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Blutzirkel - Festa Verlag

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P. N. Elrod<br />

<strong>Blutzirkel</strong><br />

Der dritte Jack Fleming Vampir-Krimi<br />

Aus dem Amerikanischen von Rosa Welz<br />

www.<strong>Festa</strong>-<strong>Verlag</strong>.de


1. Auflage August 2005<br />

Originaltitel: Bloodcircle<br />

© 1990 by Patricia Nead Elrod<br />

© dieser Ausgabe 2005 by <strong>Festa</strong> <strong>Verlag</strong>, Leipzig<br />

Lektorat: Oliver Hellfeier<br />

Titelbild: BabbaRammDass<br />

Literarische Agentur: Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen<br />

Druck und Bindung: Finidr, s.r.o.<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN 3-935822-82-0


1<br />

Chicago, September 1936<br />

»… Dann geht die Tür auf, und dieser durchgeknallte blonde<br />

Typ grinst uns mit einer Schrotflinte in der Hand an. Bevor wir<br />

reagieren können, reißt er die Knarre hoch und feuert direkt<br />

auf Braxton.«<br />

»Wie weit standen Sie entfernt?«<br />

»Entfernt? Von wem?«<br />

»Von Braxton.«<br />

»Ziemlich nah, auf Armlänge, schätze ich. Er ist direkt auf<br />

mich gefallen, als er umkippte.«<br />

»Und wie weit waren Sie von der Schrotflinte entfernt?«<br />

»Ungefähr genauso weit.«<br />

»Erzählen Sie weiter.«<br />

»Ich bin gestolpert, als er auf mich gefallen ist, und habe mir<br />

den Kopf am Waschbecken aufgeschlagen – ich bin so richtig<br />

mit Wucht dagegen geknallt. Danach habe ich alles nur noch<br />

ziemlich vage mitgekriegt.«<br />

Ich machte eine Pause und glaubte eigentlich, dass er trotz<br />

meiner lückenhaften Erinnerung weiterfragen würde, aber es<br />

kam nichts. Lieutenant Blair von der Mordkommission der<br />

Chicagoer Polizei trug schon von Berufs wegen eine unbewegte<br />

Pokermiene zur Schau. Aber ich wusste, dass er kein Wort von<br />

dem glaubte, was ich ihm hier auftischte. Er wartete. Der uniformierte<br />

Bulle neben ihm am Tischende schaute von seinem<br />

Notizblock auf.<br />

Ich überbrückte das unangenehme Schweigen, indem ich<br />

mir das Gesicht rieb. »Kann gut sein, dass ich irgendwie benebelt<br />

war. Ich bin hinter dem blonden Kerl her, die Treppen<br />

runter und aus dem Gebäude raus. Er war zu schnell, und ich<br />

war noch ziemlich zittrig. Ich habe ihn aus den Augen verloren.<br />

Da bin ich zurück und hab dem Türsteher gesagt, er soll einen<br />

Rettungswagen rufen. Ich bin zum Studio und wollte Bobbi<br />

holen – Miss Smythe. Aber ich konnte sie nicht finden. In<br />

5


ihrem Hotel war sie auch nicht. Den Rest der Nacht habe ich<br />

überall nach ihr gesucht.«<br />

»Sie haben im Hotel mit niemandem gesprochen?«<br />

»Nur mit Phil, das ist der Hausdetektiv. Er hatte einen Brief<br />

für mich. Den hat er mir gegeben.«<br />

»Was war es? Wer hat Ihnen den Brief geschickt?«<br />

»Was weiß ich, ich hab das Ding nicht aufgemacht. Ich hatte<br />

wirklich Wichtigeres zu tun. Keine Ahnung, wo der Brief jetzt<br />

ist.«<br />

Der Bulle schrieb alles mit, wobei er sich ein Grinsen verkneifen<br />

musste.<br />

»Ich bin hoch zu Miss Smythes Hotelzimmer. Ihre Freundin<br />

Marza war da, Marza Chevreaux.«<br />

»Chevreaux«, wiederholte Blair und buchstabierte den<br />

Namen für den Beamten, nachdem er seine Notizen zu Rate<br />

gezogen hatte.<br />

»Sie wusste auch nicht, wo Bobbi war«, fuhr ich fort. »Zumindest<br />

hat sie das gesagt.«<br />

»Glauben Sie, dass sie gelogen hat?«<br />

Ich zuckte mit den Schultern. »Bobbi und ich hatten uns an<br />

dem Tag gestritten, und Marza war auf Bobbis Seite. Sie mag<br />

mich nicht sonderlich und hat kaum mit mir geredet. Ich hatte<br />

bald genug von ihr und bin gegangen.«<br />

»Wo waren Sie, nachdem Sie das Hotel verlassen haben?«<br />

Ich erzählte ihm eine lange Geschichte, wie ich Bobbi ewig<br />

gesucht und schließlich in einem Lokal gefunden hatte, das wir<br />

von früher her kannten. Dass wir dann raus zu meinem Wagen<br />

gegangen seien und uns die ganze Nacht nur unterhalten<br />

hätten. Blair fragte mich nach dem Namen des Lokals, und ich<br />

sagte, daran könne ich mich nicht erinnern. Der Bulle schrieb<br />

alles mit. Ich quatschte, bis mir nichts mehr einfiel, aber Blair<br />

hatte immer noch weitere Fragen. Wir saßen in seinem Büro,<br />

was immerhin besser war als ein Verhörraum, doch am Ende<br />

meiner Geschichte blickte er mich an, als sähe er in mir einen<br />

Tatverdächtigen und keinen Zeugen.<br />

»Wann haben Sie den blonden Mann wieder gesehen?«<br />

»Ich habe ihn nicht wieder gesehen«, log ich.<br />

»Warum hat er Braxton erschossen?«<br />

6


»Das weiß ich nicht.«<br />

»Warum war Braxton hinter Ihnen her?«<br />

»Keine Ahnung.«<br />

»Dem Hoteldetektiv, Phil Patterson, haben Sie etwas anderes<br />

erzählt. Sie haben ihm gesagt, Braxton sei ein Betrüger.<br />

Warum?«<br />

»Vor allem, damit Phil ihn im Auge behält. Ich wollte nicht,<br />

dass der Kerl Miss Smythe belästigt. Und wenn Phil Braxton für<br />

einen Unruhestifter hielt, würde er besonders gut aufpassen.«<br />

Das zumindest entsprach der Wahrheit, und Blair schien es mir<br />

anzumerken. »Braxton war ziemlich durchgeknallt. Wer weiß,<br />

warum er hinter mir her war. Bevor ich es rausfinden konnte,<br />

war er tot.«<br />

Blair unterbrach seine Fragerei, und ich fürchtete schon, ich<br />

hätte ein bisschen zu dick aufgetragen. Er blickte zu dem<br />

Bullen und bedeutete ihm mit einem kaum wahrnehmbaren<br />

Nicken, dass er rausgehen solle. Dann lehnte er sich zurück<br />

und starrte mich an. Ich starrte zurück und setzte nun meinerseits<br />

meine beste Pokermiene auf, aber es half alles nichts. Ich<br />

bin ein furchtbar schlechter Lügner.<br />

Blair war ein gut aussehender Mann, etwas über vierzig, mit<br />

schwarzem, lockigem Haar, das an den Schläfen grau wurde.<br />

Seine buschigen schwarzen Augenbrauen brachten seinen<br />

dunklen Teint vorteilhaft zur Geltung.<br />

Für einen Bullen war er zu gut angezogen, also ließ er sich<br />

entweder schmieren oder er hatte außer dem Polizeigehalt<br />

noch ein anderes Einkommen. Er verzog die Lippen zu einem<br />

zaghaften Lächeln, gestattete sich aber noch keine Vertraulichkeiten.<br />

»Okay«, sagte er leichthin und lehnte sich selbstsicher<br />

zurück. Meine Nackenhaare stellten sich auf. »Was Sie jetzt<br />

sagen, bleibt unter uns. Sie können frei reden.«<br />

Ich schaute ihn total verblüfft an, was nicht einmal besonderer<br />

Schauspielkünste bedurfte.<br />

»Ich will nur die Wahrheit hören«, sagte er, und es klang vollkommen<br />

vernünftig.<br />

»Ich habe Ihnen nur gesagt, dass …«<br />

»Ab und zu ein paar Halbwahrheiten, Mr. Fleming, aber ich<br />

7


möchte gern alles hören. Erklären Sie mir zum Beispiel, warum<br />

Sie erst jetzt hier auftauchen.«<br />

»Als ich den Artikel in der Zeitung sah, bin ich sofort gekommen.«<br />

»Wo war Miss Smythe an dem Abend?«<br />

»In einem Lokal. An den Namen erinnere ich mich leider …«<br />

»Warum verließ sie das Studio?«<br />

»Sie wollte keine Schwierigkeiten bekommen.«<br />

»Was für Schwierigkeiten?«<br />

»Eben diese Art von Schwierigkeiten. Sie hat früher mal im<br />

Nightcrawler Club gesungen und hat von der Bande dort die<br />

Nase ziemlich voll. Sie hat den Job beim Rundfunk gekündigt.«<br />

»Stimmt genau. Sie hat gekündigt, nachdem jemand ihrem<br />

Boss eine Kugel verpasst hatte. Ich finde es interessant, wie der<br />

Tod dieser jungen Frau auf den Fersen folgt.«<br />

»Glauben Sie, Bobbi hat was mit dem Schlamassel hier zu<br />

tun?« Er wollte mich aus dem Konzept bringen, aber das war<br />

leicht zu durchschauen.<br />

Er lächelte nur.<br />

»Schlagen Sie sich das aus dem Kopf«, sagte ich und lehnte<br />

mich zurück. »Bobbis Boss wurde umgenietet, und sie hat<br />

gekündigt, das ist doch ganz normal. Von den anderen<br />

Mädchen sind auch einige gegangen. Das können Sie gerne<br />

überprüfen.«<br />

»Das habe ich bereits. Miss Smythe war nicht nur Morellis<br />

Angestellte, sondern auch seine Freundin … Und jetzt ist sie<br />

Ihre Freundin.«<br />

Das war keine Frage, also musste ich auch nicht antworten.<br />

»Haben Sie ihr gesagt, sie solle nicht im Studio bleiben?«,<br />

fragte Blair.<br />

»Nein, ich …«<br />

»Warum waren Sie überhaupt im Studio? Sie hatten sich doch<br />

mit ihr gestritten.«<br />

»Es war nicht mal ein richtiger Streit. Ich bin hin, weil ich<br />

mich mit ihr aussöhnen wollte.«<br />

»Und Braxton ist Ihnen gefolgt ...«<br />

Wir gingen die ganze Geschichte noch einmal durch, und ich<br />

erzählte wahrheitsgemäß alles, was passiert war, sagte aber<br />

8


nichts über die Motivationen der Beteiligten. Blair behagte das<br />

gar nicht, aber er wollte mich noch nicht hart rannehmen.<br />

Stattdessen stellte er immer wieder seine Fragen und versuchte<br />

mich bei einer Lüge zu ertappen.<br />

»Und dann haben Sie nach ihr gesucht, anstatt …«<br />

Es war jetzt an der Zeit, ein bisschen wütend zu werden.<br />

»Wenn schon, dann bin ich eben nicht am Tatort geblieben.<br />

Ich konnte nicht mehr klar denken, okay?! Ein Mann wurde<br />

quasi unter meiner Nase in Stücke gerissen, und es hätte nicht<br />

viel gefehlt und mir wäre es genauso ergangen. Und da erwarten<br />

Sie, dass ich da herumhocke, bis ich aussagen darf?«<br />

»Nein. Aber Sie haben einen bewaffneten Mann verfolgt und<br />

waren zwei Tage lang verschwunden.«<br />

»Reden Sie doch nicht dauernd um den heißen Brei herum.<br />

Sagen Sie mir endlich, worauf Sie eigentlich hinauswollen!«<br />

Er redete weiter, als hätte ich nichts gesagt. »In der Zwischenzeit<br />

taucht der Mann wieder auf, und zwar in der Nähe seines<br />

Hauses in seinem Wagen, durchlöchert von hölzernen<br />

Kügelchen …«<br />

»Was?«<br />

»… als hätte jemand mit einer Schrotflinte auf ihn geschossen.<br />

Statt mit Steinsalz oder Bleischrot hat jemand die Waffe mit<br />

kleinen Holzkügelchen geladen. Können Sie mir das<br />

erklären?«<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

»Der Mann war halb tot. Er hat noch mehrere andere Verwundungen<br />

erlitten, und wenn man seinen geistigen Zustand<br />

als Schock beschreibt, dann ist das sehr gelinde ausgedrückt.<br />

Was ist mit ihm passiert?«<br />

»Ich habe keine Ahnung. Warum fragen Sie ihn nicht selbst?«<br />

Hier konnte nichts schief gehen. Der blonde Schuft würde nie<br />

wieder auch nur zwei zusammenhängende Worte über die<br />

Lippen bringen. Dafür hatte ich gesorgt.<br />

Blair wechselte das Thema. »Wer war die Frau in seinem<br />

Haus?«<br />

»Welche Frau?«<br />

Er zog ein Foto hervor und warf es mir zu. Übelkeit stieg in<br />

mir hoch, als ich einen Blick auf das grell ausgeleuchtete<br />

9


Tatortfoto warf. Die scharfen Schwarzweiß-Kontraste standen<br />

den blutigroten Bildern in meiner Erinnerung in nichts nach.<br />

Ich legte das Foto zurück auf den Schreibtisch. »Mein Gott, was<br />

ist denn mit der passiert?«<br />

»Jemand hat ihr den Kopf weggeschossen – mit einer Schrotflinte.<br />

Vielleicht mit derselben Waffe, mit der Braxton getötet<br />

wurde.«<br />

»Das muss der blonde Kerl gewesen sein.«<br />

Aber wer hat dann den blonden Kerl erledigt? Die Frage stand Blair<br />

deutlich ins Gesicht geschrieben. »Warum trägt diese Frau das<br />

rote Kleid von Miss Smythe?«, fragte er stattdessen.<br />

»Wie bitte?«<br />

»Miss Smythe trug während der Rundfunkübertragung ein<br />

auffallendes rotes Kleid; daran erinnern sich sehr viele Leute.<br />

Und irgendwie ist das Kleid dann zu dieser Leiche gekommen.<br />

Wie ist das möglich?«<br />

»Das muss ein Irrtum sein. Bobbi hatte das Kleid noch an, als<br />

ich sie endlich fand. Die Frau muss das Kleid im selben Laden<br />

gekauft haben.«<br />

Seine Augen waren eiskalt, wie Stückchen von poliertem<br />

Onyx. »Kommen Sie mal mit.« Er stand auf und bewegte sich<br />

geschmeidig um den Schreibtisch herum.<br />

»Wohin denn?«<br />

Er antwortete nicht, öffnete nur die Tür und gab mir zu verstehen,<br />

dass ich vorausgehen sollte. Wir gingen einen grün<br />

gestrichenen Gang entlang und traten dann in einen kleineren<br />

Raum. Darin befanden sich ein ziemlich zerkratzter Tisch und<br />

drei einfache Stühle. An der Decke hing eine nackte Glühbirne,<br />

die durch ein Metallgitter geschützt war. Auf dem Tisch<br />

lag im grellen Licht eine abgesägte Schrotflinte, mit einem<br />

handbeschriebenen Schildchen versehen und mit weißem<br />

Staub überzogen; es waren offensichtlich Fingerabdrücke von<br />

ihr abgenommen worden.<br />

»Erkennen Sie die Waffe?«<br />

»Könnte das Ding sein, mit dem der Irre Braxton niedergemacht<br />

hat. Allerdings kams mir vor, als hätten die Läufe eher<br />

einen solchen Durchmesser.« Und ich zeigte ihm mit den<br />

Händen gut dreißig Zentimeter.<br />

10


»Und wie sieht es damit aus?« Er nahm ein Stoffbündel von<br />

der Rücklehne eines Stuhls. Beim Aufrollen entpuppte es sich<br />

als Mantel. Die Aufschläge vorn waren zerfetzt, und ein gezacktes<br />

Loch von der Größe meiner Faust zierte die Mitte des<br />

Rückenteils. Die Ränder des Loches waren steif von getrocknetem<br />

Blut.<br />

»Sieht wie mein Mantel aus«, gab ich zu. Dass dieses neue<br />

Beweisstück hier auftauchte, gefiel mir gar nicht.<br />

»Wir haben ihn in Miss Smythes Hotelzimmer gefunden.«<br />

»Ich habe immer ein paar Kleidungsstücke dort, die sie für<br />

mich reinigen lässt. Sie besteht darauf. An dem Abend habe ich<br />

mir einen anderen Mantel genommen – in dem Ding konnte<br />

ich mich ja schlecht auf die Suche nach ihr machen. Ich hätte<br />

darin ja wie eine Vogelscheuche ausgesehen.«<br />

»Sind Sie sicher, dass das Ihr Mantel ist? Ziehen Sie ihn doch<br />

mal an.«<br />

Ich warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, beschloss aber, das<br />

Theater mitzuspielen.<br />

»Er passt Ihnen.«<br />

»Ist ja recht, ich habe doch gesagt, es ist meiner.«<br />

Er untersuchte sorgfältig das Loch im Rücken. »Sieht aus, als<br />

sei der Schuss direkt durch Sie hindurchgegangen.«<br />

»Der Mantel hat über meinem Arm gehangen. Ich muss damit<br />

genau im richtigen Moment zwischen Braxton und die Knarre<br />

geraten sein.«<br />

Er schüttelte den Kopf. »Das passt ganz und gar nicht zu<br />

unserer Rekonstruktion des Vorfalls, Fleming.«<br />

»Was spielt das denn für eine Rolle? Sie haben den Mörder<br />

doch.«<br />

»Ziehen Sie den Mantel wieder aus und nehmen Sie Platz.<br />

Ich möchte mit Ihnen darüber reden, warum das sehr wohl<br />

eine Rolle spielt.«<br />

»Wollen Sie Anklage gegen mich erheben?«<br />

»Das hängt ganz von Ihrer Kooperationsbereitschaft ab.«<br />

Er trat zur Seite, damit ich mich setzen konnte, und blieb<br />

abrupt stehen. Seine dunklen Augen starrten auf etwas hinter<br />

mir, dann schnellte sein Blick vor zu meinem Gesicht und<br />

wieder nach hinten. Die Kinnlade fiel ihm herunter. Ich konnte<br />

11


hören, wie sein Herz pochte, obwohl er allem Anschein nach<br />

das Atmen vergessen hatte. Ich drehte mich um. Hinter mir<br />

war ein Spiegel in die Wand eingelassen, so ein Ding, durch das<br />

man vom Nebenzimmer aus alles beobachten konnte, ohne<br />

dass man selbst gesehen wurde. Von da, wo Blair jetzt stand,<br />

konnte er den ganzen Verhörraum einsehen. Im Spiegel stand<br />

er ganz allein neben dem Tisch.<br />

»Stimmt etwas nicht?«, fragte ich und zog den alten Mantel<br />

aus. Ich warf ihn auf den Tisch, und als er sich von meiner<br />

Hand löste, erschien er wie aus dem Nichts im Spiegelbild. Das<br />

war schon interessant.<br />

Blair brachte keinen Ton heraus. Seine selbstsichere Gelassenheit<br />

war wie weggeblasen. Er stand vollkommen regungslos,<br />

nur seine Augen wurden immer größer, und sein Blick zuckte<br />

zwischen mir und dem Spiegel hin und her. Dann holte er kurz<br />

Luft, wobei er instinktiv nach der Waffe griff, die er hinten im<br />

Gürtel stecken hatte. Ein Schulterholster hätte er schneller<br />

erreicht, aber es hätte die makellose Passform seines Anzugs<br />

ruiniert.<br />

Ich schüttelte den Kopf und blickte ihm dabei direkt in die<br />

Augen. »Tun Sie das nicht.«<br />

Er hielt inne, verharrte mitten in der Bewegung.<br />

Ich musste schlucken, was bei meinem knochentrockenen<br />

Mund nicht gerade einfach war. Nach einer Sekunde hatte ich<br />

mich wieder so weit im Griff und so viel Spucke beisammen,<br />

dass ich sprechen konnte. »Gehen wir zurück in Ihr Büro«,<br />

sagte ich mit rauer Stimme. »Sie gehen voran.«<br />

Wir gingen zurück. Ich setzte mich; er blieb stehen, bis ich<br />

ihm sagte, dass er sich ebenfalls setzen könne. Automatisch<br />

schob er sich hinter den Schreibtisch, das Gesicht war ausdruckslos,<br />

seine Haltung abwartend.<br />

»Was da eben im Verhörraum vorgefallen ist … Können Sie<br />

mich hören, Blair?«<br />

»Ja.« Seine Stimme klang leise und abwesend.<br />

»Ich habe die Waffe und den Mantel zu Ihrer Zufriedenheit<br />

identifiziert. Sie haben nichts Seltsames im Spiegel bemerkt,<br />

verstanden?«<br />

»Ja.«<br />

12


»Dann sind wir hierher zurückgekehrt. Ich vermute, dass der<br />

blonde Mann die Frau auf dem Foto ermordet hat. Ihr rotes<br />

Kleid hat sie wahrscheinlich zufällig in derselben Boutique wie<br />

Miss Smythe erstanden. Das klingt logisch, oder nicht?«<br />

»Ja.«<br />

»Sie sind der Meinung, dass ich mich wirklich sehr kooperativ<br />

verhalten habe. Immerhin haben Sie Braxtons Mörder.«<br />

»Ja.«<br />

»Gut. Sie können sich jetzt entspannen und ganz normal<br />

Ihren Job machen – wir sind gute Kumpels.« Ich hatte meine<br />

Existenz und das Leben einiger anderer Personen zu schützen.<br />

Daher plagte mich jetzt kein schlechtes Gewissen.<br />

Ich entließ ihn nach und nach aus meiner Kontrolle, aber er<br />

stand noch immer unter meinem Einfluss. Er hängte sich ans<br />

Telefon und spulte Anweisungen herunter, dass jemand meine<br />

Aussage abtippen und sie zum Unterschreiben in sein Büro<br />

bringen solle. Währenddessen schaute ich mir die Bilder an<br />

der Wand an. Darunter befanden sich ein paar gerahmte<br />

Urkunden, der Rest bestand aus Aufnahmen, die Blair zeigten,<br />

wie er irgendwelchen Rathaus-Typen die Hand schüttelte.<br />

Offenbar gefiel er sich in solchen Posen, er sah gut aus auf den<br />

Fotos. Auf seinem Schreibtisch stand die Porträtaufnahme<br />

eines sehr hübschen Mädchens, das glücklich lächelte.<br />

»Sie sind verheiratet?«, fragte ich, um Konversation zu<br />

machen. Ich wollte uns die Wartezeit mit unverfänglichen<br />

Themen verkürzen.<br />

Er schaute in die Richtung, in die ich deutete. Ohne meine<br />

Kontrolle war sein Ausdruck wieder ganz normal, und er<br />

erstrahlte geradezu, als er in das Gesicht des Mädchens blickte.<br />

»Noch nicht.«<br />

»Aber bald, was?«<br />

»Für mich kann’s nicht bald genug sein.« Sein Lächeln war<br />

jetzt ehrlich, nicht das kalte Grinsen, mit dem er einen Verdächtigen<br />

aus der Fassung bringen wollte. »Sie heißt Margaret.«<br />

»Sie sieht umwerfend aus. Sie sind wirklich ein Glückspilz.«<br />

Wir redeten über seine Verlobte, bis der andere Bulle mit<br />

meiner abgetippten Zeugenaussage kam. Ich las sie durch und<br />

unterschrieb.<br />

13


»Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte Blair. Der<br />

Bulle warf ihm einen irritierten Blick zu.<br />

»Ist schon in Ordnung, ich weiß, wie es ist.« Ich verabschiedete<br />

mich, und Blair begleitete mich aus dem Gebäude<br />

und schüttelte mir zum Abschied sogar die Hand. Er mochte<br />

mich. Es war mir richtiggehend peinlich, welche Macht ich<br />

über den Mann hatte, und war froh, als ich endlich von ihm<br />

und dem Polizeipräsidium wegkam.<br />

Ein Stück die Straße hinunter parkte ein glänzender<br />

schwarzer Nash unter einer Straßenlaterne. Ein Mann mit einer<br />

Adlernase und extrem knochigen Gesichtszügen stieg aus, als<br />

ich mich dem Wagen näherte. Er war groß und hager und fast<br />

so gut angezogen wie Blair, aber bei ihm fiel es weniger auf.<br />

»Wie ist es denn gelaufen?«, fragte Escott.<br />

Ich atmete erleichtert auf, mehr aus Gewohnheit und nicht,<br />

weil ich Luft zum Leben brauchte. Es tat gut, und ich holte noch<br />

einmal tief Luft. »Wie Gordy sagen würde: ›Kein Problem!‹«<br />

»Sie haben dir geglaubt?«<br />

»Sie hatten keine Wahl. Nur wünsche ich mir manchmal, ich<br />

wäre ein besserer Lügner.«<br />

»So wie die Dinge sich entwickeln, kriegst du sicher noch viel<br />

Gelegenheit zum Üben. Sollen wir zum Krankenhaus fahren<br />

und sehen, was wir dort noch zurechtbiegen können?«<br />

»Die Besuchszeit ist bestimmt vorbei.«<br />

»Wir kommen schon rein.«<br />

Escott war überzeugt davon, weil er fast jeden in Chicago<br />

kannte. Ich hatte volles Vertrauen zu ihm. Problemlos gelangten<br />

wir ins Krankenhaus und selbst die strengsten und revierbewusstesten<br />

Krankenschwestern ließen uns passieren. Wenn<br />

ihm danach war, wusste Escott seinen Charme perfekt einzusetzen,<br />

und schließlich ließen wir die letzte der Hüterinnen des<br />

Wohlbefindens kichernd in ihrem Schwesternzimmer zurück.<br />

»Wie machst du das nur?«, fragte ich.<br />

»Ich bin mir nicht sicher. Aber solange es funktioniert, werde<br />

ich es auf keinen Fall analysieren. Vielleicht liegt es an meinem<br />

Akzent.«<br />

»Du meinst, ich muss mir nur einen Akzent wie Ronald<br />

Colman zulegen und …«<br />

14


»Ich spreche nicht wie Ronald Colman.«<br />

»Aber sicher doch. Gerade eben mit dem Dickerchen, da hast<br />

du exakt wie er geredet.«<br />

»Mach dich doch nicht lächerlich!«<br />

Escotts britischer Akzent war etwas schärfer, präziser und<br />

weniger bedächtig als der von Colman, aber, und diese<br />

Meinung vertrat ich ganz entschieden, der Effekt war derselbe.<br />

Dass Escott über irgendetwas in Rage geriet, war eine vollkommen<br />

neue Erfahrung für mich. Wir vertrieben uns die Zeit<br />

mit dieser kleinen Debatte, bis wir fast bei dem Zimmer waren.<br />

Ein Bulle saß auf einem Stuhl neben der Tür. Er betrachtete<br />

uns eingehend und stand auf, als wir näher kamen.<br />

»Ich bin Dr. Lang«, sagte Escott zu ihm. »Dr. Reade hat mich<br />

gebeten, an seiner Stelle nach dem Patienten zu schauen.«<br />

»Ist es nicht ein bisschen spät?«<br />

»Ja, das ist es«, sagte Escott mit müder Stimme, »und hoffentlich<br />

ist das meine letzte Visite heute Abend.«<br />

»Ich muss Ihren Ausweis sehen.«<br />

»Zeigen Sie ihm meinen Ausweis«, sagte Escott zu mir.<br />

Ich lenkte die Aufmerksamkeit des Mannes ganz auf mich<br />

und hielt ihm meinen alten Presseausweis vor die Nase. »Alles<br />

in Ordnung, Officer«, sagte ich.<br />

Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Okay, Sie können<br />

reingehen.«<br />

»Vielen Dank.« Angesichts der absurden Situation konnte<br />

Escott gerade noch ein Grinsen unterdrücken. Er trat ein, und<br />

ich folgte ihm auf dem Fuß.<br />

Es war ein Krankenzimmer für Privatpatienten, eingerichtet in<br />

kaltem Stahl und weißem Emaille. Gegenüber dem großen Einzelbett<br />

brannte ein kleines Licht. Der schlummernde Patient war<br />

unter der zerwühlten Bettdecke und den vielen Verbänden um<br />

seinen Kopf kaum auszumachen. Man hörte seine langen, tiefen<br />

Atemzüge, unser Kommen hatte ihn nicht geweckt.<br />

Escott blieb neben der Tür stehen, damit er sich um den<br />

Bullen kümmern konnte, falls dieser zufällig doch hereinmaschieren<br />

sollte.<br />

»Ich will das nicht tun«, flüsterte ich.<br />

Escott verstand mich, schüttelte aber den Kopf. Seine gute<br />

15


Laune war wie weggeblasen. »Aber du musst es machen. Bis<br />

jetzt erklären sie sich seine irre Geschichte noch mit der Kopfverletzung.<br />

Aber wenn er weiterhin so offenherzig redet,<br />

bekommen irgendwann ein paar der unverantwortlichen<br />

Revolverblätter davon Wind. Das kannst du nicht riskieren.«<br />

»Schon klar.« Verdammt.<br />

Er hatte Recht. Wir waren das alles schon einmal durchgegangen,<br />

und uns war keine andere Lösung eingefallen. Immerhin<br />

diente es dem Schutz von Bobbi und Escott und meiner<br />

Wenigkeit, schon deshalb hätte es mir eigentlich leichter fallen<br />

sollen. Trotzdem musste ich sehr vorsichtig sein.<br />

Ich schlich zum Bett und schaute mir den schlafenden Jungen<br />

an. Auch Matheus Webber, der stämmige junge Freund des<br />

verstorbenen James Braxton, war in jener Nacht im Rundfunksender<br />

sehr knapp am Tod vorbeigeschrappt. Braxton und er<br />

hatten auf mich Jagd gemacht, weil sie unter der irrigen<br />

Vorstellung litten, ich sei eine Gefahr für die Gesellschaft. Sie<br />

hatten mein freundliches Wesen für bloße Fassade gehalten<br />

und waren mit den besten Absichten und vollkommen unangebrachtem<br />

missionarischem Eifer losgezogen, um mich zu<br />

töten. Sie wussten wenig über meine wahre Natur und meine<br />

Bedürfnisse und hatten – abergläubisch, wie sie waren – auf<br />

Kreuze und Silberkugeln vertraut, mit denen sie mich in<br />

Schach halten und vernichten wollten.<br />

Die beiden waren mir ziemlich auf die Nerven gegangen,<br />

aber ich hatte alles unter Kontrolle – bis Braxton einem anderen,<br />

weitaus gefährlicheren Killer in die Quere gekommen<br />

war.<br />

Nun erzählte Matheus die Geschichte ihrer Vampirjagd<br />

jedem, der sie hören wollte, aber bislang gingen seine Eltern,<br />

die Mediziner und die Bullen noch davon aus, dass er durch<br />

die Gehirnerschütterung einen kleinen Dachschaden erlitten<br />

hatte. Aber wenn er weiterredete, dann würden vielleicht andere<br />

anfangen, seiner Geschichte Glauben zu schenken; genau<br />

wie Blair. Blair hatte nur einen einzigen Hinweis auf die<br />

Wahrheit gebraucht, und plötzlich hatte alles für ihn einen<br />

Sinn ergeben. Deshalb hatte ich mit Gewalt in sein Bewusstsein<br />

eingreifen müssen. Für meinen Geschmack gab es einfach zu<br />

16


viele Spiegel auf der Welt, als dass ich noch weitere Risiken eingehen<br />

konnte.<br />

Ich zog die Bettdecke weg und sah mir den Jungen genauer<br />

an. Mein Entschluss stand bereits fest, aber der Anblick, der<br />

sich mir bot, machte mir die Entscheidung leichter. Escott reckte<br />

den Hals, um zu sehen, warum ich innehielt und das Gesicht<br />

verzog. Er runzelte die Stirn, ersparte mir aber seinen ›Hab-ichdir’s-nicht-gesagt?‹-Blick.<br />

Der Patient trug ein großes silbernes<br />

Kreuz um den Hals, dazu ein paar ganze Knoblauchzwiebeln,<br />

die auf eine Schnur aufgezogen waren.<br />

Er hatte also schon wenigstens eine Person hier dazu<br />

gebracht, dass man ihn gewähren ließ. Es war ein Schritt in die<br />

falsche Richtung, jedenfalls soweit die Sache mich betraf.<br />

Der Junge öffnete die Augen ein wenig. Zuerst erkannte er<br />

mich nicht, murmelte schläfrig etwas und drehte sich auf den<br />

Rücken. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und sprach<br />

ihn mit seinem Namen an. Mit einem Mal war er hellwach –<br />

doch er kam nicht mehr dazu, zu schreien.<br />

Escott saß am Steuer. In seinem Leben gab es nicht viele Dinge,<br />

die ihm so viel Vergnügen bereiteten wie sein großer Nash.<br />

Nach ein paar furchtbar anstrengenden Nächten konnte er zum<br />

ersten Mal entspannen, und er sah direkt zufrieden aus. Sein<br />

Blick war verträumt, und er starrte in die Ferne, als ob er Musik<br />

hören würde. Aber wie immer lief sein Gehirn auf Hochtouren.<br />

»Du siehst aus, als hättest du in eine saure Zitrone gebissen«,<br />

bemerkte er. »War es wirklich so schlimm?«<br />

»Wir sind aus dem Schneider. Aber für Matheus fangen die<br />

Probleme jetzt vielleicht erst richtig an.«<br />

»Wie das?«<br />

»Du weißt genau, was ich meine. Was ist, wenn er einen seelischen<br />

Knacks kriegt oder so was, weil ich an ihm rumgedoktert<br />

habe?«<br />

»Du hast doch Freud gelesen?«<br />

»Dafür habe ich keine Zeit, da weiß ich nichts drüber. Aber<br />

ich sollte so was nicht machen … Könnte böse enden für den<br />

Jungen.«<br />

Genau wie bei Blair war Matheus’ Gesicht völlig ausdruckslos<br />

17


geworden. Es war so einfach, so verdammt einfach. Alles, was<br />

ich wollte, jeden Gedanken, der mir in den Sinn kam, konnte<br />

ich in sein Gehirn einpflanzen. Ich konnte in seiner Psyche<br />

herumstochern und sie zerfetzen wie einen alten Teppich, der<br />

auf den Müll gehört, und das Aufräumen dann anderen überlassen.<br />

Es wäre nicht das erste Mal. Aus Versehen hatte ich das<br />

mit meinem Mörder gemacht, und mit voller Absicht bei dem<br />

Mörder Braxtons. Beide Männer waren jetzt verrückt, und ihre<br />

Chancen auf Genesung standen gleich null. Das hatte Matheus<br />

nicht verdient.<br />

»Ich glaube nicht, dass du ihm geschadet hast«, meinte<br />

Escott. »Du hast keine seiner Erinnerungen unterdrückt.«<br />

Das wäre zu sehr aufgefallen. Wenn der Junge aufwachte und<br />

sich nicht einmal mehr an seine Fahrt mit Braxton nach<br />

Chicago erinnerte, dann wurde bestimmt jemand neugierig.<br />

Die Leute bevorzugen Antworten, die sie schon kennen, und<br />

beschäftigen sich nicht gerne mit neuen Fragen. Und darauf<br />

hatte ich gesetzt.<br />

Nun würde er aufwachen und kapieren, dass Braxton ein<br />

verrückter alter Mann gewesen war, der einen leicht zu beeindruckenden<br />

Jungen benutzt und in die Irre geführt hatte. Es<br />

würde ein paar unvermeidliche peinliche Momente für<br />

Matheus geben, aber er war jetzt wieder in der wirklichen Welt<br />

und sicher vor den paranoiden Albträumen eines alten<br />

Spinners.<br />

Schlaf ein, Kleiner. Morgen geht es dir schon viel besser.<br />

»Wenn er erst mal wieder zu Hause ist, hat er die ganze Sache<br />

sicher bald überstanden«, meinte Escott noch.<br />

Schließlich gibt es doch gar keine Vampire.<br />

Er fuhr an den Straßenrand und hielt. »Unser Zug geht in<br />

zwei Stunden, aber ich wäre gerne ein bisschen früher da. Ich<br />

möchte, dass nichts schief geht, wenn deine Truhe verladen<br />

wird.«<br />

»Also, bis in anderthalb Stunden?«<br />

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Bis dahin bin ich<br />

zurück.«<br />

Mir lag die Frage auf den Lippen, was er denn vorhabe, aber<br />

ich wusste es auch so. Er wollte einfach in der Gegend<br />

18


herumfahren. Erwartungsvoll bohrten sich seine Augen in die<br />

Dunkelheit der fast menschenleeren Straßen.<br />

»Richte Miss Smythe bitte Grüße von mir aus.«<br />

»Klar doch.«<br />

Die Tür fiel zu, er legte den Gang ein und glitt davon. Ich<br />

überquerte den Gehsteig, ging zum Eingang des Hotels und<br />

trat ein. Phil Patterson lehnte wie üblich an der Säule in der<br />

Nähe der Rezeption. Sein Kumpel, der Empfangschef aus der<br />

Nachtschicht, lärmte auf der Schreibmaschine hinten im Büro,<br />

sonst war das Foyer still und verlassen. Phil grüßte mich gleichgültig<br />

mit einem Kopfnicken.<br />

»Hallo, Fleming. Haben Sie die Sache mit den Bullen geklärt?«<br />

»Klar, wir haben alle Missverständnisse bereinigt.«<br />

»Hat Blair Sie hart rangenommen?«<br />

»Kann ich nicht sagen, keine Ahnung, wie hart er sonst drauf<br />

ist. Wir hatten keine Probleme miteinander.«<br />

Er nickte, aber er hatte offenbar noch jede Menge Fragen.<br />

»Ist ’ne Schande mit dem kleinen Kerl, diesem Braxton. Haben<br />

sie rausgekriegt, warum er umgelegt wurde?«<br />

»Sein Mörder kommt demnächst in die Klapse, vielleicht<br />

holen es die Quacksalber ja aus ihm raus. Bis dahin …« Ich<br />

zuckte mit den Schultern.<br />

»Wir werden’s wohl nie erfahren«, stimmte er mir zu und ließ<br />

mich dabei nicht aus den Augen.<br />

»Ja, ist ’ne Schande.« Meine Stimme klang ein bisschen<br />

gepresst. Phil bemerkte es, ließ es aber dabei bewenden. Ich<br />

war ihm einen Gefallen schuldig, einen Riesengefallen. Er<br />

hatte dafür gesorgt, dass eine Knarre nicht auf meine Brust<br />

gerichtet war, als sie losging. Ich hätte diese Erfahrung zwar<br />

überlebt, aber das einem Raum voller Leute plausibel zu<br />

erklären, wäre nicht gerade einfach geworden. Anscheinend<br />

wollte Phil den Gefallen erst später einfordern.<br />

Ich musste dem Jungen im Aufzug nicht sagen, dass ich in die<br />

vierte Etage wollte. Er schaute kaum von seinem Heftchen<br />

hoch, so sehr war er in Walters hundertzehnten Shadow-Roman,<br />

Jibaro Death, vertieft. Das Heft musste ich mir unbedingt noch<br />

für die Zugfahrt besorgen.<br />

… die Macht, den Menschen den Geist zu trüben …<br />

19


Ich lächelte und verwarf den Gedanken ganz schnell wieder.<br />

Dieser Trick war nur etwas für die Radioshow und für gewisse<br />

übernatürliche Wesen der Nacht – er taugte nicht für eine<br />

literarische Figur. Im Unterschied zu Lamont Cranston aus der<br />

Sendung hatte ich viel mehr Skrupel, mein Talent einzusetzen.<br />

Bobbis Tür war verschlossen, und als ich klopfte, kam keine<br />

Antwort. Im Gang war niemand, also machte ich mich unsichtbar<br />

und glitt durch die Tür, was sich als kein besonders kluger<br />

Schachzug erwies. Marza Chevreaux kam gerade aus der<br />

Küche, als ich wieder Gestalt annahm. Sie nestelte im Nacken<br />

am Verschluss ihrer Halskette. Mit den nach oben gerichteten<br />

Ellbogen, die Hände hinter dem gesenkten Kopf, sah sie aus<br />

wie das kinotypische Opfer eines Überfalls. Sie schaute eine<br />

Sekunde zu spät hoch, um mich bei meiner Indiskretion zu<br />

ertappen, aber die Strumpfbänder gingen ihr fast flöten, als sie<br />

mich so unerwartet im Flur stehen sah.<br />

»Hallo, Marza, ich hatte angeklopft …«<br />

»Ich hab’s gehört, aber ich war beschäftigt.« Sie bedachte<br />

mich mit einem langen, unangenehmen Blick, der normalerweise<br />

nur Kakerlaken gelten dürfte, die man in der Toilette<br />

runterspült. »Diese Tür war abgeschlossen«, erklärte sie feierlich.<br />

Ruhig blickte ich ihr in die Augen und versuchte es mit<br />

meinem unschuldigsten Babylächeln. »Ich bin ohne Probleme<br />

reingekommen.«<br />

Sie schaute kurz zu der geschlossenen Tür von Bobbis Schlafzimmer<br />

und sah mich dann wieder an. »Ja, das kann ich mir<br />

vorstellen«, sagte sie in einem ziemlich gehässigen Tonfall.<br />

Dann ging sie zu einem Tisch und wühlte dort in ihrer Handtasche<br />

herum. Sie schob sich eine dünne braune Zigarre<br />

zwischen die Lippen und riss ein Zündholz an.<br />

Für einige Augenblicke gingen mir recht unfreundliche<br />

Gedanken im Kopf herum, aber ich behielt sie für mich. Nettigkeiten<br />

dieser Art waren bei Leuten wie Marza die reinste<br />

Verschwendung. »Welche Laus ist dir denn heute Abend über<br />

die Leber gelaufen?«<br />

Wie ein Drache stieß sie den blauen Rauch durch die<br />

Nasenlöcher aus und brachte das Streichholz mit einer<br />

20


peitschenden Handbewegung zum Erlöschen. »Du und was du<br />

bist!«<br />

»Und was bin ich?«<br />

»Ein betrügerischer Scheißkerl, der mit dem einen Mädchen<br />

schläft, während er hinter einer anderen her ist«, sagte sie ganz<br />

unerwartet.<br />

Ich war erleichtert! Wenigstens musste ich nicht befürchten,<br />

dass sie mit Holzpflock und Hammer auf mich losging. »Von<br />

Betrug kann hier ja wohl nicht die Rede sein. Ich habe das<br />

andere Mädchen schon seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.«<br />

»Das hast du Bobbi erzählt.«<br />

»Ich kann es dir auch ins Gesicht sagen. Es ist die Wahrheit.«<br />

»Sie glaubt dir. Ich nicht.«<br />

»Ist das alles, was dir nicht an mir passt?«<br />

»Du fährst weg und suchst nach der anderen. Was passiert<br />

mit Bobbi, wenn du sie findest?«<br />

»Das geht dich nichts an.«<br />

»Doch, das tut es, wenn du Bobbi weh tust.«<br />

»Ich habe nicht vor, ihr weh zu tun.«<br />

»Und dass dieser Schläger sie gekidnappt hat, dafür konntest<br />

du auch nichts, was?«<br />

»Hat Bobbi dir nicht erklärt, dass Escott und ich wegfahren,<br />

damit so etwas nicht noch mal passiert?«<br />

»Wissen die Bullen eigentlich, dass du die Stadt verlässt?«,<br />

fragte sie zuckersüß.<br />

»Je weniger sie wissen, desto besser ist es für Bobbi.«<br />

»Keine Sorge, ich halte den Mund, aber nur um ihretwillen,<br />

und …«<br />

»Wirklich nett von dir.«<br />

»… weil es für sie am besten ist, wenn du abhaust und gar nicht<br />

erst wiederkommst. Wir wissen nicht, wer du wirklich bist. Du<br />

treibst dich mit Slicks alten Mafiakumpeln herum, du hast Geld<br />

und arbeitest nicht, die Bullen suchen dich wegen Mordes …«<br />

»Das habe ich heute Abend bereinigt.«<br />

»Gordy hat jemanden für dich geschmiert, meinst du.«<br />

»Herzchen, du bist verrückt. Und an deiner Stelle würde ich<br />

nicht so hart mit Gordy ins Gericht gehen. Ohne ihn hätten wir<br />

den Schläger nie gefunden.«<br />

21


Sie merkte, dass sie nicht weiterkam, schnappte sich ihre<br />

Handtasche, schloss die Zimmertür auf und ging. Nicht einmal<br />

ein Türenknallen war ihr die Sache wert. Ganz sacht und sehr<br />

leise machte ich die Tür hinter ihr wieder zu. Diese Frau konnte<br />

selbst einen Prediger zum Fluchen bringen, und im Augenblick<br />

war ich alles andere als christlich gestimmt.<br />

»Marza? Ist Jack da?« Bobbis Stimme kam aus dem Schlafzimmer,<br />

und meine Laune hellte sich sofort auf. Ich vergaß<br />

Marza vollkommen, als Bobbi herauskam und mir in die Arme<br />

fiel.<br />

»Bist du in Ordnung?«, fragte ich und schaute auf ihren<br />

Schopf herab. Ihre seidigen platinblonden Locken waren von<br />

dem Schläger schlimm gestutzt worden, aber sie war in einem<br />

Schönheitssalon gewesen, und jetzt sah ihr Haar wieder gut aus.<br />

»Himmel, ich dachte, du kommst nie«, murmelte sie an<br />

meiner Brust.<br />

»Wir hatten viel zu tun heute Nacht.«<br />

»Warum hat es so lange gedauert?« Sie schmollte ein bisschen<br />

und tat so, als sei sie sauer. »Waren es die Bullen oder der<br />

junge Webber?«<br />

»Beides, aber die machen uns jetzt keine Probleme mehr.<br />

Verrat mir lieber, warum Marza heute so wunderbar gelaunt ist.<br />

Sie hat sich aufgeführt, als hätte sie eine Tarantel gestochen –<br />

wobei allerdings die Tarantel gestorben sein muss.«<br />

»Ist sie schon gegangen?«<br />

»Ich war keine zwei Minuten hier, da wollte sie nur noch weg.<br />

Sind mir Hörner gewachsen oder so was?«<br />

»Nein, aber es ist wegen dir.«<br />

»Das habe ich mitgekriegt. Was ist ihr Problem?«<br />

»Sie denkt, du bist schuld an allem, was mir zugestoßen ist.«<br />

»Und da hat sie nicht mal Unrecht. Was hast du ihr erzählt?«<br />

»Nur das, was du mir gesagt hast. Dass die Schwester deiner<br />

früheren Freundin etwas von dir will, und sie mich benutzt hat,<br />

um es zu bekommen.«<br />

»Und Marza wollte nicht genauer wissen, um was es dabei<br />

ging?«<br />

»Natürlich wollte sie das. Aber ich habe ihr gesagt, dass ich es<br />

22


auch nicht weiß, und dass du nicht damit rausrückst. Es macht<br />

ihr ziemlich zu schaffen, dass sie die Wahrheit nicht erfährt.«<br />

»Wenn Marza die Wahrheit wüsste, dann würde das uns<br />

wirklich zu schaffen machen.«<br />

»Vielleicht käme sie mit der Wahrheit besser zurecht, als mit<br />

der Vorstellung, der sie jetzt anhängt: dass du für die Mafia<br />

arbeitest.«<br />

»Nein. Sie ist nicht so verständnisvoll wie du. Bist du sicher,<br />

dass da sonst nichts ist – sie hält mich nur für einen von Gordys<br />

Leuten?«<br />

»Nein, da ist noch was anderes. Ich habe mich mit Madison<br />

unterhalten. Er sagt, sie sei an dem Abend ziemlich durcheinander<br />

gewesen. Es wäre zu irgendeiner Auseinandersetzung<br />

gekommen, und du hättest sie abgefüllt.«<br />

»Sie war total sauer auf mich und wollte mir an den Kragen,<br />

deshalb hab ich ihr zur Beruhigung ein paar Drinks bestellt. Es<br />

war reine Selbstverteidigung. Ich war bloß froh, als Madison<br />

gekommen ist. Sie brauchte jemanden, bei dem sie sich ausheulen<br />

konnte, und ich war aus verschiedenen Gründen nicht<br />

der Richtige dafür.«<br />

»Aber du hast sie so gesehen, so verletzlich.«<br />

»Mir hat das nichts ausgemacht.«<br />

»Aber ihr. Sie hat sich sonst immer so gut unter Kontrolle,<br />

und jetzt ist es ihr peinlich, dass sie sich in deiner Gegenwart so<br />

hat gehen lassen.«<br />

»Das ist nun wirklich kein Grund, mich derart zu hassen.«<br />

»Für sie schon.«<br />

»Dann sollte sie mal zum Arzt gehen.«<br />

»Das sind eben die Empfindlichkeiten einer Künstlernatur.«<br />

»Ich würde das ganz anders nennen. Warum reden wir überhaupt<br />

die ganze Zeit über Marza? Ich wollte nachsehen, wie es<br />

dir geht.«<br />

»Es lenkt mich etwas ab, Jack«, sagte sie und drückte sich<br />

enger an mich. »Sonst verfolgen mich meine Albträume.«<br />

»Ich würde dir so gerne helfen, Kleines.«<br />

»Das tust du schon.« Sie schlang die Arme noch fester um<br />

mich. Wir fanden uns auf dem Sofa wieder und hielten uns so<br />

fest, als wäre es das Ende der Welt. Ein bisschen von dem<br />

23


ganzen Gefühl tropfte ihr aus den Augen, aber sie nahm mein<br />

Taschentuch und wischte sich die Tränen fort. »Was hast du<br />

gesagt?«, fragte sie.<br />

»Es tut mir Leid.«<br />

»Was?«<br />

»Es tut mir Leid, dass das alles passiert ist. Marza hat Recht.<br />

Nur wegen mir bist du …«<br />

»Jack.« Sie rückte ein wenig von mir ab, damit sie mir in die<br />

Augen sehen konnte.<br />

»Was?« Ich war mir nicht sicher, ob ich ihrem Blick standhalten<br />

würde.<br />

»Halt endlich die Klappe und gib mir einen Kuss.«<br />

Ich fragte noch einmal nach. Sie meinte es ernst, und ich<br />

hörte mit dem Gestammel auf und befolgte ihre Anweisung.<br />

Sie ließ mich ohne jeden Zweifel wissen, dass alles zwischen uns<br />

in Ordnung war.<br />

»Weißt du«, sagte sie, als sie nach Luft schnappte, »Marza<br />

findet, ich soll Schluss mit dir machen.«<br />

»Und wie denkst du darüber?«<br />

»Ich finde, sie ist ein Dummkopf und mischt sich in Dinge<br />

ein, die sie nichts angehen.«<br />

Dann machten wir weiter, und im Hotelzimmer waren nur<br />

noch Bobbis Atemzüge und das Flüstern unserer Hände zu<br />

hören.<br />

»Bleibst du heute Nacht da?«, murmelte sie.<br />

»Ich würde so gerne dableiben, aber ich muss diesen Zug<br />

kriegen. Charles kommt nachher vorbei und holt mich ab.«<br />

»Braucht er dich wirklich?«<br />

»Nein, aber er glaubt das anscheinend. Er möchte, dass ich<br />

ihm helfe, und eben das ist mein Problem – was machst du da<br />

eigentlich?«<br />

»Du bist nicht auf den Kopf gefallen, du kriegst es schon<br />

raus.« Sie streifte mir das Jackett von den Schultern, lockerte<br />

meine Krawatte und öffnete die obersten Knöpfe meines<br />

Hemdes.<br />

»Bist du denn schon kräftig genug dafür? Du bist ziemlich<br />

durch den Fleischwolf gedreht worden.«<br />

»Lass uns mal schauen.«<br />

24


Sie trug die Art Schlafanzug, die sie am liebsten zu Hause<br />

anhatte, aus Satin und mit einem hochgestellten asiatischen<br />

Kragen. Das Oberteil ließ sich ohne viel Getue öffnen, und wie<br />

gewöhnlich trug sie keine Unterwäsche. Sie drehte mir den<br />

Rücken zu, löste sich aus meiner Umarmung und zog meine<br />

Hände nach vorn um ihre Brüste.<br />

Ihre Haut war so wunderbar weich, wie sie bei einer Frau<br />

eben sein sollte, und mehr als ihren kräftigen Körper konnte<br />

ein Mann sich nicht wünschen, geschweige denn besitzen. Ich<br />

kniete mich hinter sie und genoss es, wenn auch mit schlechtem<br />

Gewissen, dass ihr Haar jetzt so kurz war und ich bequem<br />

an ihrem Nacken knabbern konnte. Schon bevor meine Verwandlung<br />

daraus eine Notwendigkeit gemacht hatte, war es für<br />

mich ein Hochgenuss gewesen, beim Vorspiel am Hals meiner<br />

Geliebten zuknabbern, und nun bemühte ich mich erst recht,<br />

daraus einen lustvollen Bestandteil des Liebesspiels zu machen.<br />

Einige Zeit später warf sie den Kopf in den Nacken, und ihre<br />

weiße Haut spannte sich über der großen, pulsierenden Vene.<br />

Wir stöhnten beide auf, als ich sanft die Zähne in ihre Haut<br />

schlug.<br />

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