Predigt vom 14.8.2005, Pred 4, 4-16
Predigt vom 14.8.2005, Pred 4, 4-16
Predigt vom 14.8.2005, Pred 4, 4-16
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<strong><strong>Pred</strong>igt</strong>reihe über den Philosophen des Alten Testaments – Nr. 5<br />
Götterdämmerung – <strong>Pred</strong>iger/Kohelet 4,4-<strong>16</strong><br />
14. August 2005 – Matthias Grüninger<br />
Auch das habe ich gesehen: Da plagt sich ein Mensch und leistet etwas und tut<br />
alles, um die anderen auszustechen. Ist das nicht auch sinnlos? Letzten Endes<br />
kommt nichts dabei heraus. Es heißt zwar: »Der Unbelehrbare legt seine Hände<br />
in den Schoß - und verhungert.« Aber ich sage: Eine Handvoll zum Leben und<br />
dabei Ruhe und Frieden ist besser als beide Hände voll sinnloser Jagd nach<br />
Wind. Noch etwas Unsinniges habe ich in dieser Welt bemerkt.<br />
Da lebt jemand ganz allein; er hat keinen Sohn und auch keinen Bruder.<br />
Trotzdem arbeitet er rastlos weiter, und sein Besitz ist ihm nie groß genug. Für<br />
wen plage ich mich dann eigentlich und gönne mir selbst keine Freude? Das ist<br />
doch eine elende Art zu leben und völlig sinnlos! Zwei sind allemal besser dran<br />
als einer allein. Wenn zwei zusammenarbeiten, bringen sie es eher zu etwas.<br />
Wenn zwei unterwegs sind und hinfallen, dann helfen sie einander wieder auf<br />
die Beine. Aber wer allein geht und hinfällt, ist übel dran, weil niemand ihm<br />
helfen kann. Wenn zwei beieinander schlafen, können sie sich gegenseitig<br />
wärmen. Aber wie soll einer allein sich warm halten? Ein einzelner Mensch<br />
kann leicht überwältigt werden, aber zwei wehren den Überfall ab. Noch besser<br />
sind drei; es heißt ja: »Ein Seil aus drei Schnüren reißt nicht so schnell.«<br />
Es heißt: »Ein junger Mann, der arm ist, aber gelernt hat, sein Leben richtig zu<br />
führen, ist besser als ein alter, eigensinniger König, der keinen Rat mehr<br />
annimmt.« Gut, den jungen Mann holten sie aus dem Gefängnis und setzten<br />
ihn auf den Thron, obwohl er in einer armen Familie geboren wurde, als der<br />
andere schon König war. Aber ich habe beobachtet, dass das Volk sich immer<br />
auf die Seite des nächsten jungen Mannes stellt, der schon bereitsteht, um den<br />
Platz des anderen einzunehmen. Alle Leute laufen ihm nach. Aber schon bald<br />
werden sie auch mit ihm unzufrieden sein und dem nächsten zujubeln. Auch<br />
das ist sinnlos, es bringt nicht, was man erwartet.<br />
Liebe Gemeinde<br />
Ein begabter junger Mann erzählte einem alten Mann von seinen Zukunftsplänen.<br />
Er wollte Rechtswissenschaft studieren.<br />
Der alte, weise Mann hörte gelassen zu und fragte:<br />
„Und dann?“<br />
„Dann werde ich Rechtsanwalt.“<br />
„Und dann?“ fragte der Alte weiter.<br />
„Dann werde ich berühmt werden und viele Prozesse führen.“<br />
„Ja und dann?“<br />
1
„Dann werde ich viel Geld verdienen und mir alles kaufen, was ich haben möchte,<br />
eine schöne reiche Frau heiraten und dann ein herrliches Leben führen.“<br />
„Und dann?“<br />
„Dann ...“<br />
Ende des Dialogs.<br />
Der junge Mann, der so genau weiss, was er will,<br />
ist schliesslich um eine Antwort verlegen.<br />
Und das ist auch verständlich,<br />
das ist richtig so.<br />
Junge Leute sollen ehrgeizig sein<br />
und grosse Pläne haben.<br />
Sie sollen versuchen,<br />
möglichst viel davon in die Tat umzusetzen.<br />
Sie müssen darum auch nicht unbedingt ihre Pläne und ihren Ehrgeiz allzu frühzeitig<br />
hinterfragen.<br />
Anders jedoch sieht es aus,<br />
wenn einer älter wird.<br />
Gerade dann, wenn es gelungen ist,<br />
wenigstens einen Teil der jugendlichen Pläne zu verwirklichen,<br />
kommt die Zeit,<br />
wo man sich der Frage stellen muss:<br />
„Und jetzt?“<br />
Und mit eingeschlossen in dieser Frage ist die Frage nach dem Sinn.<br />
Was soll das eigentlich?<br />
Was ist der Sinn meines ganzen Tuns, meines Einsatzes?<br />
Und darin schwingt ja auch die ganz grundsätzliche Lebensfrage mit:<br />
Was ist letztlich der Sinn meines Daseins in diesem Leben, in dieser Welt?<br />
Etwas früher im <strong>Pred</strong>igerbuch erklärt der Verfasser,<br />
dass Gott dem Menschen diese Frage ins Herz gegeben habe.<br />
2
Demnach gehört die Sinnfrage zu unserem Menschsein.<br />
Vielleicht unterscheidet sich ja der Homo sapiens tatsächlich gerade darin von den<br />
andern Geschöpfen unserer Um- und Mitwelt,<br />
dass er nicht darum herumkommt,<br />
nach dem Sinn zu fragen.<br />
Ob er allerdings eine Antwort bekommt,<br />
das ist eine andere Frage.<br />
Wichtig ist zunächst einmal,<br />
dass er sich der Frage stellt.<br />
Denn das ist alles andere als selbstverständlich.<br />
Wie viel Rastlosigkeit von Menschen,<br />
wie viel Umtriebigkeit hat vielleicht auch damit zu tun,<br />
dass man sich gerade damit die Frage <strong>vom</strong> Leib halten will?<br />
In einem Kalenderspruch habe ich einmal den Satz gelesen:<br />
„Als sie das Ziel aus den Augen verloren,<br />
verdoppelten sie die Geschwindigkeit.“<br />
Leben nicht viele nach dem Motto<br />
„Augen zu und durch“?<br />
Und hat es nicht auch den Anschein,<br />
dass viele damit ganz gut leben?<br />
Und doch ist es eine Tatsache,<br />
dass manche irgendwann einmal gestoppt werden<br />
- sei es durch einen Schicksalsschlag, eine ernsthafte<br />
Erkrankung oder ganz einfach deshalb,<br />
weil sie das Tempo nicht mehr durchhalten können.<br />
Sie ist halt einfach da, die Sinnfrage,<br />
und wartet beharrlich darauf,<br />
3
dass wir sie ernst nehmen.<br />
Warum bin ich hier?<br />
Und was tue ich denn in diesem Leben?<br />
II<br />
Wer im <strong>Pred</strong>igerbuch liest,<br />
wird Kapitel um Kapitel immer wieder neu darauf verwiesen.<br />
Und hier, im Abschnitt, den wir heute betrachten,<br />
legt der Verfasser den Finger auf zwei Aspekte,<br />
auf zwei Aspekte, die<br />
- wie ich denke –<br />
von überraschender Aktualität sind.<br />
Der erste:<br />
Nie so wie heute wurde in einer Gesellschaft der Wettbewerb zur obersten Maxime<br />
erklärt wie in den letzten Jahren und Jahrzehnten<br />
- nicht nur im Spitzensport,<br />
sondern auch im Wirtschaftsleben.<br />
Nur der Stärkste und Vitalste hat ein Recht aufs Überleben.<br />
Nur wer sich durchsetzt gegenüber der Konkurrenz hat Zukunft.<br />
Darum trimmen sich die Einzelnen,<br />
und es trimmen sich die Firmen.<br />
Der globale Wettbewerb wird beschworen.<br />
Ist es nicht unwahrscheinlich, ist es nicht verrückt,<br />
was für Energien da absorbiert werden?<br />
Und da schreibt der Kohelet, der <strong>Pred</strong>iger, vor mehr als 2000 Jahren:<br />
Da plagt man sich und leistet etwas und tut alles, um die andern auszustechen.<br />
Ist das nicht sinnlos?<br />
Letzten Endes kommt nichts dabei heraus.<br />
4
Man sagt zwar: „Der Unbelehrbare legt die Hände in den Schoss – und<br />
verhungert.“ Aber ich sage euch:<br />
Eine Handvoll zum Leben und dabei Ruhe und Frieden ist besser als beide<br />
Hände voll sinnloser Jagd nach Wind.<br />
Wahrscheinlich können wir es ja als so etwas wie ein Naturgesetz betrachten,<br />
dass der Mensch kämpfen und sich durchsetzen muss.<br />
Genauso wie die andern Kreaturen, die Pflanzen und die Tiere,<br />
steht auch er in einem natürlichen Konkurrenzkampf.<br />
Das Ringen um einen möglichst guten Platz an der Sonne gehört zu unserem<br />
Dasein.<br />
Das ist das eine.<br />
Etwas anderes aber ist es,<br />
dieses ursprüngliche und archaische Ringen um seine Existenz zu verherrlichen<br />
und es zum eigentlichen Lebensziel des Menschen zu erklären<br />
im Sinne von:<br />
„Ich leiste also bin ich!“<br />
Ist die berufliche Leistung nicht zur Göttin unserer Zeit geworden,<br />
geschmiedet von Menschen,<br />
die glauben,<br />
dass jeder für sich der Schmied seines eigenen Glückes sei?<br />
Haben wir uns damit nicht<br />
eine unerbittliche und grausame Göttin geschaffen,<br />
der wir vieles, allzu vieles zu opfern bereit sind?<br />
Ist sie nicht eine Macht, die uns das Glück verheisst<br />
- und uns auf die Länge unweigerlich betrügt,<br />
weil sie uns am Ende doch zuwenig Erfüllung,<br />
zuwenig Sinn schenken kann?<br />
Was, wenn ein Mensch aufhört,<br />
ein Leistungsträger zu sein?<br />
Droht dann sein Leben nicht sinnlos zu werden?<br />
5
Was, wenn er ersetzbar ist,<br />
wenn andere an seine Stelle treten?<br />
Denn da ist der zweite Punkt,<br />
der mit dem ersten zusammenhängt,<br />
den Kohlet im <strong><strong>Pred</strong>igt</strong>text anschneidet.:<br />
Er spricht davon,<br />
dass das Volk immer die Tendenz habe,<br />
junge Hoffnungsgestalten hochzujubeln.<br />
Ich habe auch beobachtet, schreibt er,<br />
dass das Volk sich immer auf die Seite des nächsten jungen Mannes stellt, der<br />
schon bereit steht, um den Platz des andern einzunehmen.<br />
Alle Leute laufen ihm nach.<br />
Aber schon bald wird man auch mit ihm unzufrieden sein<br />
und dem nächsten zujubeln.<br />
Ist nicht auch das etwas,<br />
was heute auf die Spitze getrieben wird?<br />
Beherrscht nicht auch hier der Wettbewerb die Szene.<br />
Derjenige, der am meisten Erfolg verspricht,<br />
wird Fussballtrainer, ganz klar,<br />
wird Konzernmanager oder was weiss ich was alles.<br />
Nach dem Motto „Neue Besen kehren gut“ werden Menschen eingestellt aber auch<br />
ausgewechselt,<br />
ohne Federlesens,<br />
werden früh- bzw. zwangspensioniert oder einfach entlassen.<br />
Erfolg bzw. erhoffter Erfolg wird zum alleinigen Massstab.<br />
Zauberlehrlinge sind gefragt.<br />
Und so beginnt sich das Personenkarussell immer schneller zu drehen.<br />
Einsteigen tun die Jungen und dynamischen Erfolgsmenschen,<br />
6
an den sich alle Hoffnungen knüpfen,<br />
hinausfliegen tun die nicht ganz so Dynamischen und die müde gewordenen,<br />
die Abgenutzten und Verbrauchten.<br />
Wie lange sich die Neueinsteiger dann halten auf ihren Schleudersitzen ist eine<br />
andere Frage.<br />
Hat darum Kohelet, der <strong>Pred</strong>iger, nicht Recht,<br />
wenn er behauptet:<br />
Auch das ist sinnlos,<br />
es bringt nicht, was man erwartet.<br />
Erweisen sich die fast messianischen Hoffnungen,<br />
die in besagte „neuen Besen“ oft hineinprojiziert werden,<br />
nicht vielfach als Illusionen?<br />
Werden gewisse Macher und Manager nicht zu Göttergestalten emporstilisiert<br />
zu menschlichen Inkarnationen der Göttin Leistung?<br />
Braucht es hier nicht immer wieder so etwas wie eine Götterdämmerung?<br />
Habe ich vorher die Leistung als Göttin bezeichnet,<br />
so könnt ich eben so gut den Erfolg als ihr männliches Pendant beschreiben.<br />
Irgendwann muss es doch dämmern:<br />
Auch sie können nicht zaubern,<br />
die Leistungs- und Erfolgsmenschen.<br />
Und vor allem können solche Halbgötter eines nicht:<br />
uns einen letzten Sinn ersetzen,<br />
den wir in uns selber nicht finden.<br />
Kein Führer kann das,<br />
keine menschliche Leaderfigur,<br />
kein Star.<br />
7
III<br />
Doch wo,<br />
wo ums Himmels Willen sollen wir denn nach Sinn suchen?<br />
Man könnte dem Kohelet vorwerfen,<br />
dass er nur alles in Frage stellt.<br />
Doch was bietet er an?<br />
Vorerst einmal wenig.<br />
Das ist einfach so.<br />
Hier werden viele Fragen aufgeworfen<br />
Und kaum Antworten gegeben.<br />
Aber hat nicht jemand zurecht gesagt:<br />
„Fragen bleiben jung.“<br />
Antworten altern rasch“ ?<br />
Geht es nicht in erster Linie um die Bereitschaft,<br />
diese Frage nach dem Sinn überhaupt an sich heranzulassen?<br />
Mag sein.<br />
Trotzdem bin ich froh,<br />
dass wir im <strong><strong>Pred</strong>igt</strong>text zumindest so etwas wie eine Andeutung finden, so etwas<br />
wie einen Wegweiser.<br />
Der Kohelet liefert uns zwar keine pfannenfertige Antwort auf die Sinnfrage,<br />
aber er gibt zumindest einen Hinweis,<br />
wo es sich lohnt, zu suchen.<br />
Nicht im gnadenlosen Wettbewerb aller gegen alle findet sich Sinn und tiefste<br />
Befriedigung.<br />
Viel besser dran als der einzelne ist der,<br />
der sich mit einem Partner, mit einer Partnerin zusammentut.<br />
8
Zwei sind besser dran als einer allein.<br />
Und noch besser sind drei.<br />
Der Mensch ist nicht zum Einzelkämpfer bestimmt.<br />
Nicht im Gegeneinander,<br />
sondern im Miteinander lässt sich Sinn finden.<br />
Wie soll einer allein sich warm halten?<br />
schreibt Kohelet.<br />
Wenn es kalt ist, können zwei Schläfer sich gegenseitig wärmen.<br />
Sind wir nicht hier auf dieser manchmal so kalten Welt,<br />
um vorn Mitmenschen etwas Wärme zu empfangen und ihm selber etwas Wärme<br />
weiterzugeben?<br />
Der Mensch ist auf ein menschliches Gegenüber,<br />
auf ein menschliches Du hin angelegt.<br />
In der Begegnung mit andern Menschen finde ich zu mir selbst.<br />
„Im Du finde ich zum Ich“ hat Martin Buber gesagt.<br />
Liegt nicht darin Sinn,<br />
in dieser Begegnung?<br />
Wir gehen über Kohelet hinaus,<br />
wenn wir dies postulieren.<br />
Er deutet wie gesagt die Richtung an,<br />
weitergehen müssen wir jedoch selber,<br />
wenn wir auf wirklichen Sinn stossen wollen.<br />
Bleiben wir darum nochmals einen Moment beim jüdischen Religionsphilosophen<br />
Martin Buber.<br />
Er postulierte,<br />
dass in einer echten menschlichen Begegnung noch eine andere verborgen sei.<br />
9
Im andern Menschen begegnet mir Gott.<br />
Im menschlichen Du begegnet mir das göttliche Du.<br />
Für mich persönlich gehört dieser Gedanke zu den am meisten sinnstiftenden, die ich<br />
kenne.<br />
Wenn ich mich einem Mitmenschen wirklich zuwende,<br />
wenn eine echte Begegnung stattfindet,<br />
dann bin ich verbunden mit dem Urgrund des Lebens,<br />
mit Gott.<br />
Wie haben wir gesungen im Kanon:<br />
„Alles ist eitel<br />
- du aber bleibst<br />
und wen du ins Buch des Lebens schreibst.“<br />
V<br />
Ich persönlich,<br />
ich kann und will den Sinn meines Lebens nicht von Gott abstrahieren.<br />
Wenn ich es manchmal doch tue,<br />
dann stosse ich auf Ersatzgötter wie die,<br />
die im <strong>Pred</strong>igerbuch als solche entlarvt werden.<br />
Wettbewerb und Erfolg mögen wichtige Aspekte des Lebens sein.<br />
Einen letzten Sinn jedoch vermögen sie nicht zu geben.<br />
Der Sinn meines Lebens ist in Gott verborgen.<br />
Aus seinem Geheimnis kommt mein Leben,<br />
und in sein Geheimnis werde ich eines Tages zurückkehren.<br />
In der Zwischenzeit lebe ich von seiner Güte und Gnade.<br />
Amen.<br />
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