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Persönlichkeitspsychologie WS 11/12 (Neyer ... - FSR Psychologie

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1 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

DAS EIGENSCHAFTSPARADIGMA<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Entwickelte sich unabhängig von Psychoanalyse und Behaviorismus aufgrund naiver<br />

Persönlichkeitstheorie bzw. Alltagspsychologie. --> Präzisiert<br />

alltagspsychologische Eigenschaftsbegriffe und nutzt diese für die Diagnostik.<br />

Genügt empirischen Ansprüchen<br />

Von zentraler Bedeutung für die <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> (hat lange dominiert und<br />

wurde oft ergänzt)<br />

Nach William Stern und Gordon P. Allport<br />

ALLGEMEINES MENSCHENBILD<br />

Füllt Black Box mit Eigenschaften, die zwischen komplexen Situationen und komplexem<br />

Verhalten vermitteln: D.h. die funktionale Abhängigkeit zwischen Situation und Reaktion wird<br />

durch Eigenschaften (nicht Lerngeschichte) erklärt bzw. Eigenschaften erzeugen stabile<br />

Beziehungen zwischen Situationen und Reaktionen bei einer Person.<br />

Situation Eigenschaften Reaktion<br />

Eigenschaften sind nicht beobachtbare, aber aus Verhaltensregelmäßigkeiten entstehende,<br />

mittelfristig stabile (aber auch langfristig veränderbare) Verhaltensdispositionen.<br />

PERSÖNLICHKEITSBILD<br />

Persönlichkeit ist das System aller individualtypischen Eigenschaften. (Ziel insgesamt ist es<br />

individuelle Besonderheiten mit Eigenschaften zu beschreiben.)<br />

Zwei Ansätze:<br />

Individuumszentrierter Ansatz:<br />

Eigenschaften eines Individuums werden<br />

unabhängig von Eigenschaften anderer<br />

Individuen beschrieben (z.B.<br />

Körpergröße, Sehstärke)<br />

Differentieller Ansatz:<br />

Eigenschaftsdifferenzen innerhalb einer<br />

Population: Individuelle<br />

Eigenschaften relativ zu<br />

Eigenschaften anderer (z.B. IQ)<br />

INDIVIDUUMSZENTRIERTER ANSATZ:<br />

<br />

<br />

Eigenschaften müssen operationalisiert werden (Skala, Häufigkeit, Tests)<br />

Eigenschaften müssen auf Stabilität über kürzere Zeiträume nachgewiesen werden<br />

(Tagebuchmethodik)<br />

Bsp. nach Simonton (1998): Rekonstruktion der körperlichen und mentale Gesundheit und der<br />

politischen & persönlichen Belastung von König George III: Ergebnis der historiometrischen<br />

Analyse ergab Belastungsveränderungen ca. 9 Monate vor Gesundheitsveränderungen. -><br />

Unklar, ob zutreffend für alle/ Politiker oder nur ihn -> Studie macht keine Aussage über die<br />

Persönlichkeit des Königs!<br />

Rein individuumszentrierte Eigenschaftsbeschreibungen sagen nicht über die<br />

Persönlichkeit aus!


2 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Bsp. 2 nach Asendorpf und Wilkes (1999): Konfliktstärke mit Bezugspersonen: zeigt:<br />

Der Individuumszentrierte Ansatz kann Eigenschaften und ansatzweise<br />

individuelle Organisation beschreiben, aber weder<br />

Persönlichkeitseigenschaften noch Persönlichkeit. Dazu muss man mit einer<br />

Referenzpopulation vergleichen (Altersangehörige des gleichen Landes).<br />

Aussagen über Persönlichkeitseigenschaften sind von der Referenzpopulation<br />

abhängig!<br />

(Persönlichkeitsaussagen können sich aber ändern, wenn man mit anderer Referenzpopulation<br />

vergleicht: z.B. Skinhead mit Deutschen vs. mit anderen Skinheads verglichen)<br />

DIFFERENTIELLER ANSATZ:<br />

Unterschiede zwischen Personen einer bestimmten Population in ihren<br />

Persönlichkeitsmerkmalen.<br />

Vier differentielle Ansätze nach Stern:<br />

Variablenorientiert:<br />

Variationsforschung: Variation<br />

eines Merkmales innerhalb der<br />

Population (Bsp. Intelligenzvariation<br />

innerhalb der Population)<br />

Korrelationsforschung:<br />

Kovariation zweier Merkmale<br />

innerhalb der Population (Bsp.<br />

Zusammenhang zwischen Schönheit<br />

und Intelligenz innerhalb der<br />

Population)<br />

Personenorientierter Ansatz:<br />

Psychographie: Testen einer Person in<br />

unterschiedlichen Merkmalen ergibt<br />

Persönlichkeitsprofil (Bsp. Untersuchung<br />

der spezifischen Intelligenz einer Person +<br />

Erstellung eines Intelligenzprofils)<br />

Komparationsforschung: Vergleich der<br />

Persönlichkeitsprofile mehrerer Individuen<br />

(Bsp. Vergleich der Intelligenzstruktur<br />

(nicht des Intelligenzniveaus) -> kann in 3<br />

Typen klassifiziert werden:<br />

Merkmal 1 < Merkmal 2<br />

Merkmal 1 > Merkmal 2<br />

Merkmal 1 = Merkmal 2


3 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Persönlichkeit = Profil in allen Merkmalen, die sich innerhalb der<br />

Referenzpopulation unterscheiden. Veranschaulichung durch<br />

Persönlichkeitsprofil.<br />

Im personenorientierten Ansatz lassen sich Personen nach<br />

Persönlichkeitstypen klassifizieren. Ein Typ besteht aus Personen mit<br />

ähnlichem Persönlichkeitsprofil.<br />

Ansätze sind nicht gegensätzlich! Sinnvolle Strategie: Erst<br />

individuumszentrierte Einzelfallmessung und dann differentielle Messung!<br />

METHODIK<br />

INDIVIDUUMSZENTRIERTE DATENERHEBUNG:<br />

Merkmale einer Person werden unabhängig von ihrer Ausprägung bei anderen Personen<br />

erhoben:<br />

<br />

<br />

„Weiche“ Methoden: keine Messungen im empirischen Sinne (Bsp. Freie Beschreibungen,<br />

Biographien…)<br />

„Harte“ Methoden: Messung von Merkmalen, sodass Merkmalen Merkmalswerte<br />

zugeordnet werden -> Unterschiede zwischen Merkmalswerten entsprechen dann<br />

Unterschieden zwischen den Zahlen<br />

o Beispiele: Role Construct Repertory Test nach Kelly (1955)<br />

o Oder Q-Sort nach Stephenson (1953)<br />

Q-Sort nach Stephenson (1953):<br />

Sortierung von Eigenschaften einer Person nach ihrer Salienz (Typischkeit) für diese<br />

Person ergibt Q-Sort-Profil:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Entstehen eines Eigenschaftsprofiles durch individuumszentrierte Messung von<br />

Merkmalen (nicht komplett individuumszentriert, da Beurteiler automatisch zu<br />

Beurteilenden mit Anderen vergleicht)<br />

Urteiler beurteilt in Kategorien wie charakteristisch das Merkmal ist. Zu beurteilende<br />

Eigenschaften werden vorgegeben. Möglich sind Selbst-, Bekannten-,<br />

Expertenbeurteilungen.<br />

Q-Sort ist damit eigentlich eine Mischung von individuumszentrierter und<br />

differentieller Methodik! (Q-Sorts sind immer leicht differentiell, da in eine<br />

individuumszentrierte Messung die auf Beurteilungen basiert immer differentielle<br />

Überlegungen des Beurteilers mit einfließen.)<br />

Individuumszentrierte strenge Messungen erfordern absolute Messungen (z.B.<br />

Körpergröße, Sehstärke…)<br />

DIFFERENTIELLE DATENERHEBUNG:<br />

Erhebung von Merkmalen/Dispositionen im Vergleich zu anderen (Peers):<br />

Drei Hauptmethoden:<br />

<br />

<br />

<br />

Persönlichkeitsskalen<br />

Beurteilung in Situations-(Reaktions-)Inventaren<br />

Verhaltensbeobachtung


4 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Persönlichkeitsskalen:<br />

Jede Skala misst eine Persönlichkeitseigenschaft, die aus verschiedenen Items aufgebaut<br />

ist. Die Items werden auf einer Antwortskala beurteilt. Es gibt mehrere Items, um durch<br />

Mittelung Messfehler reduzieren zu können.<br />

Bsp. NEO-FFI nach Borkenau und Ostenford (1993): fünf Eigenschaftsdimensionen werden mit je<br />

<strong>12</strong> Items (Eigenschaftsbeschreibungen) gemessen.<br />

Antwortskalen werden Zahlen zugeordnet, diese werden zu Skalenwert gemittelt, der<br />

Eigenschaft beschreibt. Aus den Skalenwerten einer Person in verschiedenen Bereichen<br />

ergibt sich das Persönlichkeitsprofil.<br />

Fehlerquellen werden durch mehrmaliges Erfragen einer Eigenschaft verringert<br />

(Mittelung der Items). Items müssen innerhalb der Stichprobe einer Population kovariieren.<br />

Beurteilung durch Person selbst (Selbstbeurteilung) oder durch andere (Fremdbeurteilung).<br />

Aber: Problem von Persönlichkeitsskalen: Unkontrollierbare, nicht vorgegebene<br />

Situationen, Situationen werden nicht systematisch variiert-> Eigenschaftsbeurteilung<br />

fallen stark unterschiedlich aus, da Zuordnung der Verhaltenstendenz zu Situationen den<br />

Urteilern überlassen wird.<br />

Situations-(Reaktions-)Inventare:<br />

Systematische Variation von Situation und Reaktion + Mittelung aller Urteile pro Person<br />

Bsp. Fear Survey Schedule nach Wolpe & Lang (1964):<br />

Rot und Blau haben das gleiche Profilniveau<br />

Rot und Gelb haben die gleiche Profilgestalt<br />

Messbar sind dabei:<br />

<br />

<br />

<br />

Allgemeine Eigenschaften (z.B. Ängstlichkeit) -> mittlere Niveau<br />

Individuelles Situationsprofil<br />

Individuelles Reaktionsprofil (Mittelwert der Situationen pro Reaktion)<br />

Man kann dann zwei Personen anhang ihres Profilniveaus bzw. ihrer Profilgestalt vergleichen.<br />

Trotzdem verzerrt: Beurteilender will zu Beurteilenden in gutem Licht erscheinen lassen,<br />

Erinnerungs- und/oder Wahrnehmungsverzerrungen des Verhaltens (sind nur<br />

hypothetische Situationen))<br />

Verhaltensbeobachtung:


5 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Direkte Verhaltensbeobachtung (Video oder Beobachter) in realen Situationen.<br />

Bsp.: Bearbeitung von Leistungstests, soziale oder emotionale inszenierte Szenen im Labor/<br />

Beobachtung im Alltag<br />

Prüfung der Stabilität hierbei ist besonders wichtig<br />

Begrenzt durch:<br />

<br />

<br />

<br />

Nur beobachtbares Verhalten, kein subjektives Erleben<br />

Beobachter muss ständig anwesend sein -> sehr aufwändig<br />

Eingriff in Privatsphäre bei Beobachtung intimen Verhaltens<br />

Verhaltensbeobachtung umgeht Probleme der Persönlichkeitsbeurteilung, kann aber nur<br />

bestimmte Persönlichkeitsbereiche erfassen.<br />

Beurteilung des Erlebens: kann z.B. direkt nach der Situation oder mit Hilfe von<br />

videounterstütztem Erinnern erfolgen, bei dem die Person ihr Erleben in der Situation anhand<br />

einer Videoaufnahme ihres Verhaltens in der Situation einschätzt.<br />

Beurteilungsfehler: Gelten auch für globale Verhaltensbeobachtungen, Alternative: Kodierung<br />

spezifischer Verhaltensweisen.<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Mangelhaftes Verständnis der Items/Antwortskala/Person<br />

Selektive Kenntnis der relevanten Situationen<br />

Erinnerungsverzerrungen<br />

Tendenz zu sozial erwünschten Antworten (Selbst- und Fremdtäuschung)<br />

Tendenz zu (nicht) extremen Urteilen<br />

Halo-Effekte (Bsp. Schönheit und IQ)<br />

Schlechte Beobachtbarkeit der Eigenschaft<br />

(Grundbegriffe der Methodik…)<br />

Anwendung von Korrelationen:<br />

<br />

<br />

<br />

Variablenorientierter Ansatz: Charakterisierung von Stabilität von Populationen<br />

durch Prüfung der mittelfristigen Stabilität über Kovariation von<br />

Merkmalen/Merkmalsprofilen zu verschiedenen Zeitpunkten. -><br />

Merkmalsprofilvergleich ist ein empirischer Nachweis über Zeitstabilität der<br />

Persönlichkeit<br />

Personenorientierter Ansatz: Stabilität einzelner Personen-Profile durch<br />

zweimalige Messung einer Person: Merkmal -> Persönlichkeitseigenschaft, wenn Profil<br />

stabil bleibt.<br />

Qualität der einzelnen Items eines Skala: Korrelation zwischen diesem Item und dem<br />

Mittel der restlichen Items ist die so genannte Trennschärfe der Items (unter 0.2<br />

schlecht): Trennschärfe ist ein Maß der Qualität einer Skala


6 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Reliabilität von Eigenschaftsmessungen (Zuverlässigkeit, Messgenauigkeit der Skala)<br />

Reliabilität= wahre/beobachtete Varianz<br />

Wird bestimmt durch die Korrelation zwischen<br />

zwei parallelen Messungen mit gleich großem<br />

Fehler oder Schätzung einer solchen<br />

Korrelation<br />

Drei mögliche Messverfahren:<br />

Cronbach-Alpha: schätzt die interne Konsistenz des Gesamttests aufgrund der Korrelation<br />

zwischen k und parallelen testteilen mit Hilfe der Spearman-Brown-Formel.<br />

<br />

<br />

Trennschärfen: Qualität von Items, Beurteilern und Variablen<br />

Reliabilitäten: Qualität von Skalen, mittleres Urteil aller Beurteiler, mittleres<br />

Gütemaß aller Variablen<br />

Validität von Eigenschaftsmessungen:<br />

Validität = Gültigkeit, d.h. es wird gemessen, was gemessen werden soll. Damit begrenzt durch<br />

die Reliabilität.<br />

Die erfassten Inhalte<br />

repräsentieren ganzes Konstrukt.<br />

Korrelation mit<br />

Kriterium, das bereits gut<br />

validiert ist, sollte hoch<br />

sein.<br />

Korrelation mit<br />

anderen schlechten<br />

oder niedrig<br />

validierten Variablen<br />

sollte niedrig sein.<br />

Validität einer Variable wird durch die<br />

Korrelation mit Außenkriterium<br />

bestimmt: Je höher die Korrelation, desto<br />

besser die Validität!


7 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Gefahr eines Zirkelschlusses bei Kriteriumsvalidierung:<br />

Test A ist valide, weil A mit B korreliert, B mit C und C<br />

wiederum mit A. Alternative, bessere Sichtweise ist das<br />

nomologische Netzwerk:<br />

Aggregationsprinzip:<br />

= Mittelungsprinzip: Die Spearman-Brown-Formel beschreibt ganz allgemein das<br />

Aggregationsprinzip, nach dem die Reliabilität und deshalb auch die Validität von<br />

Eigenschaftsmessungen durch Aggregation/Mittelung über viele Messungen erhöht<br />

werden kann.<br />

Aggregiert werden kann z.B. über parallele Items eines Tests, Situationen, Reaktionen,<br />

Beobachter, Zeitpunkte.<br />

Das Aggregationsprinzip hat seine Grenzen in der Voraussetzung paralleler Messungen und<br />

der Interpretierbarkeit der aggregierten Messungen.<br />

(EMPRIRISCHE) BEWÄHRUNG DES EIGENSCHAFTSPARADIGMAS<br />

Beurteilerübereinstimmung:<br />

<br />

<br />

<br />

r=.60-.80 -> 1-2 Beurteiler reichen bei Verhaltensbeobachtung aus<br />

bei Beurteilungen in Persönlichkeitsskalen, Q-Sorts selten über .50, da Beurteilungen<br />

zwischen Selbst/Eltern/Partner/Freunden sich auf verschiedene Situationen beziehen.<br />

-> Diskrepanz kann nicht verhindert werden, Mittelung verschiedener Urteile<br />

notwendig<br />

Interne Konsistenz:<br />

Bei Eliminierung von ungeeigneten Items: .75-.85<br />

Itemselektion durch Trennschärfenmessung: danach Kreuzvalidität mit anderer<br />

Stichprobe, da sonst zufällig hohe Trennschärfen möglich.<br />

Probleme:<br />

o Unzureichende Konstrukterklärung (Items messen falsches Konstrukt)<br />

o Erfahrungsferne des Konstrukts (VPN ohne Wissen)<br />

o Zu breites Konstrukt (Items gut messbar, aber wenig Korrelation untereinander)<br />

Validität:<br />

Begrenzt durch Beurteilerübereinstimmung -> weniger, = .50<br />

Auch bei Verhaltensbeobachtung so wenig, da Eigenschaften nur in wenigen Situationen<br />

beobachtet werden -> trotzdem noch ausreichend für Forschung und Praxis!


8 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Zeitliche Stabilität:<br />

<br />

Retestreliabilitäten bei .75-.85 -> aber nur Erfassung der Urteils- nicht der<br />

Verhaltensstabilität!<br />

Transsituative Konsistenz der Persönlichkeit:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

= Korrelation von Verhaltensdispositionen zwischen verschiedenen Situationen<br />

(Menschen verhalten sich nicht immer gleich)<br />

Beispielstudie von Hartshorne & may (1928): Ehrlichkeit ist nicht ausreichend konsistent<br />

Es ergab sich nur eine mittlere Korrelation zwischen den Situationen von .19 und damit<br />

nach der Spearman-Brown-Formel eine interne Konsistenz der Messungen von .65.<br />

Mischel postulierte 1968 die „magische Grenze“ von .30 für die transsituative<br />

Konsistenz von Eigenschaftsmessungen und zog daraus den Schluss, dass es keine<br />

Eigenschaften gäbe (es handle sich nur um Fiktionen der Alltagspsychologie)<br />

Konsistenzdebatte folgte.<br />

Aber eigentlich ist eine hohe transsituative Konsistenz nicht notwendig für den<br />

Eigenschaftsbegriff (Mischels Kritik war ein Missverständnis!) -> Notwendig ist<br />

nur eine hohe zeitliche Stabilität: Unterschiede in stabilen Situationsprofilen sind<br />

mit dem Eigenschaftsbegriff vereinbar.<br />

Lösung des Problems der mangelnden transsituativen Konsistenz:<br />

o Unterscheidungen von Situationsprofil-Typen, z.B. aggressiver gegenüber<br />

Kindern als gegenüber Erwachsenen<br />

o Differenzierung einer Disposition in untergeordnete situationsspezifischere<br />

Dispositionen z.B. „aggressiv gegenüber Kindern/Erwachsenen“<br />

Reaktionskohärenz:<br />

<br />

<br />

<br />

= Korrelation zwischen eigenschaftstypischen Reaktionen (oft niedrig)<br />

Reaktions-Inkohärenzen lassen sich durch Bildung von Profiltypen oder durch<br />

reaktionsspezifischere Dispositionen auflösen (analog zu transsituativen<br />

Inkonsistenzen)<br />

(aber auch gute Ergebnisse bei Studien, bzw. Vorhersagen zu Reaktionshierarchien<br />

können getroffen werden)<br />

BEWERTUNG<br />

Präzisierung des alltagspsychologischen Begriffes der Persönlichkeitseigenschaft +<br />

Ermöglichung der Messung durch empirischen Zugang und operationale Messungen -> Lösung<br />

der Alltagspsychologie<br />

Begriff der Eigenschaft ist nicht zirkulär, wenn klar zwischen beobachtbarem Verhalten und<br />

daraus geschlossener Disposition unterschieden wird.<br />

Rein individuumszentrierte Betrachtung nicht möglich –> Vergleich mit Referenzpopulation<br />

notwendig -> Aussagen sind Populationsabhängig!


9 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Probleme des Eigenschaftsparadigmas:<br />

<br />

<br />

<br />

Keine Aussagen über Prozesse der Situationsverarbeitung („Black Box“) -> enthält<br />

Eigenschaften, keine Prozesse<br />

Eigenschaftsbegriff ist statisch, keine Aussagen über<br />

Persönlichkeitsveränderungen<br />

Keine Begründung, warum Menschen sich unterscheiden (Anlehnung an<br />

Alltagspsychologie oder Entnahme aus diagnostischen Anforderungen)<br />

DAS NEUROWISSENSCHAFTLICHE PARADIGMA<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Hatte vor allem die letzten zwanzig Jahre zusammen mit der Entwicklung der kognitiven<br />

Neurowissenschaften Zulauf.<br />

Zugang zu <strong>Psychologie</strong> durch Hirnaktivität und Hirnprozessen.<br />

Neuronale Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts.<br />

Untersucht individuelle Unterschiede im Nervensystem und die Zusammenhänge zu<br />

Persönlichkeit<br />

ALLGEMEINES MENSCHENBILD<br />

Untersuchung der Informationsverarbeitung im Nervensystem & anderen damit in<br />

Wechselwirkung stehenden Systemen:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Motorisches (Muskeltonus, Bewegungen)<br />

Hormonelles (Psychoneuroendokrinologie)<br />

Herz-Kreislauf (kardiovaskuläre Psychophysiologie)<br />

Immunsystem (Psychoneuroimmunologie)<br />

Korrelieren die individuellen Persönlichkeitsunterschiede mit Systemeigenschaften?<br />

Hypothalamus-Hypophysen-<br />

Nebennieren-Achse<br />

Hypothalamus-Hypophysen-<br />

Gonaden-Achse


10 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Elementare,<br />

reflexartige<br />

Bewegungen<br />

Grenzen von Lokalisationsannahmen:<br />

Jedes Neuron ist mit jedem anderen Neuron (evtl. bis zu vier Neurone<br />

zwischengeschaltet) verbunden.<br />

Emotionen finden im ganzen Körper statt, nicht nur im limbischen System. Man denkt<br />

mit rechter und linker Gehirnhälfte.<br />

Komplexe psychische Funktionen: weiträumige Erregungs- und Hemmungsprozesse +<br />

Wechselwirkungen mit anderen Systemen jenseits des Nervensystems.<br />

Psychoneuroendokrinologie (Hormonelles System):<br />

Substanzwirkung variiert stark<br />

räumlich und zeitlich (keine hohe<br />

Korrelation von Testosteron in Blutund<br />

Speichelproben) und steht in<br />

Wechselwirkung mit anderen<br />

Substanzen (z.B. Hormone mit<br />

Neurotransmittern).<br />

Einfache Zuordnung zu<br />

Funktionen nicht möglich.<br />

Vorteil des biochemischen<br />

Ansatzes: Experimentellpharmakologische<br />

Beeinflussbarkeit<br />

Bsp.: Behinderung der<br />

Dopaminaufnahme durch<br />

Rezeptorenblocker in<br />

Experimentalgruppe, Placebo in<br />

Kontrollgruppe.<br />

Limbisches System: Verarbeitung<br />

emotionaler Reaktionen/<br />

Bewertungen + emotionales<br />

Gedächtnis


<strong>11</strong> <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Interaktionistische Sichtweise:<br />

Biologistische Auffassungen: Ursachen psychischer Phänomene sind primär psychologisch<br />

(Bsp. Sex vergrößert daran beteiligte Neurone) und psychologistische Auffassungen:<br />

Ursachen biologischer Phänomene sind primär psychologisch (Bsp. Es gibt keine<br />

„Krebspersönlichkeit“) sind verkürzt!<br />

Interaktionistische Sichtweise gilt stattdessen:<br />

Es gibt eine<br />

Wechselwirkung,<br />

aber man kann nicht<br />

von Einem<br />

Rückschlüsse auf das<br />

Andere ziehen!<br />

PERSÖNLICHKEITSBILD<br />

Persönlichkeitsunterschiede können beruhen auf der:<br />

<br />

<br />

<br />

Architektur der biologischen Systeme -> universell (Außnahme:<br />

Geschlechtsunterschiede)<br />

Anatomischen Feinstruktur der biologischen Systeme (Variiert deutlich: z.B.<br />

mehr Synapsen und Dendriten in anregenden Umwelten – umweltabhängige<br />

Vernetzung von Neuronen; Myelinisierungshypothese der Intelligenz)<br />

Physiologischen Aktivität biologischer Systeme (Suche nach Unterschieden in<br />

physiologischen Aktivierungsparametern: z.B. autonomes Nervensystem bei Stress.)<br />

METHODIK<br />

Vier grundlegende methodische Zugänge zu Persönlichkeitsunterschieden:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Korrelativer Ansatz<br />

Multivariate Psychophysiologie<br />

Systemorientierter Ansatz<br />

Ambulantes Monitoring<br />

KORRELATIVER ANSATZ<br />

Wichtig dabei:<br />

<br />

<br />

Parameter der Physiologie und des Erlebens und Verhaltens müssen zeitstabil sein<br />

(Problem!)<br />

Messung muss in eigenschaftsrelevanten Situationen erfolgen (z.B. bei Aggressivität)


<strong>12</strong> <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Beispiel 1: Herz-Kreislauf-Reaktionen bei Ärger<br />

Befund: Korrelationen zwischen<br />

<br />

<br />

Defensivität und chronischer Ärgerunterdrückung und diastolischer Blutdruck (im<br />

Experiment)<br />

Feindseligkeit und koronare Herzerkrankung (epidemiologisch)<br />

Mögliche Interpretation: Ärgerverarbeitung -> Blutdruck -> Herzerkrankung<br />

Aber eigentlich ist Ursache bei Korrelation nicht direkt ersichtlich! Eventuell auch noch<br />

dritte genetische Variable!<br />

Alternative Interpretation:<br />

Genetische Dispositionen<br />

Umweltbedingungen<br />

Erhöhter Blutdruck bei Ärger,<br />

Feindseligkeit<br />

Herzerkrankung<br />

Korrelativer Ansatz kann das nicht entscheiden, da hier keine Aussagen über<br />

Richtungswirkungen möglich sind!!<br />

Beispiel 2: Immunaktivität bei Stress<br />

Allgemeiner Befund (Intraindividuell): Zunächst Abnahme von Killer- und Helferzellen, dann<br />

kompensatorisches Überschießen<br />

Differentieller Befund (interindividuell): Bei Neurotizismus und negativer Affektivität ist<br />

Abnahme oft stärker. Aber es besteht kein Zusammenhang mit Erkrankungsrisiko.<br />

MULTIVARIATE PSYCHOPHYSIOLOGIE<br />

<br />

<br />

<br />

Mehrere physiologische Reaktionen und mehrere Situationen<br />

Hoffnung war, interindividuell kovariierende Reaktionen in bestimmten<br />

Situationen zu finden.<br />

Deutschland: Freiburger Schule (Fahrenberg, Myrtek, Stemmler)<br />

Problem: Trotz hoher intraindividueller<br />

Korrelationen nur geringe interindividuelle<br />

Korrelationen! (interindividuelle = differentielle<br />

Zusammenhänge)<br />

(blaue Korrelationen = Mittelung über Personen sind<br />

größer als rote Korrelationen: Mittelung über<br />

Situationen)


13 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

SYSTEMORIENTIERTER ANSATZ<br />

Ausgangspunkt: Möglichst genau umschriebenes System (Anatomie, Biochemie, Physiologie).<br />

Interindividuelle Unterschiede in der Reaktivität des Systems werden auf beurteilte oder<br />

beobachtete Persönlichkeitsdispositionen bezogen.<br />

Überprüfung durch Manipulation (experimentell<br />

situativ und/oder pharmakologisch) der<br />

Systemparameter und Messung der AV aktuelles<br />

Erleben und Verhalten in der Situation und andere<br />

Systemparameter.<br />

Beispiel nach Wacker et al. (2006):<br />

Dopaminerges System wurde aktiviert durch Belohnung bei Bearbeitung kognitiver Aufgaben.<br />

„Challenge-Test“ behinderte pharmakologisch in Experimentalgruppe Dopaminausschüttung,<br />

Kontrollgruppe erhielt Placebo.<br />

Positive Emotionalität wurde vorher selbst beurteilt. AV: EEG- und Reaktionszeitmaße<br />

Wie auf der Basis von Vorläuferstudien erwartet, bearbeiteten unter Placebo die positiv<br />

Emotionalen die Aufgaben schneller als die weniger positiv Emotionalen, während es bei<br />

Dopamin-Blockierung zu einer Umkehrung kam; entsprechendes ergab sich für linksfrontale<br />

EEG-Aktivierung.<br />

AMBULANTES MONITORING<br />

Physiologische Reaktionen werden im Alltag („Feld“) mit tragbaren Geräten gemessen,<br />

statt im Labor. (Technik wurde von Medizinern für Herz-Kreislauf-Patienten entwickelt)<br />

Replikation von Laborbefunden im Feld/Alltag<br />

Beispiel 1: gehemmte Kinder und Herzrate im Labor vs. im Alltag<br />

Kagan et al. (1987): gehemmte Kinder reagieren mit erhöhter Herzrate auf unbekannte<br />

Situationen im Labor<br />

Asendorpf & Meier (1993):An normalen Schultagen sprachen gehemmte Kinder in Schulpausen<br />

und auf Spielplätzen weniger, aber die Herzrate war normal; Sprechen erhöhte im Alltag<br />

Herzrate um 9 Schläge/Minute.<br />

Wie kann man den Widerspruch zwischen Labor und Feld erklären?<br />

Kein Widerspruch, da die gehemmten Kinder in hemmenden Situationen einerseits weniger<br />

sprechen, andererseits vermutlich stärker erregt waren: Trade-Off von zwei Wirkungen auf<br />

Herzrate (Aktivität und Erregung).


14 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Ohne Überprüfung von Laborbefunden im Feld können deren Ereignisse nicht auf den<br />

Alltag verallgemeinert werden.<br />

So sind bei Panik-Patienten subjektiv als lebensbedrohlich erlebte Herzattacken im Alltag nicht<br />

in Protokollen des ambulanten Herz-Monitoring nachweisbar, wobei aber Gehen versus Sitzen<br />

oder Gehen versus Treppensteigen klar nachweisbar ist.<br />

KORRELATIVER ANSATZ:<br />

BEWÄHRUNG<br />

Korrelationen zu gering, zeigen keine systematischen Zusammenhänge, da:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Physiologische Messungen oft nicht ausreichend aggregiert sind (Messung nur in<br />

einer Situation, häufigere Messungen in verschiedenen Situationen wären besser)<br />

Selbstbeurteilungen Verzerrungstendenzen unterliegen (z.B. zu sozial erwünschten<br />

Antworten)<br />

Individuelle Reaktionshierarchien die Korrelationen dämpfen (z.B. niedrige Herzrate<br />

bei Sportlern)<br />

Messungen oft dem technisch Machbaren folgen anstatt systemspezifisch zu sein und so<br />

meist durch viele unterschiedliche physiologische Systeme beeinflusst werden (z.B.<br />

Herzrate) – messen können vs. messen sollen<br />

MULTIVARIATER ANSATZ:<br />

Haupteffekt der Personen ist meist gering relativ zu statistischen Interaktionen Personen<br />

x Reaktionen, bei situationaler Variation auch Interaktionen mit Situationen.<br />

D.h. Persönlichkeitsunterschiede manifestieren sich in Abhängigkeit von a) Reaktionen und b)<br />

Situationen.<br />

Dies verweist auf die Bedeutung individualtypischer Reaktions- bzw. Situationsprofile.<br />

SYSTEMORIENTIERTER ANSATZ:<br />

Noch zu wenig verfolgt, auch wegen fehlenden Wissens über physiologische Systeme und<br />

deren Wechselwirkung. -> erscheint aber vielversprechend!<br />

AMBULANTES MONITORING:<br />

Intraindividuelle Variabilität ist im Alltag größer als im Labor.<br />

Nach statistischer Kontrolle der Bewegungseffekte sind Effekte kognitiver und emotionaler<br />

Belastung ähnlich schwach wie im Labor.<br />

Interindividuelle Nullkorrelationen zwischen subjektivem Erleben oder<br />

selbsteingeschätzter Persönlichkeit und physiologischen Messungen im Alltag bestätigen<br />

Laborbefunde (z.B. subjektive Beschwerden und Herz-Kreislauf-Parameter sind meist<br />

unkorreliert -> „gesunde Kranke“).


15 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

BEWERTUNG<br />

Hauptproblem: Graben zwischen neurowissenschaftlich Messbarem und subjektiv-verbal<br />

Berichtbarem<br />

Überwindung erfordert Lösung des Bewusstseinsproblems und des Gedächtnisproblems, und<br />

selbst dann verbleiben vermutlich klare Unterschiede aufgrund emergenter Eigenschaften<br />

(Eigenschaften können auch aus sich heraus ohne physiologische Grundlage entstehen) der<br />

psychologischen Ebene.<br />

Ertrag der Neurowissenschaft für das inhaltliche Verständnis von<br />

Persönlichkeitsunterschieden ist derzeit gering.<br />

DYNAMISCH-INTERAKTIONISTISCHES PARADIGMA<br />

Untersucht die Wechselwirkungen zwischen Persönlichkeit und Umwelt – Entwicklung im<br />

Laufe der Zeit in Abhängigkeit von der Umwelt.<br />

ALLGEMEINES MENSCHENBILD<br />

Person & Umwelt sind mittelfristig konstant, können sich aber langfristig ändern.<br />

Veränderungen beruhen auf:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Veränderungen innerhalb der Person<br />

Veränderungen innerhalb der Umwelt<br />

Einflüsse der Umwelt auf die Person<br />

Einflüsse der Person auf die Umwelt<br />

Modell der Umwelt nach Bronfenbreener (1979):<br />

(Mikro- und Mesosystem sind vor allem für die<br />

<strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> relevant!)<br />

Vier Entwicklungsmodelle: (Verschiedene Messzeitpunkte, U=Umwelt, P=Persönlichkeit)<br />

Umweltdetermination: naiver Environmentalismus<br />

(behavioristische Sichtweise) -> Umwelt(in)stabilität beeinflusst<br />

die Persönlichkeit -> Einzelne Persönlichkeiten hängen aber nicht<br />

zusammen.<br />

Entfaltung: Anfangspersönlichkeit ist schon angelegt,<br />

Umweltbedingungen können die Persönlichkeiten beeinflussen.<br />

Die späteren Persönlichkeiten entstehen aber nur aus P0 heraus,<br />

P1 hat zum Beispiel keinen Einfluss auf P2


16 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Kodetermination: Von Umwelt abhängige Entwicklung +<br />

genetisches Programm: Persönlichkeit läuft ab, entwickelt sich<br />

weiter und wird zusätzlich durch die Umwelt beeinflusst.<br />

Dynamische Interaktion: Persönlichkeit gestaltet Umwelt -><br />

Rückwirkung der Umwelt auf die Persönlichkeit -> Persönlichkeit<br />

gestaltet Umwelt -> … (Bsp. Musikalität)<br />

Unterscheidung des dynamisch-interaktionistischen Paradigmas von Alltags-,<br />

psychoanalytischer und behavioristischer <strong>Psychologie</strong> durch Einflüsse der Person<br />

auf die Umwelt! -> kontinuierliche Wechselwirkung (Transaktion)<br />

Drei Einflussarten:<br />

<br />

<br />

<br />

Auswahl (Bsp. Partnerwahl)<br />

Herstellung (Bsp. Beziehungen knüpfen: Dating, Mating, Relating)<br />

Veränderung (Bsp. heiraten, sich scheiden lassen)<br />

Zwei Interaktionskonzepte:<br />

Statistische Interaktion:<br />

X und Y wirken nichtadditiv auf Z, z.B.<br />

Dynamische Interaktion<br />

X und Y beeinflussen sich wechselseitig im Zeitverlauf,<br />

z.B. bei sozialer Interaktion<br />

PERSÖNLICHKEITSBILD<br />

Die Persönlichkeit ändert sich nur, wenn es differentielle Veränderungen (nicht individuelle!)<br />

gibt. – Differentielle Veränderungen = anderer Verlauf gegenüber der Referenzpopulation<br />

Dynamisch-interaktionistisches Paradigma nur für<br />

differentielle Veränderungen der Persönlichkeit und der<br />

Umwelt. (Auch Umwelt ändert sich.)


17 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

METHODIK<br />

Messung des Einflusses der Umwelt auf die Persönlichkeit durch Vergleiche von<br />

Experimentalgruppen mit Intervention gegenüber Kontrollgruppen ohne Intervention.<br />

Aber Problem der Umweltintervention, besonderes Problem bei der Umkehrung<br />

Persönlichkeit wirkt auf die Umwelt.<br />

Nutzung naturalistischer Experimente (Quasiexperimente -> VPN bringen die<br />

Voraussetzungen für eine bestimmte Gruppe schon mit)<br />

Beispiel: Wirkung erster stabiler Partnerschaft auf Neurotizismus (<strong>Neyer</strong> und Asendorpf,<br />

2001)<br />

Alternative: Korrelationen von Persönlichkeit und Umwelt<br />

Problem: Mehrdeutigkeit von Korrelationen (Bsp. Storchenzahl und<br />

Geburtenzahl pro km^2; Aggressivität des Kindes und autoritärer<br />

Erziehungsstil…)<br />

Verbesserung: Korrelationen über die Zeit: Wenn X(1) -> Y(1) gilt,<br />

kann Y(2) nicht X(1) beeinflusst haben.<br />

Trotzdem bleibt Problem bestehen: Fortpflanzung von<br />

Einflüssen bei stabilen Merkmalen muss kontrolliert werden.<br />

Kreuzkorrelationen können nicht direkt interpretiert<br />

werden, wenn Stabilitäten unterschiedlich sind. Vielmehr<br />

müssen Pfadkoeffizienten interpretiert werden:<br />

Kreuzkorrelation: nicht<br />

direkt interpretierbar, da<br />

indirekte Einflüsse<br />

berücksichtigt werden<br />

müssen<br />

Pfadkoeffizient: entspricht<br />

direktem Effekt, errechnet<br />

sich: Produkt indirekter Pfade<br />

+ direkter Pfad -> K<br />

Beispiele fürs Verständnis:<br />

<br />

<br />

<br />

Mütterliche Erziehung späte Persönlichkeit<br />

Effekte von Schüchternheit auf Beziehungen in Umwelt (Gestaltung der Umwelt durch<br />

die Persönlichkeit bewirkt evtl. keine Änderung von Schüchternheit durch neue<br />

Studienumwelt, mehr Einflüsse der Persönlichkeit auf die Umwelt als andersherum ab<br />

dem Jugendalter) Asendorpf & Wilpers (1998)<br />

Umwelt Intelligenz (Schlechte Umwelt in der Kindheit bewirkt einen differentiellen<br />

Unterschied im späteren IQ) Sameroff et al. (1993)


18 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

BEWÄHRUNG<br />

Vereinfachung: Katapultmodell: Untersuchung der frühen Umwelt und der späteren<br />

Persönlichkeit (aber keine Kontrolle für frühe Persönlichkeit!)<br />

Ist angemessen bei sensitiven Perioden in der Entwicklung<br />

Beispiel: Unterscheidung r/l bei japanischen Kindern<br />

BEWERTUNG<br />

<br />

<br />

<br />

Dynamisch-interaktionistisches Paradigma ist umfassendes Modell der<br />

Persönlichkeitsentwicklung<br />

Die empirische Analyse von Einflüssen durch (naturalistische) Experimente und<br />

Kreuzkorrelationsstudien ist aber sehr aufwändig, deshalb dominieren einfache<br />

korrelative Designs z.B. das Katapultmodell<br />

Es gibt bisher wenig Untersuchungen zu den Prozessen, die zwischen Persönlichkeit<br />

und Umwelt vermitteln<br />

EVOLUTIONSPSYCHOLOGISCHES PARADIGMA<br />

MENSCHENBILD<br />

Menschliches Erleben und Verhalten ist das Resultat der Evolution (d.h. des Prozesses der<br />

genetischen Anpassung der Lebewesen an die jeweils vorherrschenden Umweltbedingungen)<br />

-> Wir sind der Umwelt unserer Vorfahren besser angepasst als der heutigen Umwelt (z.B.<br />

Fettkonsum, Ängste)<br />

Darwin (1859): Entstehung der Arten (Phylogenese) durch Variation und Selektion:<br />

<br />

<br />

<br />

Variation aufgrund von Genetik<br />

Selektion durch Fortpflanzungserfolg in bestimmter Umwelt auf Ebene einzelner<br />

Gene (nicht Individuum, „survival of the fittest“ sondern Genotypen)<br />

Fitness = f (Gen, Umwelt) -> Dawkins „selfish gene“<br />

Auch heute spielen evolutionäre Prozesse noch eine Rolle: z.B. Einfluss der Kinderzahl über<br />

Partnerwahl, Schwangerschaftsverhütung, Investition in eigene Kinder<br />

Reproduktionsrelevant sind nicht nur Klima, Nahrungsangebot, Krankheitserreger, vor allem<br />

soziale Umweltbedingungen (Partnerpräferenzen, Rivalität mit eigenem Geschlecht) -> nach<br />

Darwin: intersexuelle (Suche nach „bestem“ Menschen) und intrasexuelle (gleiches Geschlecht<br />

konkurriert untereinander um anderes Geschlecht) Selektion.<br />

Selektionsvorteil: Sexuelle Fortpflanzung & Unterstützung des gleichen Gentyps (inklusive<br />

Fitness -> Reproduktionserfolgs der eigenen Gene, wenn man sich für genetisch Verwandte<br />

aufopfert) (Beispiel: Hamilton (1964): Inklusive Fitness unter Einschluss des Reproduktionserfolgs<br />

genetisch Verwandter, man würde sich für drei Geschwister aufopfern da 3*50% meiner Gene etc.)


19 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Soziobiologie vs. Evolutionspsychologie<br />

Wilson (1975): Grundlage rein ultimate<br />

Erklärungen (Angepasstheit unter<br />

vermuteten vergangenen<br />

Umweltbedingungen) -> lange Kontroverse<br />

in Sozialwissenschaften!<br />

Cosmides et al. (1992): Auch Angabe<br />

proximater Mechanismen (in Form von<br />

bereichs-, kontextspezifischen, genetisch<br />

fixierten evolvierten psychologischen<br />

Mechanismen -> EPM) (d.h. man gibt<br />

ultimate Mechanismen unter Zugabe der<br />

proximaten Mechanismen als EPMs an.)<br />

EPM erklärt ultimaten<br />

Mechanismus in proximater<br />

<strong>Psychologie</strong><br />

Bsp. Schlangenangst der Mitteleuropäer (EPM:<br />

leichtes Erlernen der Angst Schlangen<br />

gegenüber)<br />

Ultimate Erklärungen von Verhalten begründen es durch Reproduktionsvorteile in der<br />

evolutionären Vergangenheit (biologisch, Soziobiologie); proximate Erklärungen geben an, wie<br />

das Verhalten konkret zustande kommt (psychologisch, Evolutionspsychologie))<br />

Beispielstudie: <strong>Neyer</strong> und Lang (2003):Eingeschätzte emotionale Nähe zu Bezugspersonen<br />

korreliert intraindividuell im Mittel .50 mit dem genetischen<br />

Verwandtschaftsgrad r.<br />

Rein ultimate Erklärung wäre: Die Beziehung zu Verwandten ist<br />

stärker wegen der inklusiven Fitness.<br />

EPM für Hilfeleistung (proximate Erklärung) wäre z.B.:<br />

Emotionale Nähe scheint enger mit der Vertrautheit<br />

zusammenzuhängen als mit der genetischen Verwandtschaft:<br />

Hypothese: Genetische Verwandtschaft -> Vertrautheit -> emotionale Nähe -><br />

Hilfeleistung!<br />

Hypothese erklärt proximat den Zusammenhang zwischen genetischer Verwandtschaft und<br />

Hilfeleistung, der aus Überlegungen zur inklusiven Fitness abgeleitet wird.<br />

Ergebnis: Zusammenhang zwischen Hilfeleistung und emotionaler Nähe > als<br />

Zusammenhang zwischen Hilfeleistung und genetischer Verwandtschaft!!<br />

Ultimate und proximate Erklärungen können teilweise divergieren<br />

(auseinandergehen)<br />

Beispiel 2: Vaterschaftsunsicherheit:<br />

Aus ultimaten Erklärungen können neue psychologische Mechanismen abgeleitet werden:<br />

Unterstützung durch Verwandte sollte bei mütterlicher Linie wegen Vaterschaftsunsicherheit<br />

stärker sein!


20 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

PERSÖNLICHKEITSBILD<br />

Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden durch:<br />

<br />

<br />

Genetische Variation: Mutation, sexuelle Rekombination (vgl. genetische Variabilität<br />

bei Viren)<br />

Umweltunterschiede, die durch EPMs vermittelt sind: Warum wirken besimmte<br />

Umweltbedingungen auf die Persönlichkeit? (geht damit über die Erklärung des<br />

dynamischen Interaktionismus hinaus)<br />

Drei spezifischere Erklärungsprinzipien:<br />

<br />

<br />

<br />

Frequenzabhängige Selektion<br />

Konditionale Entwicklungsstrategie<br />

Strategische Spezialisierung<br />

FREQUENZABHÄNGIGE SELEKTION<br />

Fitness eines Gens ist abhängig von der Häufigkeit in der Population<br />

(Fortpflanzungsgemeinschaft). (z.B. Geschlechterverhältnis führt nicht haargenau zu 1:1, aber zu<br />

evolutionär stabilem Verhältnis)<br />

Trotzdem Änderung des Verhältnisses durch Umwelt möglich: z.B. Krieg -> Selektionsvorteil der<br />

übergebliebenen Männer (genauer: Selektionsvorteil der Paare mit Jungen) aber irgendwann<br />

wieder Ausgleich zu 1:1<br />

Beispiel nach Gangestad und Simpson (1990): Soziosexualität (Anzahl der Sexualpartner) von<br />

Frauen:<br />

Zwei Kriterien für die Partnerwahl von Frauen:<br />

<br />

<br />

Investition des Mannes in die Kinder<br />

„gute Gene“ bzgl. Gesundheit und sexueller Attraktivität (beides fördert den<br />

Reproduktionserfolg) -> Problem: Diese Männer sind weniger treu und investieren<br />

deshalb weniger in ihre Kinder!<br />

Bildung zweier alternativer, frequenzabhängiger Strategien (die in evolutionär stabilem<br />

Verhältnis stehen):<br />

<br />

<br />

Restriktiv: Sicherung eines investierenden Mannes<br />

Unrestriktiv: viele Männer mit „guten Genen“<br />

Frequenzabhängige Auslese bedeutet, dass es keine absolute Fitness einer<br />

Persönlichkeitseigenschaft gibt! Fitness ist immer relativ zu alternativen Eigenschaften.<br />

KONDITIONALE ENTWICKLUNGSSTRATEGIEN:<br />

Sind genetisch fixierte EPM, die die Individualentwicklung in Abhängigkeit von<br />

alternativen Umweltbedingungen der Kindheit in jeweils eine adaptive Richtung lenken:<br />

Umwelt 1 -> Eigenschaft 1 ; Umwelt 2 -> Eigenschaft 2


21 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Beispiel: Väterliche Investition in die eigenen Kinder:<br />

Reiche Umwelten -> geringe Investition vs. arme Umwelten -> starke Investition<br />

Beispiel nach Draper und Harpending (1982): Väterliche Anwesenheit in der frühen Kindheit (=<br />

Umweltmerkmal) -> signalisiert zu erwartende väterliche Investition und führt deshalb zu<br />

konditionaler Entwicklungsstrategie bei Mädchen:<br />

‣ Vater anwesend -> späte Geschlechtsreife, späterer erster Sex, wenige Sexualpartner<br />

‣ Vater abwesend -> frühe Geschlechtsreife, früher erster Sex, viele Sexualpartner<br />

(Bei Jungen kein Unterschied, da mütterliche Investition immer hoch sein sollte)<br />

In mehreren Kulturen bestätigt: r=.43 zwischen positiver Vater-Tochter-<br />

Beziehung in der Kindheit und Zeitpunkt der ersten Regelblutung!<br />

Mögliche proximate Mechanismen nach Ellis et al (1999):<br />

<br />

<br />

<br />

Beschleunigung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe männlicher<br />

nichtverwandter Artgenossen (bei Tierarten und Menschen eher bestätigt! -><br />

Anwesenheit anderer wichtiger als Abwesenheit des Vaters)<br />

Hemmung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe des eigenen Vaters<br />

Alternative Erklärung durch interindividuell variierende Gene, die Väter und<br />

Töchter teilen. Kann durch Adoptionsstudien entschieden werden.<br />

STRATEGISCHE SPEZIALISIERUNG:<br />

Tendenz zu alternativen Reproduktionsstrategien, z.B. in Form von frequenzabhängiger<br />

Selektion oder konditionaler Entwicklungsstrategien<br />

Beispiel: Geschwisterposition nach Sulloway (1997): Erstgeborene besetzen Nischen innerhalb der<br />

Familie und zwingen so Spätgeborene zu höherer sozialer Kompetenz und größerer Offenheit<br />

gegenüber neuen Erfahrungen.<br />

Sollen auch nach Verlassen des Elternhauses noch sichtbar sein, daher konditionale<br />

Entwicklungsstrategien!<br />

Empirische Belege:<br />

<br />

<br />

Korrelation zwischen Geschwisterposition & Offenheit vs. Konservatismus r=.20<br />

(Problem: Altersunterschiede: Ältere sind generell konservativer)<br />

Historische Analysen der Akzeptanz wissenschaftlicher Neuerungen (Akzeptanz<br />

der Evolutionstheorie von Darwin durch 405 Wissenschaftler seiner Zeit) aber bisher<br />

keine unabhängigen Bestätigungen<br />

Alternativerklärung: Geburtspositionseffekt: Spätgeborene bekommen mehr weibliche<br />

Hormone wegen verschobenem Hormonstatus der Mutter ab (wurde belegt durch zwei<br />

Adoptionsstudien zu Offenheit und Geschwisterposition)


22 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

METHODIK<br />

Entscheidend: Qualität des Nachweises, dass psychologische Mechanismen ein EPM sind.<br />

(da vergangene Umwelten wenig bekannt sind, sind ultimate Erklärungen recht spekulativ!)<br />

Kriterien für EPM:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Angabe des gelösten adaptiven Problems in der Vergangenheit<br />

Angabe des psychologischen/physiologischen Mechanismus<br />

Plausibilität der genetischen Fixiertheit des Mechanismus<br />

Kriterien für adaptives Design erfüllt (z.B. Ökonomie, Effizienz, Zuverlässigkeit)<br />

Förderlich, nicht notwendig, ist Nachweis homologer EPM (Ähnlichkeit und/oder<br />

Vorkommen bei gemeinsamen Vorfahren, über Artverwandte im Verhalten meistens schwer<br />

nachweisbar)<br />

Nicht erforderlich: EPM ist heute adaptiv -> viel cooler für EPM: er war damals adaptiv,<br />

heute aber nicht mehr! (z.B. Präferenz für süße und fette Nahrung (als ob das cool oder<br />

praktisch wäre…^^)<br />

BEWÄHRUNG<br />

Noch zu jung, um definitive Aussagen über Eignung für <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> treffen zu<br />

können. Aber derzeit aktives und innovatives Forschungsfeld.<br />

BEWERTUNG<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Chance, Persönlichkeitsunterschiede und ihre Abhängigkeit von Genverteilungen &<br />

Umweltbedingungen besser zu verstehen<br />

Anforderungen an Erklärungen höher als in Alltagpsychologie und<br />

Informationsverarbeitungsmodellen<br />

Risiko von Scheinerklärungen: Erfindung adaptiver Erfolgsgeschichten um bekanntes<br />

evolutionär verständlich zu machen<br />

EPM schwer zu trennen von zufälligen, selektiv neutralen, relativ seltenen nicht<br />

adaptiven Varianten & nicht adaptiven Ergebnissen seltener oder neuer<br />

Umweltbedingungen.


23 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

PERSÖNLICHKEITSFAKTOREN UND PERSÖNLICHKEITSTYPEN<br />

KLASSIFIKATIONEN DER PERSÖNLICHKEIT<br />

Alle Klassifikationen beziehen sich auf stabile Eigenschaften:<br />

z.B. für<br />

Personalauswahl,<br />

klinische<br />

Diagnostik etc.<br />

genutzt<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Persönlichkeitsfaktoren: kontinuierliche Eigenschaftsvariablen (Vgl. von<br />

Variablen über Personen, variablenorientierter Ansatz nach W. Stern)<br />

Persönlichkeitstypen: Persönlichkeitsprofile (personenorientierter Ansatz<br />

nach Stern, Vgl. von Persönlichkeitsprofilen über Personen)<br />

Persönlichkeitsstörungen: Pathologische Symptome<br />

Gestaltmerkmale sind nicht geeignet für die Persönlichkeitsbeschreibung!!<br />

PERSÖNLICHKEITSFAKTOREN<br />

= statistisch durch Faktorenanalyse gewonnene Eigenschaftsdimensionen<br />

Sollen untereinander möglichst wenig korrelieren und Persönlichkeitsunterschiede<br />

insgesamt oder in einem begrenzten Bereich der Persönlichkeit erfassen.<br />

Beispiele: 16 Skalen des 16PF (Sixteen Personality Factors Quastionnaire nach Catell); 3 Skalen des<br />

EPI (Eysenck Personality Inventory nach Eysenck)<br />

Drei Schritte zur Faktorengewinnung:<br />

<br />

<br />

<br />

Eingrenzung des Bereichs<br />

Erstellung einer Eigenschaftsliste in Form von Fragebogenitems<br />

Reduktion der Liste auf wenige Faktoren durch Faktorenanalyse<br />

Faktorenanalyse:<br />

Teilt Variablen aufgrund statistischer Korrelationen in Gruppen hoch korrelierender<br />

Variablen ein<br />

Jede Gruppe wird dann durch ein gewichtetes Mittel aller Variablen = Faktor charakterisiert.<br />

Korrelationen der Variablen mit dem Faktor = Ladungen = Gewichte der einzelnen<br />

Variablen (Variablen sollen dabei nur mit dem jeweiligen Faktor korrelieren) -> Variablen<br />

haben mit der eigenen Gruppe hohe, mit anderen Gruppen dagegen niedrige Ladungen.<br />

Faktoren repräsentieren „fundamentale Eigenschaften“ (inhaltlich stark positiv/negativ auf den<br />

Faktor ladend)<br />

Je heterogener Variablen & je repräsentativer die Stichprobe (der diese Variablen<br />

Beurteilenden) desto eher handelt es sich um fundamentale Eigenschaften<br />

alltagspsychologischer Persönlichkeitsbeschreibungen.<br />

Lexikalischer Ansatz: Beruht auf der Sedimentationshypothese nach Goldberg 1981:<br />

Persönlichkeitsunterschiede manifestieren sich in Eigenschaftsworten der Sprache -><br />

Aufgrund von Lexika und Ausschluss von Synonymen schließlich 300 Worte -> Beurteilung der<br />

Items -> Interkorrelationen durch Faktorenanalyse reduziert sie auf wenige fundamentale<br />

Faktoren, dann inhaltliche Interpretation


24 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Durch lexikalischen Ansatz und Faktorenanalyse entstanden die BIG FIVE<br />

Gültig für germanische Sprachen (GB, D, NL), aber z.B. nicht in romanischen Sprachen<br />

replizierbar.<br />

In letzten Jahren gab es Abwandlungen:<br />

Big Seven: Erweiterung um stark positiv/negativ bewertete Eigenschaften (Almagor et<br />

al. 1995)<br />

Big Three: Interkulturell gut replizierbare Faktoren: Extraversion, Verträglichkeit,<br />

Gewissenhaftigkeit (Saucier und Goldberg 2001)<br />

Big Six: 6. Faktor: Ehrlichkeit/Bescheidenheit (Ashton et al. 2004)<br />

Häufigste Fragebogen der Big Five für Erwachsene:<br />

NEO-FFI: NEO Five Factor Inventory mit 5*<strong>12</strong> Items<br />

NEO-PI-R: NEO Personality Inventory Revised: 6 Unterfaktoren (Facetten) mit jeweils 8<br />

Items -> 5*6*8=240 Items<br />

(Der NEO-FFI ist ein Teiltest des NEO-PI-R ohne Unterscheidung von Unterfaktoren)<br />

Kritik des lexikalischen Ansatzes:<br />

„Parabel: Die Alchemisten des Mittelalters waren auf der Suche nach der Formel für Gold. Sie<br />

nahmen an, dass sich Gold aus anderen Elementen synthetisieren ließe. Ihre Strategie war:<br />

Klassifiziere Stoffe nach ihren Eigenschaften, finde Grundeigenschaften heraus und reduziere so<br />

die Möglichkeiten der Stoffkombinationen für die Syntheseversuche auf ein praktikables<br />

Minimum.<br />

Man stelle sich nun vor, die Alchemisten hätten Fragebögen verteilt, in denen Stoffe jeweil auf<br />

Eigenschaften wie hart-weich, leicht-schwer oder glänzend-stumpf einzuschätzen geweisen<br />

wären. Hätten sie die chemischen Elemente des Goldes durch Faktorenanalysen der<br />

Fragebogenantworten herausgefunden?


25 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Was die Faktorenanalytiker unter den Alchemisten herausgefunden hätten, wären bestimmte,<br />

sinnlich leicht wahrnehmbare Oberflächeneigenschaften von Stoffen, an denen sich die<br />

Alltagschemie ihrer Zeit orientierte.<br />

Das Periodensystem der Elemente wäre so aber nicht entdeckt worden.“<br />

Prüfungsfrage: Sind die Big Five mit dem Periodensystem der Elemente vergleichbar?<br />

Nein, da nur oberflächlich durch Korrelationen ermittelt wurde. Sind eine Repräsentation<br />

der Alltagspsychologie, aber keine Grundlage der Persönlichkeit (trotzdem wurde durch die<br />

Big Five viel gewonnen!)<br />

Bewertung der Big Five:<br />

Sind eine präzise Reproduktion alltagpsychologischer<br />

Persönlichkeitsbeschreibungen.<br />

Haben eine gute Validität.<br />

Sind aber keine Persönlichkeitstheorie!!<br />

PERSÖNLICHKEITSTYPEN<br />

Personenorientierter Ansatz möchte die Personen in eine überschaubare Zahl von<br />

Persönlichkeitstypen einteilen. (Klassifikationsproblem.)<br />

Ansatz 1: Extremgruppenbildung nach zwei Variablen (Bsp.<br />

Represser – Niedrig-, Hochängstliche)<br />

Ansatz 2: Prototypen (durch Q-Faktorenanalyse gebildet)<br />

Bei der Q-Faktorenanalyse werden Q-Sort-Profile von Personen faktorenanalysiert<br />

(Komparationsforschung nach Stern), nicht wie im üblichen Fall Eigenschaftsvariablen<br />

(Korrelationsforschung nach Stern).<br />

Die resultierenden Faktoren beschreiben deshalb Prototypen von Persönlichkeiten. Reale<br />

Personen können dann aufgrund ihres Q-Sort-Profils dem ähnlichsten Prototyp zugeordnet<br />

werden.<br />

Dieses Verfahren funktioniert nur, wenn Mittelwert und SD jedes Q-Sorts für alle Personen<br />

identisch sind (deshalb erzwingt man beim Q-Sort Gleich- oder Normalverteilung über die<br />

Salienzkategorien.)<br />

Beispiel: 3 Persönlichkeitsprototypen von Kindern nach Asendorpf und van Aken (1999):siehe<br />

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26 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Prototypen bei Kindern(rechts) und bei Erwachsenen (links) als Big-Five-Profile (Asendorpf et al.<br />

2001):<br />

Aber: in kulturvergleichenden Studien erwies sich die 3-Prototypen-Lösung als nur mäßig<br />

replizierbar. Versuche, replizierbare Untertypen zu finden, scheiterten auch.<br />

-> Vorzug des Typenansatzes besteht weniger in seiner empirischen Begründung als in der<br />

besseren Kommunizierbarkeit an ein breites Publikum, weil die Aussagen sich auf<br />

Personengruppen beziehen, nicht auf Variablengruppen. Persönlichkeitstypen sind der<br />

Alltagspsychologie verständlicher als Persönlichkeitsdimensionen!<br />

PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN<br />

= stabile, pathologische Persönlichkeitsmuster, die seit Beginn des Erwachsenenalters<br />

bestehen, breite Bereiche des Erlebens, Verhaltens und der sozialen Beziehungen<br />

betreffen und mit subjektiven Beschwerden oder Leistungseinbußen einhergehen (aber<br />

nicht auf ein Intelligenzdefizit zurückzuführen sind).<br />

Klassifizierung im DSM-IV und im ICD-10<br />

Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen zutreffen, damit eine Persönlichkeitsstörung<br />

vorliegt:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Deutliche Unausgeglichenheit in mehreren Funktionsbereichen (Erleben, Verhalten,<br />

soziale Beziehungen)<br />

Das Persönlichkeitsmuster ist stabil<br />

Es ist tiefgreifend und in vielen Situationen eindeutig unangemessen<br />

Störungsbeginn in Kindheit oder Jugend, Manifestation auf Dauer im Erwachsenenalter<br />

Störung führt zu deutlichem subjektivem Leiden


27 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

<br />

Störung ist mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen<br />

Leistungsfähigkeit verbunden<br />

Beispiel: Ängstliche Persönlichkeitsstörung: Die Kriterien der Persönlichkeitsstörung und<br />

mindestens vier dieser Kriterien müssen erfüllt sein:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Andauernde, umfassende Gefühle von Anspannung und Besorgtheit<br />

Überzeugung, selbst sozial unbeholfen, unattraktiv oder minderwertig zu sein<br />

Übertriebene Sorge vor Kritik oder Ablehnung<br />

Persönliche Kontakte nur bei Sicherheit, gemocht zu werden<br />

Eingeschränkter Lebensstil wegen des Bedürfnisses nach körperlicher Sicherheit<br />

Vermeidung beruflicher oder sozialer Aktivitäten aus Furcht vor Kritik oder Ablehnung<br />

Spezifische Störungen:<br />

/Antisoziale<br />

Hatten meistens ADHS in Kindheit,<br />

aber nicht zwingend<br />

Schauspielern (Kränkung, Ohr<br />

abkauen, warum…) -> Kränkung<br />

wegen Aufmerksamkeit<br />

Kränkung im aggressiven Sinne<br />

Persönlichkeitsstörungen treten meistens kombiniert auf!<br />

Werden meist aufgrund strukturierten Interviews diagnostiziert (Bsp: IPDE (International<br />

Personality Disorder Examination) -> Antworten zu den einzelnen Fragen werden auf einer dreistufigen<br />

Skala 0 – 1- 2 kodiert, deren Werte itemspezifisch variieren.


28 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Beurteilerübereinstimmung für Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung ist für identische<br />

Interviews ausreichend, ebenso für Zahl der erfüllten Kriterien für eine spezifische Störung.<br />

Probleme:<br />

<br />

<br />

Nur Übereinstimmung für dasselbe videografierte Interview mit demselben<br />

Interviewer. Unreliabilitäten aufgrund unterschiedlicher Interviewstiele verschiedener<br />

Interviewer bei demselben Patienten werden nicht erfasst!<br />

Problem der Mehrfachinterviews bei denselben Patienten.<br />

Prävalenz (% Vorkommen innerhalb einer bestimmten Population gegenüber der Basisrate)<br />

<br />

<br />

10% in repräsentativen Stichproben (25% allgemeinärztlich, 40% klinisch)<br />

Spezifische Prävalenzen für Persönlichkeitsstörungen variieren: 2% (schizoid,<br />

narzisstisch) – 15% (ängstlich, Borderline)<br />

Starke Komorbidität (gleichzeitiges Vorkommen unterschiedlicher Persönlichkeits-<br />

Störungen bei denselben Patienten): 70% (zwanghafte) – 100% (paranoide) – Reinform<br />

ist eher selten!<br />

Beziehung zu Persönlichkeitstypen:<br />

<br />

<br />

Unterkontrolliert: dissoziale, emotional-instabile<br />

Überkontrolliert: ängstliche, abhängige<br />

Beziehung zu Big Five:<br />

Bis auf Offenheit zeigen alle Big Five Faktoren systematische Beziehungen zu<br />

Persönlichkeitsstörungen. Aber: Nur 30-50% der Störungsvarianz können durch Big Five<br />

Facetten vorhergesagt werden. -> Diagnostik daraus ist unmöglich!<br />

Debatte derzeit: Persönlichkeitsstruktur kann evtl. bei Klassifikation der<br />

Persönlichkeitsstörungen helfen; bisher aber nur Eingrenzung der Suche<br />

möglich.<br />

GESTALT<br />

Gestalteigenschaften = stabile, unmittelbar wahrnehmbare (daher sozial relevante)<br />

körperliche Merkmale (z.B. Größe, Gewicht, Körperbau, Gesicht, Schönheit)<br />

Gestalt = Gesamtheit aller Gestalteigenschaften<br />

Gibt es tatsächlich Zusammenhänge zwischen Gestalt und sonstiger Persönlichkeit?<br />

Typologie nach Kretschmer (1921): Leptosom, athletisch, pyknisch


29 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Zusammenhänge der drei Typen mit psychiatrischer<br />

Diagnose: (Kretschmer 1921)<br />

Scheinzusammenhang wegen Konfundierung mit dem<br />

Alter!<br />

Innerhalb stark eingegrenzter Altersgruppen gibt es<br />

keinen Zusammenhang mehr<br />

Spätere Untersuchungen von Sheldon zum<br />

Zusammenhang zwischen Körperbau und Charakter:<br />

Beurteilungsfehler durch Beurteiler, die beides<br />

Beurteilten (Halo-Effekte, sie waren nicht blind<br />

bezüglich der Hypothese)<br />

Durch die Fehler von Kretschmer und Sheldon und dem Missbrauch von Charakter-<br />

Klassifikationen in der Nazizeit (jüdischer vs. arischer Typ) geriet die psychologische<br />

Untersuchung des Körperbaus in Misskredit.<br />

Zusammenhänge gibt es vor allem für Schönheit (physische Attraktivität), daneben neuerdings<br />

subtile körperliche Asymmetrien (z.B. Fingerlängenverhältnis D2:D4; siehe später bei<br />

Geschlechtsunterschiede).<br />

Physische Attraktivität:<br />

Korrelation zwischen Urteilen über Schönheit und Urteil über Intelligenz ca .30 -><br />

geht aber auf Halo-Effekt zurück, eigentliche Korrelation ist nahe Null.<br />

Korrelation von Schönheit mit beobachteter sozialer Kompetenz .25<br />

Schönheit mit Beliebtheit in der Klasse .31<br />

Schönheit mit selbstbeurteilter Einsamkeit -.15<br />

Schönheit mit selbstbeurteiltem Selbstwertgefühl nahe Null<br />

Bei alten Menschen: Umkehrung des Schönheitsvorteils: negative Korrelation ehemaliger<br />

Schönheit in der Jugend mit aktuellem Selbstwertgefühl: individueller Kontrasteffekt.<br />

Attraktivität des Gesichts:<br />

Attraktivitätseindruck beruht wesentlich auf dem Gesicht. Morphing-Studien ergaben zwei<br />

zentrale Gesichtsmerkmale für Attraktivitätseindruck: Durchschnittlichkeit und Symmetrie<br />

Asymmetrie führt zum Eindruck von Hässlichkeit, während perfekte Symmetrie nicht maximal<br />

schön wirkt. Evolutionär gut erklärbar: Symmetrie = Gesundheit. Alternative:<br />

Symmetrie erleichtert Inforverarbeitung.<br />

Attraktivität des Körperbaus:<br />

Frauen: Taille-Hüfte-Verhältnis nahe 0.7<br />

Männer: Taille-Hüfte-Verhältnis nahe 0.6


30 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

TEMPERAMENT<br />

= derjenige Teil der Persönlichkeit, der sich auf die Formaspekte des Verhaltens (unter<br />

Ausschluss von Intelligenzaspekten) bezieht -> d.h. die individuellen Unterschiede in der<br />

Umsetzung des Verhaltens<br />

Formaspekte: Wie läuft Verhalten bezüglich Affekt/Aktivierung/Aufmerksamkeit ab? -><br />

Parameter von Erregungs- und Hemmungsprozessen auf neurophysiologischer Ebene und deren<br />

soziale Repräsentation in Selbst- und Fremdurteilen.<br />

Beispiele für Temperamentsmerkmale:<br />

Aktivität<br />

Ängstlichkeit<br />

Ausdauer<br />

Cholerisches Gemüt<br />

Emotionale Ausdauer<br />

Extraversion<br />

Gehemmtheit<br />

Impulsivität<br />

Introversion<br />

Irritierbarkeit<br />

Nervosität<br />

Neurotizismus<br />

Schnelligkeit<br />

Schüchternheit<br />

Oft zitierte Definition nach Buss & Plomin (1984):<br />

Temperamentsmerkmale sind diejenigen<br />

Persönlichkeitsmerkmale, die<br />

<br />

<br />

<br />

Schon im ersten Lebensjahr beobachtbar sind<br />

Stark genetisch bedingt sind<br />

Eine hohe langfristige Stabilität aufweisen<br />

Aber Probleme:<br />

<br />

<br />

Definition trifft auch auf andere<br />

Persönlichkeitsmerkmale zu, insbesondere Intelligenz<br />

Es gibt Temperamentsmerkmale, wie z.B. sexuelle<br />

Reaktivität, die diesen Kriterien nicht genügen.<br />

TEMPERAMENTSTHEORIE VON EYSENCK<br />

Hans Eysenck (Berlin 1916 – London 1997) – Theorie besteht aus zwei Teilen:<br />

1) Temperamentsunterschiede variieren auf zwei unabhängigen Dimensionen:<br />

Extraversion und Neurotizismus<br />

2) Diese beiden Temperamentsdimensionen beruhen auf interindividuellen<br />

Unterschieden in retikulärer bzw. limbischer Aktivierung.<br />

ARAS – aufsteigendes retikuläres<br />

Aktivierungssystem (Nervennetzwerke an<br />

Hirnstamm)<br />

Motorik, Herz-Kreislauf, Schlaf-Wach-<br />

Rhythmus -> entspricht Extraversion!<br />

Mandelkern (Amygdala), Hippocampus,<br />

Gyrus<br />

Verarbeitung von Emotion -><br />

entspricht Neurotizismus<br />

EYSENCKS THEORIE TEIL I:<br />

Temperamentsunterschiede variieren auf zwei unabhängige Dimensionen: Extraversion<br />

und Neurotizismus<br />

Teil 1 ist auf Faktorenanalysen von Fragebogenitems, die Temperamentseigenschaften<br />

beschreiben, begründet.


31 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Resultierende Faktoren:<br />

<br />

<br />

Neurotizismus: labil stabil<br />

Extraversion: extravertiert introvertiert<br />

(verwandt mit den Wundtschen Dimensionen der<br />

Emotionalität: „Stärke der Gemütsbewegungen“ und<br />

„Schnelligkeit des Wechsels der Gemütsbewegungen“. –<br />

auch Beziehung zu den hippokratischen Typen (4-Säfte-<br />

Theorie: Blut/Schleim/schwarze Galle/gelbe Galle))<br />

Gemessen wird mit dem Eysencks Personality<br />

Inventory (EPI)<br />

Validität der Eysenckschen Dimensionen:<br />

Selbstbeurteilte Extraversion korreliert mittelhoch mit:<br />

<br />

<br />

<br />

Fremdbeurteilter Extraversion<br />

Selbst- und fremdberichteter Häufigkeit und Intensität positiver Affekte (Freude)<br />

Selbst- und fremdberichteter Geselligkeit<br />

Beurteilte Extraversion ist damit eine Mischung aus dem Temperamentsmerkmal<br />

„positive Affektivität“ und dem Motiv „Geselligkeit“.<br />

Selbstbeurteiler Neurotizismus korreliert<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Mäßig mit fremdbeurteiltem Neurotizismus<br />

Mit erhöhter Variabilität der Leistung unter Belastung<br />

Stark mit der selbstberichteten Häufigkeit und Intensität negativer Affekte -> mit<br />

negativer Affektivität<br />

Mit beliebigen subjektiven körperlichen Beschwerden, nicht aber mit<br />

objektivierbaren Beschwerden (Der Zusammenhang mit subjektiven Beschwerden<br />

besteht auch dann, wenn Neurotizismus nur durch Items erfasst wird, die sich nicht auf<br />

körperliche Beschwerden beziehen.)<br />

Neurotizismus hat erhebliche praktische Konsequenzen -> neurotische Menschen suchen<br />

Ärzte auf, ohne wirklich krank zu sein.<br />

<br />

<br />

Diagnose: „vegetative Dystonie“ oder<br />

„psychovegetative Labilität“: Unterstellung, dass<br />

ihre Beschwerden eine objektivierbare<br />

physiologische Basis haben, ohne das wirklich<br />

nachzuweisen.<br />

Ca. 40% werden medikamentös behandelt, obwohl<br />

sie über Beschwerden ohne objektivierbare<br />

Grundlage klagen.


32 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Untersuchungen von Myrtek et al (1998): Neurotizismus korreliert nicht mit Messungen diverser<br />

Indikatoren physiologischer Erregungen. (z.B. korrelieren berichtete Herzbeschwerden<br />

stark mit Neurotizismus, echte EKG-Maße aber nicht.)<br />

Diskrepanzen zwischen subjektivem und objektivierbaren Beschwerden können beruhen<br />

auf:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Ungenauigkeit der Interozeption (d.h. der Wahrnehmung eigener Körpervorgänge)<br />

Einfluss von Neurotizismus auf das aktuelle Erleben<br />

Sozialer Verstärkung von Krankheitssymptomen (sekundärer Krankheitsgewinn<br />

durch emotionale Zuwendung anderer, Vermeidung unangenehmer Situationen,<br />

finanzielle Vorteile)<br />

Evtl. auch Verzögerungen zwischen objektivierbaren und subjektiven Symptomen<br />

(Längsschnittstudien vonnöten)<br />

Evtl. auch unzureichendem medizinischem Wissen über objektivierbare Symptome<br />

EYSENCKS THEORIE TEIL II:<br />

Die beiden Temperamentsdimensionen beruhen auf interindividuellen Unterschieden in<br />

retikulärer bzw. limbischer Aktivierung. -> Physiologische Grundlagen von Extraversion<br />

und Neurotizismus.<br />

Extraversion wird auf Unterschiede in der retikulären Aktivierung (ARAS-System im<br />

Hirnstamm) bezogen.<br />

Nichtlineare Beziehungen zwischen dem Aktivierungspotential von Situationen und der<br />

retikulären Aktivierung: Introvertierte sind schneller erregbar, Extravertierte<br />

langsamer.<br />

Transmaginale Hemmung bei<br />

Introvertierten: ab einem<br />

mittleren Erregungsniveau<br />

nimmt aber das positive<br />

Gefühl schon ab.<br />

Deutlich späteres Maximum an<br />

Erregung für gute Gefühle bei<br />

extravertierten benötigt.<br />

Aus Eysencks Theorie lassen sich Hypothesen über Unterschiede zwischen Introvertierten<br />

und Extravertierten in schwach-mittelstark aktivierenden Situationen ableiten:<br />

<br />

<br />

<br />

Stärkere EEG-Desynchronisation (typisches EEG-Muster bei ARAS-Aktivierung) von<br />

Introvertierten<br />

Größere Leistungsfähigkeit von Introvertierten (da die maximale Leistungsfähigkeit<br />

nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz bei mittelstarker Erregung erzielt wird)<br />

Größeres Wohlbefinden von Introvertierten<br />

Aber diese Hypothesen wurden nicht bestätigt! Befunde sind widersprüchlich!


33 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Nur die Befunde über die phasische Hautleitfähigkeit bestätigt Eysencks Theorie für<br />

Extraversion (Matthews & Gilliland, 1999)<br />

Seine Theorie für Neurotizismus konnte angesichts der Schwierigkeit, limbische<br />

Aktivierung zu messen, ebenfalls nicht bestätigt werden.<br />

Insgesamt:<br />

Teil I wurde gut bestätigt (Extraversion und Neurotizismus sind ja auch Teil der Big Five) -><br />

Teil I geht in das Fünffaktormodell der Persönlichkeit auf!<br />

Teil II wurde nicht bestätigt. (Eysencks Konzepte zu retikulärer und limbischer Aktivierung<br />

sind zu undifferenziert, da es mehrere Aktivierungssysteme auf deren Ebenen gibt.)<br />

Jeffrey Gray (London: 1943-2004)<br />

TEMPERAMENTSTHEORIE VON GRAY<br />

Modifikation beider Teile von Eysencks Theorie 1982: Unterscheidung von drei<br />

Verhaltenssystemen:<br />

<br />

<br />

<br />

Verhaltensaktivierungssystem<br />

Verhaltenshemmungssystem<br />

Angriff/Flucht-System<br />

Verarbeitung konditionaler Reize für<br />

Strafe/Nichtbelohnung und<br />

Belohnung/Nichtbestrafung<br />

Verarbeitung unkonditionaler Reize<br />

für Strafe/Nichtbelohnung<br />

Verarbeitung unkonditionaler Reize<br />

für Belohnung/Nichtbestrafung gibt es<br />

nach Gray nicht.<br />

Temperamentsunterschiede resultieren aus unterschiedlichen Stärken des<br />

Verhaltensaktivierungs- und des Verhaltenshemmungssystems.


34 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Kombination beider Systeme: zweidimensionales Modell mit den Dimensionen Gehemmtheit<br />

und Aktiviertheit<br />

(beschreibt den gleichen Temperamentsraum wie Teil I von Eysencks Theorie, ist aber um 45°<br />

gedreht)<br />

schüchtern<br />

Aggressiv,<br />

erregbar,<br />

wechselhaft<br />

Friedlich,<br />

kontrolliert,<br />

bedächtig<br />

Wenig<br />

schüchtern,<br />

wenig<br />

gehemmt<br />

Validität im Bezug auf soziale Situationen: Theorie wird unterstützt durch Befunde zu<br />

Schüchternheit/sozialer Ängstlichkeit (= Gehemmtheit in sozialen Situationen)<br />

<br />

<br />

Schüchternheit korreliert mittelhoch mit Introversion und Neurotizismus<br />

Schüchternheit wird situativ durch Fremde, erwartete Ablehnung oder Nichtbeachtung<br />

hervorgerufen<br />

Beleg durch hypothetische Situationsbeurteilungen und durch experimentelle Herstellung<br />

schüchternheitsauslösender Situationen (Asendorpf 1989)<br />

Revision der Theorie von Gray & McNaughton (2000):<br />

Unterscheidung zwischen konditionierten und unkonditionierten Reizen wird aufgegeben:<br />

Flight-flight-Freezing System (FFFS) vs. Behavioral Approach System (BAS)<br />

Bei gleichzeitiger Aktivierung in unbekannten Situationen wird Behavioral Inhibition System<br />

(BIS) aktiviert.<br />

Ebenfalls konsistent mit Befunden zu Schüchternheit.


35 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

ZUCKERMAN: SENSATION SEEKING<br />

Sensation Seeking (= einzelnes komplexes Merkmal) zerfällt in vier Subdimensionen<br />

(unabhängige Facetten, die das Merkmal bilden):<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Thrill and adventure seeking (Bsp. Bungee)<br />

Experience seeking (Bsp. Drogen ausprobieren)<br />

Disinhibition (Enthemmtheit)<br />

Boredom susceptibility (schnelle Langeweile)<br />

Selbstbeurteilung z.B. durch Sensation Seeking Skala V (Beauducel et al. 2003)<br />

Physiologische Hypothesen zu Zusammenhang mit MAO-B Enzym im Blut: Kontroverse Befunde,<br />

unwahrscheinlich, da MAO-B die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden kann. Eher Hinweis auf<br />

genetische Aktivität.<br />

Einflussreich, aber übervereinfachend (1987):<br />

CLONINGERS DREIFAKTORENTHEORIE<br />

Erfassung durch Tripartite Personality Questionnaire (TPQ) nach Defeu et al. 1995<br />

Am ehesten noch schwacher Zusammenhang zwischen Neuheitssuche und dopaminerger<br />

Aktivierung bestätigt.<br />

Neuere Theorien beziehen Wechselwirkungen der drei Systeme mit ein (Depue & Collins,<br />

1999)<br />

POSITIVE/ NEGATIVE AFFEKTIVITÄT<br />

Korrelieren nur gering negativ: Sind eher unabhängige Dimensionen mit Neigung zu<br />

Extraversion und Neurotizismus<br />

Erfassung durch PANAS Skalen nach Krohne et al. 1996<br />

Hypothese von Davidson (1992):<br />

- Positive Affekte = linkshemisphärische Aktivierung<br />

- Negative Affekte = rechtshemisphärische Aktivierung


36 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Fraglicher Schluss von intra- auf interindividuell<br />

Widerlegung durch Harmon-Jones & Allen 1998: bei Ärger(lichkeit) überwiegend<br />

linkshemisphärisch: eher Annäherungs-/Vermeidungstendenz?<br />

ÄNGSTLICHKEIT<br />

Selbstbeurteilte allgemeine Ängstlichkeit korreliert hoch mit Neurotizismus. -> Gleichsetzung<br />

auf Konstruktebene nicht möglich!<br />

Wenn Ängstlichkeit situationsspezifisch differenziert wird gibt es nur eine geringe transsituative<br />

Konsistenz. -> es gibt nicht eine einheitliche Ängstlichkeit, sondern einer Hierarchie von<br />

mehr oder weniger situationsspezifischen Ängstlichkeiten (Angstsituationen).<br />

Je spezifischer die Situationen gewählt werden, desto geringer ist die Korrelation zwischen den<br />

entsprechenden Ängstlichkeitsskalen.<br />

Selbstbeurteile Ängstlichkeit korreliert in angstauslösenden Situationen nicht/sehr<br />

selten mit beobachteter oder physiologisch erfasster Ängstlichkeit<br />

(gleiches Problem wie bei Neurotizismus bzw. subjektiven Krankheitssymptomen)<br />

+ Problem der mangelnden Kohärenz verschiedener Angstreaktionen aufgrund<br />

individueller Reaktionshierarchien:<br />

Korrelation verschiedener physiologischer Angstmaße (Puls, Herzrate, Schweiß,<br />

Hautleitfähigkeit) zwar intraindividuell mit zunehmend empfundener Angst, nicht aber<br />

interindividuell in ein und derselben Situation (manche Menschen haben evtl. sowieso<br />

höheren Puls, es gibt individuelle Reaktionshierarchien).


37 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

ZUSAMMENFASSUNG<br />

Ein empirisch gut bestätigtes Temperamentskonzept, in dem selbstberichtete,<br />

beobachtete und physiologisch gemessene Indikatoren systematisch aufeinander<br />

bezogen sind, gibt es nach wie vor nicht.<br />

Vielmehr korrelieren selbstberichtete Temperamentsindikatoren oft nicht nur nicht mit<br />

beobachteten oder physiologisch gemessenen Indikatoren, sondern auch letztere korrelieren<br />

untereinander gering bist gar nicht.<br />

Ein einheitliches Temperamentskonzept, wie es in der Alltagspsychologie besteht, konnte<br />

also bisher nicht psychophysiologisch bestätigt werden.<br />

FÄHIGKEITEN<br />

Fähigkeiten sind Persönlichkeitseigenschaften, die Leistungen ermöglichen.<br />

Leistungen sind Ergebnisse von Handlungen, die nach einem Gütemaßstab bewertbar<br />

sind: das Ergebnis ist gut oder schlecht.<br />

Leistungen hängen nicht nur von Fähigkeiten, sondern auch von der Anstrengung ab.<br />

Deshalb können Leistungsunterschiede nur dann als Fähigkeitsunterschiede interpretiert<br />

werden, wenn alle Getesteten sich maximal anstrengen (Kompetenz-Performanz-Problem).<br />

-> Fähigkeiten werden deshalb durch maximale Leistung zu erfassen gesucht (andere P-<br />

Merkmale dagegen durch typisches Verhalten).<br />

Verwandt mit Fähigkeitskonzept: Begabung. -> aber nicht in <strong>Psychologie</strong> verwendet, da es<br />

Annahmen über Ursachen (angeboren, durch lernen kaum veränderbar) enthält, die nicht Teil<br />

der Definition sein sollten, sondern der empirischen Prüfung überlassen werden sollten.<br />

(Ausnahme: extrem hohe Fähigkeiten (2% der Bevölkerung) -> auch <strong>Psychologie</strong> spricht von<br />

Hochbegabung)<br />

Es gibt viele Fähigkeitsbereiche: Psychologisch untersucht sind die intellektuellen, sozialen<br />

und emotionalen Fähigkeiten<br />

Intellektuelle Fähigkeiten sind im Fünffaktorenmodell der Persönlichkeit im Faktor<br />

Intellekt (auch Kultur oder Offenheit für neue Erfahrungen) repräsentiert: Faktorenanalysen<br />

von Items des Offenheitsfaktors ergeben oft drei Unterfaktoren:<br />

<br />

<br />

<br />

Intelligenz<br />

Kreativität<br />

Nachdenklichkeit<br />

Intelligenz ist daher nur ein Aspekt von Offenheit, korreliert deshalb mit Offenheit!


38 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

„Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen“<br />

INTELLIGENZ<br />

‣ 1884: Öffentliche Sinnesprüfungen von Francis Galton im „anthropometrischen<br />

Labor“:<br />

Spezifische Sinnesleistungen (Reaktionszeiten, Wahrnehmungsschwellen, Sehschärfe etc.)<br />

korrelierten jedoch nur minimal untereinander. Außerdem gab es keine Korrelationen<br />

dieser mit dem Studienerfolg (nach MacKeen Catell) -> Sackgasse der Intelligenzforschung!<br />

‣ Alfred-Binet-Test (1905): höheres Komplexitätsniveau (ursprünglich entwickelt zur<br />

Einweisung von Kindern in Sonderschulen)<br />

Versuch, Intelligenz auf das mittlere Intelligenzniveau eines Geburtenjahrgangs zu<br />

beziehen, indem das Intelligenzalter eines Kindes durch mittelschwere Aufgaben für<br />

benachbarte Altersgruppen getestet wurde.<br />

Intelligenzalter= Grundalter + <strong>12</strong>*k/n<br />

<br />

<br />

<br />

Grundalter (in Monaten) = Alter, bis zu dem alle Aufgaben gelöst wurden<br />

k = Zahl der zusätzlich gelösten Aufgaben<br />

n = Zahl der zu lösenden Aufgaben pro Alter<br />

(Aufgaben für 3-15 Jahre alte)<br />

Problem: Intelligenzunterschiede sind zwischen Altersgruppen nicht vergleichbar, da der<br />

Leistungszuwachs in Intelligenztests mit wachsendem Alter geringer wird!<br />

‣ William Stern 19<strong>11</strong>: Intelligenzquotient<br />

IQ = 100 * Intelligenzalter/Lebensalter<br />

Empirisch hatten die IQ-Werte eine ähnliche Standartabweichung von<br />

etwa 15 innerhalb von Altersgruppen im Bereich von 3-13 Jahren und<br />

waren deshalb zwischen den Altersgruppen vergleichbar.<br />

Aber: Auch die Sternschen IQ-Werte sind problematisch für Personen<br />

über 13, da der IQ-Zuwachs dort nicht mehr linear verläuft.<br />

‣ Wechsler (1939) führte die so genannte Normierung innerhalb von Altersgruppen<br />

ein:<br />

IQ = 100 + 15*z


39 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Z ist die z-transformierte erziele<br />

Gesamtpunktzahl im Test in einer<br />

umfänglichen Normstichprobe mit gleichem<br />

Geburtsjahr.<br />

Testmanuale enthalten im Anhang Tabellen, in<br />

denen pro Altersgruppe der IQ für eine<br />

bestimmte Gesamtpunktzahl angegeben ist.<br />

-> Damit erlauben IQ-Messungen nur noch<br />

differentielle Aussagen! (da Normierung an<br />

einer Eichstichprobe)<br />

Problem der Normierung: Säkularer Trend zu höherer Intelligenzleistung in westlichen<br />

Kulturen im 20. Jahrhundert (Flynn-Effekt)<br />

Tests müssen immer neu normiert werden, da sonst der IQ die tatsächliche Intelligenz<br />

zunehmend überschätzt.<br />

Da die Schulleistung diesem Trend oft nicht folgt, ergeben sich zusätzliche Probleme bei der<br />

Legastheniemessung durch Differenz von IQ minus Lese-/Rechtschreibleistung: Bis zur<br />

Neunormierung des IQ nimmt die Zahl der Legastheniker zu, dann wieder ab.<br />

Intelligenzstruktur:<br />

Intelligenztests: Untertests, die spezifischere Leistungen erfassen (sprachliche,<br />

mathematisch, räumliches Vorstellungsvermögen etc.)<br />

Spearman 1904: Zwei-Faktoren-Theorie mit globalem g-Faktor<br />

(allgemeine Intelligenz) und untereinander nicht korrelierten<br />

spezifischeren Faktoren.<br />

Theorie trifft aber nicht zu!!<br />

Annahme: Die Struktur von Intelligenztests ist vielmehr eine empirische Frage, die von<br />

den speziellen Untertests abhängt.<br />

Typisch sind Unterscheidungen:<br />

<br />

<br />

Verbale – nichtverbale Intelligenz<br />

Fluide (nicht kultur- und erfahrungsbedingt) – kristalline (erfahrungs- und<br />

kulturbedingt) Intelligenz<br />

Die einzelnen Untertests korrelieren untereinander typischerweise mit r=.30<br />

Bei ausreichend großer Zahl ist deshalb der Gesamttest durchaus intern konsistent -> Nutzung<br />

des Aggregationsprinzips.


40 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Beispiel: Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WIE)<br />

Berliner Intelligenzstrukturmodell BIS (Jäger et al.<br />

1997):<br />

4 Operationen x 3 Inhalte = <strong>12</strong> Untertesttypen<br />

Operationen:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Bearbeitungsgeschwindigkeit<br />

Gedächtnis<br />

Einfallsreichtum<br />

Verarbeitungskapazität<br />

Inhalte:<br />

<br />

<br />

<br />

Figural-bildhaft<br />

Verbal<br />

numerisch<br />

Beispiele: Culture Fair Intelligence Test (CFI) -> sehr reliabel und messgenau, Frage nach<br />

Validität und Vorhersage bleibt noch offen.<br />

Verbale und nichtverbale Intelligenz:<br />

<br />

<br />

Verbaler IQ korreliert stärker mit<br />

sozialer Schicht als nichtverbaler IQ<br />

Mittlere Schulnote korreliert gleich hoch<br />

mit beidem.<br />

Validität des IQ:<br />

Korrelation mit Grundschul-Gesamtnote: um .50<br />

Korrelation mit Abitur-Gesamtnote: um .30<br />

Korrelation mit Bildungsniveau: um .70<br />

Korrelation mit Berufsprestige mit 40: um .70<br />

Aber: Korrelation mit Erfolg in Beruf nur .20-.30<br />

Grund: Varianzeinschränkung innerhalb von Berufen und Unreliabilität des Erfolgskriteriums<br />

(z.B. Vorgesetztenurteil)<br />

Nach Kontrolle beider Fehlerquellen ist geschätzte „wahre“ Korrelation zwischen IQ und<br />

Berufserfolg in der Metaanalyse von Schmidt & Hunter (1998) bei r=.51<br />

Bei Studienerfolg (Kriterium „Abschlussnote“) weist IQ inkrementelle Validität gegenüber<br />

der Abiturnote auf; -> Deshalb gelten Intelligenztests bei der Studierendenauswahl als sinnvoll.


41 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Die meisten Zulassungstests zum Studium sind verkappte IQ-Tests (z.B. Medizinertest,<br />

geplante Tests für <strong>Psychologie</strong>studierende); Sie werden nur wegen der Akzeptanzprobleme von<br />

IQ-Tests in der Öffentlichkeit nicht so genannt.<br />

Beim Studienerfolg (Noten) besitzen Zulassungstest inkrementelle Validität gegenüber<br />

der Abiturnote: Beispiel: Vorhersage medizinisch schriftliche Vorprüfung bei 27.000<br />

Studierenden (nach Trost 2004):<br />

Abiturnote: .48<br />

Medizinertest: .53<br />

Abiturnote und Medizinertest: .58<br />

Weitere Korrelationen des IQ mit:<br />

Schnelligkeit der Unterscheidung von „---„ mit „----„ nichtverbaler IQ .45, verbaler IQ .18<br />

Schnelligkeit Zugriff zum verbalen KZG: nichtverbaler IQ .05, verbaler IQ .43<br />

IQ misst unter anderem die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung bei einfachen<br />

Aufgaben, aber er erfasst auch komplexere Fähigkeiten, die Nachdenken erfordern. -> Er ist<br />

deshalb so valide, weil er beides erfasst.<br />

Definition von Sternberg (1985): Intelligenz ist die Fähigkeit, kontextuell angemessenes<br />

Verhalten in neuen Situationen oder während der Automatisierung des Umgangs mit bekannten<br />

Situationen zu zeigen. -> Insofern erfasst Intelligenz auch Lernfähigkeit.<br />

Neurophysiologische Grundlagen:<br />

<br />

<br />

<br />

Myelinisierungshypothese<br />

Neuronale Plastizitätshypothese<br />

Weitere Ansätze (Schulter & Neubauer, 2005): Kürzere Latenz evozierter Potentiale im<br />

EEG, Befundlage aber nicht einheitlich. Neuronale Effizienz: Geringere räumliche<br />

Kohärenz der kortikalen EEG-Aktivierung, geringerer Energieverbrauch (gemessen mit<br />

PET und MRT)<br />

Kausalfrage ungelöst: IQ -> Effizienz oder Effizienz -> IQ, Drittvariable?<br />

Multiple Intelligenzen:<br />

Gardner (1983) kritisierte das psychologische Intelligenzkonzept als zu eng und schlug<br />

eine Erweiterung auf 7 „multiple Intelligenzen“ vor:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Sprachliche<br />

Logisch-mathematische<br />

Räumliche<br />

Musikalische<br />

Körperlich-kinästhetische<br />

Interpersonale<br />

Intrapersonale<br />

Damit verwechselte er Intelligenz mit Fähigkeiten; eine Gleichsetzung würde das<br />

Intelligenzkonzept verwässern.


42 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

KREATIVITÄT<br />

Beispiel: Neun-Punkte-Problem zeigt, dass die Lösung eine „Erweiterung<br />

des Problemlöseraumes“ erfordert.<br />

Kreativitätstheorie nach Guilford (1950):<br />

Intelligenz erfordert konvergentes Denken, Kreativität dagegen<br />

erfordert divergentes Denken.<br />

Vier Komponenten des divergenten Denkens:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Sensitivität gegenüber Problemen<br />

Flüssigkeit des Denkens<br />

Originalität des Denkens<br />

Flexibilität des Denkens<br />

Schwellenmodell für Zusammenhang zwischen Intelligenz und Kreativität: Bis zu einer IQ-<br />

Schwelle starker Zusammenhang, bei höherem IQ kein Zusammenhang mehr -> d.h. Kreativität<br />

erfordert Minimal-IQ.<br />

Empirische Bewährung der Theorie von Guilford:<br />

Problem: Verschiedene Kreativitätstests korrelieren untereinander nur mäßig: Diese<br />

Korrelation geht vor allem auf Korrelationen mit dem IQ zurück; nach statistischer Kontrolle<br />

sind Korrelationen der Kreativitätstests untereinander oft geringfügig oder gar null.<br />

Das Schwellenmodell für Zusammenhang IQ-Kreativität konnte nicht empirisch bestätigt<br />

werden.<br />

Was sind gute Validitätskriterien für die Validierung von Kreativitätstests?<br />

z.B.:<br />

<br />

<br />

<br />

kreative Schüler, beurteilt durch Lehrer?<br />

Kreative Architekten, beurteilt durch Berufskollegen?<br />

Kreative Ingenieure, Kriterium: Anzahl der angemeldeten Patente?<br />

Es gibt bisher keine validen Kreativitätstests für Leistungen innerhalb eines Berufs.<br />

Aber: Vorhersage Ausübung kreativer Beruf mit 52 Jahren<br />

durch Prädiktoren bei Abschluss der Kunsthochschule mit 24<br />

durch CPI-Selbstbeurteilung (California Personality<br />

Inventory) „Kreatives Temperament“ (Helson et al. 1995)<br />

Selbst- und fremdbeurteilte Kreativität sind also<br />

valide, zumindest was die Berufswahl angeht.<br />

Es fehlen aber „objektive“, nicht verfälschbare<br />

Kreativitätstests, die dasselbe leisten und möglicherweise sogar die mehr oder weniger<br />

kreative Ausübung desselben Berufs vorhersagen.<br />

Von daher ist die Kreativitätsforschung bisher weniger erfolgreich als die<br />

Intelligenzforschung.


43 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

SOZIALE KOMPETENZ<br />

Soziale Kompetenz ist die Fähigkeit, mit anderen gut zurecht zu kommen.<br />

In der Regel werden zwei Komponenten angenommen:<br />

<br />

<br />

Durchsetzungsfähigkeit und Beziehungsfähigkeit<br />

Oder Sensitivität (Empathie) und Handlungskompetenz<br />

Ein erstes Problem ist, dass diese beiden Komponenten jeweils nur geringfügig korrelieren,<br />

denn:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Durchsetzungsfähigkeit bedroht gute Beziehung<br />

Gute Beziehung bei Aufgabe eigener Interessen<br />

Hoch sensitive, handlungsunfähige Menschen<br />

Aktivisten, die „über Leichen gehen“<br />

Zweites Problem: Komplexer Gegenstand: Beispiel:<br />

Prototypisch sozial kompetentes Verhalten (Amelang et<br />

al. 1989)<br />

Konvergente und diskriminante Validität von Beurteilungen verschiedener Kompetenzen<br />

(Amelang et al. 1989)<br />

Soziale Kompetenz ist also alltagspsychologisch klar von Intelligenz trennbar!<br />

Messung sozialer Kompetenz:<br />

Zur Messung sozialer Sensitivität wurden diverse Empathietests entwickelt:<br />

Beispiel: Videoclips über soziales Verhalten anderer soll korrekt interpretiert werden (zum Teil<br />

sehr kurze Clips wie im Profile of Nonverbal Sensitivity Test – PONS nach Rosenthal et al., der zur<br />

Auswahl von FBI-Agenten eingesetzt wurde)<br />

Problem: Die Tests korrelieren nur geringfügig untereinander, wobei diese Korrelation<br />

meist über den IQ vermittelt ist (siehe Kreativitätstests).


44 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Zur Messung von Handlungskompetenz gibt es drei Verfahren:<br />

<br />

<br />

<br />

Lösen hypothetischer sozialer Probleme: Korrelieren aber „zu hoch“ mit dem IQ und<br />

erwiesen sich als invalide im Vergleich mit tatsächlich gezeigter Kompetenz<br />

Selbstbeurteilung sozialer Fertigkeiten: Wenig valide, da Tendenz zu sozial<br />

erwünschten Antworten (Beispiel: Interpersonal Competence Questionnaire ICQ nach<br />

Riemann et al. 1993)<br />

Beobachtung tatsächlicher Kompetenz in inszenierten Situationen:<br />

o Beobachtung elementarere sozialer Fertigkeiten in Verhaltenstests<br />

differenzieren nicht zwischen mittlerer und hoher Kompetenz (z.B.<br />

Selbstsicherheitstrainings)<br />

o Rollenspiele von Konfliktsituationen aus dem beruflichen Alltag: Künstliche<br />

Situation, die wenig Aufschluss über typisches Verhalten gibt<br />

o Präsentation vor Publikum: Valide, erfasst aber nur spezifische Kompetenz<br />

o Gruppenverhalten: Etwas künstliche Situation, gibt nur begrenzt Aufschluss über<br />

typisches Verhalten<br />

‣ Reliabilitäten von .50 oder .75 können zwar erreicht werden, aber die<br />

transsituative Konsistenz der Urteile ist gering und die Korrelation zwischen<br />

unterschiedlichen Urteilsdimensionen aufgrund von Halo-Effekten überhöht.<br />

‣ Unterscheiden lassen sich meist nur zwei Faktoren: Selbstvertrauen/Dominanz<br />

und Freundlichkeit/Kooperativität<br />

EMOTIONALE KOMPETENZ<br />

Konzept einer einheitlichen „emotionalen Intelligenz“ (EQ) wurde vom Journalisten Goleman<br />

1995 publik gemacht.<br />

Nach Mayer et al. (2000) lassen sich hierbei unterscheiden:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Wahrnehmung von Emotionen bei sich und anderen, emotionale Expressivität<br />

Förderung des Denkens durch Emotionen<br />

Verstehen und Analysieren von Emotionen<br />

Regulation von Emotionen<br />

Erfassung durch Meyer-Salovey-Caruso Emotional Intelligence Test (MSCEIT) nach Mayer et al.<br />

(2000): Angemessene Antworten für hypothetische emotionale Situationen werden erfragt<br />

(Testautoren haben festgelegt, was angemessen ist) -> aber: Geringe Reliabilität, unklare<br />

Validität (vgl. soziale Kompetenzmessung durch hypothetische Situationen)<br />

(Beispiel: Matthews et al. (2006) brachten MSCEIT und NEO-FFI in Konkurrenz bei Vorhersage<br />

Erleben und Verhalten bei Leistungsstress. -> NEO-FFI sagte Erleben vor Stress gut vorher; NSCEIT<br />

erklärte nur 5% zusätzliche Varianz. Paradoxerweise korrelierte MSCEIT mit Zunahme erlebter<br />

Belastung während Stress und überhaupt nicht mit der Leistung unter Stress; diese wurde aber<br />

durch Gewissenhaftigkeit und Offenheit vorhergesagt. -> MSCEIT besaß keine Validität!)


45 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Nach Zee et al. (2002): Analyse von Selbst- und Fremdbeurteilungen emotionaler Kompetenz<br />

ergab zwei unabhängige Faktoren, die nicht oder sogar negativ mit dem IQ korrelieren:<br />

Empathie für Emotionen und Emotionale Kontrolle (analog zur sozialen Kompetenz: soziale<br />

Sensitivität und Handlungskontrolle)<br />

Trierweiler et al. (2002): Emotionale Expressivität ist nicht konsistent zwischen<br />

verschiedenen Emotionen (wer Ärger klar ausdrückt tut dies nicht unbedingt bei Angst…)<br />

Es gibt kein einheitliches Konstrukt der emotionalen Kompetenz, sondern mehrere<br />

unabhängige Dimensionen emotionaler Kompetenzen (ähnlich sozialer Kompetenz)!<br />

Definition:<br />

ASSESSMENT CENTER (AC)<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

In der Personalauswahl für gehobene Positionen verwendete Sequenz von Situationen,<br />

in denen die Teilnehmer alleine oder in Kleingruppen zusammen mit anderen<br />

Teilnehmern und Beobachtern berufsrelevante Aufgaben bearbeiten, insbesondere<br />

solche, die soziale Kompetenzen erfordern.<br />

Verfahren dauert 1-3 Tage<br />

Akzeptanz bei Teilnehmern und Unternehmensführung ist höher als bei Tests, so dass<br />

dieses Verfahren trotz der hohen Kosten weit verbreitet ist.<br />

Typische Aufgaben:<br />

o Präsentation bei kurzer Vorbereitungszeit<br />

o Rollenspiel einer Konfliktsituation<br />

o Gruppendiskussion<br />

o Postkorb (Aufgaben in optimaler Sequenz ordnen)<br />

Validität:<br />

Thorton et al. (1987): Metaanalyse von 50 Studien: Mittlere Validität für das<br />

Vorgesetztenurteil nach Kontrolle von Unreliabilität und Varianzeinschränkung: .37, allerdings<br />

große Heterogenität der Ergebnisse zwischen den Studien<br />

Validität variiert mit Beurteilungskriterien und –zielen:<br />

Schmidt & Hunter (1998): Metaanalyse: Vergleich von IQ und AC: AC erbringt gegenüber dem<br />

IQ nur eine minimale inkrementelle Validität. -> Aufwand lohnt sich eigentlich nicht!


46 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Studie von Scholz & Schuler (1993) zeigt das<br />

Gleiche:<br />

Allerdings: Je geringer die Intelligenzunterschiede zwischen den Getesteten sind, desto<br />

eher sind AC geeignet, zusätzlich zum IQ das Vorgesetztenurteil vorherzusagen.<br />

Schuler et al. (1995): Entwicklungsingenieure<br />

Vorhersage durch IQ, Fragebögen und AC: .57<br />

Vorhersage durch IQ und Fragebögen: .46<br />

Bei hoher Bildung der Getesteten oder hohen Kosten von Fehlentscheidungen sind AC ok!<br />

HANDLUNGSEIGENSCHAFTEN<br />

Handlungseigenschaften sind kein etablierter begriff in der <strong>Psychologie</strong>, sondern vielmehr eine<br />

Überschrift über ein heterogenes Gebiet der <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong>, in dem<br />

Persönlichkeitsunterschiede im zielgerichteten Handeln im Mittelpunkt stehen.<br />

Dispositionen mit Bezug auf<br />

Verhaltensrichtung:<br />

Dispositionen mit Bezug auf<br />

Überzeugungen über eigenes Handeln:<br />

<br />

<br />

<br />

Bedürfnisse<br />

Motive, Persönliche Ziele<br />

Interessen<br />

<br />

<br />

<br />

Erwartungsstile<br />

Kontrollüberzeugungen<br />

Attributionsstile<br />

BEDÜRFNISSE<br />

Konzept der Bedürfnisse dominierte die Psychoanalyse, die Ethologie von Lorenz und ältere<br />

Motivationspychologie, in der Motive in Analogie zu Hunger, Durst und sexuellen<br />

Bedürfnissen in Form von Regelkreismodellen konzeptualisiert wurden.<br />

Regelkreismodelle von Bedürfnissen: Annahme von individuell<br />

charakteristischen Sollwerten (z.B. Sattsein, sexuelles<br />

Befriedigtsein) -> Persönlichkeitsunterschiede = Sollwerte!<br />

Sollwerte werden mit dem aktuellen Ist-Zustand verglichen<br />

(Abweichungen motivieren Verhalten)<br />

<br />

<br />

<br />

Hunger und Durst: Abweichungen primär intern produziert<br />

Sex intern<br />

Neugier primär extern


47 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

(nach Bischof 1985)<br />

Hierarchie der Bedürfnisse nach Maslow<br />

(1954): Mangelbedürfnisse vs.<br />

Wachstumsbedürfnisse (keine Übersättigung) –<br />

empirisch ungeprüftes Modell:<br />

MOTIVE<br />

Heutige Motivationspsychologie: Rationale Zielbildungsprozesse, die Erwartungs x Wert-<br />

Modell folgen. Am besten für Leistungsmotivation ausgearbeitet.<br />

Motivationsstärke ist aktueller Zustand einer Person in motivierender Situation Motiv ist<br />

überdauernde Tendenz zu bestimmtem Motivationsstärken in motivanregenden<br />

Situationen: Motiv ist Persönlichkeitsmerkmal!<br />

Motiv = Bewertungsdispositionen für Handlungsfolgen (nach Heckhausen & Heckhausen<br />

2006)<br />

MOTIVMESSUNG<br />

Motive werden oft durch projektive Tests gemessen:<br />

Beispiel: TAT (Thematischer Apperzeptionstest von Murray 1943)<br />

Proband soll Geschichten zu mehrdeutigen Bildern erzählen, die bestimmte Motive<br />

mittelstark erregen. Häufigkeit, mit der ein bestimmtes Motiv in den Geschichten vorkommt,<br />

wird als Motivstärke interpretiert: Motiv wurde in Geschichten „hineinprojiziert“. Die so<br />

gemessenen Motive sind den Probanden nicht unbedingt bewusst. Ziel der Verfahren: Latente/<br />

implizite Motive erfassen.<br />

Kritik am TAT:<br />

<br />

Interne Konsistenz nur ca .50 bei ca. 6 Bildern: Verteidigung -> Motivwechsel durch<br />

Sättigungseffekt


48 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Retestreliabilität über wenige Wochen nur ca. .50: Verteidigung -><br />

Kreativitätseffekte bei wiederholter Testung (Winter & Stewart 1977)<br />

Unklarheit der Interpretation:<br />

o Eigenes Motiv oder nur Sensitivität für Thema?<br />

o Lassen sich Trait- und Stateanteile unterscheiden?<br />

Asendorpf (1944): Kinder mit hohen Werten um Aggressions-TAT sind entweder tatsächlich<br />

stark aggressiv (Erzieherurteil) oder sie erkennen diese Reize besonders gut (Sensitivität<br />

gegenüber Aggressionsthematik)<br />

Verteidigung: Moderne Kodiersysteme für implizite Motive nutzen thematische<br />

Motivindikatoren, die experimentell validiert wurden: Methode der Experimentellen<br />

Differenzierung.<br />

Experimentelle Differenzierung: Beispiel aus<br />

unserem Labor:<br />

Thematische Kategorien indizieren<br />

motivationale Zustände. Es bleibt jedoch unklar,<br />

inwieweit von motivationalen Zuständen auf<br />

stabile Motivdispositionen geschlossen werden<br />

kann.<br />

Alternativen zum TAT:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Operanter Motiv-Test (OMT) nach Kuhl & Scheffer (1999) mit mehr Bildern aber nur<br />

Bitte, Stichworte statt ausformulierter Geschichte zu schreiben<br />

Partnerschaftsbezogener Agency und Communion Test (PACT) nach Hagemeyer und<br />

<strong>Neyer</strong> (20<strong>12</strong>) misst beziehungsspezifische Motive<br />

Motiv-Gitter von Schmalt (1976) mit vorgegebenen Antwortalternativen ist nur<br />

semiprojektiv<br />

Motiv-IAT von Brunstein & Schmitt (2004) implizites Konzept der eigenen Kompetenz<br />

Reliabilität ist zwar besser, Validität steht aber zum Teil noch aus!<br />

Bewusste (explizite) Motive können mit<br />

Fragebögen erfasst werden:<br />

Beispiel: Skalen der Personality Research<br />

Form (PRF):<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Leistungsstreben<br />

Geselligkeit<br />

Aggressivität<br />

Dominanzstreben<br />

Ausdauer<br />

Bedürfnis nach Beachtung<br />

Risikomeidung<br />

Impulsivität<br />

Hilfsbereitschaft<br />

Ordnungsstreben<br />

Spielerische Grundhaltung<br />

Soziales Anerkennungsbedürfnis<br />

Anlehnungsbedürfnis<br />

Allgemeine Interessiertheit


49 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Projektive Tests und Fragebögen für dasselbe Motiv korrelieren meist nur äußerst gering<br />

Nach McClelland et al. (1989) erfassen z.B. beim Leistungsmotiv:<br />

<br />

<br />

Projektive Tests operantes Leistungsverhalten (intrinsisch motiviert)<br />

Fragebögen respondentes Leistungsverhalten (extrinsisch motiviert)<br />

Metaanalyse von Spangler (1992): Korrelation von Selbsturteil und projektiv nur .09<br />

Nur schwache Bestätigung von McClelland. Vorhersage von<br />

Leistungsverhalten durch Leistungsmotiv war generell<br />

schwach: Fähigkeiten wurden nicht berücksichtigt.<br />

LEISTUNGSMOTIV:<br />

Risikowahlmodell von Atkinson (1957) I:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Leistungsmotivation L<br />

Subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit W<br />

Leistungsmotiv M<br />

M x (1-W) -> Wertkomponente der Motivation<br />

W -> Erwartungskomponente der Motivation<br />

L = M x (1-W) x W<br />

M besteht aus<br />

Erfolgsmotiv Me, Erfolg anzustreben<br />

Misserfolgsmotiv Mm, Misserfolg zu meiden<br />

Beide sind nur schwach negativ korreliert, daher:<br />

W – W^2 bzw. (1-W) x W ist maximal bei W=0.5<br />

L = Me x (1-W) x W – Mm x (1-W) x W<br />

= (Me – Mm) x (W – W^2)<br />

Folgerungen:<br />

Erfolgsmotivierte wählen eher<br />

Aufgaben mittlerer Schwierigkeit<br />

und bearbeiten diese besser und<br />

ausdauernder.<br />

Misserfolgsmotivierte wählen eher<br />

sehr leichte oder sehr schwere<br />

Aufgaben und bearbeiten diese besser<br />

und ausdauernder.<br />

Annahmen empirisch bestätigt<br />

(allerdings eher für W = 0.7 als W =<br />

0.5)


50 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

ANSCHLUSSMOTIV<br />

Unter dem Anschlussbedürfnis wird seit Murray (1938) das Bedürfnis nach Aufnahme und<br />

Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen unabhängig vom Grad der erreichten<br />

Vertrautheit verstanden.<br />

Davon unterschieden wird seit McAdams (1980) das Intimitätsbedürfnis, das sich auf<br />

Aufnahme und Aufrechterhaltung intimer Beziehungen bezieht (intim im Sinne eines<br />

intensiven, positiven Austauschs, nicht notwendig sexuell).<br />

(Wohl eher Anschluss- und Intimitätsmotiv?!)<br />

Anschlussmotiv kann wie das Leistungsmotiv in eine Erfolgs- und eine Misserfolgskomponente<br />

aufgespalten werden: Hoffnung auf Anschluss und Furcht vor Zurückweisung<br />

Klassifikation nach Asendorpf (1989):<br />

(Beispiel zur Unterscheidung:<br />

Ungesellige von schüchternen Kindern<br />

unterscheiden sich darin, dass<br />

ungesellige Kinder nie viel mit anderen<br />

machen, Schüchterne aber nur in<br />

großen Gruppen gehemmt sind aber eigentlich viel mit Vertrauten machen.) -> Schüchternheit<br />

korreliert deshalb auch nur mäßig mit Geselligkeit (.30)<br />

MACHTMOTIV:<br />

Unter dem Machtmotiv wird das Bedürfnis nach sozialer Einflussnahme und Prestige<br />

verstanden (Winter, 1973).<br />

Motivumsetzungsstile beschreiben auf welchem Wege, d.h. in welchen Situationen und durch<br />

welche Verhaltensweisen Bedürfnisse befriedigt werden.<br />

<br />

<br />

Sozialisiertes Machtmotiv: Einflussnahme durch sozial erwünschtes Verhalten wie<br />

Helfen, Ratgeben, Lehren, Übernahme von Verantwortung.<br />

Personalisiertes Machtmotiv: Einflussnahme durch dominantes, aggressives,<br />

impulsives Verhalten.<br />

Forschungsfrage: Setzen Frauen ihr Machtmotiv sozialisierter um als Männer?<br />

Winter (1988): Metaanalyse: Weder Geschlechtsunterschiede in der allgemeinen Stärke<br />

noch in der sozialisierten oder personalisierten Umsetzung des Machtmotivs.<br />

Vielmehr scheinen Sozialisationserfahrungen wie die Präsenz jüngerer Geschwister oder<br />

eigener Kinder eine sozial verträgliche Umsetzung des Machtmotivs zu begünstigen.


51 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

PERSÖNLICHE ZIELE:<br />

Individuelle, für wichtig gehaltene, bewusst repräsentierte mittel- oder langfristige Ziele. Ziele<br />

sind spezifischer als Motive, lassen sich aber auf Motive beziehen, z.B. „gut Klavier spielen<br />

können“ auf das Leistungsmotiv.<br />

Erfassung durch idiographische Zielinventare oder standardisierte Fragebögen.<br />

Persönliche Ziele sind weitgehend unabhängig von projektiv erfassten Motiven.<br />

MOTIVKONGRUENZ:<br />

McClelland et al (1989): Weichen Motive und Ziele stark oder dauerhaft voneinander ab, so<br />

hat dies negative emotionale Konsequenzen.<br />

Brunstein et al (1995): Inkongruente Motiv-Ziel-Konstellationen sind mit beeinträchtigtem<br />

emotionalen Wohlbefinden assoziiert.<br />

Ähnliche Befunde wurden in der Folge für mehrfach für alle drei Basismotive berichtet.<br />

INTERESSEN<br />

Interessen beziehen sich darauf, ob bestimmte Tätigkeiten als anziehend oder abstoßend<br />

empfunden werden.<br />

Mögliche Unterscheidung zweier Bewertungsaspekte:<br />

<br />

<br />

Wie angenehm ist die Tätigkeit?<br />

Wie interessant ist die Tätigkeit?<br />

Wenig entwickeltes Gebiet der <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong>, obwohl es direkte Anwendung in der<br />

Berufsberatung hat. Hierfür gibt es Berufsinteressentests.<br />

Beispiel: Sechs Faktoren des Berufsinteresses (Holland, 1975):<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Praktisches<br />

Wissenschaftliches<br />

Künstlerisches<br />

Soziales<br />

Unternehmerisches<br />

Interesse an Büroberufen<br />

Sechseckstruktur des Berufsinteresses nach Prediger 1982: Lage der sechs Holland-Faktoren<br />

in einem zweidimensionalen Raum für Schüler (blau) und Schülerinnen (rot):<br />

Sechs Interessen liegen drei Dimensionen<br />

zugrunde:<br />

<br />

<br />

<br />

G-Faktor: Wie viel Interesse<br />

grundsätzlich<br />

Mensch-Dinge: Soziale Dimension<br />

Daten-Ideen: Konkrete Dimension


52 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Die Passung zwischen Berufsinteressen und Arbeitsinhalten korreliert positiv mit der<br />

Arbeitszufriedenheit, Kausalrichtung aber unklar: Passung -> Zufriedenheit vs. Zufriedenheit -<br />

> Passung<br />

Berufswahl wird durch Fähigkeiten aber besser vorhergesagt als durch Interessen!<br />

HANDLUNGSÜBERZEUGUNGEN<br />

„Handlungsüberzeugungen“ ist kein etablierter Begriff in der <strong>Psychologie</strong>. Gemeint sind damit<br />

Überzeugungen über das eigene Handeln.<br />

Schritt 1: Persönlichkeitsunterschiede in<br />

Erwartungsstilen (z.B. Erfolgserwartung vs.<br />

Misserfolgserwartung) & Motiven<br />

Schritt 2: Regulierung, z.B. drohender<br />

Misserfolg<br />

Persönlichkeitsunterschiede im<br />

Handlungskontrollstil<br />

Schritt 3: Ursachenzuschreibung:<br />

internal vs. external<br />

Persönlichkeitsunterschiede in der<br />

Ursachenzuschreibung/ im<br />

Attributionsstil<br />

Diese drei korrelierenden, in verschiedenen Schritten auftretenden<br />

Handlungsüberzeugungen haben gemeinsamen Faktor = Handlungsoptimismus<br />

Handlungsoptimismus:


53 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Selbstwirksamkeitserwartung: (besondere Form des Erwartungsstils, neben Erfolg vs.<br />

Misserfolg)<br />

Erwartungsstil Selbstwirksamkeitserwartung bezeichnet die Erwartung, zu einem<br />

bestimmten Verhalten fähig zu sein (z.B. Erlerntes in einer Prüfung reproduzieren können).<br />

Der Bezug zum eigenen Handeln grenzt Selbstwirksamkeitserwartungen von<br />

(Miss)Erfolgserwartungen ab: -> Optimistische Fatalisten können eine hohe Erfolgserwartung<br />

bei niedriger Selbstwirksamkeitserwartung haben.<br />

Erfassung z.B. durch Skala nach Schwarzer & Jerusalem (1989)<br />

Handlungskontrollstile<br />

Handlungskontrollstile beziehen sich auf die Ausführung einer Handlung. Man unterscheidet<br />

handlungsorientierte und lageorientierte Handlungskontrollstile.<br />

Drei Formen der Handlungs-/Lageorientierung:<br />

<br />

<br />

<br />

Zögern vs. Initiative<br />

Unbeständigkeit vs. Ausdauer<br />

Präokkupation (lange über etw. nachdenken) vs. Disengagement<br />

Erinnerung an Motive: Furcht vor Misserfolg ist keine homogene Dimension, sondern zerfällt in<br />

zwei trennbare Motive:<br />

<br />

<br />

Tendenz, Misserfolg handlungsorientiert aktiv zu vermeiden<br />

Tendenz, über eingetretenen Misserfolg lageorientiert zu grübeln<br />

Attributionsstile:<br />

Bei der Bewertung von Handlungsergebnissen<br />

wurden vor allem beim leistungshandeln<br />

untersucht:<br />

Attributionsstile bei<br />

(Miss)Erfolgsmotivierten:<br />

Handlungsoptimismus ist also durch<br />

ein selbstwertdienliches<br />

Attributionsmuster<br />

gekennzeichnet: Erfolg wird auf<br />

Fähigkeit, Misserfolg auf<br />

mangelnde Anstrengung<br />

zurückgeführt.


54 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Allgemein:<br />

Alle Handlungsüberzeugungen lassen sich für verschiedene Situationsbereiche getrennt<br />

erfassen, z.B. für intellektuelle Leistungen, sportliche Leistungen und soziale Beziehungen.<br />

Wird das getan, zeigt sich eine geringe transsituative Konsistenz: z.B. kann eine<br />

Handlungsoptimist in Bezug auf die Studienleistung ein Handlungspessimist in Bezug auf<br />

Partnerbeziehungen sein oder umgekehrt.<br />

BEWÄLTIGUNGSSTILE<br />

Bewältigungsstile (auch Copingstile) wurden zuerst in der Stressforschung untersucht<br />

(Lazarus 1966)<br />

Unter Stress werden in der <strong>Psychologie</strong> Belastungen verstanden, die subjektiv als<br />

Überforderung erlebt und deshalb von negativen Emotionen begleitet werden.<br />

Vier Phasen der Stressverarbeitung:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Primäre Bewertung der Situation: bedrohlich?<br />

Sekundäre Bewertung: Bewältigungsstrategien?<br />

Bewältigungsstil anwenden<br />

Neubewertung<br />

Drei Arten von Bewältigungsstilen:<br />

<br />

<br />

<br />

Intrapsychische Stile verändern nicht die<br />

Situation, aber deren Bewertung und die<br />

ausgelösten Gefühle, Bsp. Verdrängung,<br />

Verleugnung<br />

Problemorientierte Stile verändern die<br />

Situation, Bsp. Flucht, Umgestaltung<br />

Ausdruckskontrollstile verändern den<br />

Emotionsausdruck (Bsp. Ärger verbergen),<br />

nicht aber die Situation oder deren<br />

Bewertung<br />

Für unterschiedliche Situationen sind unterschiedliche Bewältigungsstile optimal. -><br />

Jeder Bewältigungsstil hat eine situative Nische, in der er angemessen ist.<br />

(Bsp.: Verdrängung vor unvermeidbaren OPs geeignet, aber in Rehabilitationsphase nicht<br />

mehr!)<br />

Bewältigungsstile sind innerhalb bestimmter Situationsbereiche zeitlich ausgesprochen<br />

stabil, auch bei drastischen Situationsänderungen (Bsp. Krebspatienten im Verlauf der<br />

Krankheit).<br />

Entgegen der Meinung in der frühen Stressforschung sind sie deutlich mehr durch die<br />

Persönlichkeit als durch Phasen der Stressverarbeitung bedingt.


55 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Da die Bewältigungsstile persönlichkeitsabhängig und stabil sind, kann man sie bei<br />

Belastungen nicht optimal einsetzen.<br />

(Im Gegenteil zeigen Untersuchungen zur Aufklärung von Patienten vor bedrohlichen Operationen,<br />

dass weder eine schonungslose Aufklärung noch das Herunterspielen von Risiken generell hilfreich<br />

ist: optimal ist vielmehr ein Grad an Aufklärung, der zum individuellen Bewältigungsstil des<br />

Patienten passt. (Miller, 1990).)<br />

Gute Passung zwischen Bewältigungsstil und Bewältigungsangebot erleichtert die<br />

Bewältigung mehr als das Vermitteln einer „besten“ Bewältigungsform!<br />

Beispiel: Ärgerausdruckskontrolle:<br />

Persönlichkeitsunterschiede spielen eine Rolle:<br />

<br />

<br />

<br />

Anger-In (Ärger in sich hineinfressen)<br />

Anger-Out (Ärger offen ausagieren)<br />

Konstruktiver Ausdruck (klarer aber konstruktiver, nicht verletzender Ärgerausdruck)<br />

Gesundheitspsychologische Untersuchungen legen nahe, dass sowohl Anger-Out als auch Anger-<br />

In schädlich sind, da sie mit einem erhöhten Risiko für (unterschiedliche) Erkrankungen<br />

korrelieren.<br />

Probleme:<br />

NOCHMAL ALLE HANDLUNGSEIGENSCHAFTEN ALLGEMEIN:<br />

<br />

<br />

Inflationäre Entwicklung neuer Konstrukte, deren Abgrenzung voneinander unklar ist<br />

Erfassung durch Selbstbeurteilung: Wie bewusst sind Handlungsüberzeugungen? Meist<br />

wird prozedurales Wissen erfragt.<br />

ANWENDUNG: POLITIKVORHERSAGE<br />

Gibt es typische Persönlichkeitsmerkmale von Führern in Organisationen? (z.B. Päpste,<br />

Präsidenten, Mafiabosse, Vorstandsvorsitzende, Gewerkschaftsführer?)<br />

Gibt es eine typische Führungspersönlichkeit? (z.B. charakterisiert durch Machtinstinkt,<br />

Sitzfleisch, diplomatisches Geschick, Kompromissfähigkeit, Kaltblütigkeit?)<br />

Dafür sprechen:<br />

<br />

<br />

<br />

Führerrolle erfordert „Führungsqualitäten“<br />

Selektionsmechanismen der Organisation für Aufstieg zum Führer<br />

Persönlichkeitsveränderungen beim Aufstieg zum Führer<br />

Metaanalyse von Lord et al. (1986) zum Zusammenhang von<br />

Persönlichkeit mit durch Gruppenmitglieder eingeschätzter<br />

Führungsqualität: Problem: Die meisten Untersuchungen beziehen<br />

sich auf Führer in Schüler- oder Studentengruppen.


56 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Alternative ist Historiometrie (Woods, 19<strong>11</strong>) -> empirische Analyse historischer Quellen.<br />

Simonton untersuchte Expertenbeurteilung von politischen Führern (Könige, Präsidenten der USA):<br />

Umgekehrt U-förmige Beziehung zwischen Intelligenz und Führungsqualität.<br />

Optimal scheint es zu sein, wenn IQ des Führers 18 Punkte über dem Gruppendurchschnitt<br />

liegt (ca. durchschnittlicher Abiturient) – (Argument gegen höheren IQ:<br />

Kommunikationsprobleme mit der Mehrheit)<br />

Weitere nichtlineare Beziehungen:<br />

<br />

<br />

Politische Effizienz absolutistischer Herrscher(innen) war besonders hoch entweder<br />

bei sehr hohe oder bei sehr niedriger Moral<br />

Historisch besonders einflussreiche US-Präsidenten waren entweder besonders<br />

idealistisch oder besonders pragmatisch.<br />

Winter 1987: Kodierung aller Antrittsreden US-amerikanischer Präsidenten für Intimitäts- und<br />

Machtmotive + Ergebnisse in Beziehung gesetzt mit Merkmalen der US-amerikanischen Politik<br />

in deren Amtszeiten.<br />

Korrelationen von Winter beruhen auf einer Kombination der individuellen Motive des<br />

Präsidenten und anderen Einflussgrößen, z.B. strategischen Überlegungen und Zeitgeist.<br />

Vorhersage von Winter 2009 für die Präsidentschaft Obamas: Kodierung impliziter Motive in seiner<br />

Antrittsrede:<br />

<br />

<br />

<br />

Hohes Macht- und durchschnittliches Leistungsmotiv -> Effektivität und Charisma<br />

Hohes Machtmotiv: aggressivere Außenpolitik mit Militäreinsätzen<br />

Obama zeigt ähnliches Profil wie Harry Truman und John F. Kennedy<br />

SELBSTBEZOGENE DISPOSITIONEN<br />

ICH UND MICH<br />

William James (1842-1910): Einführung der Unterscheidung zwischen Ich (self as knower)<br />

und Mich (self as known) ein.<br />

<br />

<br />

Ich -> Urheber der eigenen Handlungen<br />

Mich -> Objekt des eigenen Wissens


57 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

SELBSTKONZEPT<br />

Das Selbstkonzept enthält das Wissen über sich selbst. -> Es ist der dispositionale Aspekt<br />

des Mich<br />

Es enthält universelles und individualtypisches Wissen. Letzteres ist eine<br />

Persönlichkeitseigenschaft.<br />

Nutzung von scheinbar individualtypischem Wissen z.B. in Horoskopen -> Tatsächlich halten<br />

90% der Studierenden diese Aussagen für sich ganz persönlich zutreffend.<br />

Selbstkonzept übt wie andere Wissensbestände auch die Funktion eines kognitiven Schemas<br />

aus, indem es die Verarbeitung selbstbezogener Informationen beeinflusst:<br />

<br />

<br />

Markus (1977): Worte werden besser/schneller verarbeitet, wenn sie mit dem<br />

Selbstkonzept kompatibel sind.<br />

Deutsch et al. (1988): Spontan genannte Eigenschaften des Selbst werden besser<br />

verarbeitet als spontan genannte Eigenschaften anderer von deren Selbst.<br />

SELBSTWERTGEFÜHL<br />

Das Selbstwertgefühl ist die Zufriedenheit mit sich selbst (affektive Bewertung des<br />

Selbstkonzepts)<br />

Das allgemeine Selbstwertgefühl wird z.B. durch die Self-Esteem-Scale von Rosenberg (1965) auf<br />

einer Zustimmungsskala erfasst.<br />

Es ist ein zentraler Indikator für Lebenszufriedenheit (siehe später) und psychische<br />

Gesundheit (bei höher Ängstlichkeit und Depressivität).<br />

Shavelson et al. (1976) kritisierten die Eindimensionalität des allgemeinen<br />

Selbstwertgefühls und erfassten es in Form einer Selbstwerthierarchie mit<br />

untergeordneten bereichsspezifischen Selbstwertfaktoren. -> hierarchische Organisation<br />

wurde bestätigt.<br />

Schon Vorschulkinder haben die Selbstwerthierarchie ansatzweise, ab der 2. Klasse ist sie schon<br />

gut ausdifferenziert.<br />

Konvergente und diskriminante Validität des<br />

bereichsspezifischen Selbstwertgefühls (Asendorpf &<br />

van Aken 1993):<br />

Zusammenhang zwischen Verhalten und Selbstwert wird durch intraindividuelle<br />

Kontrasteffekte deutlich gemindert:<br />

Beispiel: Selbstwert in Deutsch vs. Mathe nach Marsh & Hau<br />

2004:Mentale Kontrastierung findet statt: Der subjektive<br />

Selbstwert überlagert den objektiven Wert (1,7 ist schlecht,<br />

wenn 1,0 Selbstwert)


58 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Stabilität des Selbstwertgefühls ggü. Stabilität des bereichsspezifischen<br />

Selbstwertgefühls: (Asendorpf & van Aken 1993)<br />

Normalerweise ist allgemeines Selbstwertgefühl<br />

weniger stabil als spezifische Selbstwertgefühle.<br />

Das eher abstrakte Urteil über das allgemeine<br />

Selbstwertgefühl ist stärker situations- und<br />

stimmungsabhängig als das konkretere<br />

bereichsspezifischere Urteil.<br />

Depressivität sagt daher eher niedrigen allgemeinen<br />

Selbstwert vorher als umgekehrt.<br />

SELBSTWERTDYNAMIK<br />

1) Selbstwahrnehmung und<br />

Selbsterinnerung<br />

2) Soziales Spiegeln<br />

3) Sozialer Vergleich<br />

4) Selbstdarstellung<br />

SELBSTWAHRNEHMUNG UND SELBSTERINNERUNG<br />

Selbstwahrnehmung und Selbsterinnerung sind Quellen des Selbstkonzepts, das<br />

Gegenstand des Selbstwertgefühls ist.<br />

Tendenz zur Selbstkonsistenzerhöhung verzerrt Prozesse der Selbstwerkdynamik:<br />

<br />

<br />

Selbstwahrnehmung: Wir tendieren dazu, und so zu sehen, wie wir zu sein glauben<br />

Selbsterinnerung: Wir erscheinen in unserer Erinnerung eher konsistent mit unserem<br />

aktuellen Selbstbild, dadurch glauben wir zu wissen, wer wir sind.


59 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

SOZIALES SPIEGELN:<br />

Wir tendieren dazu, uns so zu sehen, wie wir glauben, dass andere uns sehen: Wir sehen daher<br />

subjektive Reaktionen auf uns (nicht objektive) und ziehen daraus Schlüsse, die evtl.<br />

selbstkonsistenzerhöhend sind.<br />

<br />

<br />

Nach einer Studie von Swann et al.: Bei negativem Selbstwert werden positivere<br />

Leistungsrückmeldungen eher unterschätzt und negative Rückmeldungen eher beachtet<br />

und erinnert als bei einem positiven Selbstwert.<br />

Nach einer Studie von Kenny & DePaulo (1993): In Studentengruppen korreliert der<br />

wahrgenommene Eindruck anderer über die eigene Person mit über .80 mit dem<br />

Selbstkonzept (Projektion) und Unterschiede zwischen anderen in deren Eindruck<br />

werden nicht valide wahrgenommen.<br />

Spricht gegen die Annahme des symbolischen Interaktionismus (Mead 1934):<br />

Selbstbild wird durch die Generalisierung der Rückmeldungen anderer geformt.<br />

Allerdings nicht beliebiger anderer sondern „significant others“ – solche<br />

Rückmeldungen wurden in der Studie aber nicht untersucht.<br />

SOZIALER VERGLEICH<br />

Bezugsgruppeneffekte auf das Selbstwertgefühl kommen dadurch zustande, dass man sich<br />

selbst mit anderen aus einer bestimmten Bezugsgruppe vergleicht (Big-Fish-Little-Pond<br />

Effekt nach Marsh & Hau 2003).<br />

Beispiel: Übergang ins Gymnasium und kognitiver Selbstwert:<br />

NARZISSMUS – ÜBERDURCHSCHNITTLICHE SELBSTÜBERSCHÄTZUNG<br />

Persönlichkeitspsychologisch gibt es zahlreiche selbstbezogene Dispositionen, die in der<br />

Selbstwertdynamik eine Rolle spielen: Eine davon ist Selbstüberschätzung vs.<br />

Selbstunterschätzung<br />

<br />

<br />

Mäßige Selbstüberschätzung (Diskrepanz zwischen Selbstbild und dem Bild andere<br />

oder objektiven Leistungen) ist normal.<br />

Gnadenloser Realismus oder Unterschätzung finden sich eher bei Depression oder<br />

sehr niedrigem Selbstwert.


60 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

<br />

Stark überdurchschnittliche Selbstüberschätzung ist aber problematisch, da sie mit<br />

sozial unerwünschten Eigenschaften und einem negativen Bild andere korreliert (=<br />

Narzissmus)<br />

Nach Freud und Kernberg: Starke Selbstüberschätzung = Narzissmus, charakterisiert durch<br />

„grandioses Selbstbild“ und verteidigt mit viel Abwehr-Aufwand -> muss fragil sein.<br />

Merkmale:<br />

<br />

<br />

<br />

Mangelnde Empathie<br />

Überempfindlichkeit gegenüber Kritik<br />

Starke Stimmungsschwankungen<br />

Narzissmus = Persönlichkeitsstörung (DSM-IV und ICD-10, erfasst speziell durch Narcisstic<br />

Personality Inventory (NPI))<br />

NPI fand:<br />

<br />

<br />

<br />

Narzissmus korreliert (bei Studierenden) mit Überschätzung der eigenen Intelligenz und<br />

physischen Attraktivität, der eigenen Leistung in Gruppen, der zu erwartenden eigenen<br />

Note<br />

Korreliert in Tagebuchstudien mit starken Stimmungs- und<br />

Selbstwertgefühlsschwankungen von Tag zu Tag<br />

Fernsehstars sind unabhängig von Karrieredauer narzisstischer (aber Selektionseffekt,<br />

nicht professionelle Verbiegung!)<br />

Neben der Tendenz zur Konsistenzerhöhung haben Selbstüberschätzung und –<br />

Unterschätzung Einfluss auf die Selbstwertdynamik.<br />

SELBSTDARSTELLUNG<br />

Das Sozialverhalten unterliegt Einflüssen, es an das Selbstbild oder ein erwünschtes<br />

davon abweichendes Bild (z.B. Idealselbst) anzupassen.<br />

Goffman (1956): In der Öffentlichkeit sind alle Selbstdarsteller oder Schauspieler, da wir<br />

versuchen, Einfluss auf den Eindruck anderer von uns auszuüben (Eindrucksmanagement).<br />

Selbstüberwachung<br />

Persönlichkeitsunterschiede im Eindrucksmanagement durch Selbstdarstellung werden<br />

seit Snyder (1974) als Selbstüberwachung (self-monitoring) bezeichnet.<br />

Faktorenanalysen ergaben zwei klar trennbare Faktoren:<br />

<br />

<br />

Soziale Fertigkeit: Fähigkeit zur Selbstdarstellung (Bin ich ein guter Schauspieler?)<br />

und korreliert negativ mit Neurotizismus und Gehemmtheit<br />

Inkonsistenz: Abhängigkeit des eigenen Verhaltens von Erwartungen anderer und<br />

korreliert positiv mit Neurotizismus und Gehemmtheit


61 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Andere Differenzierung beruht auf der Unterscheidung von Arkin (1981) zwischen:<br />

<br />

<br />

Akquisitive Selbstdarstellung (Suche nach positiver Bewertung)<br />

Protektive Selbstdarstellung (Vermeidung negativer Bewertung)<br />

Laux und Renner (2002) entwickelten dafür Skalen und fanden durch Clusteranalysen vier<br />

Typen:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Schwache Selbstdarsteller (beides schwach)<br />

Akquisitive Selbstdarsteller<br />

Protektive Selbstdarsteller<br />

Starke Selbstdarsteller (beides stark)<br />

Geben starkes Bedürfnis nach authentischer<br />

Selbstdarstellung an (andere nicht)<br />

WOHLBEFINDEN<br />

Dispositionshierarchie für psychische Gesundheit:<br />

Korreliert stark mit:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Allgemeinem Selbstwertgefühl<br />

Selbstwirksamkeit<br />

Hohe Extraversion und niedriger<br />

Neurotizismus<br />

Religiosität<br />

Aber keine eindeutigen Kausalitäten!<br />

Die Lebensumstände (Gesundheit, materielle…)<br />

tragen erstaunlich wenig bei:<br />

Wohlbefinden korreliert in Industrienationen nur um .10 mit realem Einkommen<br />

37 der 100 reichsten US-Bürger gaben unterdurchschnittliches Wohlbefinden an,<br />

Rollstuhlfahrer, Blinde und unverheiratete Sozialhilfeempfänger sind überwiegend<br />

glücklich.<br />

Diener & Diener (1996) in den USA: „Most people are happy most of the time.“<br />

Wohlbefinden anderer wird demnach stark unterschätzt, vor allem von Doktoranden der<br />

<strong>Psychologie</strong> (“klinischer Bias”)<br />

Längsschnittstudien: Wohlbefinden geht auch bei extremen Änderungen der<br />

Lebenssituation weitgehend zum vorherigen Ausgangswert zurück.<br />

Vorhersage des Wohlbefindens aufgrund Extraversion und Neurotizismus beträgt .60,<br />

Berücksichtigung positiver und negativer Lebensereignisse erhöht auf .75 aber nur bzgl. der<br />

Ereignisse in den letzten drei Monaten.<br />

Wohlbefinden kann als Sollwert eines Regelkreises des Glücks, also als<br />

Persönlichkeitseigenschaft aufgefasst werden (nach Headey & Wearing 1989)!!


62 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Neuere Analysen einer großen repräsentativen dt. Längsschnittstudie führten aber zu<br />

einer Revision:<br />

UMWELT UND BEZIEHUNGEN<br />

SITUATIONSEXPOSITION<br />

Umwelt: Gesamtheit aller externen Bedingungen, die das Verhalten und Erleben einer<br />

Person beeinflussen.<br />

Situation: Aktuelle Umweltbedingung einer Person.<br />

Situationsexposition: Häufigkeit oder Dauer, mit der eine Person Situationen eines<br />

bestimmten Typs ausgesetzt ist. Die Situationsexposition ist eine Eigenschaft der Person<br />

und ihrer Umwelt. Ihre Stabilität ist ähnlich hoch wie die von Persönlichkeitseigenschaften.<br />

Setting: „Objektive“ Situation, die durch äußere Beobachter vollständig beschreibbar ist.<br />

Beispiel nach Gosling et al. 2002:<br />

Beurteilerübereinstimmung für Big Five des Bewohners<br />

ca. .50, aber eigentlich Korrelation mit den Big Five des<br />

Bewohners .20 (Verträglichkeit) bis .65 (Kultur)<br />

Abhängigkeit der Situationsdefinition von der<br />

Persönlichkeit, wenn es sich nicht um Settings handelt.<br />

Beispiel: Freund (ist kein Setting-Bestandteil)<br />

Sarason et al. (1987): Selbstbeurteilte Einsamkeit korrelierte:<br />

<br />

<br />

<br />

-.28 mit Zahl der Beziehungen<br />

-.53 mit Zahl der als unterstützend erlebten Beziehungen<br />

-.63 mit Zufriedenheit mit der Unterstützung


63 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Messverfahren:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Retrospektive Einschätzung (ungenau bereits für vorangegangenen Tag, sehr<br />

unzuverlässig für vergangene Woche)<br />

Tagebuch, Logbuch (z.B. Palmtop, Internet; wichtig zur Kontrolle des<br />

Aufzeichnungsdatums.)<br />

Piepsertechnik (6-10 pro Tag in<br />

randomisierten Abständen) -> Beispiel<br />

Piepsertechnik von (unaussprechlicher Name<br />

und Larson 1984): Zeitanteile US-Oberschüler<br />

Direkte Beobachtung (Protokollierung durch<br />

Beobachter oder kontinuierliche Messung)<br />

(Beispiel nach Asendorpf & Maier:<br />

Verhaltensmessung mit abendlichem<br />

Situationsprotokoll)<br />

PERSÖNLICHE UMWELT<br />

Persönliche Umwelt ist Gesamtheit der stabilen Situationsexpositionen einer Person.<br />

Stabilität ist meist ähnlich hoch wie bei Persönlichkeitseigenschaften!<br />

Beispiel Asendorpf & Wilpers (1999): Zwischen 1. Und 2. Semester:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

.84 Zahl Interaktionen/Tag<br />

.74 Anteil Peers<br />

.78 Anteil Mutter<br />

.71 Zahl unterschiedlicher Interaktionspartner<br />

Aber:<br />

<br />

.50 Anteil romantische Interaktionen


64 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Proximale vs. distale Umweltmerkmale:<br />

Beispiel: Sozioökonomischer Status der Familie:<br />

Operationalisierung meist durch:<br />

<br />

<br />

<br />

Bildungsgrad der Eltern<br />

Berufsprestige der berufstätigen Eltern<br />

Einkommen der Familie<br />

Mischung von proximalen Umweltmerkmalen und Persönlichkeitsmerkmalen, z.B.<br />

<br />

<br />

<br />

Bei berufstätigem Vater -> Persönlichkeit<br />

Bei Eltern -> Mischung Persönlichkeit + proximale Umwelt<br />

Bei Kind -> proximale Umwelt<br />

In der Soziologie wird sozialer Status meist als distale Variable behandelt. Probleme am<br />

Beispiel nach Steinkamp & Stief (1979):<br />

Persönlichkeitspsychologische Umformulierung:


65 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

UMWELTSYSTEME<br />

Aus systemischer Sicht besteht die Umwelt einer Person aus einem System mit einer von<br />

ihr unabhängigen Struktur.<br />

Beispiel: Soziogramm Schulklasse (nach Moreno 1934)<br />

Um Umweltsysteme auf die Persönlichkeit eines Individuums beziehen zu können,<br />

müssen sie auf einzelne Dimensionen reduziert werden, die seinen Systemstatus<br />

beschreiben:<br />

Beispiel Soziometrie: Soziometrischer Status:<br />

BEZIEHUNGEN<br />

Eine soziale Beziehung ist ein zeitstabiles Merkmal eine Dyade (Personenpaar).<br />

Aus Sicht einer der beiden beteiligten Personen ist die andere Person eine Bezugsperson, die<br />

Teil der persönlichen Umwelt ist. Die Beziehung selbst ist eine Relation zwischen Persönlichkeit<br />

und Umwelt.<br />

<br />

<br />

<br />

Behavioristisch: stabiles Interaktionsmuster („Interaktionsdisposition“)<br />

Kognitiv: Beziehungsschema (Selbstbild in Beziehung, Bild der Bezugsperson,<br />

Interaktionsskript)<br />

Affektiv: Beziehungsqualität<br />

Beziehungsqualität hängt von der Persönlichkeit beider Bezugspersonen und ihrer<br />

Interaktionsgeschichte ab. -> Deshalb lässt sich die Beziehungspsychologie nicht<br />

auf die <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> reduzieren.


66 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

BEZIEHUNGSNETZWERK<br />

Ein systematischer Ansatz ist für Beziehungen nicht<br />

ausreichend. Beispiel van Aken & Asendorpf (1997): Bezugspersonen<br />

von <strong>12</strong>-Jährigen:<br />

Deshalb Netzwerkansatz: Individuelles Netzwerk<br />

(„egozentriertes Netzwerk“) aller sozialen Beziehungen<br />

untersuchen.<br />

Merkmale des Beziehungsnetzwerks korrelieren mit der Persönlichkeit (eher schwach),<br />

weil sie persönlichkeitsabhängig definiert sind, die Persönlichkeit Beziehungen beeinflusst und<br />

Beziehungen die Persönlichkeit beeinflussen: Beispiel Asendorpf & Wilpers (1998):<br />

Im jungen Erwachsenenalter beeinflusst die Persönlichkeit stärker als umgekehrt, wie sich<br />

durch Pfadmodelle zeigen lässt (vgl. dynamischer Interaktionismus; Asendorpf & Wilpers 1998):


67 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

BINDUNGSSTILE BEI KINDERN<br />

Besonders enge, Sicherheit vermittelnde Beziehungen werden als Bindung bezeichnet,<br />

stabile Unterschiede in der Qualität der Bindung als Bindungsstile.<br />

Sigmund Freud: Eltern als Objekte der Triebdynamik. -> Später: Objektbeziehungen (Eltern,<br />

Partner, Analytiker).<br />

Melanie Klein (1948), Sandler & Rosenblatt (1962): Mentale Repräsentationen<br />

frühkindlicher Beziehungen bestimmen die Persönlichkeitsentwicklung.<br />

Bolwby (1969): Verknüpfung des Konzepts der mentalen Repräsentationen von Beziehungen<br />

mit evolutionsbiologischen und systemtheoretischen Vorstellungen: Evolviertes<br />

Bindungssystem, das bei Gefahr die Nähe zwischen Kind und primärer Bezugsperson durch<br />

Suchen nach Nähe bzw. Spenden von Sicherheit gewährleistete. Die frühen Erfahrungen des<br />

Kindes mit solchen Situationen seien in Form eines inneren Arbeitsmodells von Beziehungen<br />

gespeichert, die spätere Erwartung an Beziehungen präge und so eine Ähnlichkeit des<br />

Bindungsstils in Kindheit und Erwachsenenalter bedinge.<br />

Anwendung zunächst: Waisenhäuser, klinische Störungen<br />

Ainsworth et al. (1978): Erweiterung dieses Ansatzes auf normale Varianten von Bindungsstilen<br />

bei <strong>12</strong>-18 Monate alten Kindern (Verhaltensbeobachtungen in USA und Uganda)<br />

Drei Bindungsstile – operationalisiert durch Fremde-Situation-Test:<br />

<br />

<br />

<br />

B = sicher (Keine Vermeidung des Kontaktes und der Nähe zur Mutter)<br />

A = vermeidend (Ignorieren oder Vermeiden der Nähe zur Mutter)<br />

C = ängstlich-ambivalent (Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt)<br />

Main & Solomon 1986: Erweiterung um D = desorganisiert-desorientiert -> „the look of fear<br />

and nowhere to go“, d.h. Zusammenbruch der normalen Verhaltens- und<br />

Aufmerksamkeitsstrategien.<br />

Am häufigsten wird B gefunden, D am häufigsten in klinischen Stichproben. In westlichen<br />

Kulturen tritt A häufiger als C auf.<br />

<br />

<br />

<br />

Sicherer Bindungsstil mit <strong>12</strong>-18 Monaten sagt sozial kompetentes Verhalten mit<br />

Gleichaltrigen im Grundschulalter vorher.<br />

Vermeidende Bindung korreliert mit: Aggressivität<br />

Ängstlich-Ambivalente Bindung korreliert mit Schüchternheit und Ängstlichkeit<br />

(Kibbuzkinder sind näher an Tagesmutter gebunden als eigene, daher ist primäre<br />

Bindungsperson die Tagesmutter.)<br />

Stabilität: Befunde zur mittelfristigen Stabilität sind widersprüchlich: Risikostichproben<br />

haben eine geringere Stabilität, aber auch bei stabilen Familien kann es schon über 6 Monate<br />

nicht stabil sein.<br />

Konsistenz: Form der Unsicherheit zeigt eine mittelhohe Konsistenz zwischen Eltern,<br />

Bindungsstil ist aber nicht konsistent zwischen Mutter und Vater<br />

Bindungsstil ist beziehungsspezifisch, d.h. Merkmal einer sozialen Beziehung<br />

und kein generalisiertes Persönlichkeitsmerkmal!


68 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Inkonsistenz des Bindungsstils für sicher-unsicher legt nahe, dass Bindungssicherheit von<br />

Persönlichkeit der Bezugsperson abhängig ist:<br />

<br />

<br />

Korrelation: Bindungssicherheit mit Einfühlsamkeit der Bezugsperson in<br />

kindliche Bedürfnisse am höchsten.<br />

Höhere Konsistenz für unsichere Bindung: Hängt von Merkmalen des Kindes ab:<br />

Emotionale Labilität (Temperament) korreliert mit Typ C .20<br />

Interventionsstudie von van den Boom (1994): Eltern emotional labiler Kinder wurde ein Training<br />

in Einfühlsamkeit gegeben: Bindungssicherheit in Experimentalgruppe war bis zu 40 Monate höher<br />

als in Kontrollgruppe.<br />

Längsschnittstudien: Bindungsstil im frühen Kindesalter korreliert nicht oder nur mäßig<br />

mit Bindungsstil im Erwachsenenalter (an Partner oder Eltern), vor allem nicht in<br />

Risikofamilien.<br />

Psychoanalytiker & Bindungstheoretiker überschätzten langfristige Wirkung der frühkindlichen<br />

Bindung.<br />

Inneres Arbeitsmodell scheint sich noch deutlich im Verlauf der Entwicklung zu<br />

ändern.<br />

Untersuchung mit<br />

BINDUNGSSTILE BEI ERWACHSENEN<br />

<br />

<br />

Interviewmethode (AAI)<br />

Selbstbeurteilung prototypischer<br />

Bindungsstile<br />

Adult Attachment Interview (AAI) nach George, Main et al. (1985): Erwachsene beschreiben<br />

Beziehung zu Mutter und Vater in der Kindheit durch Adjektive und sollen es mit konkreten<br />

Erlebnissen belegen.<br />

Extrem aufwändig -> 1-2 Stunden Interview + 8 Stunden Auswertung<br />

Indirekte Messung aufgrund Abwehrtheorie: Idealisierung, nicht konkret belegbare<br />

Beschreibungen und Widersprüche werden als Ausdruck unsicherer Bindung<br />

interpretiert.<br />

Klassifikation entsprechend der Ainsworth-Typen B, A, C und D:<br />

o Autonom sicher<br />

o Unsicher-distanziert<br />

o Unsicher-verwickelt<br />

o Unverarbeitet<br />

Hohe Validität: AAI-Bindungstyp der Mutter vor Geburt sagt Bindungstyp des Kindes<br />

mit <strong>12</strong>-18 Monaten gut vorher (69% Übereinstimmung)


69 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Transmissionslücke: Mütterliche Einfühlsamkeit korreliert nur mäßig mit AAI unsichersicher<br />

und Kind unsicher-sicher -> erklärt Zusammenhang nicht ausreichend -> Muss weitere<br />

relevante Merkmale der Mutter geben. (Genetische scheiden aber aus, da auch Validität des<br />

AAI mit Adoptivkindern hoch ist.)<br />

Partner ist bei Erwachsenen die primäre Bindungsperson (nach Doherty & Feeney 2004):<br />

Wenn vorhanden, dann in 77%, wenn nicht vorhanden, dann Mutter oder beste(r) Freund(in)<br />

(jeweils 37%)<br />

Entwicklung von AAI Varianten für Partner: nach Treboux et al. 2004 gibt es mäßige<br />

Übereinstimmung zwischen AAI-Diagnosen für Eltern bzw. Partner<br />

Furman et al. (2002): Untersuchung der Bindungsstile von Jugendlichen mit AAI und analogen<br />

Interviews:<br />

<br />

<br />

Korrelationen zwischen Eltern und Freunden und Freunden und Partnern, aber keine<br />

zwischen Eltern und Partnern:<br />

Eltern -> Freunde -> Partner!<br />

Bindungsstile sind (unabhängig von Messmethode) auch im Jugend- und<br />

Erwachsenenalter stark beziehungsspezifisch!<br />

Geringe – völlig fehlende Übereinstimmung zwischen selbsteingeschätzten Bindungsstil zum<br />

Partner und wirklichen Bindungsstil (Hazan & Slaver (1987), Ankreuzen aufgrund portotypischer<br />

Beschreibungen von Stilen)<br />

Cook (2000): Untersuchung von Familien mit zwei Eltern und zwei Jugendlichen und Schätzung des<br />

Bindungsstils zu allen drei Familienmitgliedern: Unterschiede zwischen Stilen beruhten primär auf<br />

der Interaktion Urteiler x Beurteilter und den Urteilern, sekundär auf den Beurteilten.<br />

Metaanalyse von Roisman et al. (2007): AAI korreliert mit selbsteingeschätztem Bindungsstil<br />

um .09 -> Validität selbsteingeschätzter Bindungsstile ist aber auch zahlreich belegt?<br />

Beispiel-Studie von Mikulincer et al. (1993): Im ersten Golfkrieg berichteten an den Partner sicher<br />

Gebundene (Prototypen-Ansatz) über mehr Suche nach Unterstützung und weniger Angst und<br />

Depression als ängstlich-ambivalente und vermeidend Gebundene.<br />

<br />

<br />

Galt aber nur in Gebieten mit hohem Risiko für irakische Raketenangriffe. -> Gefahr<br />

Zusammenhang zwischen Bindungsstil und Angst/Depression ließ sich nicht durch den<br />

Bewältigungsstil erklären: Gefahr -> Bindungsstil -> Angst/Depression<br />

Bartholomew (1990): Erweiterung des Drei-Typen-Modells nach Hazan & Shaver:<br />

Vermeidender Stil wurde aufgeteilt in einen abweisenden und einen ängstlichdifferenzierten<br />

Stil, der ängstlich-ambivalente Stil wurde als besitzergreifender Stil<br />

interpretiert:<br />

<br />

<br />

<br />

Sicher<br />

Abweisend (Unabhängigkeit und Selbstständigkeit wichtig, geht mir auch ohne enge<br />

gefühlsmäßige Bindung gut)<br />

Ängstlich (Furcht vor Verletzung, vor zu viel Nähe, Nähe ist unangenehm, Angst vor<br />

Vertrauen und Abhängigkeit)


70 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

<br />

Besitzergreifend (Will anderen sehr nahe sein, aber andere weisen ab, geht mir nicht gut<br />

ohne enge Bindung)<br />

Annahme von Bartholomew<br />

(1990) vs.<br />

Befunde nach Asendorpf,<br />

Wilpers & <strong>Neyer</strong> (1997)<br />

Modell nach Mikulincer & Shaver (2003):<br />

Anregung zu<br />

kognitionspsychologischen<br />

Experimenten: Weitgehende<br />

Bestätigung!<br />

Bettet die Bindungsforschung erstmals<br />

in das<br />

Informationsverarbeitungsparadigma<br />

ein, beschreibt Bedingungen für die<br />

Aktivierung des Bindungssystems<br />

und interpretiert ängstliche bzw.<br />

vermeidende unsichere Bindung als<br />

hyper- bzw. deaktivierende<br />

Strategien.<br />

Nach diesem Modell variieren<br />

Bindungsstile primär auf der<br />

Dimension sicher-unsicher,<br />

sekundär auf der Dimension<br />

Hyperaktivierung - Deaktivierung<br />

SOZIALE UNTERSTÜTZUNG<br />

Neben der Bindungsqualität wurde besonders die soziale Unterstützung durch Beziehungen<br />

untersucht, vor allem im gesundheitspsychologischen und klinischen Kontext.<br />

Stresspuffer-Hypothese nach Cohen & Wills (1985): Soziale Unterstützung fördert die<br />

Bewältigung von Belastungen (puffert sie ab).


71 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Unterschieden werden verschiedene Formen der Unterstützung, die in unterschiedlicher Weise<br />

mit dem Bewältigungserfolg bei Belastungen zusammenhängen:<br />

Beispiel: Tod der Ehefrau:<br />

Modell der Unterstützung nach Sarason et al. (1990):<br />

Nicht immer ist Unterstützung hilfreich!<br />

Beispiel: Bolger et al. (1996): Bei brustamputierten Patientinnen: Erhaltene Unterstützung durch<br />

Angehörige nahm mit subjektivem Leiden der Patientin ab und beeinflusste weder deren<br />

subjektives Leid noch den objektiven Schweregrad der Erkrankung.<br />

Beispiel Schmerzpatienten (Flor et al. 1987, 1995): Erhaltene Unterstützung durch den Partner<br />

während Rückenschmerzperioden steigerte die Schmerzen und trug zur Chronifizierung der<br />

Schmerzen bei (Unterstützung verstärkt Schmerzen und senkt Schmerzschwelle)


72 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

GUTER PARTNER<br />

Welche Persönlichkeit hat ein „guter Partner“?<br />

Antwort ist abhängig von Kriterium:<br />

<br />

<br />

Zufriedenheit mit Partnerschaft (individuell)<br />

Partnerschaftsstabilität (dyadisch)<br />

Prädiktoren:<br />

<br />

<br />

Individuelle Persönlichkeit<br />

Dyadische Passung der Persönlichkeit<br />

Bezüglich individueller Persönlichkeit ist der Neurotizismus beides der beste Prädiktor für<br />

aktuelle Unzufriedenheit und künftige Unzufriedenheit und Trennung.<br />

Beispiel-Studie nach Kelley & Conley (1987): Aus<br />

Bekanntenurteilen im Alter von 20-30 Jahren<br />

zum Zeitpunkt der Heirat wurde der Ehestatus<br />

45 Jahre später vorhergesagt (angegeben sind<br />

z-Werte):<br />

Bezüglich Passung der Persönlichkeiten der Partner zueinander gibt es schwache<br />

Beziehungen derart, dass die Ähnlichkeit in manchen Merkmalen die Zufriedenheit mit der<br />

Beziehung fördert, z.B. in:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Radikalität der politischen Einstellung<br />

Sexuelles Verlangen<br />

Gewissenhaftigkeit<br />

Neurotizismus<br />

Also sind z.B. zwei neurotische Partner zufriedener miteinander, als man nur bei Betrachtung<br />

der individuellen Werte erwarten würde.<br />

Ähnlichkeit in den Einstellungen der Partner fördert dagegen die Stabilität der<br />

Partnerschaft.


73 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG: ENTWICKLUNGSVERLÄUFE,<br />

STABILITÄT, KONTINUITÄT UND VORHERSAGEKRAFT<br />

ENTWICKLUNGSVERLÄUFE<br />

In der Entwicklungspsychologie wird zwischen individueller, universeller, durchschnittlicher<br />

und differentieller Entwicklung unterschieden:<br />

In der <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> werden durchschnittliche Veränderungen manchmal auch als<br />

Persönlichkeitsveränderungen bezeichnet.<br />

Beispiel: Kulturvergleichende Querschnittstudien (nach McCrae et al. 1999, 2000) zeigen<br />

übereinstimmend ab dem Alter von 20 Jahren eine:<br />

<br />

<br />

Abnahme des Neurotizismus<br />

Zunahme von Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit<br />

Allerdings könnte dies auch durch Kohorteneffekte bedingt sein (unterschiedliche<br />

Geburtsjahrgänge werden verglichen). Eine Metaanalyse von Längsschnittstudien von Roberts et<br />

al. bestätigte aber die querschnittlichen Ergebnisse von McCrae et al.<br />

Eigentlich aber nicht Persönlichkeitsveränderungen, sondern typische<br />

Altersveränderungen!<br />

Persönlichkeitsveränderungen im strengen Sinne sind differentielle Veränderungen.<br />

Sie können auch stattfinden, wenn es keine durchschnittlichen Veränderungen gibt. -> Insofern<br />

sind Persönlichkeitsveränderungen prinzipiell unabhängig von durchschnittlichen<br />

Veränderungen. -> Allerdings finden sich empirisch bei deutlichen durchschnittlichen<br />

Veränderungen durchweg auch deutliche differentielle Veränderungen.


74 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

McCrae et al. interpretierten die kulturell universellen durchschnittlichen Veränderungen<br />

als intrinsische Reifung, d.h. als genetisch bedingt.<br />

Sie übersahen, dass es auch kulturell universelle durchschnittliche Umweltveränderungen<br />

geben kann, die verantwortlich für die gefundenen durchschnittlichen<br />

„Persönlichkeitsveränderungen“ sein können.<br />

Beispiel: Studie von <strong>Neyer</strong> und Asendorpf (2001) zeigte, dass der Neurotizismus im jungen<br />

Erwachsenenalter durch die erste stabile Partnerschaft abnimmt, nicht jedoch bei Singles:<br />

Abnahme erklärt durch Umweltveränderung.<br />

LANGFRISTIGE STABILITÄT<br />

Bei differentieller Entwicklung in einem Merkmal ändert sich die Rangfolge der Personen in<br />

diesem Merkmal. Das senkt die Stabilität des Merkmals (genauer: die Stabilität der<br />

interindividuellen Unterschiede in diesem Merkmal)<br />

Umgekehrt liegt bei langfristiger Instabilität differentielle Entwicklung vor: differentielle<br />

Entwicklung = langfristige Instabilität<br />

Individuelle und durchschnittliche Veränderungen sind gerichtet (Zu- oder Abnahme).<br />

Instabilität besagt nur, dass Veränderungen stattgefunden haben: Veränderung ist gerichtet,<br />

Instabilität ungerichtet.<br />

Erfasst wird die langfristige Stabilität einzelner Persönlichkeitseigenschaften durch<br />

Längsschnittstudien, in denen die Eigenschaft bei denselben Personen in größerem Abstand<br />

mindestens zweimal gemessen wird: Die Korrelation zwischen den Messzeitpunkten ist ein<br />

quantitatives Maß der langfristigen Stabilität der Eigenschaft. Methode ist also dieselbe wie<br />

bei kurzfristiger Retestreliabilität, nur dass der Messabstand typischerweise mehrere Jahre<br />

beträgt.<br />

Rangordnung/Retestreliabilität:<br />

Langfristige Stabilität des IQ (Metaanalyse<br />

nach Conley 1984): Jedes Kreuz bezeichnet den<br />

Stabilitätsbefund einer Längsschnittstudie an<br />

vielen Personen; die Linien verbinden<br />

Mehrfachmessungen derselben Stichprobe.


75 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

<br />

Erstes Prinzip der Eigenschaftstabilität: Die Stabilität nimmt mit zunehmenden Messabstand<br />

ab, bedingt durch größere Chancen für Persönlichkeitsveränderungen.<br />

Conley (1984): Die Abnahme ist nicht linear; sie wird recht gut approximiert durch die Funktion<br />

Stabilität = Reliabilität x Einjahresstabilität^n (n = Messabstand in Jahren)<br />

Allerdings sinkt die Stabilität von neurotizismus über sehr lange Zeiträume etwas weniger als<br />

nach der Conley-Formel zu erwarten ist.<br />

Alternativ schlugen Fraley & Roberts (2005) deshalb ein<br />

Mischmodell aus dynamischen Interaktionismus und<br />

Entfaltungsmodell vor, in dem ein konstanter Faktor<br />

(Genom, frühe Umweltfaktoren) wirkt:<br />

So wird auch verständlich, dass der IQ über sehr lange<br />

Zeiträume erstaunlich stabil bleibt, wenn die Vorhersage erst<br />

in der späten Kindheit beginnt: Bei Schotten aus Edinburgh betrug Stabilität von <strong>11</strong>-80 Jahren .66<br />

(Deary et al., 2004)<br />

<br />

Zweites Prinzip der Eigenschaftsstabilität: Es gibt eine Hierarchie der Stabilität:<br />

Intelligenz -> Temperament -> Selbstwert, Wohlbefinden<br />

Im Erwachsenenalter betragen die 10-Jahres-Stabilitäten ca.:<br />

o Intelligenz .80<br />

o Temperament .60<br />

o Selbstwert, Wohlbefinden .50<br />

<br />

Drittes Prinzip der Eigenschaftsstabilität: Die Stabilität ist bei instabiler Umwelt<br />

typischerweise niedriger als bei stabiler Umwelt.<br />

Beispiel nach Asendorpf (1992): Schüchternheit 4-7-Jähriger Kinder war umso instabiler, je<br />

häufiger Veränderungen der sozialen Umwelt (Umzug, Einschulung etc.) vorkamen.<br />

Beispiel nach Lehnart & <strong>Neyer</strong> (2006): Die Bindungsstile junger Erwachsener waren umso<br />

instabiler, je instabiler ihre Umwelt war (Operationalisiert durch Partnerwechsel, der zu<br />

differentiellen Veränderungen des Bindungsstils beiträgt)<br />

<br />

Viertes Prinzip der Eigenschaftsstabilität: Die Stabilität steigt mit dem Lebensalter.<br />

Beispiel: Stabilität des IQ nach Wilson<br />

1983:


76 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Ausnahme von der Regel der zunehmenden Stabilisierung sind differentielle Veränderungen,<br />

die durch unterschiedlichen Pubertätsbeginn bedingt sind und zu einer vorübergehenden<br />

Destabilisierung führen können. (Beispiel: Körpergröße und Gewicht).<br />

Metaanalyse von Roberts & DelVecchio (2000):<br />

Angegeben sind 7-Jahres-Stabilitäten<br />

Zeigt, dass Persönlichkeitsunterschiede sich<br />

nur langsam stabilisieren, bis sie im Alter<br />

von ca. 50 Jahren ihre maximale Stabilität<br />

erreicht haben.<br />

Spricht klar gegen die psychoanalytische<br />

Annahme, dass die frühe Kindheit bereits<br />

prägend ist.<br />

Vielmehr gibt es noch viele differentielle<br />

Veränderungen, auch nach Erreichen des<br />

Erwachsenenalters.<br />

Ursachen für die zunehmende Stabilisierung:<br />

<br />

<br />

<br />

Zunehmende Reliabilität der Eigenschaftsmessung<br />

Verfestigung des Selbstkonzepts<br />

Wachsender Einfluss der Person auf die Umwelt, die passend ausgewählt oder<br />

gestaltet wird: Kumulative Stabilität nach Caspi et al. 1989<br />

Beispiele für kumulative Stabilität:<br />

<br />

<br />

<br />

Partnerwahl nach ähnlichem IQ und ähnlichen Einstellungen und Werthaltungen<br />

Anschluss aggressiver Jugendlicher an deviante Gruppen<br />

Rückkehr Krimineller nach der Entlassung in kriminelle Reise<br />

KONTINUITÄT<br />

Instabilität kann bedingt sein durch:<br />

<br />

<br />

<br />

Geringe Stabilität auf Konstruktebene<br />

Geringe Konstruktvalidität des Messverfahrens für einen oder beide Zeitpunkte<br />

Geringe Kontinuität des Konstrukts<br />

Beispiel1: Vorhersage des Flügelmusters von Schmetterlingen aus dem Raupenstadium<br />

Beispiel2: Intelligenzmessung im Säuglingsalter: Bis 1985 typischerweise durch Bayley-Skalen zur<br />

Erfassung der (korrelierten) motorischen und kognitiven Entwicklung: Problem daran: Die<br />

Bayley-Skalen im Alter von 6-<strong>12</strong> Monaten korrelieren nur um .20 mit IQ-Tests im Vorschulalter:<br />

Mangelnde Stabilität der Intelligenz, geringe Kontinuität der Intelligenz oder geringe<br />

Konstruktvalidität der Bayley-Skalen? -> Ab 1985 Alternative: Visuelle Habituationstests


77 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Visuelle Habituationstests sind zwar – ähnlich wie andere kognitive Tests für das Säuglingsalter –<br />

nur mäßig reliabel (Retestreliabilität um .45), aber sie korrelieren fast genauso hoch mit IQ-tests<br />

im Vorschulalter (nach Korrektur für ihre Unreliabilität zu .70 nach Bornstein & Sigman 1986)<br />

Schlussfolgerung: Intelligenz zeigt hohe Kontinuität und Stabilität zwischen Säuglings- und<br />

Vorschulalter; die Bayley-Skalen erfassen Intelligenz im Säuglingsalter nur schlecht.<br />

Visuelle Habituation – Vorschul-IQ-Tests: -> Heterotype Stabilität.<br />

Heterotype Stabilität der Aggressivität: Vorhersage antisozialen Verhaltens im Alter von 30<br />

Jahren aus Aggressivitätsurteilen von Klassenkameraden im Alter von 8 Jahren (Huesmann et al.<br />

1984):<br />

In derselben Studie wurde auch die Aggressivität der Eltern bzw. Kinder erhoben. Die Stabilität<br />

über 22 Jahre war dabei geringer als die Vorhersage der nächsten Generation im gleichen Alter:<br />

Erklärung: Stabilitätsminderung durch mangelnde Kontinuität von Aggressivität:


78 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

VORHERSAGEKRAFT<br />

Beste Studie zur langfristigen Vorhersage psychiatrischer und krimineller Merkmale aus<br />

frühen Persönlichkeitsmerkmalen: Dunedin Longitudinal Study in Neuseeland:<br />

Repräsentative Stichprobe von über 1000 drei-Jährigen wurde beobachtet und mit<br />

Clusteranalyse in fünf Persönlichkeitstypen eingeteilt, darunter:<br />

<br />

<br />

<br />

Überkontrollierte bzw. gehemmte<br />

Unterkontrollierte<br />

Gut angepasst bzw. resiliente (Kontrollgruppe)<br />

Die Stichprobe wurde das ohne Drop-Outs bis (bisher) 26 Jahre untersucht.<br />

Drei Typen unterschieden sich im Alter von 21 Jahren signifikant unter Anderem in:<br />

Niedriger IQ führt zu früherem Tod nach Deary et al. 2004:<br />

Terman-Studie: 1000 hochintelligente 1910 in Kalifornien geborene Kinder werden bis ins<br />

hohe Alter untersucht.<br />

Friedman et al. (1995) konnten aus Persönlichkeitsbeurteilungen im Alter von <strong>11</strong> Jahren die<br />

Todeswahrscheinlichkeit im Alter von 70 Jahren überzufällig vorhersagen:<br />

Risikofaktoren waren:<br />

<br />

<br />

Niedrige Gewissenhaftigkeit (Konnten teilweise über Alkoholismus, Rauchen und<br />

Unfälle erklärt werden.)<br />

Hohe Fröhlichkeit: Unerwartet; möglicherweise auch über Leichtsinnigkeit vermittelt.<br />

Nonnen-Studie (Danner et al. 2001): 180 katholische Nonnen vom Eintritt ins Kloster (14-32<br />

Jahre) bis hohes Alter untersucht. Alle mussten bald nach Klostereintritt eine kurze<br />

Autobiografie schreiben.


79 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Bis 2000 waren 38% der Nonnen mit den häufigsten positiven Aussagen gestorben (oberstes<br />

Quartil), aber 70% der Nonnen mit den seltensten positiven Aussagen (unterstes Quartil).<br />

Häufigkeit negativer Aussagen sagte die Todesrate nicht vorher.<br />

Der scheinbare Gegensatz zur Terman-Studie könnte an der ungewöhnlich risikoarmen Umwelt<br />

im Kloster liegen.<br />

Die Vorhersagestärke der letzten drei Studien zeigte folgende Rangfolge:<br />

Dunedin-Studie < Terman-Studie < Nonnen-Studie<br />

Entspricht dem Alter bei der Erhebung der Prädiktoren für Vorhersage:<br />

3 Jahre < <strong>11</strong> Jahre < 18-32 Jahre<br />

Hier zeigt sich wieder die zunehmende Stabilisierung der Persönlichkeit mit<br />

wachsendem Alter!<br />

EINFLÜSSE AUF DIE PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG<br />

Fragestellung: Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden: Warum entwickeln<br />

unterschiedliche Menschen eine unterschiedliche Persönlichkeit?<br />

<br />

<br />

Erklärung in Alltagspsychologie: Deterministische Regel auf Einzelfall anwenden<br />

Erklärung in der <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong>: Empirisch begründete Regeln finden in<br />

Form probabilistischer Wenn-dann-Aussagen.<br />

Erklärungen sind nie monokausal: Mehrere Einflüsse fließen zusammen!<br />

SCHÄTZUNGSARTEN<br />

Direkte Einflussschätzung: Prädiktor – Eigenschaftsvariable<br />

Beispiel: Aggressivität der Mütter – Aggressivität der Kinder<br />

Interpretationsmöglichkeiten:<br />

<br />

<br />

<br />

Aggressivität der Mütter -> Aggressivität der Kinder<br />

Aggressivität der Mütter


80 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Bei korrelierten Prädiktoren kann der<br />

relative Beitrag durch Pfadanalyse (multiple<br />

Regression) ermittelt werden:<br />

Direkte Einflussschätzung setzt voraus, dass mögliche Prädiktoren bekannt sind und gemessen<br />

werden können.<br />

Manchmal interessieren aber nicht bestimmte einzelne Prädiktoren, sondern der<br />

Gesamteinfluss einer ganzen Klasse von Prädiktoren, die im Einzelnen nicht bekannt sind<br />

oder nicht gemessen werden können.<br />

Beispiele:<br />

<br />

<br />

Ehepartner werden sich ähnlicher, weil sie (unbestimmte) Einflüsse auf ihre Entwicklung<br />

teilen<br />

Aggressivität ist beeinflusst durch (unbestimmte) Gene<br />

Indirekte Einflussschätzung durch den Vergleich der Ähnlichkeit von Personenpaaren,<br />

die bestimmte Einflüsse teilen bzw. nicht teilen:<br />

Je ähnlicher sich die Paare sind, die die Einflüsse teilen relativ zu den Kontrollpaaren, die sie<br />

nicht teilen, desto stärker sind die Einflüsse:<br />

Empirisch: Die Varianz des Merkmals wird zerlegt in die geteilte<br />

und die spezifische Varianz. Die Korrelation zwischen den<br />

Personen misst die geteilte Varianz.<br />

GENOM UND UMWELT<br />

Mit der indirekten Einflussschätzung kann vor allem die Frage beantwortet werden, wie stark<br />

Persönlichkeitsunterschiede durch genetische Unterschiede zwischen den Personen<br />

bedingt sind: der relative Anteil von Genomen und Umwelten an<br />

Persönlichkeitsunterschieden:<br />

V(X) = V(G) + V(U) + V(F)<br />

Hierzu wird die genetische Ähnlichkeit bestimmter Personenpaare genutzt: Der Anteil der von<br />

ihnen geteilten Allele. Dieser variiert je nach genetischer Verwandtschaft zwischen 0 und<br />

100%.


81 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

ZWILLINGSMETHODE:<br />

Verglichen werden eineiige Zwillinge (r=100%) mit zweieiigen Zwillingen (r=50%)<br />

Eine höhere Ähnlichkeit eineiiger Zwillinge wird interpretiert als halber genetischer<br />

Einfluss, denn der Unterschied in der Ähnlichkeit ein- und zweieiiger Zwillinge geht darauf<br />

zurück, dass 50% der Allele von zweieiigen Zwillingen nicht geteilt werden.<br />

Der gesamte genetische Einfluss würde geschätzt, indem die Ähnlichkeit eineiiger<br />

Zwillinge mit der von Adoptivgeschwistern verglichen würde, denn letztere teilen keine<br />

Allele.<br />

Empirisch wird die Ähnlichkeit der Paare in einer Persönlichkeitseigenschaft durch die<br />

Korrelation der Eigenschaft zwischen vielen Paarlingen geschätzt (die Aufteilung eines Paares in<br />

zwei Paarlinge ist zufällig.)<br />

Damit schätzt die Differenz zwischen der Korrelation für eineiige Zwillinge und der<br />

Korrelation für zweieiige Zwillinge den halben genetischen Einfluss. Der genetische<br />

Einfluss beträgt also das Doppelte der Korrelationsdifferenz.<br />

Ergebnis der genetischen<br />

Einflussschätzungen mit der<br />

Zwillingsmethode: Der genetische<br />

Einfluss auf IQ und die<br />

(selbstbeurteilten) Big Five<br />

beträgt also ungefähr 50%.<br />

ADOPTIONSMETHODE:<br />

Vergleich von Adoptivgeschwistern (r=0%) mit leiblichen Geschwistern (r=50%). Eine höhere<br />

Ähnlichkeit leiblicher Geschwister wird interpretiert als halber genetischer Einfluss, denn<br />

der Unterschied in der Ähnlichkeit geht darauf zurück, dass leibliche Geschwister 50% der Allele<br />

teilen.<br />

Damit schätzt die Differenz zwischen der Korrelation für leibliche Geschwister und der<br />

Korrelation für Adoptivgeschwister den halben genetischen Einfluss. Der genetische<br />

Einfluss beträgt als das Doppelte der<br />

Korrelationsdifferenz.<br />

Ergebnis der genetischen Einflussschätzungen<br />

mit der Adoptionsmethode: Der genetische<br />

Einfluss auf den IQ beträgt ca. 50%, auf die<br />

selbstbeurteilten Big Five aber weniger:<br />

Widerspruch zur Zwillingsmethode!


82 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Widersprüche liegen an zahlreichen methodischen Problemen der Zwillings- und<br />

Adoptionsmethode:<br />

Deshalb wird vermehrt die KOMBINATIONSMETHODE verwendet, bei der die Ähnlichkeiten<br />

von drei und mehr Arten von Personenpaaren in einer einzigen statistischen Analyse<br />

verglichen werden (z.B. leibliche Geschwister, Halbgeschwister, Adoptivgeschwister).<br />

Ergebnis:<br />

In der German Observational Study of Adult Twins (GOSAT) wurden ein- und zweieiige Zwillinge<br />

in 15 verschiedenen Situationen gefilmt. Beobachter schätzten dann jeweils einen Paarling in<br />

einer Situation ein: Unabhängigkeit der Beurteilungen zwischen Paarlingen und Situationen.<br />

Ergebnis für die Big Five: Genetischer Anteil im Mittel 41%, also ähnlich wie bei<br />

Selbstbeurteilungen in Kombinationsstudien.<br />

Insgesamt sind damit genetischer Einfluss und Umwelteinfluss auf IQ und die Big Five<br />

annähernd gleich stark!


83 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Oft vorgebrachter Einwand nach Schiff et al. (1982): Vergleich des IQs und Schulvorhersagen<br />

zwischen franz. Unterschichts-Geschwisterpaaren, bei denen jeweils ein Paarling im Alter von ca. 4<br />

Monaten in die Oberschicht wegadoptiert worden war:<br />

Ergebnis:<br />

<br />

<br />

IQ-Gewinn des wegadoptierten von 14 IQ-Punkten, d.h. fast eine Standardabweichung<br />

17% der Wegadoptierten blieben bis zur 6. Klasse sitzen, aber 66% ihrer Unterschicht-<br />

Geschwister.<br />

Aber kein Widerspruch zu den indirekten Schätzungen, da 95%-Erwartungsbereich für genetische<br />

Schätzung des IQ +/- 20 IQ-Punkte beträgt.<br />

Zu beachten: Ein genetischer Einfluss auf eine Eigenschaft besagt nicht, dass es Gene gibt,<br />

die die Eigenschaft direkt bedingen.<br />

Beispiel: In Australien ist die Einstellung zur Todesstrafe zu ca. 50% genetisch bedingt.<br />

Erklärung: Eine positive Einstellung zur Todesstrafe korreliert negativ mit dem IQ und andere<br />

genetisch beeinflussten Persönlichkeitsmerkmalen. Deren genetische Beeinflussung überträgt sich<br />

auf alle hiermit korrelierenden Merkmale, z.B. Einstellung zur Todesstrafe.<br />

Zu beachten: Die indirekten Einflussschätzungen sind populationsabhängig, da sie von der<br />

Variabilität der Gene und Umweltbedingungen und deren Wechselwirkung innerhalb der<br />

untersuchten Population abhängen.<br />

Insbesondere sind sie deshalb kulturabhängig.<br />

Änderungen der wirksamen Umweltbedingungen können den genetischen Einfluss<br />

verändern. Z.B. erhöht maximale individuelle Förderung den genetischen Einfluss auf die dann<br />

noch verbleibenden Leistungsunterschiede:<br />

Chancengleichheit erhöht den genetischen Einfluss.<br />

Umwelteinflüsse:<br />

UMWELTARTEN<br />

Studien mit eineiigen Zwillingen werden auch genutzt, um den Einfluss von<br />

Umweltbedingungen direkt nachzuweisen (Kontrollzwillingsdesign).<br />

Beispiel nach Caspi et<br />

al. (2004): Negative<br />

mütterliche<br />

Bewertung sagt<br />

antisoziales Verhalten<br />

zwei Jahre später<br />

vorher:


84 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Mit Hilfe der indirekten Schätzungsmethode können zwei Arten von Umwelteinflüssen auf eine<br />

Eigenschaft unterschieden werden:<br />

<br />

<br />

Von Geschwistern geteilte Umwelteinflüsse -> machen Geschwister ähnlich; geschätzt<br />

durch Korrelation von Adoptivgeschwistern<br />

Von Geschwistern nicht geteilte Umwelteinflüsse -> machen Geschwister unähnlich;<br />

geschätzt durch die Differenz zwischen Reliabilität der Messung und Korrelation<br />

eineiiger Zwillinge (deren Unähnlichkeit beruht auf Umwelteffekten)<br />

Mit Ausnahme des IQ und bestimmter<br />

Werthaltungen (z.B. Religiosität) bis zum<br />

Verlassen des Elternhauses sind die nicht<br />

geteilten Umwelteinflüsse größer als die<br />

geteilten:<br />

Naheliegend ist die Annahme, dass (nicht) geteilte Einflüsse auf (nicht) geteilten objektiven<br />

Umweltbedingungen beruhen:<br />

(blau: von Zwillingen eher<br />

geteilte Umwelten)<br />

Der Einfluss spezifischer nicht geteilter Umweltbedingungen kann durch die direkte<br />

Methode der Einflussschätzung bestimmt werden, indem Umweltunterschiede zwischen<br />

Geschwistern derselben Familie mit Persönlichkeitsunterschieden zwischen ihnen korreliert<br />

werden.<br />

Ergebnis: Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern lassen sich durch<br />

Umweltunterschiede zwischen ihnen nur wenig erklären (ca. 5%): Widerspruch zu<br />

indirekten Einschätzungen nicht geteilter Umwelteinflüsse.<br />

Widerspruch aber nur scheinbar, da nicht geteilte Umwelten ähnliche<br />

Einflüsse auf Geschwister ausüben können und geteilte Umwelten<br />

unähnliche Einflüsse:<br />

(Nicht)Geteilte Umwelt ≠ (Nicht) Geteilter Umwelteinfluss!


85 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Geteilte Umweltbedingungen wie z.B. der Tod der Mutter können je nach Alter des Kindes und<br />

dessen Persönlichkeit unterschiedliche Wirkungen haben und damit zu nicht geteilten<br />

Umwelteinflüssen werden: Die Persönlichkeit moderiert den Einfluss der auf sie wirkenden<br />

Umweltbedingungen.<br />

Dass die nicht geteilten Umwelteinflüsse so stark sind, scheint an mehreren Faktoren zu liegen:<br />

<br />

<br />

<br />

Dieselbe Umweltbedingung wirkt je nach Persönlichkeit anders<br />

Viele unterschiedliche Umweltbedingungen beeinflussen dieselbe Eigenschaft<br />

Zufall in Wirkungsketten<br />

ALTERSABHÄNGIGKEIT<br />

Da die indirekten Einflussschätzungen populationsabhängig sind, können die Ergebnisse<br />

innerhalb derselben Kultur mit dem Alter variieren.<br />

Wie verändern sich genetische Einflüsse mit wachsendem Alter?<br />

Für den IQ steigt der genetische Einfluss bis zum Alter<br />

von 65 Jahren.<br />

Längsschnittstudie nach Wilson 1983:<br />

Für die Big Five wurden dagegen keine deutlichen Veränderungen des genetischen Einflusses<br />

mit dem Alter gefunden.<br />

Insgesamt findet sich nie eine Abnahme, sondern eher eine Zunahme des genetischen<br />

Einflusses auf Persönlichkeitsunterschiede. (Warum wird später erläutert)<br />

STATISTISCHE INTERAKTION: GENOM X UMWELT<br />

Bei einer statistischen Interaktion zwischen Genom und Umwelt hängen die genetischen<br />

Wirkungen wesentlich von den Umweltbedingungen ab und umgekehrt.<br />

Beispiel: Studie von Cadoret et al. (1983):<br />

Genetische und Umweltbedingungen wirkten<br />

also nicht additiv, sondern multiplikativ.<br />

Dieselbe Interaktion wurde in zwei<br />

skandinavischen Studien gefunden.


86 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Allerdings wurde der genetische Einfluss jeweils nur indirekt durch antisoziale Tendenzen der<br />

leiblichen Mutter der wegadoptierten Kinder geschätzt. Er kann auch über von der Mutter<br />

bedingte Umwelteffekte während der Schwangerschaft und Geburt gewirkt haben (z.B. Rauchen<br />

oder Drogenkonsum während der Schwangerschaft.)<br />

GENOM-UMWELT-KOVARIANZ<br />

Bei der Genom-Umwelt-Kovarianz finden sich bestimmte Genome gehäuft in bestimmten<br />

Umwelten.<br />

Nach Plomin et al. 1977 gibt es drei Arten:<br />

<br />

<br />

<br />

Aktive Genom-Umwelt-Kovarianz: Bei der Umwelten aus genetischen Gründen<br />

ausgewählt oder umgestaltet werden (Bsp. Partnerwahl)<br />

Reaktive Genom-Umwelt-Kovarianz: Bei der die soziale Umwelt auf genetisch<br />

bedingte Merkmale reagiert (Bsp. Zuweisung von Kindern aufgrund ihrer Intelligenz zu<br />

Schultypen)<br />

Passive Genom-Umwelt-Kovarianz: Bei der genetisch Verwandte durch ihr Verhalten<br />

bestimmte Umwelten bieten (Bsp. Bildungsmilieu der Familie)<br />

Wegen der Genom-Umwelt-Kovarianz können Korrelationen zwischen<br />

Umweltbedingungen und Persönlichkeitseigenschaften bei Kindern teilweise genetisch<br />

bedingt sein.<br />

Beispiel: Korrelation zwischen Zahl der Bücher im Haushalt und IQ der Kinder (wird teilweise<br />

über IQ der Eltern vermittelt). -> Reine Umweltinterpretationen derartiger Korrelationen<br />

sind nur im Falle von Adoptivfamilien möglich.<br />

Annahme von Scarr & McCartney (1983) zu Veränderungen der Kovarianz mit wachsendem<br />

Alter:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Die passive GUK nimmt ab, insbesondere nach Verlassen des Elternhauses<br />

Die aktive GUK nimmt zu, insbesondere ab der Pubertät<br />

Die reaktive GUK bleibt gleich<br />

Die aktive GUK nimmt stärker zu, als die passive abnimmt<br />

Letzteres würde den wachsenden genetischen Einfluss auf manche Eigenschaften<br />

erklären: Die persönliche Umwelt gerät zunehmend unter genetischen Einfluss und<br />

verstärkt ihn dadurch.


87 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

WECHSELWIRKUNGSPROZESSE ZWISCHEN PERSÖNLICHKEIT<br />

UND UMWELT<br />

Welche Prozesse liegen genetischen und Umwelteinflüssen auf die Persönlichkeit<br />

zugrunde, aber auch Einflüssen der Persönlichkeit auf genetische Aktivität und Umwelt?<br />

WECHSELWIRKUNGSPROZESSE ZWISCHEN GENOM UND UMWELT<br />

Das Genom ist zeitlebens konstant. Fehlschluss: Der genetische Einfluss auf die<br />

Persönlichkeit ist konstant.<br />

Das Genom ist zwar konstant, aber sein Einfluss variiert im Verlauf des Lebens, weil Einflüsse<br />

nicht auf Genen, sondern auf aktivierten Genen beruhen, und die Aktivität von Genen<br />

variiert beträchtlich (An- und Abschalten der Strukturgene durch Regulatorgene).<br />

Zwischen genetischer Aktivität (nicht<br />

Genen!), neuronaler Aktivität, Verhalten<br />

und der Umwelt besteht im Prinzip eine<br />

vollständige Wechselwirkung:<br />

Insofern ist die Vorstellung falsch, Gene „bewirkten“ Entwicklung und Verhalten (Beispiel:<br />

„Strick-Gen“). Das Genom ist kein „Programm“, das die Entwicklung „steuert“. Adäquater ist die<br />

Vorstellung, es sei ein Text, von dem im Verlauf des Lebens immer wieder Teile gelesen werden.<br />

Der Text legt fest, was gelesen werden kann, aber nicht, was zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />

gelesen wird.<br />

Klassisches Beispiel für Umweltwirkung auf genetische Einflüsse: Phenylketonurie bedingt<br />

durch Allel auf dem <strong>12</strong>. Chromosom. Bei homozygoter Form Phenylalanin-Überschuss, der<br />

massiv intelligenzmindern wirkt.<br />

Bei Phenylalanin-armer Diät im Kindeshalter und entsprechender Medikation kann der<br />

intelligenzmindernde Effekt fast ganz unterdrückt werden; Umwelt (Kinderarzt -> Eltern)<br />

verändert den genetischen Einfluss.<br />

Umgekehrt können Umweltwirkungen durch<br />

Veränderung der Genaktivität oder Veränderung<br />

des Genoms durch Gentechnologie verändert<br />

werden (noch fiktiv, aber prinzipiell möglich):


88 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Bei Phenylketonurie ist der Umwelteingriff nur während der Hirnreifung erforderlich, da nur<br />

dann das kritische Allel seine Wirkungen entfaltet.<br />

Andere Gene werden erst spät im Leben aktiv, z.B. das Allel auf dem 4. Chromosom, das für die<br />

Chorea Huntington (Veitstanz) verantwortlich ist. Die Wirkung setzt im Mittel mit 43 Jahren ein:<br />

vorher sind Allel-Träger gänzlich unauffällig.<br />

Genetische Wirkungen sind altersabhängig. Sie können stabilisierend, aber auch<br />

destabilisierend auf die Persönlichkeit wirken.<br />

Molekulargenetische Persönlichkeitsforschung:<br />

QTL Ansatz (quantitative trait loci) ab 1994:<br />

QTL-IQ-Projekt: Bisher keine überzeigend replizierbaren Ergebnisse für den IQ.<br />

Umstritten wegen widersprüchlicher Befunde: DRD4-Gen auf dem <strong>11</strong>. Chromosom und Streben<br />

nach Neuigkeit (Sensation Seeking).<br />

Bisher kein überzeugender Nachweis eines QTL für normale Persönlichkeitsvarianten.<br />

Erster Hinweis auf eine spezifische Gen-Umwelt-Interaktion in der Dunedin Longitudinal<br />

Study (Caspi et al. 2002):<br />

Bei Allel für niedrige MAOA-Aktivität und Kindesmisshandlung ist antisoziales Verhalten bei<br />

Männern deutlich häufiger (z.B. dreimal so viele Verurteilungen) als beim häufigeren Allel für<br />

starke MAOA-Aktivität und Kindesmisshandlung: Letzteres „schützt“ weitgehend vor dem Effekt<br />

von Kindesmisshandlung. Repliziert für vier verschiedene Indikatoren antisozialen Verhaltens.<br />

Vermittelnder Prozess: Das Enzym MAOA reduziert die exzessive Produktion von Serotonin,<br />

Noradrenalin und Dopamin, die typischerweise bei starkem Stress auftritt (experimentell:<br />

knock-out Mäuse).<br />

Ergebnis repliziert die Befunde indirekt geschätzter Genom-Umwelt-Interaktionen aus<br />

Adoptionsstudien, ist aber viel spezifischer, weil (ein) das verantwortliche Gen und (eine) die<br />

verantwortliche Umweltbedingung identifiziert wurden.<br />

Studie Cadoret et al. (1983):


89 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Ziel der molekulargenetischen Persönlichkeitsforschung kann nicht sein, psychologische<br />

Diagnosen durch genomanalytische Diagnosen zu ersetzen, weil letztere alle Umwelteinflüsse<br />

ignoriert und deshalb äußerst ungenau ist.<br />

Beispiel IQ: Erwartungsbereich bei IQ-Testung:<br />

<br />

<br />

+/- 9 Punkte mit 95% Sicherheit, aber<br />

+/- 20 Punkte mit 95% Sicherheit bei Genomanalyse oder reiner Umweltdiagnose<br />

Deshalb: Genom und Umwelt müssen berücksichtigt werden!<br />

INTELLEKTUELLE LEISTUNGEN<br />

Rahmenmodell für intellektuelle Leistungen I<br />

<br />

Bedeutsamkeit genetischer Einflüsse und geteilter Umweltbedingungen auf die Intelligenz:<br />

Studie von Burks (1928): Nach Kontrolle<br />

der passiven Genom-Umwelt-Kovarianz<br />

bestand ein signifikanter, aber nur<br />

geringer Zusammenhang zwischen<br />

objektiven Umweltmerkmalen und<br />

Intelligenz.<br />

Die von Klassenkameraden geteilten Umweltbedingungen (vor allem: Unterrichtsqualität<br />

der Lehrer) zeigen keinen Zusammenhang mit dem mittleren IQ der Klassen. Das besagt<br />

aber nicht, dass die Unterrichtsqualität keinen Einfluss auf die Leistungen der Klasse hat, denn<br />

sie kann sie unabhängig von der Intelligenz beeinflussen. Die zentral vermittelnde Variable ist<br />

das durch den Unterricht erworbene Wissen.


90 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Längsschnittstudien zum Zusammenhang zwischen Unterrichtsqualität und Leistungszuwachs<br />

während des Schuljahres fanden deutliche Zusammenhänge (nach Weinert et al. 1989)<br />

Rahmenmodell für intellektuelle Leistungen II<br />

Die zentrale Rolle des Wissens wurde zuerst in der Forschung zu Höchstleistungen nach dem<br />

Experten-Novizen-Paradigma deutlich.<br />

<br />

Beispiel: Erinnerungsleistung von Fußballexperten und –novizen der 2. Und 4. Klasse in<br />

Abhängigkeit von ihrem IQ (Schneider & Bjorklund 1992):<br />

Wenig intelligente Experten waren (nur) auf ihrem Gebiet so gut wie intelligente Novizen.<br />

Wissen konnte also mangelnden IQ kompensieren.<br />

<br />

Bei statistischer Kontrolle des jeweils anderen Prädiktors sagt das Vorwissen zu Beginn des<br />

Schuljahres den Leistungszuwachs während des Schuljahres besser vorher als die<br />

Intelligenz (Weinert et al. 1989)<br />

<br />

Nicht-schulisches Wissen wird vor allem durch Lesen erworben, nicht durch Fernsehen (Stanovich<br />

& Cunnigham 1993): Nach Kontrolle des IQ korrelierten lesen und Wissen immer noch .61: Lesen<br />

fördert das Wissen unabhängig von Intelligenz.<br />

Leistung hängt wesentlich vom Wissenserwerb ab und dieser wiederum von Intelligenz<br />

und Lernumwelt.


91 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Rahmenmodell für intellektuelle Leistungen III:<br />

Zusätzlich zu Intelligenz und Wissen fördert das Interesse am Stoff die Schulleistung.<br />

Die Korrelation zwischen Interesse und Leistung beträgt .30, ist aber nur schwer kausal zu<br />

interpretieren. Vermutlich fördert Interesse Leistung über verstärkten Wissenserwerb,<br />

Leistungserfolge fördern Interesse, und beides hängt auch von Intelligenz ab.<br />

ANTISOZIALES VERHALTEN<br />

Unter antisozialem Verhalten wird aggressives, krimineller oder sonstiges Verhalten<br />

verstanden, das soziale Normen verletzt, auch Schule schwänzen.<br />

Schwerere Formen wie physische Aggressivität und<br />

Delinquenz nehmen im Jugendalter stark zu und<br />

dann wieder ab, wobei dieser Effekt in westlichen<br />

Kulturen in den letzten Jahrzehnten stark<br />

zugenommen hat.<br />

Beispiel: Straftaten bei drei Geburtsjahrgängen englischer<br />

Männer (Farrington et al. 1986):<br />

Diese Zunahme im Jugendalter beruht nicht drauf,<br />

dass alle Jugendlichen so reagieren, sondern dass<br />

sich zwei Formen antisozialer Tendenzen<br />

überlagern: eine überdauernde Form und eine<br />

pubertätsgebundene Form (nach Moffitt, 1993):


92 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Zusätzlich wurde inzwischen eine dritte Form antisozialer Tendenzen gefunden, die sich im<br />

Jugendalter manifestiert und dann stabil bleibt (Moffitt 2002).<br />

Die überdauernde Form wird meist als antisoziale Persönlichkeit bezeichnet; schwerere<br />

Formen erfüllen das Kriterium der antisozialen Persönlichkeitsstörungen.<br />

Adoptionsstudien und eine Studie nach Caspi et al. (2002) legen nahe, dass die antisoziale<br />

Persönlichkeit auf genetischen Risikofaktoren beruht, die aber nur dann wirksam werden, wenn<br />

sie durch Umweltrisiken verstärkt werden (Genom-Umwelt bzw. Gen-Umwelt-Interaktionen).<br />

ENTWICKLUNGSMODELL DER ÜBERDAUERNDEN FORM<br />

Teil 1:<br />

Zu den neuropsychologischen Risiken gehören Störungen der pränatalen Entwicklung, die<br />

sich zum Teil in minimalen körperlichen Anomalien zeigen, und perinatale Probleme, z.B.<br />

Sauerstoffmangel.<br />

Nach der Geburt ist der Hauptrisikofaktor ein schwieriges Temperament (Thomas & Chess<br />

1977):<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Aufmerksamkeitsschwäche<br />

Motorische Unruhe<br />

Irritierbarkeit<br />

Schwer zu beruhigen<br />

Keine stabilen Biorhythmen<br />

Verstärkt wird das schwierige Temperament durch mangelnde Einfühlsamkeit der Eltern,<br />

was zu einer vermeidenden Bindung (A) führt, und durch einen rigide-autoritären<br />

Erziehungsstil, wobei das elterliche Verhalten sowohl Konsequenz als auch Bedingung für das<br />

schwierige Temperament ist.


93 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

In der Kindheit etabliert sich hierdurch ein Teufelskreis aus Aggression – erfolgloser<br />

Kontrollversuch durch Eltern und Geschwister – verstärkte Aggression: Prozess der<br />

gegenseitigen Nötigung (coercive Process; Patterson 1982)<br />

Der Prozess der gegenseitigen Nötigung betrifft zunächst Familienmitglieder, dann aber auch<br />

Gleichaltrige und Erwachsene (z.B. Lehrer), so dass Beurteilungen des antisozialen Verhaltens<br />

eine ungewöhnlich hohe Konsistenz zwischen Eltern und Lehrern zeigen (um .60).<br />

Experimentell ließ sich zeigen, dass aggressive Kinder mehrdeutiges Verhalten anderer eher als<br />

feindselig interpretieren als andere Kinder; dadurch kommt es zu Aggressionen, die für andere<br />

überraschend sind und so ihren schlechten Ruf fördern.<br />

Studie von Dodge (1980): Jungen der 2.-6. Klasse sollten Puzzle zusammensetzen; dafür gab es<br />

einen Preis. Das Puzzel wurde dann zu einem angeblichen Jungen in den Nachbarraum getragen.<br />

Fiktive Verhaltensrückmeldung durch Tonband:<br />

<br />

<br />

<br />

Puzzel wurde fluchend heruntergeworfen<br />

Puzzle fiel herunter, Junge versuchte es wieder zusammenzusetzen<br />

Puzzle fiel herunter (mehrdeutige Bedingung)<br />

Aggressive Jungen reagierten (nur) auf mehrdeutige Bedingung aggressiver.<br />

Entwicklungsmodell Teil II:


94 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Wegen ihres störenden Verhaltens werden aggressive Kinder von Gleichaltrigen und<br />

Familienmitgliedern eher abgelehnt. Die Reaktion hierauf ist mit Eintritt in das Jugendalter<br />

unterschiedlich:<br />

<br />

<br />

Die Mehrheit der antisozialen Jugendlichen befreundet sich mit ähnlichen Gleichaltrigen,<br />

insbesondere durch Anschluss an eine deviante Gruppe. Dadurch werden ihr<br />

Selbstwert und ihr Verhalten weiter gestärkt: Gruppentäter!<br />

Es kommt zu einer Selbstwertminderung und sozialem Rückzug: Einzeltäter!<br />

Prozessmodell für antisoziales Verhalten zwischen 4. und 6. Klasse nach Patterson & Banks<br />

1989:<br />

<br />

<br />

<br />

Basisrate (Kästchen)<br />

Übergangswahrscheinlichkeit<br />

(Bögen)<br />

Unerklärte Varianzanteile<br />

(Pfeile)<br />

Endgültiges Entwicklungsmodell:


95 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Entwicklungsmodell ist dynamisch-interaktionistisch, d.h. Wirkungen früher Ursachen<br />

können zu Ursachen nachfolgender Veränderungen werden.<br />

Beispiel: Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und restriktiv-autoritärem<br />

Erziehungsstil der Eltern: Früher immer interpretiert als Wirkung des Erziehungsstils auf die<br />

Kinder. Erst Bell und Harper (1977) wiesen auf umgekehrte Einflussmöglichkeit hin: Kindliche<br />

Aggression beeinflusst den Erziehungsstil ihrer Eltern.<br />

Belege für Einfluss der kindlichen Aggressivität auf Erziehungsstil der Eltern (Lytton 1990):<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Medikamentöse Dämpfung (z.B. Ritalin) wirkt sich auch auf Erziehungsverhalten aus<br />

Instruiertes aggressives Verhalten ruft rigide-autoritäres Verhalten der Mütter vorher<br />

Aggressive Jungen brauchten Mütter nicht aggressiver Kinder zu rigide-autoritärem<br />

Verhalten<br />

Mütter aggressiver Jungen provozierten nichtaggressive Jungen nicht zu Aggressionen<br />

Bestrafung fördert bei aggressiven Kindern Aggressionen, mindern sie bei<br />

Nichtaggressiven.<br />

Jungen sind im Durchschnitt aggressiver als ihre Schwestern (haben aber dieselben<br />

Eltern).<br />

Adoptierte Kinder ähneln in ihrer Aggressivität eher dem leiblichen Vater als dem<br />

Erziehenden.<br />

PUBERTÄTSGEBUNDENE ANTISOZIALE TENDENZ:<br />

Im Jugendalter sehr viel häufiger als überdauernde Form: Nur 5% der männlichen Jugendlichen<br />

weisen die überdauernde Form auf.<br />

Die Mehrheit fällt im Jugendalter durch antisoziales Verhalten auf.<br />

Erklärungsansätze:<br />

<br />

<br />

Reifungslücke (in heutigen westlichen Kulturen)<br />

In-Group-Out-Group Differenzierung<br />

SCHÜCHTERNHEIT<br />

Nach Grays Temperamentstheorie ist Schüchternheit bedingt durch eine starke<br />

Verhaltenshemmung in neuen oder evaluativen sozialen Situationen.<br />

Nach der Zweifaktorentheorie von Asendorpf (1989) kann Schüchternheit auf einem<br />

Temperamentsmerkmal beruhen (Stärke des Verhaltenshemmungssystems) oder auf<br />

häufiger sozialer Ablehnung.<br />

Da die Stärke des Verhaltenshemmungssystems die Sensitivität gegenüber sozialer Ablehnung<br />

erhöht, potenzieren sich die Wirkungen von Temperament und Ablehnungserfahrungen.


96 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Empirische Evidenz: In der Kindheit lassen sich die beiden Faktoren gut unterscheiden; ab dem<br />

Jugendalter konvergieren sie jedoch zu einer einheitlichen Dimension<br />

Beispiel nach Asendorpf (1990): Korrelationen zwischen beobachteter Gehemmtheit gegenüber<br />

Fremden und im Kindergarten:<br />

Asendorpf & Van Aken (1994): Die im Kindergarten Abgelehnten (jedoch nicht die<br />

temperamentsmäßigen Schüchternen) hatten bis zur 4. Klasse ein geringeres soziales<br />

Selbstwertgefühl.<br />

Langfristig hat aber auch temperamentsmäßige Schüchternheit in der Kindheit<br />

Konsequenzen in Form von verzögert bewältigten Transitionsphasen:<br />

Beispiel Berkeley Guidance Study (Caspi et al. 1988): Schüchterne Jungen (8-10 Jahre)<br />

heirateten drei Jahre später, bekamen das erste Kind vier Jahre später und begannen stabile<br />

Berufskarriere erst drei Jahre später als nichtschüchterne; schüchterne Mädchen heirateten<br />

Männer mit höherem Berufsprestige.<br />

Berliner Beziehungsstudie (Asendorpf & Wilpers,<br />

1998): Verzögerter Aufbau neuer Beziehungen bei<br />

Studienanfängern:<br />

Entwicklunsgmodell


97 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Entwicklungsmodell der Schüchternheit:<br />

Zusammenfassend:<br />

Aggressivität ist mit Externalisierungsproblemen, Schüchternheit mit<br />

Internalisierungsproblemen assoziiert.<br />

Gewalttätigkeit bei Internalisierungsproblemen in Form plötzlicher, überraschender<br />

Gewaltausbrüche auf der Basis gehemmter Aggressivität, bei Externalisierungsproblemen<br />

in Form vorhersehbarer Gewaltausbrüche auf der Basis hoher Aggressivität.<br />

ZUFALL UND NOTWENDIGKEIT<br />

Verbreitete Annahme: Zusätzlich zu systematischen genetischen und Umweltbedingungen<br />

beeinflussen irregulär auftretende („nicht normative“) kritische Lebensereignisse die<br />

Persönlichkeitsentwicklung. Sie können negativ, aber auch positiv erlebt werden.<br />

Sie sind umso einflussreicher, je stärker sie die vorhandene Person-Umwelt-Passung<br />

stören und dadurch zu Veränderungen der Persönlichkeit oder der Umwelt zwingen.


98 <strong>Persönlichkeitspsychologie</strong> <strong>WS</strong> <strong>11</strong>/<strong>12</strong> (<strong>Neyer</strong>) und SS <strong>12</strong> (Hagemeyer)<br />

Bedeutsamkeit kritischer Lebensereignisse:<br />

Kritische Lebensereignisse werden in ihrem<br />

Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung<br />

aber überschätzt, weil ihr Auftreten abhängig<br />

von der Persönlichkeit ist.<br />

So sagte in einer vier-Jahres-Längsschnittstudie<br />

Extraversion das Auftreten positiver (aber nicht<br />

negativer) Lebensereignisse vorher und<br />

Neurotizismus das Auftreten negativer (weniger<br />

positiver) Ereignisse (Magnus et al. 1993).<br />

Positive und negative Ereignisse korrelieren .37:<br />

Wechselhaftes versus eintöniges Leben.<br />

Zudem hängt die Wirkung eines kritischen<br />

Lebensereignisses von der Persönlichkeit der<br />

Betroffenen ab, nämlich der Art des Umgangs mit dem<br />

Ereignis (vor allem: Bewältigungsstil).<br />

Die Persönlichkeit kanalisiert kritische<br />

Lebensereignisse und ihre Wirkung.<br />

Bei den langdauernden Wechselwirkungen zwischen Person und Umwelt kommt eine<br />

gehörige Portion Zufall ins Spiel; aber es gibt auch Notwendigkeiten in Form<br />

systematischer Wenn-Dann-Regeln.<br />

Wir überschätzen die Rolle des Zufalls in der Persönlichkeitsentwicklung, weil wir<br />

alltägliche Zufälle kaum wahrnehmen, wohl aber bedeutsame Zufälle: Beispiel:<br />

Supermarktschlange – Heirat (66666666 erscheint unwahrscheinlicher als 97902463914 -><br />

Beide Folgen sind aber gleich wahrscheinlich.)<br />

Persönlichkeit ist ein ständiger Kompromiss zwischen Eigendynamik und<br />

Fremdbestimmung. Personen sind nicht Spielball ihrer Umwelt, haben diese aber auch<br />

nicht völlig unter Kontrolle.<br />

Deshalb ist die Persönlichkeitsentwicklung mittelstark vorhersagbar!<br />

Persönlichkeitsentwicklung als Lawine: Mit zunehmender Stabilität der Persönlichkeit<br />

bahnt sie sich selbst ihren Weg, ist also unabhängiger von Umweltbedingungen.

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