnungserfahrungen.
96 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Empirische Evidenz: In der Kindheit lassen sich die beiden Faktoren gut unterscheiden; ab dem<br />
Jugendalter konvergieren sie jedoch zu einer einheitlichen Dimension<br />
Beispiel nach Asendorpf (1990): Korrelationen zwischen beobachteter Gehemmtheit gegenüber<br />
Fremden und im Kindergarten:<br />
Asendorpf & Van Aken (1994): Die im Kindergarten Abgelehnten (jedoch nicht die<br />
temperamentsmäßigen Schüchternen) hatten bis zur 4. Klasse ein geringeres soziales<br />
Selbstwertgefühl.<br />
Langfristig hat aber auch temperamentsmäßige Schüchternheit in der Kindheit<br />
Konsequenzen in Form von verzögert bewältigten Transitionsphasen:<br />
Beispiel Berkeley Guidance Study (Caspi et al. 1988): Schüchterne Jungen (8-10 Jahre)<br />
heirateten drei Jahre später, bekamen das erste Kind vier Jahre später und begannen stabile<br />
Berufskarriere erst drei Jahre später als nichtschüchterne; schüchterne Mädchen heirateten<br />
Männer mit höherem Berufsprestige.<br />
Berliner Beziehungsstudie (Asendorpf & Wilpers,<br />
1998): Verzögerter Aufbau neuer Beziehungen bei<br />
Studienanfängern:<br />
Entwicklunsgmodell
97 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Entwicklungsmodell der Schüchternheit:<br />
Zusammenfassend:<br />
Aggressivität ist mit Externalisierungsproblemen, Schüchternheit mit<br />
Internalisierungsproblemen assoziiert.<br />
Gewalttätigkeit bei Internalisierungsproblemen in Form plötzlicher, überraschender<br />
Gewaltausbrüche auf der Basis gehemmter Aggressivität, bei Externalisierungsproblemen<br />
in Form vorhersehbarer Gewaltausbrüche auf der Basis hoher Aggressivität.<br />
ZUFALL UND NOTWENDIGKEIT<br />
Verbreitete Annahme: Zusätzlich zu systematischen genetischen und Umweltbedingungen<br />
beeinflussen irregulär auftretende („nicht normative“) kritische Lebensereignisse die<br />
Persönlichkeitsentwicklung. Sie können negativ, aber auch positiv erlebt werden.<br />
Sie sind umso einflussreicher, je stärker sie die vorhandene Person-Umwelt-Passung<br />
stören und dadurch zu Veränderungen der Persönlichkeit oder der Umwelt zwingen.
98 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />
Bedeutsamkeit kritischer Lebensereignisse:<br />
Kritische Lebensereignisse werden in ihrem<br />
Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung<br />
aber überschätzt, weil ihr Auftreten abhängig<br />
von der Persönlichkeit ist.<br />
So sagte in einer vier-Jahres-Längsschnittstudie<br />
Extraversion das Auftreten positiver (aber nicht<br />
negativer) Lebensereignisse vorher und<br />
Neurotizismus das Auftreten negativer (weniger<br />
positiver) Ereignisse (Magnus et al. 1993).<br />
Positive und negative Ereignisse korrelieren .37:<br />
Wechselhaftes versus eintöniges Leben.<br />
Zudem hängt die Wirkung eines kritischen<br />
Lebensereignisses von der Persönlichkeit der<br />
Betroffenen ab, nämlich der Art des Umgangs mit dem<br />
Ereignis (vor allem: Bewältigungsstil).<br />
Die Persönlichkeit kanalisiert kritische<br />
Lebensereignisse und ihre Wirkung.<br />
Bei den langdauernden Wechselwirkungen zwischen Person und Umwelt kommt eine<br />
gehörige Portion Zufall ins Spiel; aber es gibt auch Notwendigkeiten in Form<br />
systematischer Wenn-Dann-Regeln.<br />
Wir überschätzen die Rolle des Zufalls in der Persönlichkeitsentwicklung, weil wir<br />
alltägliche Zufälle kaum wahrnehmen, wohl aber bedeutsame Zufälle: Beispiel:<br />
Supermarktschlange – Heirat (66666666 erscheint unwahrscheinlicher als 97902463914 -><br />
Beide Folgen sind aber gleich wahrscheinlich.)<br />
Persönlichkeit ist ein ständiger Kompromiss zwischen Eigendynamik und<br />
Fremdbestimmung. Personen sind nicht Spielball ihrer Umwelt, haben diese aber auch<br />
nicht völlig unter Kontrolle.<br />
Deshalb ist die Persönlichkeitsentwicklung mittelstark vorhersagbar!<br />
Persönlichkeitsentwicklung als Lawine: Mit zunehmender Stabilität der Persönlichkeit<br />
bahnt sie sich selbst ihren Weg, ist also unabhängiger von Umweltbedingungen.