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Klare Linie (.pdf)

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Land & Leute<br />

Von Menschen<br />

und Flüssen<br />

<strong>Klare</strong><br />

<strong>Linie</strong><br />

Im Februar 2012 war<br />

der Kanal das letzte<br />

Mal zugefroren<br />

Foto: © picture-alliance<br />

Der Mittellandkanal verbindet: Deutschlands Westen mit<br />

dem Osten, Industrie mit alten Kulturlandschaften. Aber<br />

er macht kein Aufhebens darum<br />

Text: Torben Dietrich<br />

[[1L]] daheim<br />

[[2R]]


Land & Leute<br />

Er wird nur MLK genannt.<br />

Das klingt so<br />

technisch und uninspiriert<br />

wie das Behördendeutsch,<br />

in dem er als<br />

Bundeswasserstraße geführt<br />

wird. Er hat keinen<br />

Felsen, auf dem eine Nixe ihr Haar<br />

kämmt, keinen Welthafen, den Hans<br />

Albers besang. Der Mittellandkanal<br />

entspringt keiner gurgelnden Quelle, er<br />

biegt und windet sich auch nicht, wie<br />

es ihm gefällt. Er ist ein geradliniger<br />

Arbeiter. Aber was für einer: Von seinem<br />

Ausgangspunkt am Nassen Dreieck<br />

bei Bergeshövede im Münsterland<br />

zweigt er vom Dortmund-Ems-Kanal<br />

nach Osten ab und übernimmt für 318<br />

Kilometer die Lasten der Industriegesellschaft.<br />

Für die Schiffer ist der Mittellandkanal,<br />

was die A2 für Pkw- und Lkw-<br />

Fahrer ist: die wichtigste Ost-West-<br />

Verbindung. Wie Autobahnabfahrten<br />

verknüpfen Stich- und Verbindungskanäle<br />

den Mittellandkanal mit anderen<br />

Flüssen und Wasserwegen – etwa bei<br />

Minden. Zweimal kreuzen sich die beiden,<br />

A2 und MLK, bei Hannover und<br />

Braunschweig, und über einen langen<br />

Weg verlaufen Kanal und Autobahn<br />

parallel. Aber es ist ein ungleiches Paar.<br />

Dass der Mittellandkanal als längste<br />

künstliche Wasserstraße Deutschlands<br />

auf seinen Schiffen ungleich mehr Güter<br />

transportieren könnte, als es die<br />

Lastwagen vermögen, ist wenig bekannt.<br />

Ein modernes Binnenschiff beispielsweise<br />

ersetzt rund 150 Brummis.<br />

Das interessiert aber kaum jemanden.<br />

Die Lobby für Binnenschiffer ist klein.<br />

Groß dagegen ist die Begeisterung,<br />

die Stefan Werner den Kapitänen und<br />

vor allem ihren Lastkähnen entgegenbringt.<br />

Der 45-Jährige steht mit dem<br />

Fernglas in der Hand im Hafen von<br />

Lübbecke, rund 80 Flusskilometer östlich<br />

vom Nassen Dreieck. Damit ist die<br />

Stelle gemeint, an der der Mittellandkanal<br />

vom Dortmund-Ems-Kanal abzweigt<br />

und die Region Teutoburger<br />

Wald quert. Auf große Entfernungen<br />

erkennt Werner jeden Schiffstyp, weiß<br />

Namen, Baujahr, Abmessungen. Als<br />

sich ein Schiff nähert, zückt er seine<br />

Kamera, einige Male klickt es leise.<br />

„Der Mittellandkanal und seine<br />

Schiffe, das ist die Seele des Mühlenkreises“,<br />

sagt er und weiß, dass es pathetisch<br />

klingt. Aber der Schiffsfan<br />

träumt eben nicht mehr wie früher von<br />

Australien. Heute ist es sein größter<br />

Wunsch, den Mittellandkanal entlangzufahren,<br />

von Anfang bis Ende.<br />

Seit drei Jahren wohnt Werner in<br />

Lübbecke und fotografiert Lastschiffe.<br />

Dafür verbringt er fast täglich bis zu<br />

acht Stunden am Kanalufer – mit und<br />

ohne seine sechs Hunde. Ausgedehnte<br />

Spaziergänge unterbricht der Hobbyfotograf<br />

mit langen Pausen, in denen er<br />

einfach nur aufs Wasser schaut und auf<br />

ein Schiff wartet. „Ein paar Bilder habe<br />

ich schon gemacht“, sagt Werner. Ein<br />

paar, das sind 40 000. Mindestens. Ein<br />

Highlight darunter ist das Foto von der<br />

ersten beladenen Fahrt des Lastschiffes<br />

Tanja Deymann. Nach Werners Beobachtung<br />

der größte Frachter, der den<br />

Kanal bisher beehrt hat: 160 Meter lang,<br />

genau genommen ein Koppelverband.<br />

In drei Jahren hat Werner ein Archiv<br />

aufgebaut, das wohl seinesgleichen<br />

sucht. In seinem Keller stehen zehn, elf<br />

Aktenordner. Zu jedem Schiff gehören<br />

Fotos und eine Unmenge Daten: Bruttoregistertonnen,<br />

Ladekapazität,<br />

Motortyp, Tiefgang. Insgesamt 900<br />

Schiffe hat er katalogisiert, 300 weitere<br />

warten noch darauf.<br />

Nicht die Natur, sondern ein<br />

Gesetz gebar den Wasserweg<br />

Gerne geht Werner so früh am Morgen<br />

los, dass er noch ein paar Stunden in<br />

der Dunkelheit unterwegs sein kann. In<br />

dieser Zeit umgibt Stille den Mittellandkanal.<br />

Der Wasserweg, der bei<br />

Lübbecke durch relativ dünn besiedeltes<br />

Land fließt, kommt hier einem echten<br />

Fluss schon ziemlich nahe. Eindrucksvolle<br />

Bilder sind das, wenn die<br />

Sonne aufgeht oder ein Raubvogel in<br />

der Dämmerung im flachen Flug über<br />

dem Wasserspiegel nach Beute sucht.<br />

Für Werner gibt es daneben die anderen<br />

besonderen Momente. „Richtig<br />

aufgeregt bin ich, wenn sich ein wirklich<br />

altes Schiff nähert“, sagt er. „Es<br />

sind nur noch wenige davon unterwegs,<br />

aber manchmal habe ich Glück<br />

und sehe Kähne, die schon zur Kaiserzeit<br />

ihren Stapellauf hatten.“ So wie im<br />

Oktober 2010, da passierte die Marie<br />

Erna den Hafen von Lübbecke. Es war<br />

das bisher älteste Schiff, das Werner<br />

vor die Linse bekommen hat: Der Stapellauf<br />

erfolgte bereits 1902. Damit ist<br />

das Schiff älter als der Mittellandkanal.<br />

Es waren keine geologischen Prozesse,<br />

die den Mittellandkanal gebaren,<br />

sondern ein preußisches Gesetz, das<br />

Foto: © Picture-Alliance; (Karte) Daheim<br />

Bei Minusgraden<br />

wird die Schifffahrt<br />

schwierig – und für<br />

Möwen das Futter knapp<br />

[[1L]] daheim<br />

[[2R]]


Land & Leute<br />

Hobbyfotograf Stefan Werner<br />

aus Lübbecke verbringt bis zu<br />

acht Stunden täglich am<br />

Mittellandkanal, um Schiffe<br />

vor die Linse zu bekommmen<br />

Kriege, bürgerliche Widerstände und die deutsche Teilung<br />

ließen den Bau des Mittellandkanals lange unvollendet<br />

Der MLK ist nicht nur<br />

Wasserweg, sondern<br />

auch Sportarena. Hier<br />

für junge Kanufahrer<br />

zum 1. April 1905 in Kraft trat und die<br />

Planung von Wasserstraßen vorsah.<br />

Der Bau des Mittellandkanals sollte<br />

Menschen in ganz unterschiedlichen<br />

deutschen Landschaften verbinden,<br />

von den Großindustrien an Rhein und<br />

Ruhr bis zu den landwirtschaftlich geprägten<br />

Weiten östlich der Elbe. Gleichzeitig<br />

spiegelt er den technischen Fortschritt<br />

im 20. Jahrhundert wider. 1938<br />

erreichte der Kanal über das Schiffshebewerk<br />

Rothensee bei Magdeburg die<br />

Elbe. Erst in den Jahren 1993 bis 2003<br />

schloss man den MLK direkt an den<br />

Elbe-Havel-Kanal an, wo er heute endet.<br />

Seitdem kann die Elbe unabhängig vom<br />

Wasserstand gequert werden.<br />

Auf eine ganz und gar entspannte Art<br />

lernt man den Mittellandkanal zwischen<br />

Gravenhorster Schlucht im Westen<br />

und Magdeburger Börde an seinem<br />

östlichen Ende mit dem Fahrrad kennen.<br />

Weil der Kanal nun mal eine ordnungsgemäße<br />

Bundeswasserstraße ist,<br />

hat er auch einen Betriebsweg, um<br />

diese Ordnung einzuhalten. Fast über<br />

seine gesamte Länge zieht sich dieser<br />

direkt am Ufer entlang, oft auf beiden<br />

Seiten. Und weil der Kanal über kein<br />

nennenswertes Gefälle verfügt, ist er<br />

ein ideales Terrain für gemütliche Radtouren<br />

in beide Richtungen mit Ausblicken<br />

auf Kohlekähne und anderen<br />

Schiffsverkehr, Brücken und Jachthäfen.<br />

Noch lässiger freilich ist es, eine<br />

kleine Motorjacht oder ein Hausboot<br />

zu mieten und den Mittellandkanal hinauf-<br />

und hinunterzuschippern. Ein<br />

Bootsführerschein ist Pflicht, auch<br />

wenn die Wasser des MLK in der Regel<br />

ruhig fließen und Stromschnellen nicht<br />

zu erwarten sind. So kann man an<br />

Bord den Blick schweifen lassen über<br />

die Landschaft hinter den Ufern. Gen<br />

Süden erstrecken sich bald sagenhafte<br />

Berge, etwa der Teutoburger Wald und<br />

das Wiehengebirge bei Bad Essen, wo<br />

einer Theorie nach die Varus-Schlacht<br />

stattgefunden haben soll.<br />

Auch abseits des Kanals gibt es einiges<br />

zu entdecken: Fernwanderwege<br />

führen vorbei an Großsteingräbern,<br />

und durch Bad Essen verläuft die Deutsche<br />

Fachwerkstraße. Bei Minden<br />

kommt das Wasserstraßenkreuz in<br />

Sicht, wo der MLK auf zwei Trogbrü-<br />

cken die Weser überquert. Die eine ist<br />

14, die andere fast hundert Jahre alt.<br />

Weiter ostwärts zieht der Kanal vorbei<br />

an Hannover und Braunschweig,<br />

deren Industrien vom Bau des Wasserwegs<br />

erheblich profitierten. Vor allem<br />

Wolfsburg ist ein gutes Beispiel dafür,<br />

wie eng das Verhältnis von Kanal und<br />

Wirtschaft heute noch ist. Der MLK<br />

fließt nicht nur direkt am Volkswagen-<br />

Werk vorbei, auch Attraktionen und<br />

Bauten des 21. Jahrhundert wie die<br />

Autostadt und das Bundesligastadion<br />

Fotos: © (Porträt) Torben Dietrich;<br />

(Störche) Wolfram Weber; (Kanal) Picture-Alliance<br />

wurden am Kanal errichtet. Im Hafenbecken<br />

der Autostadt taucht sogar eine<br />

Mini-Insel-Gruppe auf: Sie besteht aus<br />

Holz und Metall und gehört zum Ritz-<br />

Carlton Wolfsburg. Hotelgäste können<br />

hier ungestört und exklusiv speisen.<br />

Dann ändert sich das Landschaftsbild.<br />

Der MLK erreicht den Naturpark<br />

Drömling, der sich auf beiden Seiten<br />

der Landesgrenze zwischen Niedersachsen<br />

und Sachsen-Anhalt erstreckt.<br />

Hier säumen fast unberührt wirkende<br />

Wälder und Wiesen die Ufer, die statt<br />

Drömling: Mehr als 100 Störche<br />

wuchsen dieses Jahr hier auf<br />

mit Stahlplatten mit<br />

einem Holzgeflecht<br />

befestigt sind.<br />

Die Gegend ist<br />

dünn besiedelt.<br />

Unterwegs mit dem<br />

Naturpark-Mitarbeiter Wolfgang Sender<br />

versteht man schnell, dass die Menschen<br />

mit dem Ausbau des Mittellandkanals<br />

der Natur auch einen Gefallen<br />

getan haben. In einer Beobachtungshütte<br />

am Rande des Betriebswegs<br />

bringt der Ornithologe seinen Gesprächspartner<br />

mit einer kurzen Handbewegung<br />

zum Verstummen und hebt<br />

das Fernglas. Dann reicht er es weiter.<br />

„Da, sehen Sie? Ein Bluthänfling, dort,<br />

rechts neben dem Busch“, flüstert er.<br />

Ein kurzes Suchen und dann, ja: ein<br />

kleiner Vogel auf einem dünnen Zweig.<br />

[[1L]] daheim<br />

[[2R]]


Land & Leute<br />

Vogelkundler Wolfgang Sender<br />

beobachtet mit Freude, wie gut<br />

sich die Natur im ehemaligen<br />

Grenzgebiet in den vergangenen<br />

30 Jahren erholt hat<br />

Seine Brustfedern leuchten blutrot. Der<br />

Bluthänfling gehört nicht zu den gefährdeten<br />

Tieren. Aber viele Vogelarten, die<br />

es anderswo schwer hätten, haben in<br />

der Flachwasserzone Mannhausen im<br />

Drömling ein Zuhause gefunden.<br />

Das 70 Hektar große Gebiet entstand,<br />

als 2003 – nach fast hundert<br />

Jahren Bauzeit – der Mittellandkanal<br />

endlich mit dem Elbe-Havel-Kanal verbunden<br />

wurde. Tonnenweise Erdreich<br />

musste dafür umgelagert werden. Als<br />

Ausgleichsfläche für diesen Eingriff in<br />

Natur und Landschaft wurde am Nordufer<br />

des Kanals die Flachwasserzone<br />

geschaffen. Sie ist meist nur einige Dutzend<br />

Zentimeter tief – ein idealer Lebensraum<br />

für Wasservögel, denn inzwischen<br />

haben sich auch etliche Fischarten<br />

angesiedelt.<br />

„Heute haben wir hier Austernfischer,<br />

Schwäne und sogar Seeadler“,<br />

sagt Sender, wobei seine Stimme bei<br />

Letztgenannten fast schon andächtig<br />

klingt. Der 56-Jährige mit grauem<br />

Stoppelbart und einem Gesicht, das<br />

schon viel Wind und Sonne abbekommen<br />

hat, trägt gedeckte Töne. „Bunte<br />

Farben können Vögel irritieren, wenn<br />

man ihnen so nahe ist wie wir“, erklärt<br />

er. Sender, der in der Region aufgewachsen<br />

ist, erzählt, wie zu DDR-Zeiten<br />

freigesetzte Schadstoffe die Tierwelt<br />

drastisch reduzierten. Mittlerweile<br />

schlagen Kraniche in der Flachwasserzone<br />

ihre Winterlager auf. Von der Beobachtungshütte<br />

aus bietet sich ein Anblick<br />

wie in einem 3-D-Naturfilm, nur<br />

besser. Hohe Gräser wiegen sich im<br />

Wind, Vogelrufe wehen von irgendwoher.<br />

Eine Schar Gänse verursacht großes<br />

Geschnatter, Wasserspritzen und<br />

Flügelschlagen, als sie sich aus dem<br />

Wasserbett in die Luft erhebt. Ein<br />

Schwarm Kiebitze ist zu sehen. „Land<br />

der tausend Gräben“ steht auf einem<br />

Holzschild an der Hüttenwand. Auch<br />

das ist der Drömling: eine einzigartige<br />

Niedermoorlandschaft, durch die sich<br />

1725 Kilometer Wasserläufe ziehen.<br />

Angelegt vor über 200 Jahren zur Entwässerung<br />

und Kultivierung des Bodens.<br />

Aus dem Land der tausend Seen<br />

in Finnland und Schweden kommen jedes<br />

Jahr zum Winteranfang Tausende<br />

nordische Gänse. „Das ist ein Spektakel“,<br />

sagt Sender. „Dann sieht man das<br />

Wasser kaum mehr.“<br />

Schön zu wissen, dass auch alte Kulturlandschaften<br />

und künstliche Wasserstraßen<br />

der Natur etwas zurückgeben<br />

können.<br />

Mit der Wiedervereinigung<br />

hat der Güterverkehr stark<br />

zugenommen. Bis zu 185<br />

Meter lange Schiffe können<br />

den MLK befahren<br />

Fotos: © (Porträt) Torben Dietrich; Getty Images<br />

[[1L]] daheim

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