Hölle von Torgau - Heidemarie Puls
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22 Christ & Leben<br />
ideaSpektrum 19/2010<br />
Der Mädchenhof<br />
in <strong>Torgau</strong> um<br />
1978.<br />
<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong><br />
Schattenkinder<br />
hinter<br />
Rinck Verlag Rostock<br />
Buchtipp:<br />
<strong>Heidemarie</strong><br />
<strong>Puls</strong>, Schattenkinder<br />
hinter<br />
<strong>Torgau</strong>er Mauern,<br />
Rinck-Verlag<br />
Rostock,<br />
14,95€<br />
Pfarrer: Haben weggeschaut<br />
Die Eltern der Kinder hatten in<br />
solchen Fällen im Übrigen kein Mitspracherecht.<br />
Ihnen wurde das Sorgerecht<br />
kurzerhand entzogen. Die<br />
Einwohner <strong>Torgau</strong>s, die Kirchgemeinde<br />
und die oppositionellen<br />
Gruppen kannten zwar den Gebäudekomplex<br />
mit seinen vier Meter hohen<br />
Mauern, protestierten aber nicht.<br />
„Unser Wegschauen bedrückt mich<br />
heute noch“, sagt Christian Sachse.<br />
Er war bis 1990 Pfarrer in <strong>Torgau</strong>.<br />
Wie bei wohl allen Insassen hat<br />
die Zeit in der <strong>Hölle</strong> <strong>von</strong> <strong>Torgau</strong> auch<br />
bei <strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> tiefe Spuren<br />
hinterlassen. Geblieben sind nicht<br />
nur die seelischen Narben. „Ich war<br />
danach nicht mehr der Mensch, als<br />
den mich Gott geschaffen hat“, sagt<br />
die bekennende Christin. Seitdem sie<br />
<strong>von</strong> einem Aufseher so zusammengeschlagen<br />
wurde, dass ein Rückenwirbel<br />
angebrochen war und danach<br />
schief wieder zusammenwuchs, leidet<br />
sie unter starken Rückenschmerzen.<br />
Der Nahrungsentzug hat zu einer<br />
Kombination <strong>von</strong> Bulimie und<br />
Fresssucht geführt. Und aufgrund der<br />
Vergewaltigungen leidet die heute<br />
52-Jährige unter einem Waschzwang.<br />
Keiner wurde zur<br />
Verantwortung gezogen<br />
<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> ist 17, als sie<br />
freikommt. Bei ihrer Entlassung<br />
muss sie ein Papier unterschreiben,<br />
dass sie nichts über die Zustände<br />
in den Jugendwerkhöfen<br />
erzählt. Erst 2004 werden<br />
die Erziehungsmaßnahmen<br />
in <strong>Torgau</strong><br />
für rechtswidrig erklärt<br />
und die Opfer rehabilitiert.<br />
Drei Jahre<br />
und viele ärztliche Gutachten<br />
später wird <strong>Heidemarie</strong><br />
<strong>Puls</strong> schließlich<br />
eine Opferrente bewilligt.<br />
Die Täter <strong>von</strong> damals wurden<br />
nicht belangt. Nachdem<br />
der Geschlossene<br />
Jugendwerkhof <strong>Torgau</strong><br />
am 7. November 1989<br />
auf Anweisung<br />
des Ministeriums<br />
für<br />
Volksbildung<br />
geschlossen<br />
wurde, beeilte<br />
man sich, Beweise<br />
zu vernichten.<br />
Gitter und<br />
Zellentüren wurden in Nacht- und<br />
Nebenaktionen entfernt, Akten vernichtet.<br />
1990 wurden die „Erzieher<br />
<strong>von</strong> <strong>Torgau</strong>“ lediglich aus dem öffentlichen<br />
Dienst entlassen, einige<br />
zu einer Geldstrafe verurteilt. Horst<br />
Kretschmar, der Direktor und<br />
Obererzieher des Geschlossenen<br />
Jugendwerkhofes, wurde nicht<br />
mehr zur Verantwortung gezogen.<br />
Er starb wenige Tage nach dem<br />
Fall der Berliner Mauer – „unter<br />
elendigen gesundheitlichen Umständen“,<br />
wie ehemalige Mitgefangene<br />
<strong>Heidemarie</strong> <strong>Puls</strong> später berichteten.<br />
Genugtuung bedeutet das für sie<br />
nicht. Denn sie sinnt nicht auf Rache.<br />
Aber eine Botschaft hat sie<br />
doch – besonders an alle noch lebenden<br />
Erzieher: „Unsere Kindheit<br />
und Jugend habt ihr uns genommen.<br />
Aber den Rest unseres Lebens<br />
bekommt ihr nicht!“ Entschuldigt<br />
hat sich bisher übrigens nicht einer<br />
<strong>von</strong> ihnen. l<br />
tensivstation. Einerseits ist es für sie<br />
wie eine zweite Geburt. Andererseits<br />
ist spätestens jetzt ihre Persönlichkeit<br />
gebrochen. „Ich funktionierte fortan<br />
wie ein Roboter, wollte auf keinen<br />
Fall mehr anecken, um das, was ich<br />
da unten erlebt hatte, nie wieder<br />
durchmachen zu müssen“, sagt sie<br />
rückblickend.<br />
Wussten die Anwohner in <strong>Torgau</strong><br />
nicht, was sich hinter den Mauern<br />
des Geschlossenen Jugendwerkshofes<br />
abspielte? Angeblich nicht. Offiziell<br />
waren hier Kriminelle untergebracht.<br />
Doch wirkliche Verbrechen<br />
hat sich keiner der Inhaftierten zuschulden<br />
kommen lassen. Ein Ge-<br />
richtsurteil war auch nicht dig. Es genügte, wenn etwa ein<br />
notwenfällig<br />
beim Direktor meldete. Eine<br />
Liste mit den Gründen für eine Einweisung<br />
in einen DDR-Jugendwerkhof<br />
(siehe Kasten) findet sich in dem<br />
2006 eingerichteten Dokumentationszentrum<br />
in <strong>Torgau</strong>: Sie reicht <strong>von</strong><br />
A wie „abartiges Verhalten“ bis Z<br />
wie „Zwinkertick“. Damit konnte<br />
faktisch jeder missliebige Jugendliche<br />
in einen Jugendwerkhof einge-<br />
wiesen<br />
Lehrer ein Kind als verhaltensauf-<br />
werden.<br />
Zurow Demmin<br />
Dorf Mecklenburg Rühn<br />
Tarnow<br />
Neu- Olgashof<br />
Stieten<br />
Vollrathsruhe<br />
Gerswalde<br />
Schöneberg<br />
Hennickendorf Waldsieversdorf<br />
Lehnin<br />
Ludwigsfelde<br />
Burg 2x<br />
Groß-Leuthen<br />
Pretschen<br />
Wolfersdorf<br />
Calbe<br />
Lutherstadt<br />
Wittenberg<br />
Bernburg<br />
Aschersleben<br />
Finsterwalde<br />
Freienhufen<br />
<strong>Torgau</strong><br />
Eilenburg<br />
Drehna<br />
Leipzig<br />
Moritzburg<br />
Kottmarsdorf<br />
Weinbergen<br />
Sömmerda<br />
Eckartsberga<br />
Coswig<br />
Gebesee<br />
Mittweida<br />
Freital<br />
Bad Köstritz<br />
Rödern,<br />
Erfurt<br />
Bräunsdorf Sachsenburg<br />
Ebersbach<br />
Friedrichswerth<br />
Brand-Erbisdorf<br />
Wolfersdorf<br />
Klaffenbach<br />
Ichtershausen<br />
Crimmitschau<br />
Neukirchen<br />
Hummelsheim<br />
Scharfenstein<br />
Leubnitz<br />
Johanngeorgenstadt<br />
Was es in der DDR für Problemkinder gab:<br />
474 staatliche Kinderheime, 38 Spezialkinderheime, 57 Jugendwerkhöfe<br />
und den Geschlossenen Jugendwerkhof <strong>Torgau</strong>. Hier<br />
sollten Jugendliche mit Disziplin und Arbeit zu sozialistischen<br />
Bürgern „umerzogen“ werden. Betroffen waren nicht nur Jugendliche,<br />
die beispielsweise gestohlen hatten. Es genügten oft<br />
kleinere Vergehen, wie etwa die Schule zu schwänzen.<br />
Warum man in einen Jugendwerkhof in der DDR kam:<br />
Ängstlichkeit, Bettnässen, Daumenlutschen, Dulderrolle,<br />
Einnässen am Tage, Essstörungen, Gefügigkeit, Hemmungen,<br />
Körperschaukeln, Lügen, Misserfolgsbefürchtungen,<br />
Nägelknabbern, Schadenfreude, Schulschwänzen, Schweigsamkeit,<br />
unerhörte Maßlosigkeit, Weglaufen, Wehleidigkeit,<br />
Stottern, Zerstören