Palliative Pflege von Menschen mit Demenz - Mabuse Verlag
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<strong>Palliative</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong><br />
Stephan Kostrzewa<br />
Eine Langfassung des Artikels aus Dr. med. <strong>Mabuse</strong> Nr. 172 März/April 2008<br />
Die palliative Begleitung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> steht in Deutschland noch ganz am<br />
Anfang. Es gibt kaum gute Konzepte, und in der Ausbildung wird nur ungenügend darauf<br />
vorbereitet. Stephan Kostrzewa zeigt, wie <strong>Pflege</strong>nde sterbende demenzkranke <strong>Menschen</strong><br />
pflegen, unterstützen und begleiten können.<br />
Die palliative Versorgung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> stellt uns vor besondere<br />
Herausforderungen. Der Anteil an <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> wird gesamtgesellschaftlich, aber<br />
auch bei den HeimbewohnerInnen, immer größer. Diese neue <strong>Pflege</strong>heimklientel nötigt die<br />
Träger der stationären Altenarbeit zunehmend, sich mehr nach ihnen auszurichten. Im<br />
<strong>Pflege</strong>alltag wird es immer schwieriger für den Begleiter, den Bedarf eines sterbenden<br />
<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> zu er<strong>mit</strong>teln, je weiter die <strong>Demenz</strong> fortgeschritten ist.<br />
Gängige Literatur, Konzepte und Strategien zur Sterbebegleitung und zur palliativen <strong>Pflege</strong><br />
können hier nur unzureichend Abhilfe leisten.<br />
Fallbeispiel: Frau K.<br />
Frau K. ist seit drei Jahren Bewohnerin des <strong>Pflege</strong>heims „Abendrot“. Als sie in die<br />
Einrichtung einzog, war sie noch orientiert und hat sich durch ihre offene Art schnell<br />
eingelebt. Ihr Wahlspruch war immer: „Spaß muss sein, sonst kommt keiner zur Beerdigung!“<br />
Trotz ihrer Bewegungseinschränkung (Coxarthrose und Gonarthrose) und ihrer<br />
Polyneuropathie (Folgeerscheinung des Diabetes Typ II seit 18 Jahren) hat sie an vielen<br />
Aktivitäten im Haus teilgenommen.<br />
Vor knapp zwei Jahren entwickelte sich bei Frau K. eine <strong>Demenz</strong> (laut Hausarzt:<br />
„Altersdemenz“). Anfänglich hat sich Frau K. immer häufiger im Wohnbereich verlaufen, sie<br />
fand ihr Zimmer nicht mehr, und auch nachts ist sie immer häufiger über das Bettgitter<br />
gestiegen.<br />
Mittlerweile ist Frau K. bettlägerig und reagiert nur sehr zurückhaltend auf Angebote (zum<br />
Beispiel Ansprache, Basale Stimulation, Musik et cetera) <strong>von</strong> außen.<br />
Die Tochter <strong>von</strong> Frau K. hat sich immer sehr intensiv um ihre Mutter gekümmert (sie ist<br />
gleichzeitig ihre gesetzliche Betreuerin). Jeden Tag kommt sie in die Einrichtung, reicht ihr<br />
das Essen, führt Monologe, liest ihr vor und be-teiligt sich an der Basalen Stimulation.<br />
Leider erkennt Frau K. ihre Tochter nicht mehr.<br />
Seit nunmehr zwei Wochen zeigt Frau K. eine verstärkte Unruhe. Bei den<br />
Pfle-ge-verrichtungen reagiert sie <strong>mit</strong> einem erhöhten Muskeltonus, sie ballt die Fäuste und<br />
wimmert leise vor sich hin. Immer häufiger ruft sie laut „Mama, … Hilfe, … Schwester“, was<br />
zudem die anderen BewohnerInnen im Wohnbereich stört. Der Hausarzt überlegt, einen<br />
Neurologen hinzuzuziehen, da<strong>mit</strong> dieser Frau K. ein Sedativum verordnet.<br />
Seit vorgestern verweigert Frau K. Essen und Trinken. Die Tochter ist total überfordert <strong>mit</strong><br />
der Situation und konfrontiert die <strong>Pflege</strong>kräfte immer wieder <strong>mit</strong>: „Sie können Mutti doch<br />
nicht verhungern lassen!“<br />
Der Hausarzt ist auch noch unentschieden und überlegt, ob es nicht sinnvoll wäre, Frau K. im<br />
Krankenhaus eine Ernährungssonde (PEG) legen zu lassen. Leider liegt nur eine<br />
Patientenverfügung vor, die allgemeine Formulierungen enthält (z.B.: Es sollen keine<br />
Lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden).<br />
Einige vom <strong>Pflege</strong>personal akzeptieren die Haltung <strong>von</strong> Frau K. als letzte Willensäußerung,
sie in Ruhe sterben zu lassen; daher wird die <strong>Pflege</strong> und Betreuung <strong>von</strong> Seiten der meisten<br />
MitarbeiterInnen palliativ ausgerichtet.<br />
Es gibt jedoch auch einige MitarbeiterInnen, die auf die Tochter einwirken, einer PEG<br />
zuzustimmen, „denn Verhungern und Verdursten ist <strong>mit</strong> vielen Qualen verbunden“.<br />
Ungenügende Ausbildung<br />
Das hier beschriebene Beispiel zeigt ein häufig in der Praxis anzutreffendes Dilemma. Im<br />
Angesicht einer <strong>Demenz</strong> wird die Sterbesituation für die Beteiligten zu einer Situation des<br />
Stillstands oder des unüberlegten Aktionismus.<br />
Treffen wir zum einen auf Hausärzte, die sich im „Grenzland“ Sterben nicht klar für das<br />
Sterben entscheiden können, erleben wir auf der anderen Seite hilflose Angehörige, die<br />
er-drückt vom Alltagswissen (Verdursten und Verhungern ist grausam!) sich verzweifelt an<br />
die <strong>Pflege</strong>fachkraft wenden.<br />
Zwar sieht die bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung <strong>mit</strong>tlerweile ein Lernfeld für die<br />
Versorgung sterbender alter <strong>Menschen</strong> vor, jedoch steht eher der orientierte alte Mensch im<br />
Mittelpunkt der Betrachtung. In Inhouse-Schulungen fällt mir daher immer wieder auf, dass<br />
das Thema „Sterben, Tod und Trauer“ zwar fester Bestandteil der Alten- und (<strong>mit</strong>tlerweile<br />
auch) Krankenpflegeausbildung ist; jedoch werden, meist im Rahmen eines Sterbeseminars,<br />
weniger die palliative Intervention und erst recht nicht die Versorgung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />
<strong>Demenz</strong> am Lebensende als Lerninhalte ver<strong>mit</strong>telt. Hier wird klar am Bedarf der stationären<br />
Altenhilfe vorbei ausgebildet. Und selbst in der Weiterbildung „<strong>Palliative</strong> Care“ kann man im<br />
Curriculum nur den „verwirrten Patienten“ finden. Hierbei ist es jedoch fatal, das Symptom<br />
„Verwirrtheit“ <strong>mit</strong> den Krankheitsbildern der <strong>Demenz</strong> gleichzusetzen. Das Syndrom <strong>Demenz</strong><br />
ist mehr als nur Verwirrtsein. Es ist eine eigene Erlebens- und Lebenswelt.<br />
Will nun die <strong>Pflege</strong>fachkraft ihrerseits sich gegenüber der Tochter äußern, „rettet“ sie sich oft<br />
ins Private: „Ja, wenn das meine Mutter wäre, dann ...“ Hier ist deutlich zu bemerken, dass es<br />
keine einheitliche Position der Einrichtung und des Teams gibt, auch wenn im Trägerleitbild<br />
ein humanes Sterben garantiert wird.<br />
Ein Gesamtkonzept entwickeln<br />
Die palliative Versorgung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> ist nicht über einige wenige<br />
<strong>Pflege</strong>techniken zu verwirk-lichen. Ein abgestimmtes System verschiedener<br />
Interventionskonzepte ist hier <strong>von</strong>nöten, die in ein übergreifendes Gesamtkonzept<br />
eingebunden sind. Hier sollten folgende Einzelkonzepte <strong>mit</strong> berücksichtigt werden:<br />
- stukturierte Angehörigenarbeit;<br />
- gängige gerontopsychiatrische Konzepte (wie Milieutherapie, Integrative Validation,<br />
Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET), Biographiearbeit et cetera);<br />
- Einsatz der Basalen Stimulation als vertrauensbildende Kommunikations-form;<br />
- Überarbeitung des Expertenstandards „Schmerzmanagement in der <strong>Pflege</strong>“ für<br />
<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong>;<br />
- palliative Ausrichtung der <strong>Pflege</strong> und Versorgung in der Sterbesituation und<br />
- ethische Fallarbeit.<br />
Der palliative Ansatz<br />
In der Fachliteratur werden <strong>Palliative</strong> Care, Hospice Care und Hospizarbeit teilweise<br />
synonym verwendet. Alle Ansätze begreifen sich als Alternativentwurf beziehungsweise als<br />
Ergänzung zum heilenden Ansatz der Medizin und <strong>Pflege</strong>. „Kämpft der kurative Ansatz<br />
gegen die Ursachen, widmet sich der palliative Ansatz den Symptomen und deren Linderung“<br />
(Kostrzewa 2007: 95). Dabei akzeptiert der palliative Ansatz das Sterben und den nahen Tod<br />
bei gleichzeitiger Suche nach der bestmöglichen Lebensqualität für den Sterbenden und seine<br />
Angehörigen.
Gleichzeitig zeichnet sich der palliative Ansatz durch eine radikale Individualisierung des<br />
Sterbeprozesses aus. Der Sterbende gibt die Richtung, die Intensität und den Umfang der<br />
Intervention vor. Kann der orientiert Sterbende seine Bedürfnisse und Wünsche den<br />
Be-gleitern gegenüber äußern, fällt dies beim <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> im fortgeschrittenen<br />
Krankheitsverlauf weg. Durch zunehmenden Sprachzerfall, durch Entfremdung <strong>von</strong> den<br />
eigenen Körpersignalen und durch vermehrte Angst und Unsicherheit ist der Erkrankte<br />
zunehmend verunsichert, entrückt, isoliert und <strong>von</strong> äußerer Hilfe abhängig.<br />
Allein schon einen Schmerzzustand <strong>mit</strong>zuteilen, der bei circa 60 bis 80 Prozent deutscher<br />
<strong>Pflege</strong>heimbewohner zu erwarten ist, fällt immer schwerer.<br />
Konkrete Fragen am Fallbeispiel<br />
Für unser Fallbeispiel sollte zuerst ge-klärt werden, warum Frau K. keine Nahrung und<br />
Flüssigkeit mehr aufnehmen möchte. Folgende Überlegungen stehen im Raum:<br />
- Ist Frau K. lebenssatt und möchte sterben?<br />
- Ist das gezeigte Verhalten ein Ausdruck <strong>von</strong> Schmerz (Unruhe, Rufen, geballte Fäuste<br />
et cetera), was über die Nebendiagnosen, eine probatorische Gabe <strong>von</strong> Analgetika oder durch<br />
Verständigung zum Beispiel eines Laringologens (bei Ulcerationen im Mund-Rachen-Raum)<br />
zu er<strong>mit</strong>teln wäre?<br />
- Hat Frau K. noch etwas zu erledigen, um ihr Leben abschließen zu können?<br />
- Ist das Verhalten <strong>von</strong> Frau K. Ausdruck einer aktuellen Angst, die durch<br />
unterschiedliche Ursachen (veränderte Bedingungen in der <strong>Pflege</strong>einrichtung, eine neue<br />
Zimmernachbarin et cetera) ausgelöst werden könnte?<br />
Im Folgenden müssen ebenfalls die Positionen der einzelnen beteiligten Personen hinterfragt<br />
werden. Hier können fachlich fundierte Informationen für die Tochter und einen Teil der<br />
MitarbeiterInnen helfen, den Druck aus der aktuellen Situation zu nehmen. Zu klären wäre<br />
hier:<br />
- Was passiert in einem Organismus, der dehydriert? Bedeutet „Verdursten“ gleichzeitig<br />
Durst zu leiden? Wie kann spezielle Mundpflege für Sterbende geleistet werden, ohne den<br />
Sterbenden zusätzlich zu belasten?<br />
- Was bedeutet es zu „verhungern“? Bedeutet „Verhungern“ leiden? Oder werden hier,<br />
ähnlich wie bei der Dehydratation, körpereigene Morphine und Endorphine ausgeschüttet, die<br />
die Schmerzschwelle ansteigen lassen?<br />
- Welche Formen der Flüssigkeitsapplikation (zum Beispiel rektale Infusion) lassen sich<br />
alternativ anbieten, ohne einen Sterbenden noch zusätzlich zu belasten?<br />
Auch ist zu klären, ob das Legen einer PEG eine lebensverlängernde Maßnahme ist, wie sie<br />
die Patientenverfügung aus dem Fallbeispiel ausschließen soll.<br />
Einzelne Interventionen<br />
Sterbende haben unterschiedliche Bedürfnisse. Die wohl belastendsten Symptome im<br />
Sterbeprozess sind Schmerz, Mundtrockenheit, Durst, Angst und Luftnot.<br />
Diese Symptome müssen bei <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> im Sterbeprozess ebenfalls angenommen<br />
werden. Der einzige Unterschied ergibt sich bezüglich der Angst aus dem Bewusstsein, ein<br />
Sterbender zu sein. Ist der orientiert Sterbende da<strong>mit</strong> beschäftigt, sein Leben zu bilanzieren,<br />
ein Lebenspanorama zu entwerfen, sich zu verabschieden, sein Leben zu regeln und sich <strong>mit</strong><br />
seinem Leben in einem übergeordnetes Ganzen zu sehen, entfallen diese psychodynamischen<br />
Prozesse bei <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> im fortgeschrittenen Zustand (zum Beispiel einer<br />
primären <strong>Demenz</strong>, wie der Senilen <strong>Demenz</strong> vom Alzheimer Typ). Diese degenerativen<br />
Hirnabbauprozesse gehen einher <strong>mit</strong> einem Abbau <strong>von</strong> Ratio, Intellekt, Reflektionsvermögen<br />
und Selbstthematisierung. Zunehmend erlebt ein Mensch <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> sich in einem<br />
„permanenten Augenblick“. Die Vergangenheit löst sich chronologisch rückwärts auf, und die
Zukunft verliert an Gewicht. Daher ist für einen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> der Moment die<br />
vorrangige Erlebensperspektive.<br />
Was ist nun die vordringlichste Bewusstseinslage, wenn gestorben wird im „permanenten<br />
Augenblick“? Es sind die Einflüsse, die un<strong>mit</strong>telbar in den Augenblick hineinspielen. Es ist<br />
der Schmerz, es sind die Grundbedürfnisse des Körpers, es ist der Wunsch nach Zuwendung<br />
Buchmann 2007: 51), nach Vertrautem im großen „Nebel des Vergessens“.<br />
Im Folgenden möchte ich nur einige wenige Interventionen zeigen, die bei einer Begleitung<br />
beim Sterben <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> Berücksichtigung finden könnten.<br />
Angst<br />
Ohne die einzelnen gerontopsychiatrischen Interventionen im Einzelnen zu erläutern, sollen<br />
hier mögliche Konzepte genannt werden, die in die Sterbebegleitung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />
<strong>Demenz</strong> integriert werden können, um Ängste im „permanenten Augenblick“ zu lindern:<br />
- Biografiearbeit<br />
- Bezugspflegesystem<br />
- Milieutherapie<br />
- Selbst-Erhaltungs-Therapie<br />
- Einsatz <strong>von</strong> Tieren<br />
- Validierende Grundhaltung<br />
- Implementierung <strong>von</strong> Ritualen<br />
- Basale Stimulation (jedoch nicht als Intervention zur Revitalisierung)<br />
- Humortherapie (Einsatz eines Klinik-Clowns)<br />
Schmerz<br />
Ein besonderes Manko ist die häufig mangelhafte Schmerztherapie bei <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong><br />
im fortgeschrittenen Zustand. Wie oben schon gesagt, muss <strong>mit</strong> einer Verbreitung <strong>von</strong> 60 bis<br />
80 Prozent chronischer Schmerzen (unterschiedlicher Stärke) bei deutschen<br />
<strong>Pflege</strong>heimbewohnerInnen gerechnet werden (Kunz 2001/2: 12). Hier sind es vor allem<br />
Schmerzen aufgrund <strong>von</strong> Verschleißerkrankungen (Basler 2004) wie:<br />
- Degenerative Wirbelsäulen-Veränderung;<br />
- Coxarthrose;<br />
- Gonarthrose;<br />
- 75 Prozent der Probanden berichten <strong>von</strong> Schmerzen im unteren Rücken, in Hüfte und<br />
Bein;<br />
- 75 Prozent bezeichnen den Schmerz in den letzten Lebenswochen als stark bis<br />
unerträglich.<br />
In den meisten Einrichtungen der Altenhilfe scheint allerdings die Meinung vorzuherrschen,<br />
dass die oben genannten Verschleißerkrankungen spontan gesunden, wenn eine <strong>Demenz</strong><br />
hinzutritt. Denn wie sonst erklärt sich, dass im Vergleich <strong>von</strong> <strong>Demenz</strong>erkrankten <strong>mit</strong> Nicht-<br />
<strong>Demenz</strong>kranken erstere deutlich weniger Schmerz<strong>mit</strong>tel verordnet bekommen, obwohl sie die<br />
gleichen Krankheitsbilder haben? Ein Blick in die „Nebendiagnosen“ bestätigt dieses<br />
<strong>mit</strong>unter.<br />
<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> im fortgeschrittenen Zustand ihrer Erkrankung können ihren Schmerz<br />
nicht mehr adäquat äußern. Sie zeigen eher unspezifische Verhaltensweisen wie Rufen,<br />
Unruhe, aggressives Verhalten, reduzierten Appetit, geballte Fäuste, angezogene Knie oder<br />
Grimassieren (um nur einige zu nennen), um ihre Not auszudrücken.<br />
Der kritische Leser wird hier zu Recht anmerken, dass die genannten Verhaltensweisen doch<br />
zu unspezifisch sind, um auf einen Schmerzzustand zu verweisen. Richtig. Aber ein anderes<br />
Verhaltensrepertoire steht einem <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> nicht zur Verfügung. Es liegt nun an<br />
uns, „dementes Verhalten“ abzugrenzen vom Verhalten eines <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> in
einem zu vermutenden Schmerzzustand. Bei dieser Abgrenzung und Einschätzung sind uns<br />
Verhaltensbeobachtungsinstrumente wie die Schmerzskalen ECPA oder BESD behilflich. Mit<br />
ihrer Hilfe kann man <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> beobachten, entsprechende Punktverteilungen<br />
erheben, um dann eine Einschätzung zu erhalten, die auf einen Schmerzzustand verweisen<br />
kann (Kostrzewa 2007: 106). Entsprechende Projekte, in denen <strong>Pflege</strong>fachkräfte im Umgang<br />
<strong>mit</strong> diesen Beobachtungsinstrumenten geschult wurden (Kostrzewa 2008: 1 ff), haben gezeigt,<br />
dass die Zusammenarbeit <strong>mit</strong> den Hausärzten auf Basis der Beobachtungsinstrumente sich<br />
professioneller und vertrauensvoller entwickelt hat.<br />
Durst und Mundtrockenheit<br />
Beide Symptome werden <strong>von</strong> Sterbenden als sehr quälend erlebt. Nicht zu verwechseln sind<br />
diese Begriffe <strong>mit</strong> dem „Verdursten“. Die Austrocknung selber bewirkt eine<br />
Schmerzsenkung, Euphorisierung, Sedierung und Reduktion <strong>von</strong> Lungensekret und<br />
Urinbildung. Ein drohendes Nieren- und Herz-Kreislauf-Versagen kann zum Beispiel <strong>mit</strong><br />
Hilfe einer rektalen Infusion vermieden werden (Schult 2001: 24-26). Die Dehydratation kann<br />
auch eine palliative Wirkung haben, ohne dass der Sterbende Durst leiden muss, wenn ihm<br />
halbstündlich eine gute Mundpflege angeboten wird. Diese Mundpflege orientiert sich an den<br />
Gewohnheiten des <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong>, das soll heißen, hier kommen Speisen und<br />
Getränke zum Einsatz, die ihm vertraut und angenehm sind wie Säfte, Bier, Eis, Marmelade,<br />
Honig et cetera (Kostrzewa/Kutzner 2006: 101 ff)<br />
Der Bedarf an palliativen Konzepten für <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> ist groß<br />
Die Zahl der <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> wird immer größer. Sie stellen die Mehrzahl der<br />
BewohnerInnen. Da deutsche <strong>Pflege</strong>heime Sterbeeinrichtungen sind (in Ballungsgebieten<br />
sterben hier circa 20 bis 30 Prozent der <strong>Menschen</strong>), müssen entsprechende Konzepte zur<br />
Sterbebegleitung <strong>von</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> entworfen und implementiert werden. Zudem<br />
muss in den entsprechenden Fachausbildungen diesem speziellen Bedarf zugearbeitet werden,<br />
um diesem gerecht zu werden.<br />
Stephan Kostrzewa<br />
geb. 1966, ist Altenpfleger, Sozialwissenschaftler, Fachbuchautor, Projektbegleiter und<br />
Organisationsberater, Fachreferent für palliative und gerontopsychiatrische Intervention.<br />
st.kostrzewa@arcor.de