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PDF anzeigen - Beirat für Geschichte

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Am Anfang stand dieIdee, die Tagebücher einesVerwandten<br />

aus der Zeit von 1933 bis 1944 zeitgeschichtlich-literarisch zu<br />

bearbeiten, der als Jugendlicher den Versprechungen des<br />

Nationalsozialismus geglaubt hatte.Ich wolltemit einemerfahrenen<br />

Schriftsteller diskutieren, wie dieVerführung des jungen<br />

Mitläufers deutlichgemacht werdenkann.AlsichPeter Kuhlemannindessen<br />

Hausbesuchte, entstanddieIdee,den Tagebüchern<br />

Texte eines aktiven Gegners der Nazis gegenüber zu<br />

stellen. Zum weiteren Durchdenken dieser Frage gab Peter<br />

Kuhlemann mir einen Ordner mit nach Kiel. Er enthielt das<br />

Tagebuch Paul Dörings, das dieser Peter Kuhlemann als<br />

Freund und Verwalter seines literarischen Nachlasses übergebenhatte.Der<br />

Inhaltdes Ordners:gut 150maschinengeschriebene<br />

Seitenmit der Aufschrift „SACHSENHAUSEN".<br />

Persönlich beeindruckt von der Unmittelbarkeit, mit der<br />

Döring das Konzentrationslager und seine persönlichen Eindrücke<br />

niedergelegt hatte, entstand das Bedürfnis, mehr über<br />

diesenMann zuerfahren. Wo hatte er das Schreiben gelernt?<br />

Undvor allem, woher nahmer als Opfer des Systemsdie Kraft,<br />

denSadismus seiner Schergenmit Ironiezu Papier zubringen?<br />

Was war - über den Anlaß seiner Verhaftung hinaus - der<br />

eigentliche Grund da<strong>für</strong>, daß man ihn verfolgt hatte? Paul<br />

Dörings Familie sollte in Kiel gewohnt haben. Ließen sich<br />

Spuren von SachsenhausennachKiel zurückverfolgen?<br />

Ich hoffe, mit diesem Beitrag dasInteresse an einem Tagebuch<br />

zu wecken, das durch seine biografische Darstellung<br />

gleichzeitig ein zeitgeschichtliches Dokument und ein Stück<br />

Arbeiterliteratur ist. Daneben wäre ein weiteres Ziel dieser<br />

Arbeit erreicht, wenn sie dazu anregte, unter den Menschen<br />

nachSpuren demokratischer <strong>Geschichte</strong> zusuchen, die wir aus<br />

dem Alltag kennen undderen Handeln uns wichtig erscheint.<br />

PaulDöringstarb am31.Juli 1973inKiel. DasHerz hattenicht<br />

mehr mitgemacht. Sein Tod kam nicht überraschend: Er kam<br />

schonseitlangem nicht mehr ohneMedikamente aus,hatteoft<br />

im Krankenhausgelegen.<br />

Von seinem Tod nahm kaum jemand Notiz. Kein Politiker<br />

hielt eine Gedenkrede. Seinen Nachkommen hinterließ er<br />

zahlreiche stenografische Aufzeichnungen, Fotoalben und<br />

Manuskripte. PaulDöringwar zu seinenLebzeitennicht durch<br />

Veröffentlichungen bekanntgeworden. Warum sollte man sich<br />

mit seinem schriftlichenNachlaß näher beschäftigen?<br />

Einmal gab es das Sachsenhausen-Tagebuch. 2 Paul Döring<br />

hat es, soweit icherfahren konnte, um 1950 nachträglich aus<br />

Erinnerungen und wenigen Aufzeichnungen verfaßt. Zeugnisse<br />

dieserArtbleiben solangebedeutsam,wie dasGeschehen<br />

in den Konzentrationslagern verdrängt wird. Das politische<br />

KlimainderBundesrepublik scheint dazubeizutragen, daß die<br />

Älteren weiterhin verleugnenund verdrängen, wassie vor 1946<br />

gesehen oder mitverantwortet haben. Es verharmlost weiterhindieNeigungen<br />

vieler Jugendlicher, sich entweder alsNachgeborene<br />

aus der VerantwortungzustehlenoderHitler als eine<br />

Art „Super-Zombi" zu benutzen, um die Eltern zu erschrek-<br />

Klaus-Henning<br />

Hansen<br />

Auf den Spuren eines<br />

KZ-Tagebuches 1<br />

1 Peter Kuhlemann lieferte mit dem<br />

Tagebuch Paul Dörings den Anstoß<br />

<strong>für</strong> die vorliegende Arbeit und wies<br />

michaufdieErwähnungvonJuliusLeber<br />

in den Aufzeichnungen Dörings<br />

hin.MarthaSakmirdastellteKontakte<br />

zuMenschenher, die PaulDöring gekannt<br />

haben; Erika Döring machte<br />

Dokumentezugänglich, die demText<br />

eine nachprüfbare Grundlage gaben;<br />

KurtStenzel undToni Schlemminger<br />

halfen, ein Bild des Menschen Paul<br />

Döringzu zeichnen; KarlRickers war<br />

ein kritischer und solidarischer Leser<br />

früher Fassungen des Manuskriptes.<br />

Ihnenallenbin ich zu Dank verpflichtet.Verbleibende<br />

Mängel in der Darstellung<br />

liegen in der Verantwortung<br />

desAutors.<br />

Zeitgeschichtliche<br />

Fragen<br />

2<br />

Döring,R: Sachsenhausen. Unveröffentlichtes<br />

Manuskript, Kiel, ohne<br />

Datum. Zitate aus dem Tagebuch<br />

sind, entsprechend der Paginierung<br />

Dörings,vonKz1bisKz81unda1bis<br />

a94, durch die Angabeder jeweiligen<br />

Buchstaben vor den Seitenzahlen gekennzeichnet.<br />

291


Solidarität im<br />

Konzentrationslager<br />

3<br />

Vgl. Pingel, F.: Widerstand hinter<br />

Stacheldraht. In: Löwenthal/Mühlen<br />

(Hrsg.): Widerstand und Verweigerung<br />

in Deutschland 1933 bis 1945,<br />

Berlin-West 1982.<br />

ken. WennPaul DöringsTagebuch belegt, daß derFaschismus<br />

keine zufällige Entgleisung, sondernFolge politischer Dummheit<br />

vieler war, so darf esnicht inder Vergessenheit verschwinden.<br />

Und dann ist da Paul Döringals Mensch. Wer hat ihn<br />

gekannt? Welche Folgen hatte die Verfolgung <strong>für</strong> ihn?Sowohl<br />

die politische als auch die menschliche Bedeutung, die das<br />

Tagebuch ausmeiner Sichtbesitzt,möchteichvorabmit ausgewähltenTextpassagen<br />

verdeutlichen. Siegabenden Anstoß <strong>für</strong><br />

lokalhistorischeNachforschungen über Paul Döring,die seine<br />

Verbindung zur Kieler Arbeiterbewegung nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg aufgezeigt habenunddie darüber hinauseinBeispiel<br />

<strong>für</strong> Widerstand undVerfolgungimNationalsozialismusliefern.<br />

Das Sachsenhausen-Tagebuch verschafft nicht nur Einblick in<br />

ein Stück Zeitgeschichte, über das viele Heranwachsende gar<br />

nichts oder nur Oberflächliches erfahren. Es zeigt eine Möglichkeit,<br />

wie sichMenschen verhalten, die alltäglichem Terror<br />

ausgesetzt sind.DieHäftlinge imKonzentrationslager wurden<br />

unterteilt:inPolitische,Kriminelle, Homosexuelle,Judenund<br />

andere. Döringwar „Politischer". „Politische" hatten gelernt,<br />

was gegenseitige Unterstützung bedeutete, und sie zeigten oft<br />

selbst dann nochLebenswillen, wennandere bereits resignierten.<br />

3 Draußen hatten sich Kommunisten, Sozialdemokraten,<br />

Gewerkschaftler und bürgerliche Gegner des Nationalsozialismus<br />

untereinander bekämpft. Auch wenn dasLager zunächst<br />

einmal alle Unterschiede einebnete - jedem wurde die gleiche<br />

Häftlingskleidung verpaßt, jedem sollte das Rückgrat gebrochen<br />

werden-,so brachen jedochauchhier die altenKonflikte<br />

wieder auf.<br />

Undnochein anderer Gegensatz wurde im Konzentrationslager<br />

deutlich: das Mißtrauen der Dagebliebenen gegenüber<br />

denjenigen, denendieEmigration gelungen war.Hattensie im<br />

Ausland ihre Identitätunddamit ihre Widerstandskraft gerettet,<br />

oder waren sie nur vor der Gefahr alltäglichen Widerstandes<br />

weggelaufen?<br />

Paul Döringbegegnete im Konzentrationslager Genossen,<br />

die früher wichtige Funktionen eingenommen hatten. Einer<br />

von ihnen war z.B. E. Heilmann,der letzte sozialdemokratische<br />

Fraktionsvorsitzendeim preußischen Landtag:<br />

BeidenSchachspielern istHeilmann einganzgroßes Tier.Ich<br />

magihnnicht. „Ichauch nicht", sagtmirmeinPartnerleise über<br />

den Tisch. Er erzähltmir, daß Heilmanninfrüherer Zeitoft in<br />

Sonderbehandlung genommen wurde. Bis zum Halse soller in<br />

der Jauchegrube gestanden haben, die Beine haben sie ihm<br />

zerdeppert; er geht jetzt wacklig in den Knien, der lange,<br />

schlacksige Kerl, dessen Borsten aussehen, als könnten rote<br />

Haaredraus werden. „MitdemhabeichkeinMitgefühl", flüstert<br />

er, „der Heilmann war im SPD-Parteivorstand, gar im Fraktionsvorstand<br />

des Reichstags. Der ganze Parteivorstand sollte<br />

das hier selbst ausbaden. " „Diemeisten Bonzensitzenim Ausland",<br />

antworte ich. „Mit der Parteikasse, diehaben immer<strong>für</strong><br />

sich zusorgengewußt", fügt er verbitterthinzu. „Nichtallesind<br />

im Ausland", fügt ein Kibitz hinzu. „Ich habe bei meiner<br />

292


Gewerkschaft erlebt, wie sie den Apparat so lange vorbildlich<br />

führten, bis sie ihn den Nazis geordnet übergeben konnten. "<br />

(Kz34)<br />

Ich dachte an den Landtagsabgeordneten aus Eckernförde,<br />

JohannJohannsen 4 oder sohieß er, war eingemütlicher, feiner,<br />

ruhiger Kerl. Grinsend erzählte er, was sie alles mit ihm angestellt<br />

hatten. So war es! Jeder hielt sich darüber auf und<br />

bestaunte, was dieNazis „Unbürgerliches" angestellt hatten, als<br />

ob die Unterwelt ausgebrochen wäre. Darüber verlor man jeden<br />

Gedankendaran, daß diesnurmöglichgewesenwar, weilunsere<br />

„Oberwelt" versagt hatte. Der Weg begann nun mal mit Ebert<br />

und Noske, lang, lang ist es her. (Kz34-Kz35)<br />

Da war er also,der Vorwurf gegendie „Bonzen" und gegen<br />

die Sozialdemokraten, die so lange an Recht und Gesetz<br />

geglaubt hatten, bis sie selbst Opfer des Terrors wurden. War<br />

ihr Vertrauen in den bürgerlichen Staat Grund genug, sich<br />

abfällig über Heilmann zu äußern, den die Nazis, wie Paul<br />

Döringwußte, als Juden und „Politischen"besonders gequält<br />

hatten? Mit seinem Mißtrauen muß Paul Döring sich im<br />

Gegensatz zu den Genossen gefunden haben, die politische<br />

Verfolgung der Funktionäre als Indiz <strong>für</strong> Überzeugung und<br />

Standfestigkeit werteten. Vertrauenwar gleichzeitig Ausdruck<br />

von Solidarität undhöchsterGefährdung.Geriet man an einen<br />

Spitzel, so gab es kaumnochRettung. War das Mißtrauen von<br />

PaulDöringmöglicherweiseeineReaktionauf die Zurückhaltung,<br />

mit der die anderen „Politischen" dem Neuen begegneten?<br />

Vielleichtließ es Döringauch nuranMitgefühl <strong>für</strong> Heilmann<br />

fehlen, weiler keinen „menschlichenDraht" zu diesem Mann<br />

fand.Letztlichteiltenbeide dochdas gleicheSchicksal.Für die<br />

Vermutung, daß es weniger prinzipielle als subjektive Gründe<br />

waren,die PaulDöring„schadenfroh" über Heilmann schreiben<br />

ließen, spricht der andere Ton, in dem er einen weiteren<br />

prominenten Sozialdemokraten, JuliusLeber, erwähnt:<br />

Dannmußten wir eines Tages beim Zählappelllange warten.<br />

Die Strafkompanie war noch nicht zurück aus dem Wald. Ich<br />

wußte, was passiert war, meinte ich. UnserPosten hatte bei der<br />

Arbeitnichtdichthalten können:„Wißt ihr, wen sie heuteumlegen?<br />

Den Leber!" Denganzen Tag hatte ich dannaufSchießen<br />

gewartet.Esschoß nirgends. Jetzt wartetenwiraufdieStrafkompanie,<br />

...Das Benehmenunserer Lagerführung wareigenartig.<br />

So lange hatten wir sonst nicht in Habtachtstellung gestanden,<br />

vor jedem Block. Wollten sie uns den<br />

mit dem Blockführer<br />

Leber etwa feierlich zu Füßen legen? Inmirkribbelte es. Esist<br />

dochganzgut, wennmannureinkleiner Spitzbubeist!Manlebt<br />

293<br />

länger.<br />

War es das Gurren weitentfernter Waldtauben, das ich zu<br />

hören glaubte? Es schwoll an und verklang und war nichts<br />

Bekanntes. Doch es kam näher. Die SS-Bullen machten lange<br />

Hälse über uns hinweg. Jetzt wieder dieses Heulen. Langsam<br />

sackte ichin mich zusammen. Vorsichtig schaute ich mich um.<br />

Dort aus dem Waldkam eineRotteMänner,die Strafkompanie.<br />

Ein kräftiger Kerl trug eine Last aufdem Rücken. Beiden SS-<br />

4 Paul Döring meint wahrscheinlich<br />

den sozialdemokratischen Abgeordneten<br />

Jürgen Jürgensen. Er war Geschäftsführer<br />

der preußischen Landtagsfraktion<br />

und vertrat den Wahlkreis<br />

Eckernförde. Jürgensen war<br />

nach der Machtergreifung in das KZ<br />

Esterwegeneingewiesen worden(vgl.<br />

Schunck, K.-W.: Wie im Jahr 1932 die<br />

Demokratie in Deutschland verloren<br />

ging. Eckernfördcr Abgeordneter im<br />

Landtag verletzt. In: Harner, K./<br />

Schunck, K.-W./Schwarz, R.: Vergessen<br />

und verdrängt. Eckernförde<br />

1984).


5 Poller, W.: Arztschreiber in Bu<br />

chenwald. Offenbach 1960.<br />

Aus der Höllezurück<br />

Gerade der Hölle entkommen:Paul<br />

Döring1939,kurznach derEntlassung<br />

aus dem KZ.<br />

Leutengab es Unruhe.Ichguckteimmer wiederschnellmalhin.<br />

Die rannten einen erschöpften Schritt, und der mit derLast auf<br />

dem Rücken stolperte ebenso dahin. Auf und nieder wurde<br />

kommandiert, undjetzterkannteich:DieLast war einMensch.<br />

Unddie Geräusche warenseinStöhnen,Gurgeln, Brüllen, Keuchen,nennt's<br />

wie ihr wollt, menschlich war esnicht.<br />

HattensieLeberdoch...?Nein,Lebertrug einenanderenauf<br />

den Schultern. Das Bündel zuckte, drehte und wand sich.<br />

Schnellzählteich durch. Esfehlte keinerin der Strafkompanie.<br />

Erst vielspätermerkten wir,<br />

daß es unser kleiner Hans war, den<br />

LeberaufderSchulterhatte, oderdas, was vonihmnochübrig<br />

war. (Kz80)<br />

Paul Döring zeigt vor Leber im Gegensatz zu Heilmann<br />

Respekt, ja sogar Sympathie. Ob ihm seine Hafterfahrung in<br />

Esterwegen und Sachsenhausen hätte deutlich machen müssen,daß<br />

politischer WiderstandinDeutschlandkaumzuleisten<br />

unddie Emigration fast immer die einzige Möglichkeit<strong>für</strong> den<br />

Erhalt einer politischen Identität bildete, steht hier nicht zur<br />

Diskussion. DöringsDarstellung vonHeilmannundLeber soll<br />

jedoch zeigen, daß er dasKonzentrationslager keineswegs aus<br />

der Sicht einestreu gebliebenen Sozialdemokraten oder Kommunisten<br />

beschrieb. Ein Zeugnis dieser Art hat z.B. Walter<br />

Poller,Sohn eines sozialdemokratischen Polizeichefs ausKiel,<br />

mit dem „Arztschreiber in Buchenwald" 5 abgelegt. Dörings<br />

Blickwinkel schieneher der einesteilweise verbittertenEinzelgängers<br />

zusein. Wenndasso war, welchepolitischenErfahrungen<br />

mußte er machen,um auchimKonzentrationslager jedem<br />

Funktionär zumißtrauen? Wie verbreitet war seine Verbitterung?<br />

Spiegelt sichdarinnur eine gleichermaßen empfindliche<br />

und impulsive Persönlichkeitwider oder eine verbreitete Strömungin<br />

der Kieler Arbeiterbewegung vor dem Zweiten Weltkrieg?<br />

Esgibt zweiFassungen des Sachsenhausen-Manuskriptes. Eine<br />

hat PaulDöringmit einer Reihezusätzlicher,handschriftlicher<br />

Korrekturenversehen. Auch wenn er das Tagebuch möglicherweise<br />

mit dem Ziel einer breitenLeserschaft geschrieben hat,<br />

so diente es sicher auch dazu,seine persönlichenErfahrungen<br />

zu verarbeiten. Zu seinen KZ-Erfahrungen gehörte unter<br />

anderemdieRückkehr ausdemKonzentrationslager zur Familie.<br />

Welche Enttäuschung Paul Döringerlebt hat,läßt sich aus<br />

dem letzten Abschnitt ahnen,indem er schreibt, wieihn seine<br />

Mutter nach der Entlassungempfing:<br />

Dustehstaufder Straße inderNacht, suchstkleine Steinchen,<br />

die inder drittenEtage endlich das elterlicheFenster erreichen.<br />

Du sagst deinen Vornamen zu deiner Mutter, sie schließt auf,<br />

aber vor der Wohnungstür<br />

wirst du begutachtet. „Dubist doch<br />

nicht...? Bist Du ausgerückt? Vater will keine Schwierigkeiten.<br />

" Du zeigst deinen Entlassungsschein, der Name stimmt,<br />

aber ehe du in die Wohnung gelassen wirst, mußt du einige<br />

<strong>Geschichte</strong>n aus dem Familienleben erzählen, die außer dir<br />

keiner kennen kann. „Na, denn bist Dudatja doch woll. "<br />

Und da hattest du unten gestanden und den törichten Wahn<br />

294


gesponnen: EineMuttermuß es doch ohne Fensterkratzenspüren,<br />

daß ein verlorenerSohn ausderHöllezurückgekommen ist.<br />

Jetzt sagt sie: „Was sollen die Nachbarn denken bei deinem<br />

geschorenenKopf?" (a94)<br />

Was war das <strong>für</strong> eine Mutter,dieihren Sohn zuerst nicht in<br />

die Wohnung lassen wollte? Aus welcher Familie kam Paul<br />

Döring? Die Herkunft des Verfassers, seine Verbindungen<br />

nach Kiel, lassen sich aus dem Tagebuch nicht belegen. Nicht<br />

einmal den Namen des Autors erfährt der Leser: „Einen<br />

Namen muß ich mirnoch zulegen; meinen eigenen möchteich<br />

mitdieser Beichtenichtin Verrufbringen. " Habennicht eigentlichdie<br />

etwas zubeichten,die aufden Versammlungen Beifall<br />

brüllten oderpolitische Gegner denunzierten? Verrätder Ausdruck<br />

„beichten" eine ironische Anspielung? Wer war Paul<br />

Döring?<br />

Es gibt verschiedene Spuren, die zur Herkunft des Tagebuchschreibers<br />

führen. Die erste, der ich nachging, war die Auskunft<br />

vonPeterKuhlemann.Er wußte, daß PaulDöringinKiel<br />

gewohnt hatteund daß er vonBeruf Stenographgewesen war.<br />

Der Versuch, über das Kieler Telefonbuch einen lebenden<br />

Verwandten gleichen Namens zu finden, stieß jedoch auf<br />

Schwierigkeiten: dreiundvierzigPersonen sollte man nicht auf<br />

Verdacht anrufen. So begann ich, in Kielnach älteren Genossen<br />

zu suchen, die ihn gekannt haben. Der SPD-Arbeitskreis<br />

„Demokratische <strong>Geschichte</strong>" stellt Kontakte her, die es möglich<br />

machen, den Weg von Sachsenhausennach Norddeutschland<br />

zurückzuverfolgen.<br />

Mein erster Besuch führte zu einem ehemaligen Kollegen<br />

von Paul Döring,mit dem er in der Zeit nach 1946 als Stenograph<br />

am ersten Kieler Landtag gearbeitet hatte. Kurt Stenzel<br />

erinnert sich daran,daß KarlRatzinseiner Funktionals erster<br />

Landtagspräsident Paul Döringdie Arbeit als Stenograph vermittelt<br />

hatte. Ratz habe Paul Döring vermutlich aus der<br />

gemeinsamen Zeit bei der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitunggekannt,bei<br />

derer ab1924alsStenograph arbeitete.Über<br />

Ratz, der maßgeblich am Wiederaufbau der Kieler Sozialdemokratie<br />

nachdem Zweiten Weltkrieg beteiligt war, kannman<br />

nachlesen, daß er bis 1941 ebenfalls im Konzentrationslager<br />

Sachsenhausengewesen war. 6 Da er jedoch auchschongestorben<br />

ist,wird kaum zu erfahren sein, ob sichbeide in der Haft<br />

begegnet sind und welche Bedeutung die gemeinsame Erfahrung<br />

<strong>für</strong> beide besaß.<br />

Der Faden zwischen Kiel und Sachsenhausen schien mir<br />

nochsehr dünn zusein.Einen Anknüpfungspunkt <strong>für</strong> die weitere<br />

Suche gab zunächst Paul DöringsTagebuch selbst.<br />

Auf dem Nachhauseweg überholt<br />

mich unser Firmenbote,<br />

schiebt sein Fahrrad neben meines und fragt: „Haben Sie es<br />

schon gehört,Herr...? (EinenNamen muß ichmir noch zulegen;<br />

meinen eigenen möchteich mit dieser Beichte nicht in<br />

Verrufbringen.)<br />

„Zwei vonder Gestapo sindimBetriebgewesen. Der Vertrauensrat<br />

hatSie verpfiffen. " 295<br />

KielerSpuren<br />

6 Handbuch des Schleswig-Holsteinischen<br />

Landtages, 3. Wahlperiode<br />

1954. HerausgegebenvomSekretariat<br />

des Schleswig-HolsteinischenLandtages,Kiel<br />

1957. S.272.<br />

Ins<br />

Konzentrationslager


Das war ein Schreck in der Abendstunde. Ob die Gestapo<br />

schonzuHauseaufmich wartete?Sollteichetwa türmen? (Kz1)<br />

Paul Dörings Vorsicht macht seinen Weg ins Konzentrationslager<br />

zu einem anonymen Ereignis. Der Leser erfährt<br />

nicht, in welchem Betrieb er damals arbeitete und wann er<br />

genau verhaftet wurde. Weiterhin verliert Paul Döring<br />

zunächst kein Wort über Freunde oder Familienangehörige,<br />

die ihn vermißt haben könnten.<br />

ImNachlaß von PaulDöringfindensicheinBericht „Wie ich<br />

ins KZ kam" und eine „Schilderung des Verfolgungsfalles".<br />

Beide Dokumente ergänzen den Anlaß <strong>für</strong> seine Verhaftung:<br />

7 Deutsche Arbeitsfront<br />

8<br />

Döring,R: Schilderung des Verfolgungsvorganges.Kiel,den<br />

30. 9. 1954.<br />

" Döring, R: Wie ich ins KZ kam<br />

Kiel, den 10.12. 1949.<br />

10 Döring 1954, a.a.O. Mit juristischenFragenwar<br />

PaulDöring,wie seine<br />

Schwester erzählt, während seiner<br />

Berufsausbildung als Anwaltsgehilfe<br />

in Berührung gekommen.<br />

11 Döring 1949, a.a.O<br />

12 Döring 1954, a.a.O<br />

Anfang 1936 hatte ich nach mehrjähriger Arbeitslosigkeit in<br />

Bielefeld bei der Herrenwäschefabrik Schaffer & Vogel Arbeit<br />

als Stenotypist erhalten.<br />

Beim ersten Arbeitslohn wurdemir der DAF 7 -Beitrag einbehalten.Ichprotestierteunderhieltdas<br />

Geldzurück. Daraufoder<br />

vielleichtauch, weilichschon vorher aufgefallen war, wurdeich<br />

vielimBetrieb mit „HeilHitler" gegrüßt undantwortete sturmit<br />

dem jeweiligen zivilen Gruß „Guten Morgen, guten Tag oder<br />

guten Abend".<br />

ImMärz 1936ginggerade wieder eine Wahlkampagne durch<br />

dasLand.Ich weiß nichtmehr, wasgewählt wurde. EinKollege<br />

aus dem Betrieb, ich kannteihn nicht näher, sprach mit mir in<br />

meinem Büro über eine Wahlversammlung. Er war noch voll<br />

der Begeisterung aus der turbulenten Versammlung, in der<br />

besondersüber einenRichterhergezogen wurde, derjemandfrei<br />

gesprochen hatte, weil seine Äußerungen damals noch nicht<br />

belangt werdenkonnten... 8<br />

Der Kollege wareinReisenderderFirma,der PaulDöringin<br />

ein politisches Gespräch ziehen wollte:<br />

Ich wich zunächst aus und erklärte, ich wolle von Politik<br />

nichts wissen, mehr könneman von mir auch nicht verlangen,<br />

denn ich seifrüher Sozialdemokrat gewesen. Als der Wissende<br />

darauf sagte: „Wer jetzt noch nichts von Politik wissen will,<br />

gehörtandennächsten Laternenpfahl", wollteichmichpolitisch<br />

unterhalten... 9<br />

Da Rechtssicherheit gerade das war, was unsereins, der mit<br />

demHitlerkursnicht einverstanden war, am nötigstenbrauchte,<br />

verlor ich meine bisher eingehaltene Zurückhaltung. 10 Dann<br />

habe ichirgend etwas sicherlich Wahres über die Justiz gesagt,<br />

und dasschlimmste war,daß ichinbezugaufdie Wahlversammlung,<br />

in der Freister vom Justizministerium gesprochen hatte,<br />

sagte, ob man solche Rechtsfragen vor dem Pöbelin der Versammlung<br />

behandeln sollte, das wüßte ichnicht. 11<br />

Der Kollege, so erzählte man mir später, hatte nicht die<br />

Absicht, mir Schwierigkeiten daraus zu machen. Er war allerdings<br />

über meine Äußerung genauso aufgebracht, wie er vorher<br />

vonderBrüll-Versammlung begeistertgewesen war. Ererzählte<br />

davon bei anderen Kollegen. Dabei soll der ,yertrauensrat"<br />

dann Notizen gemacht haben. 12<br />

Wenn die Nazis Paul Döring <strong>für</strong> gefährlich hielten, dann<br />

sicher nichtdeshalb,weilsie ihnähnlich wie einen JuliusLeber<br />

296


<strong>für</strong> fähig gehalten hätten, Koalitionen gegen sie zustande zu<br />

bringen, sondern wahrscheinlich vielmehr deshalb, weil ihm<br />

nichts ferner als die geduldige Konspiration lag. PaulDöring,<br />

so erfuhr ich von seinem späteren Kollegen am ersten Kieler<br />

Landtag, war im Grunde seines Herzens jede Taktik fremd,<br />

selbst dann, wenn er damit dem politischen Gegner schaden<br />

konnte. Seine Stärke lag vielmehr darin, auch unter der Drohung<br />

von Gefängnis und Konzentrationslager auszusprechen,<br />

was er vom Nationalsozialismus hielt. Unter der Diktatur<br />

mußte er den Mächtigen bedrohlich erscheinen, die Angst<br />

hatten, daß solche Beispiele Schule machen würden.<br />

Die Erwähnung des „Vertrauensrates"ist der Schnittpunkt,<br />

an dem seine Darstellungen des Verfolgungsanlasses und die<br />

Schilderungen im Tagebuch zusammentreffen. Wir erfahren,<br />

daß PaulDöringzunächst insPolizeigefängnis in Bielefeldund<br />

nach sechs Wochen von dort nachEsterwegen kam. Schon im<br />

Polizeigefängnis erfuhr er,wie die neuenHerrenmitden „kleinenLeuten"<br />

umgingen:<br />

Der dritte Dauergast unserer Pension wurde von uns gesondert<br />

gehalten. Kurt kannte seine <strong>Geschichte</strong>. Er war Lumpensammler,<br />

einer von der damals noch häufigen Sorte, die mit<br />

einemHandwagen und einer Glocke durchdie Straßen zogen;<br />

von denen die Lumpengroßhändler reich wurden und abends<br />

die Gastwirte. Er war niein einer Parteigewesen. Eines späten<br />

Abends hatteer ineiner Kneipe einenpolitischen Witz erzählt,<br />

der platt genug gewesen sein wird, um in seinem Gedächtnis<br />

haften zu bleiben. Er hatte sich aber nicht vorher im Lokal<br />

umgeschaut. Einfremder Herr zog Papier und Bleistift aus der<br />

Tasche,notiertesich was undfragte dannden Wirt nach Karls -<br />

ich glaube, er hieß Karl - Namen. Sechs Monate hatte unser<br />

Lumpensammler dann im KZ gesessen. Wer ihn jetzt eingeschüchtert<br />

nennen wollte, untertreibt maßlos. Angst saß tiefin<br />

ihm, tiefund alles ausfüllend.<br />

Es dauerte dann knapp drei Monate, Karlsaß wieder in der<br />

selben Wirtschaft wiedamals, am gleichen Tisch. Mitsteigender<br />

Promille - den Ausdruck kannteman nochkaum - muß ihm die<br />

Erinnerung gekommen sein. Und die Furcht. Und das Wissen<br />

um den Witz von damals. Und die Gefahr, die darin gelegen<br />

hatte. Und das Wissen um die eigene Unzulänglichkeit. Bis er<br />

dann laut und deutlich, ausgerechnet in einem stillen Moment<br />

der Gaststube, dasselbe noch einmal herausgebracht hat...<br />

(Kz9-10)<br />

Die Schilderungen des Verfolgungsfalles geben einBeispiel<strong>für</strong><br />

Gründe, die ein Jahr nach der „Machtergreifung" zur Verhaftung<br />

führen konnten.Gleichzeitig werfen sie jedoch neue Fragen<br />

auf, zumBeispiel, warum PaulDöringbereits früher „aufgefallen"<br />

war.<br />

Zwei Vermutungen lagen nahe: Entweder hatte er sich den<br />

Nationalsozialisten bereits durch Arbeit in Partei oder<br />

Gewerkschaft verdächtig gemacht, oder er gehörte zu den<br />

Menschen wie Karl, der Lumpensammler, die ohne Rückendeckung<br />

undoft im „falschen" Zeitpunkt denMund aufmach-<br />

„Er konnte das Maul<br />

nicht halten"<br />

297


ten.Umzuklären,obPaulDöringin erster Linieein „Motzer"<br />

oder ein politisch motivierter Gegner der Nationalsozialisten<br />

gewesen war, wollte ich etwas über sein Elternhaus und die<br />

früheste Jugenderfahren.Icherfuhr,daß seine Schwesternoch<br />

lebtundineinemAltersheim amRandeKielswohnt.Dortsitze<br />

ich Toni Schlemminger gegenüber, dieihre Sehkraft verloren<br />

hat. Auf meine Frage, wann Paul Döring geboren wurde,<br />

beginnt sie:<br />

,J\m erstenApril1905inDänischenhagen. Mein Vater war da<br />

Landarbeiter am Gut, im Kreis Dänischenhagen. Er wurde in<br />

der Kirche vonDänischenhagen getauft. "<br />

Wie viele Geschwister hatteer?<br />

„Wir waren nur zwei, mein Bruder und ich.Ich warein Jahr<br />

jünger. Mein Vater warinder Welt herumgekommen. Dasgefiel<br />

ihmnichtmehr so, aber erhattenichts anderesalsLandarbeiter<br />

gelernt. Als wir dann schulreif wurden, da hat er gesagt: „Wir<br />

wollenindie Stadtfahren, die Kinder sollen indie Schule. " So<br />

sind wirnachKielgekommen. Mein Vaterhat dann alsStraßenbahner<br />

angefangen, späterging er auf die Werft. Wir sind dann<br />

gleich indie Volksschulegekommen. "<br />

War Ihr Vater auch in der Gewerkschaft?<br />

Ja, mein Vater warin der Gewerkschaft. Und vor allem war<br />

erFreidenker.Er warnichtinderPartei, aberer warFreidenker.<br />

Zumeiner Zeit, als ich noch so13, 14 oder 15 war, da gab das<br />

große Versammlungen. Im Gewerkschaftshaus war so eingroßer<br />

Saal. Damals gab das noch ein Gewerkschaftshaus, da<br />

waren große Versammlungen. Da wurde hin und hergeredet:<br />

„Und es gibt einen Gott! Und es gibt doch keinen Gott!" Das<br />

habeich noch alsSchulkindmit angehört.Mein Vater war also<br />

Freidenker und hat uns als Kinderimmer belehrt: „Ihr braucht<br />

nicht zubeten, wenn zu Weihnachten mein Portemonnaienicht<br />

voll ist, dannkriegtihr doch nicht, wasihreuch wünscht. Wenn<br />

ich abergut verdient habe, dannkannes etwas werden. " Wenn<br />

wir an einer Kirche vorbeikamen, dann sagte er: „Das ist der<br />

Schafstall. Die Glockenläuten, damit die Schaflein kommen. "<br />

So hat er immer gesagt.<br />

Wir haben zu Hause nie gebetet, aber wir mußten es in der<br />

Schule. Jeden Tag Religion!Ich mußte jeden Morgen von acht<br />

bis neun eine Stunde Religion... Das war im Stundenplan.<br />

Religion, Deutsch,Rechnen.Religion, Deutsch,Handarbeit.So<br />

war dasimmer".<br />

Konnte man sich davon nicht befreien lassen?<br />

„Nein. Es gab auch noch keine Jugendweihe. "<br />

Freidenker waren jawahrscheinlich eher dieMinderzahlder<br />

Eltern. Ich könntemir vorstellen, daß sein Vater ihn damit<br />

angeregt hat, sich seine eigenen Gedanken zu machen?<br />

Ja, ja. Wie wir zum Konfirmandenunterricht sollten, daging<br />

das los. In der Schule hat er nicht so viel geredet. Aber im<br />

Konfirmandenunterricht denPastor vor sich zuhaben, dashielt<br />

er nicht aus. Er hat ein Jahr länger gebraucht zur Schule.<br />

Damalsmußten dieJungenneunJahre undichalsMädchen acht<br />

Jahre gehen. Also wurden wir zusammen konfirmiert. Meine<br />

Mutter wollte doch so gerne, daß wir zusammen konfirmiert<br />

298


werden und sie verlangte, daß Paulzu dieser Pastorenstunde<br />

ging. Wegen derLeuteund wiedas damals war. Er wolltejedoch<br />

gerneschwänzen und tates auch. Aber dann kam derPastor zu<br />

unsins Hausund sagtezumeinerMutter, er weigeresich, ihnzu<br />

konfirmieren, weil er sich eben nicht anständig benahm, da in<br />

der Pastorenstunde. Und dann hat der Pastor sich doch noch<br />

bereiterklärt. Gut,Paulbesuchtenichtmehr die Stunde,aber er<br />

würde ihn mit konfirmieren. Das war dann eine Feierlichkeit,<br />

am Bahnhof, die große St. Jürgenskirche, eine schöne große<br />

Kirche. Dann am Altar oben, da war es hoch, da saßen die<br />

Geschwisterpaare. Wir waren ungefähr sechs oder acht<br />

Geschwisterpaare, die so nebeneinander erhöht saßen. Die<br />

anderen Kinder saßen unten in den Reihen. Das sah natürlich<br />

schön aus, sowohl von oben, von der Galerie, und auch von<br />

unten. Und das vergess' ich nie, ach Mensch:MeinBruder saß<br />

neben mir, und auf unserem Stuhl lag so ein hübsches buntes<br />

Blatt.Meineszeigte, wieJesus durchsKornfeldging, wasdasbei<br />

ihm war, weiß ich nicht. Einen Spruch dabei hatte wohljeder.<br />

Wie unser Pastorsofeierlich predigte, dasah ichmit Entsetzen,<br />

daß mein Bruder, der Flegel, seinen schönen Bogen in ganz<br />

kleine Stücke zerriß, und die Stücke so ganz um sich herum<br />

streute, um seinen Stuhlherum, so daß alle das sehenkonnten,<br />

weilwir erhöht saßen. Oh, ich hab mich so geschämt. Meine<br />

Mutterkonnte dasunten wohlnicht sehen. Aber so war er denn.<br />

Als wiruns dannhinknietenundderPastorsollte unssegnen, da<br />

zoger seinen Kopfnachunten.Er konntenicht anders. "<br />

Wie ging es nach der Schulzeit weiter?<br />

„Paulkam zu einemRechtsanwaltindieLehre.Erhattejaein<br />

prima Zeugnis. Damals hatten wir noch Hauptplätze. Er hatte<br />

den erstenHauptplatz. Wir waren ungefähr 50ineiner Klasse. "<br />

Was war das, ein Hauptplatz?<br />

„Die Kinder wurden nach Leistung hingesetzt. Die große<br />

Klassehatte so große Bänke, daß in zwei Reihenje vier sitzen<br />

konnten. Je vier, und dann eine ganze Reihe, bis 50. Und der<br />

tüchtigste, derbeste, der saß vomLehrerausgesehen obenlinks.<br />

Das warderersteHauptplatz. Dannkam der zweite, der dritte,<br />

undnach undnach kamen siealledran. UnddieDümmsten und<br />

Faulsten saßen vorne beimHerrn Lehrer. Wenn einer ungezogen<br />

war, dann kam er nach vorne.<br />

Paullerntegutund es warihm alles vielzuleicht.Erhätteeine<br />

bessere Schule haben müssen.<br />

Dummheiten gemacht. "<br />

Die hätte ihn vielleicht mehr gefordert<br />

„Natürlich, das hatte ihm gefehlt.<br />

Ichglaube, inden letzten Schuljahren, da merkte mein Vater,<br />

Dann hätte er nicht so viele<br />

daß er gut lernte. Dahat er ihn dann noch mal zu Schwarzers<br />

Buchhaltungsschule geschickt, hier am Sophienblatt. Das war<br />

eineAusgabe <strong>für</strong> meinen Vater. Erhat40Markbezahlt<strong>für</strong> einen<br />

Kursus: Schönund schnellschreiben. Paul hatte eine schöne<br />

Schrift!Icherinneremich noch,ichhabimmer mitgeübt. Dahat<br />

erruhigeHandgeübt, erst mal, mitlauter Zirkelnund so.Dann<br />

hater eine ganz schöneSchrift gehabt. Eine Schrift, die können<br />

Sie sich nicht vorstellen. Später noch, wenn Beerdigung war,<br />

PaulDöringals Schuljunge, ca. 1910.<br />

299


unsere Genossen, dann war er da und hat in dem Kondolenzbuchgeschrieben.<br />

Dannhabensiegesagt: „Da,PaulDöringmit<br />

seiner Schrift hat da geschrieben. "<br />

Während er noch in die Schule ging, fing er schon einen<br />

Stenographiekursus anzu besuchen. Auch Wettschreibenhater<br />

damals schon mitgemacht. "<br />

Arbeiterjugend in Kiel<br />

13<br />

Rathmann, A.: Ein Arbeiterleben<br />

Wuppertal 1983, S. 44.<br />

14 Gemeint istdie SozialistischeArbeiterjugend.<br />

Nachder Schilderung seiner Schwester gehört PaulDöringzu<br />

den Arbeiterkindern, denen die Volksschule aufkeine Weise<br />

angemessene Möglichkeiten zur geistigen Entwicklung bot.<br />

Die finanziellen Bedingungen des Elternhausesließen aber zu<br />

jener Zeit denBesucheiner weiterführenden Schule nicht zu.<br />

Was lag indieser Situation näher,als daß Paul DöringAnregungen<br />

außerhalb der Schulwelt suchte? Die Möglichkeiten<br />

waren <strong>für</strong> ein Arbeiterkindin der Weimarer Zeit sehr gering.<br />

Eine bestand im Kontakt zur Sozialistischen Arbeiterjugend.<br />

Sie wurde damalsin Kiel wievermutlich auchin anderen Städten<br />

von Intellektuellen gefördert, die der Arbeiterbewegung<br />

angehörten oder ihr doch nahestanden.In Kiel gehörtePaul<br />

Hermbergdazu, der in jener Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

amInstitut<strong>für</strong> Seeverkehrund Weltwirtschaft inKiel war. 13<br />

Hermberg und später auch seine Frau entwickelten sich zu<br />

FreundenundpersönlichenFördererndesintelligenten jungen<br />

Mannes. Paul Döringsletzte Frau erzählte, daß der Kontakt<br />

mit Hermbergs auch nochnach dem Kriege andauerte.<br />

Toni Schlemminger, die Schwester von Paul Döring,hat die<br />

Arbeiterjugend in Kielzusammen mit ihremBruder erlebt. Es<br />

war eine Zeit, die sie bis heute inihremDenkenundHandeln<br />

geprägt hat. So fragte ich sie, wie der erste Kontakt zustande<br />

gekommen war:<br />

jährendseinerLehre,da waren wirinderArbeiterjugend. 14<br />

Wie wir konfirmiert wurden, kurz nachdem war ein schöner<br />

Zettel im Briefkasten, den hatte Bruno Verdieck wohl eingesteckt.<br />

Der wurde später ein großes Tierinder Gewerkschaft.<br />

Die hatten uns zu einem Elternabendeingeladen, da sollten<br />

wir beide hinkommen. So sind wir beide hingegangen, dazu<br />

kamen meine Eltern oder meine Mutter mit. Die Jugendlichen,<br />

die wir dort kennenlernten, waren auch ohne Erwachsene sehr<br />

selbständig. Das gefiel uns. Das imponierte uns. "<br />

Was wurdeindieser Zeit in der Arbeiterjugend gemacht?<br />

Wie wir da hineinkamen, waren wir so hungrig. Wir hatten<br />

keine richtigen Schuhe und auch sonst fehlte alles. Wir waren<br />

auch nicht satt.<br />

Und dann gab es unsere neue Polizei. Wenn wir aus dem<br />

Jugendheim kamen, im Jägersberg war unser Jugendheim, und<br />

zur Ecke gingen, wo jetzt die Maschinenbauschule ist, verabschiedeten<br />

wiruns unterdemLaternenpfahl. Der eineging nach<br />

unten und der andere ging nach oben, dann kam ein Schutzmann<br />

oderPolizistunddersagte Auseinandergehen, auseinandergehen".<br />

Da war dann wohl der Kapp-Putsch gewesen.<br />

Genau weiß ichdasnichtmehr. Sobaldda ein Polizistnahte,da<br />

sangen wir, „Esdarfnichtmehr als eineraufdemHaufen stehen,<br />

unddermuß auchnochauseinandergehen". Wirhabenunseren<br />

300


Spaß gemacht. Es durfte nicht zusammengerottet werden.<br />

Dann machten wir Wanderungen damals. Ichhatte ein Paar<br />

Soldatenstiefel, die warenmirzugroß. Sie waren aber derb, und<br />

sonsthatten wir jakein Wanderzeug, keineordentlichenSchuhe,<br />

mit denen wir laufenkonnten. Wir hattenjeder eine Feldflasche<br />

mit einemgrauen Überzug unddanneinen Brotbeutel, alles von<br />

den Soldaten. DieJungen hatteneinen Affen, einen Tornister.<br />

Das war unsere Ausrüstung. "<br />

Und das hat der Paulauch gerne mitgemacht?<br />

„Sicher. "<br />

Tat er sich dabeiin irgend einer Form besonders hervor?<br />

„Das weiß ich nicht. Ich habe schon darüber nachgedacht.<br />

Einmal war er Wanderleiter, daran erinnereich mich noch. Ich<br />

kannnichtsagen, daß er einen Postengehabt odereine Gruppe<br />

geleitethätte. "<br />

Wissen Sie noch, welche Freunde er damals gehabt hat?<br />

„Otto Grund war sein Freund. Der hat mit ihm gelernt. Der<br />

hatauchbeieinemRechtsanwaltgelernt. Vielleichthabensie die<br />

Berufsschule zusammenbesuchtund wurdendadurchFreunde.<br />

Otto Grund war ein musikalisches Talent. Der hat eine große<br />

RolleinderArbeiterjugendgespielt. Erkonntegut Geigespielen<br />

undsingen.Er wurdenachher vielbenötigtzukleinen Veranstaltungen<br />

undFesten. "<br />

IstIhnenderName Walter PollereinBegriff? Ichfrage, weil<br />

er auchein KZ-Tagebuch geschrieben hat, den„Arztschreiber<br />

in Buchenwald".<br />

,Ja, aberichglaube, mitPaulhater nicht viel zu tun gehabt.<br />

Sein Vater war unser Polizeipräsident. "<br />

Aus der SPD?<br />

Ja, da in der Blume, ganz bei uns in der Nähe am Jugendheim.<br />

Walter Poller war sein Sohn. Der war hübsch und hatte<br />

schwarze Augen. Dannhater unshypnotisiert. Dasdurfteer gar<br />

nicht, aber er hat seine Versuche gemacht mit uns, im Jugendheim.<br />

Das warinteressant. Esgab welche, dieließen sichhypnotisieren.<br />

Die glaubten alles, und dann ließ er sieBlumenpflükken,<br />

und wir lachtenuns schief. Walter Poller hat dasgemacht.<br />

Ich weiß nicht, ob das noch welche gibt, die das miterlebten.<br />

Alle, dieichjetzt kenne, die warennichtdabei.KarlRickers war<br />

nie dabei, der hat woandersgewohnt. "<br />

Ja, er hat auch gesagt, daß er erst zur Volkszeitung gekommen<br />

ist,nachdem PaulDöringnicht mehr da war.MirhatKarl<br />

Rickers auch erzählt, daß ihn Dr. Hermberg gefördert hatte.<br />

Kannten Sie ihn?<br />

„O ja,Professor Hermberg. Das war die Zeitder Arbeiterjugend.<br />

Der war hier am Weltwirtschaftsinstitut. Paul lernte ihn<br />

kennen, und dieser Mann war etwas <strong>für</strong> ihn. Er kannte nie<br />

Größen, von denener etwas lernen konnte. Der Durchschnitt,<br />

das war nichts<strong>für</strong> ihn. Aber von Hermberg war er begeistert.<br />

Hermberg war sein ein und alles. Die waren soviel zusammen,<br />

daß meineMutter schon Angst hatte, daß der ältere Hermberg<br />

mit ihm etwas vorhatte. Das kamihrso komisch vor. Der dachte<br />

gar nichtdaran, aber wasdie Mütter dann so denken. Sie waren<br />

so vielbeieinander.Professor Hermbergs Vaterlebte, soweitich<br />

301


weiß, in Itzehoe.Dort war erPfarrer gewesen. Das war ein alter<br />

Mann, und zu dem ging mein Bruder sehr oft, um mit ihm<br />

Schach zu spielen. "<br />

KönnenSie etwas über die Zeit erzählen,inder Paul an der<br />

Volkszeitung war? Wissen Sie, was er dort eigentlich gemacht<br />

hat?<br />

„MeinBruderkam alsStenograph zur Volkszeitung, nein,als<br />

Berichterstatter, weil er so gut stenografieren konnte. Er war<br />

Berichterstatter<strong>für</strong> Andreas Gayk. Andreas Gayk war damals<br />

Redakteur bei der Volkszeitung. "<br />

Was heißt eigentlich „Berichterstatter"? Hat er selber<br />

Berichte geschrieben?<br />

Ja, er wurdeimmer losgeschickt. Das war die Zeit derinteressantesten<br />

Versammlungen. Jeden Abend Versammlungen,<br />

und Paul war jedenAbend unterwegs. Dagab es Versammlungen<br />

von den Kommunisten, von den Unabhängigen, von der<br />

SPD und von den Bürgerlichen. Alles was die Volkszeitung<br />

benötigte, mußte Paulmitbringen.<br />

MeinBruder warder einzige inganzKiel, derstehendallesin<br />

Debattenschrift mitschreiben konnte, und alles hörteer noch<br />

mit. Deshalb wurde er ja auch später Stenograph im Landtag.<br />

Zuerst einmalschickteihn die Volkszeitung wegenseinerFähigkeiten<br />

überall hin, um Berichte zu schreiben. Paul hat mir<br />

erzählt, wie Andreas Gayk ihm das beibrachte: „Kürzer, kürzer,<br />

kürzen, janicht so vielnebenbei" hieß das. Für Andreas<br />

Gayk hatte er viel übergehabt. Den hat er richtig verehrt. „Der<br />

war tüchtig, und von dem hab ich so viel gelernt", hat Paul<br />

immer gesagt. "<br />

Schreiben war also zunächst einmal <strong>für</strong> Paul Döringkeine<br />

schriftstellerische Tätigkeit, sondern eine Technik, die er besser<br />

als viele anderebeherrschte. Bei der Volkszeitung erhielt<br />

das Schreiben aber aucheine politische Dimension. Seine stenographischenFähigkeiten<br />

erlaubtenihm,diehitzigenDiskussionen<br />

in den Veranstaltungen wortgetreu wiederzugeben.<br />

Sicher kam ihm diese Fähigkeit später <strong>für</strong> das SACHSEN-<br />

HAUSEN-Tagebuchzugute.<br />

302


Kiel,das wardie Stadt,inderPaulDöringgroß geworden war,<br />

die Stadt seiner Eltern,der Sozialistischen Arbeiterjugend. In<br />

Kielhatte er eine Lehre gemacht, undhier begann er 1924 bei<br />

der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung. In Kiel hatte er<br />

seineersteFrauCharlottekennengelernt, dieer 1925heiratete.<br />

Mit ihr ging er 1927 nachDessau. 15 Warum er Kiel verließ, ist<br />

nicht genau bekannt.Die Vermutungen reichen vonpersönlichen<br />

Gründen bis hin zur Suchenach einer neuenberuflichen<br />

und politischen Wirkungsmöglichkeit.<br />

Der Proletarier aus<br />

dem Eulengebirge<br />

Durch seine Tätigkeit <strong>für</strong> die Volkszeitung erfuhr Paul<br />

Döringmehr über den politischen Alltag in der Republik als<br />

viele seiner Zeitgenossen. Dieses Wissen brachte ihn wahrscheinlich<br />

zueinem kritischen Urteil über die Art und Weise,<br />

mit der die SPD der nationalsozialistischenGefahrbegegnete.<br />

Er mußte beobachten,daß die eigenen Genossen zwar gegen<br />

die „Braunen" redeten, sich aber bei Schlägereien auf Versammlungen<br />

oder Demonstrationen schnell zurückzogen. Als<br />

Mittelim Kampf ließen sie nur zu, was mit den bürgerlichen<br />

Gesetzen vereinbar war.<br />

DieRisikobereitschaft inder Sozialistischen Arbeiterjugend<br />

war im allgemeinen größer als bei den älteren Genossen. Paul<br />

Döringhat den Verfallder Weimarer Demokratie wahrscheinlichähnlich<br />

wie seine Schwester erlebt:<br />

„Wir Jugendlichen alle haben uns damals über die Bonzen<br />

sehr geärgert. Wissen Sie, da gab es das Gewerkschaftshaus.<br />

Untenwar dasRestaurant,dortsaßen sie. Fritz Hansen,Richard<br />

Hansen 16 , Otto Eggerstedt 17 und alle unsere Bonzen. Jeden<br />

Abendsaßen sieda. Wenn esimGewerkschaftshausein schönes<br />

Konzert gab und wir vorder Tür herumlungerten, weil wirden<br />

Eintrittnicht bezahlenkonntenundaufdiePause warteten,um<br />

in den Saal hereinzukommen, dann hieß es immer, guck doch<br />

mal da rein, wo sie sitzen. Wenn uns einer, der schon Geld<br />

verdiente, mal 'neBrause spendierte,dannsaßen unsereBonzen<br />

immerdaundrührten sichnicht.Mirgingesdamalsgenauso wie<br />

Paul:Ichhab dasnicht ertragen.<br />

Ichhabe es nichtertragenkönnen,daß dieNazis ungehindert<br />

machenkonnten, wassie wollten.DieNazis, diemandamalsauf<br />

der Straße sah, die waren niemals in einer Gewerkschaft, niemals<br />

ineiner Gemeinschaft gewesen. Das waren allesRowdies,<br />

richtige Banditen. Weil sie alle nichts hatten, kriegten sie doch<br />

schicke Stiefel undeine Uniform. Das waren die Ärmsten der<br />

Armen. Die hatten überhaupt kein Gefühl <strong>für</strong> Partei und<br />

Gewerkschaft. Das war derAbschaum,unddie wurdenauf uns<br />

losgelassen. NachsolchenPrügeleien schrieb die VZ nur: „Die<br />

Kommunisten haben mal wieder verprügelt" oder, das vergess'<br />

ich nie, „Nazis und Kozisprügelten sich". Ich fand das unerhört!<br />

Unsere Leute durften sich nicht wehren. Unsere wurden nie<br />

aufgefordert, etwas dagegen zu unternehmen. Es war ja mit<br />

Gefahr verbunden. AberdieKommunisten tatendas. Undunter<br />

denJungen inder Arbeiterjugend waren welche, diedas einfach<br />

machten. Dahab ichmich dannauch malrangemacht, undein<br />

bißchen gelauscht undgehört. " 15 Schriftliche<br />

Rickers.<br />

16<br />

Geboren 1887<br />

SPD-Parteisekretär<br />

desReichsbannersSchwarz-Rot-Gold<br />

in Schleswig-Holstein.<br />

kurz nach 1933<br />

galt als einflußreicher<br />

tischerExilpolitiker.<br />

Konditor, nach<br />

kretär in Kiel.<br />

ter. Polizeipräsident<br />

den Nazis verhaftetund<br />

bracht.<br />

Mitteilung von Karl<br />

in Kiel. Vor 1933<br />

und Vorsitzender<br />

Emigrierte<br />

nach Dänemark und<br />

sozialdemokra-<br />

1918 SPD-Parteise-<br />

Reichstagsabgeordne-<br />

in Altona, von<br />

imKZ umge-<br />

303


18<br />

Buchwitz, O.: Naziterror in Schlesien.<br />

InW. Emmerich(Hrsg.): Proletarische<br />

Lebensläufe. Band 2, Hamburg1978.<br />

19 Die Darstellung über Paul Dörings<br />

Zeit in Schlesiengründet sich auf folgende<br />

Dokumente aus seinemungeordneten<br />

Nachlaß:<br />

AntragaufAusstellung eines Ausweises<br />

<strong>für</strong> politisch, rassisch und religiös<br />

durch den Nazismus Verfolgte vom<br />

25.11. 1946.<br />

8 Zeugnisabschriftenüber Tätigkeit an<br />

schlesischen Parteizeitungenvon 1928<br />

bis1931 (unterzeichnet vonVictor Noack,<br />

Kurt Wimmer, Jeuthe, Paul<br />

Prien, Herbert Schauder, Fritz Söhnel,<br />

P. Wolf, G. Henseleit, Alfons<br />

Boer).<br />

Kozis wurden damals die K....?<br />

,Ja, das wardamalssoüblich. DieKommunistennanntendie<br />

SPDler ja auch Sozialfaschisten. Das war damals schon ganz<br />

bös.Das wareineschlimme Feindschaft, SozialistenundKommunisten.<br />

Gleichzeitig war dieseZeitauchsehr interessant.InderArbeiterjugendlernteichBrunoKossak<br />

kennen. Das warein Gaardener.<br />

Unsere GaardenerJungen waren tüchtig. Das waren mehr<br />

dieArmen, die Gaardener, in den Arbeitervierteln. Diehielten<br />

auch zu den Kommunisten. Sie gingen abends los, um zupinseln.<br />

So ging ich auch mit Bruno Kossak los. Er war kein<br />

Kommunist, aber er wollteauch was tun gegen die Nazis. Ich<br />

hatte einen Umhang um, einCape, unddarunterdenFarbtopf,<br />

einen kleinen Eimer mit dem Pinsel. Wir hakten uns ein als<br />

Liebespaar, schöneng aneinandergeschmiegt bis zur nächsten<br />

Litfaßsäule. Und dann paßten wir auf: wenn niemand in der<br />

Nähe war, wurde gemalt. Was es war, weiß ich nicht mehr,<br />

jedenfalls gegen dieNazis.<br />

Solche Unternehmungen, die mit Gefahr verbunden waren,<br />

konnte man bei den Sozialdemokraten nicht erleben. Lammfromm,<br />

genauso wie es 1918 war, wie Ebert und Scheidemann<br />

Noske auf uns schießen ließen, auf unsere Gewerkschaftler.<br />

Genauso war es damals auch.<br />

Später wurdensiegejagt, auch BrunoKossak.Ich weiß nicht,<br />

woer hinkam. Ich weiß nur, daß erFlugblätter verteilte, vervielfältigte,<br />

und daß sieimmer aufJagd waren. Einmalhater zumir<br />

gesagt: „Du bist ja ein guter Kamerad, du mußt mal eine<br />

Geheimschrift lernen. Wenn man erst im Gefängnis ist, dann<br />

muß man sich doch verständigen können." Darauf haben wir<br />

Geheimschrift gelernt, ich auch. Und nachher kam es soweit:<br />

unsereLeutesaßen alleinderHarmsstraße. Untersuchungshaft,<br />

von den Lammfrommen war niemand dabei, nur die Gaardener,<br />

die ich kannte. Auch gute SPDler, die jahrelang in der<br />

Arbeiterjugend gewesen waren. Dann besuchten wir sie inder<br />

Harmsstraße, durften jabesucht werden.Dannmußte mansich<br />

verständigen. „Sag bloß dem und dem Bescheid. Der und der<br />

muß 'neHaussuchung erwarten. Dann mußten ja die Devisen<br />

schnellübertragen werden.Das war Untergrundarbeit, obgleich<br />

ich in der Arbeiterjugend war. Aber unsere Bonzen wußten<br />

nichts davon. Wenn die gewußt hätten, dann hätten sie gesagt<br />

„Nein...".<br />

Paul Döring gehörte mit Sicherheit nicht zu den „Lammfrommen",<br />

sondern eher zu denen, die Aktionen gegen die<br />

Nationalsozialisten unternehmen wollten. Als er 1927 nach<br />

Schlesienging, dahatte sich die Auseinandersetzung zwischen<br />

RechtenundLinkenbereits sehr verschärft.Wer politisch Stellungbezog,<br />

mußte mit persönlichemTerror der SA rechnen. 18<br />

Seine erste Station war das „Volksblatt<strong>für</strong> Anhalt" in Dessau.<br />

19 Dort fand er eine Stelle als Landtags-Pressestenograph<br />

und Berichterstatter. In Dessau blieb er jedoch nicht sehr<br />

lange. Mit dem verantwortlichenRedakteurüberwarf er sich.<br />

Im September 1929 zog Paul DöringvonDessau nach Langenbielau,<br />

um dort eine StellealsRedakteur beim „Proletarier<br />

304


aus dem Eulengebirge" anzunehmen. Der „Proletarier" gab<br />

ihm die Gelegenheit,sich alsLokralredakteurzubewähren.Er<br />

erwarb einenFührerschein und fuhr bei jedem Wetter zu den<br />

Versammlungen auf dieDörfer.<br />

Die Arbeitslosigkeit drückte auch inseiner Region schwer.<br />

Paul Döringwolltenicht nur inseiner Zeitung darüber schreiben,<br />

sondern auch praktisch etwas tun. Er schloß sich einem<br />

Agitproptrupp der KPD an, mit dem er über die Dörferfuhr.<br />

Im „Proletarier"rief er die Armen dazu auf, mit der Stempelkarte<br />

einzukaufen, wenn es zum Notwendigen nicht mehr<br />

reichte. Bei den Kommunisten hatte er zwar eine schärfere<br />

Beurteilung der politischen Lage und möglicherweise auch<br />

aktivere Kämpfer gegen die Faschisten gefunden, dennoch<br />

schien er sich in seiner neuen politischen Heimat nicht völlig<br />

wohl zufühlen.<br />

Auchbeim „Proletarier"gab es Streit. Ende 1930 schied er<br />

unter „verzwickten Umständen" aus. Man entzog ihm die<br />

Wohlfahrtsunterstützung wegen illegaler Parteizeitungs-<br />

Arbeit. Jetzt gehörteer selbst zu denen, <strong>für</strong> die er sich vorher<br />

politisch eingesetzt hat: Arbeitslos geworden, mußte er sich<br />

und seineFamilie mit einem Minimum an Geld ernähren.<br />

Die Aktionen der Agitproptruppe und seine Artikel im<br />

„Proletarier" brachten ihn in Konflikt mit der Justiz. Im<br />

November 1931 wurde er wegen Aufforderung zu strafbaren<br />

Handlungen zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.<br />

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, saß Paul Döring<br />

gerade eine Strafe ab. Das war gut <strong>für</strong> ihn, denn sobefand er<br />

sich nicht im Blick der neuen Herren, die er nach ganzen<br />

Kräftenprovozierthatte.Nachseiner Entlassung warer wieder<br />

arbeitslos. Der Versuch, sich als Fotograf selbständig zu<br />

machen,blieb erfolglos. Er zognachBielefeld,wo er 1936 eine<br />

Arbeit als Stenotypist fand. InderFirma ließ er sichvon einem<br />

Mitläufer provozieren,über eineRede vonFreisler seineMeinung<br />

zu sagen. EinMitarbeiter desBetriebes denunzierteihn,<br />

wieim Abschnitt „Ins Konzentrationslager" dargestellt.<br />

Verwandte undFreunde vonPaulDöringwußten nicht, daß er<br />

verhaftet worden war. SeineElternerhieltennach einiger Zeit<br />

einenBrief,indemer mitteilte, daß er sich denArm gebrochen<br />

hätte. Seine Schwester erzählte, daß man damals ahnte, was<br />

ihrem Bruder wirklich widerfahren war, nämlich Folter im<br />

Konzentrationslager.<br />

Wie der Weg von der „Freiheit"indasKonzentrationslager<br />

aussah, schilderte PaulDöringmit der Aufmerksamkeit eines<br />

Menschen,der ahnte, was noch alles auf ihn zukommen sollte.<br />

Jede Bewegung war bedeutsam: Auffallenhieß, sich zu gefährden.<br />

Helfen konnte nur Vorsicht und dieList des Schwachen:<br />

Das war es nun also, dasKZ.Eine breite Lagerstraße. Links<br />

undrechtsBaracken.Hierlagniemandinder Sonne. Waswiran<br />

Menschen sahen, zog sich bei unsenn Anblick hastig zurück.<br />

Was hatten die <strong>für</strong> ulkige Lumpen an? Polizeiuniformen von<br />

achtzehnhundertundkruck. Manchmalpaßten sie sogar. Man<br />

führte uns wieder voreineBaracke.Mit zehnMeterAbstandvon<br />

305<br />

Paul Döring1929.<br />

Da wares nun also,<br />

das KZ


DieFolgen der<br />

Verfolgung<br />

20 Döring1949, a.a.O<br />

21<br />

Döring1949, a.a.O.<br />

22<br />

Döring1949, a.a.O<br />

Mann zu Mannstanden wir zubeiden Seiten des Barackenein-<br />

erst vor den<br />

gangs. Hatte Karl mir nicht gesagt, wir müßten<br />

Lagerkommandanten? Ein Name wurde gerufen. Ja", sagte<br />

meinNebenmann,und damachte ereinenSatznach vorn. „Hier<br />

heißt es, und zwar laut, und dann rennst Du auch schon!"<br />

fauchte der SS-Mann, der ihn vonhintengetreten hatte.<br />

Rennemal, wenndunicht weißt, wohin.Karlhattemirgesagt:<br />

Aufpassen, wo dierichtige Tür ist!" Linksundrechts standen<br />

SS-Leute Spalier. Die wußten, welche Tür. Wie viele Male der<br />

Erstaufgerufene zuBoden ging, weiß ichnichtmehr. Der zweite<br />

wurde aufgerufen. Wie ein Blitz schoß erauf denBarackeneingangzu.Dabeiübersah<br />

erdieHandeinesBewachersund verlor<br />

die Mütze. Flinksprang er danach, erwischte sie auch, und als<br />

ihn derFußtritt erwischte, überschlug ersiehnachvorn, aberdie<br />

Mütze hatte erfest in der Hand...<br />

Als ich loslief - -<br />

ach, schon durch mein „Hier"-Geschrei<br />

waren sie auf einenbesonderen Spaß gefaßt. Den Posten rechts<br />

ließ ich soweit aus, daß der links mich ganz sicher inseinem<br />

Stiefelbereichglaubte, aber beiihm wurdeichplötzlichschreckhaft<br />

wild. OhneGrundstolperteichüber dieersteSchwelle, kam<br />

dabei unter dem Stiefel des nächsten durch, was sie geradezu<br />

verrückt machte, und sie schrien beglückt auf, als ichmit Volldampfin<br />

dendunklenBarackeneingang tieferhineinschoß. Das<br />

schien aber nur so. Ich wartete die beiden Auffänger dortnicht<br />

ab, machte plötzlich eine kurze Wendung nach rechts, und<br />

drinnen war ich, in der richtigen Tür und hatte sie sogar noch<br />

leise zumachenkönnen.(Kz16-17)<br />

Vom März 1936 bis zum Oktober 1936 blieb Paul Döringin<br />

Haft.Man entließ ihn „aufProbe" undgab ihmeineBescheinigung,<br />

daß <strong>für</strong> ihn nur „leichte Arbeit" inFrage käme. 20 Trotz<br />

der Bescheinigung wurdeer bei der Gartenbauverwaltung <strong>für</strong><br />

Erdarbeiten eingestellt. Die Bielefelder Gestapo schikanierte<br />

ihn. Vorder Arbeit bei einer Versicherung sollteer einepolitische<br />

„Unbedenklichkeitserklärung" erbringen. Paul Döring<br />

fuhr statt dessen mit dem Fahrrad über die Grenze nach Holland.Die<br />

Holländerbehandeltenihn zunächst gut:<br />

„Mansagtmir, daichmeinenEntlassungsschein ausdemKZ<br />

bei mir hatte, daß ich in Holland Asylrecht hätte.... Die KP<br />

wandtesichanmich, weilichfrüher Agitpropleiter desBezirkes<br />

Eulengebirge gewesenwar. - VonderKPwollteichnichts wissen.<br />

DerProkureur General so was wie Staatsanwalt - wandtesich<br />

meinetwegen ohne mein Vorwissen an die SP; diese wollte von<br />

mir nichts wissen, da ichzur Konkurrenz " 2I<br />

gegangen war.<br />

ImpersönlichenGespräch mit seinem Arbeitskollegen Kurt<br />

Stenzel äußerte Paul Döring, daß die SPD von ihm nichts<br />

wissen wollte, weil sich der Prokureur mit einem schlesischen<br />

Parteizeitungsredakteur in Verbindung gesetzthatte, mit dem<br />

er 1928 oder 1929 inStreit geratenwar. Ausseiner Schilderung<br />

„Wie ichinsKZkam" 22 geht dannweiterhervor,daß ihn, da er<br />

keine Fürsprecher vorweisen konnte, die Holländer wieder<br />

nach Deutschland abschoben. Dort wurde er zunächst wegen<br />

verbotenen Grenzübertritts zu zwei Tagen Haft verurteilt und<br />

306


danach zurück ins Konzentrationslager gebracht. Am 20.4.<br />

1939 zu „Führers Geburtstag" entließ man ihn endgültig aus<br />

Sachsenhausen. Nachseiner Entlassung suchte er alte Freunde<br />

auf. Unter anderem versuchte er, mit der Familie Hermberg<br />

Kontakt aufzunehmen,die ihnvor 1927inKielunterstützt und<br />

geförderthatte.Erbekam jedocheinenBrief einesehemaligen<br />

Mitarbeiters vonHermberg,ausdem hervorging, daß nichtnur<br />

Dr. Hermberg, sondern auch dessen Frau Annemarie bereits<br />

emigriert waren.InKielmußte er sich als ehemaliger Häftling<br />

eines Konzentrationslagers regelmäßig bei der Gestapo inder<br />

Düppelstraße melden. Die einzige Arbeit,dieman ihmzuwies,<br />

bestand in harter körperlicher Tätigkeit auf dem Holzplatz<br />

„Esselsgroth Söhne".Nach den Qualen des Lagers belastete<br />

ihn diese Arbeit sehr. DieNazis drohten ihmundlockten ihn.<br />

Wenn er bereit wäre, deutsche Emigranten in Dänemark zu<br />

beobachten, würde er es besser haben. 23 Abgesehen davon,<br />

daß ihnkaum jemandzu Spitzeldienstenhättebringen können,<br />

kam es durch die BesetzungDänemarks nicht mehr dazu.<br />

Paul Döringwurde Anfang 1940 zur Luftwaffe eingezogen.<br />

Er bewies Mut in gefährlichen Situationen,bewährte sich und<br />

wurde sogar zum Feldwebel befördert. 24 Doch auch in dieser<br />

Position war er nicht bereit, sich schlicht den Gegebenheiten<br />

anzupassen. Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten brachten<br />

ihm Degradierung und die Versetzung in ein Bewährungsbataillon<br />

ein. Paul Döringkämpfte während der letzten Kriegsjahre<br />

in Istrien gegen Partisanen. Briefe, die er zwischen<br />

Anfang 1944 und Anfang 1945 an seine Frau schrieb, fügte er<br />

nach dem Krieg zueinem Erfahrungsbericht zusammen. Sein<br />

„Winnetou in Istrien" ist, wie auch das Sachsenhausen-Tagebuch,nicht<br />

veröffentlicht.<br />

Am 17.Mai 1946 wurde Paul Döringaus englischer Gefangenschaft<br />

entlassenundschlug sichnachKieldurch.Kurze Zeit<br />

arbeitete er als Journalist beim „NorddeutschenEcho" 25 , der<br />

Zeitung der Kommunisten, die von den Engländern eine<br />

Lizenz erhalten hatte. Im Juli 1946 stellte Paul Döringeinen<br />

Antrag zur „politischen Wiedergutmachung" andieStadtKiel.<br />

Erbat um dieGenehmigung einer Erlaubnis alsFuhrunternehmer<br />

26 , der wahrscheinlich nicht stattgegeben wurde.<br />

Paul Döring war nach seinen eigenen Angaben vor 1933<br />

zuerst Mitglied der SPD und dannkurzzeitig der KPD gewesen.Eine<br />

Parteimitgliedschaft bedeuteteihm jedochnicht viel.<br />

Sein politisches Bewußtsein zog er aus festenÜberzeugungen,<br />

die dasKonzentrationslager nicht hattenbeugen können.Ausdrücken<br />

konnte er seineEinstellungin Gesprächenmit Freunden<br />

oder durch spöttelnde Verse, wie seine Schwester zu<br />

berichten weiß. Nicht zuletzt gehörte auch Hilfsbereitschaft<br />

und praktisches Eintreten <strong>für</strong> die „kleinen Leute" zu seiner<br />

politischen Identität, die er auch im Nationalsozialismus<br />

behauptet hatte. Im November 1946 stellte er einen „Antrag<br />

auf Ausstellung eines Ausweises <strong>für</strong> politisch, rassisch und<br />

religiös durchden Nazismus Verfolgte" bei der „Vereinigung<br />

der Verfolgten des Naziregimes" (VVN). Sein Mitgliedsbuch<br />

vom „VerbandDemokratischer Widerstandskämpfer und Ver-<br />

23 Bericht seiner Schwester Toni<br />

Schlcmmingcr und des Kollegen am<br />

Kieler Landtag, Kurt Stenzel.<br />

24<br />

Bestallungsurkunde der Stabskorn<br />

panie L. G.K.XIvom 25.7. 1942.<br />

25<br />

Belegt u. a. durch einen Ausweis<br />

derbritischen Militärregierungmit der<br />

Befreiung vom Ausgangsverbot bei<br />

der Betätigung <strong>für</strong> das Norddeutsche<br />

Echo vom 2.1. 1947.<br />

26<br />

Döring, R: Antrag an die Geschäftsstelle<br />

<strong>für</strong> politische Wiedergutmachung.<br />

Kiel, 29. 7. 1946.<br />

307


27 Die Aussagen zu seinem zweiten<br />

Wiedergutmachungsantrag gründen<br />

sich auf Dokumente aus demnicht geordnetenNachlaß<br />

vonPaulDöring.<br />

28 Vgl.dazu jedochauchdieAussagen<br />

von G. Niederland: Die Folgen der<br />

Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom<br />

Seelenmord. Frankfurt 1980.<br />

Niederland weist am Beispielrassisch<br />

Verfolgter nach, daß die Überlebenden<br />

des Konzentrationslagers häufig<br />

sowohl an psychischen Störungen als<br />

auch an körperlichen Krankheiten,<br />

darunter Herzschäden,litten.<br />

folgter" spricht jedoch<strong>für</strong> dieAnnahme,daß er inderkommunistisch<br />

orientierten VVNkeine Heimat fand.<br />

In den ersten Nachkriegsjähren traf Paul DöringKarl Ratz<br />

wieder,den ernoch aus seiner Zeit alsBerichterstatterbeider<br />

Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung kannte. Ratz, gerade<br />

Präsident des zweiten ernannten Schleswig-Holsteinischen<br />

Landtages geworden, stellteihnimJuli1947alsParlamentsstenograph<br />

ein. Paul Döringwohnte in einer alten Laube seines<br />

Vaters amMühlenweg. Zunächst schien derLandtag ein fester<br />

Arbeitsplatz <strong>für</strong> ihn zu sein. Dann gab es aber Konflikte mit<br />

Vorgesetzten, Paul Döringpaßte anscheinend nicht in einen<br />

bürokratischen Apparat.1952schied er ausdem Dienst aus.Er<br />

verdiente sichmit GelegenheitsarbeitenseinGeld.Zuletztverwaltete<br />

er ein Obstgut bei Großkönigsförde.<br />

Das Herz machte ihmimmer mehr zu schaffen. In den 60er<br />

Jahren stellte PaulDöringerneut einen Antrag aufpolitische<br />

Wiedergutmachung, dem nach einer Reihe entwürdigender<br />

Prozeduren und ärztlicher Untersuchungen stattgegeben<br />

wurde. 27 Vorher mußte der Nachweis erbracht werden, daß<br />

sein HerzleideneineFolge der Verfolgung war.InAnbetracht<br />

seines Alters und seiner schlechten Gesundheit wurde ihm<br />

zuletzteinekleineUnterstützung gewährt.DieMaßstäbe, nach<br />

denen sein Entschädigungsantrag beurteilt wurde, setzte die<br />

Schulmedizin. Sie richtete sich allein nach der Frage, ob sein<br />

Herzfehler verfolgungsbedingt war oder ob er schon vor 1933<br />

seinen Anfang genommen hatteundsich „biologisch eigengesetzlich"<br />

fortgesetzt hatte. Über einen Zusammenhang zwischenpsychischem<br />

Lagerterror und körperlichenLeiden,zwischenDunkelhaft<br />

undHerzfehler, wird sie kaum nachgedacht<br />

haben. 28<br />

Nachgeblieben war jedoch auch seelisches Leid. Erika<br />

Döring,seine letzteFrau,erzählt,daß sienicht mitihremMann<br />

ins Kino gehen konnte. Wenn die Türen geschlossen und das<br />

Licht gelöscht wurde, dann kamen die Erinnerungen an die<br />

Dunkelhaft wieder hoch.Erhieltes ingeschlossenen Räumen<br />

nicht aus, mußte heraus.<br />

1973 starbPaul Döringals68jähriger an seinem Herzfehler<br />

inKiel.<br />

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