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Leseprobe "Yaks"

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1. Gelangweilte Bewohner<br />

Wollte man wissen, was im Haus Nummer 7 auf der Ostseite<br />

der siebenundvierzigsten Straße vor sich ging, dann könnte<br />

man vom Gehsteig aus zu den flackernden Lichtern in einem<br />

der oberen Stockwerke hinaufblicken. Man sähe zwei Elfjährige<br />

am Fenster vorbeigehen, mit blassen, schmalen Gesichtern<br />

und dunklen Ringen unter den Augen, und man könnte sie für<br />

einsame, vernachlässigte Kinder wohlhabender Eltern halten,<br />

die ständig auf der Flucht sind vor der Langeweile und der<br />

nutzlos verplemperten Zeit.<br />

Aber da würde man sich gründlich irren.<br />

Im Haus Nummer 7 auf der Ostseite der siebenundvierzigsten<br />

Straße residiert der altehrwürdige und exklusive Klub der<br />

Forschungsreisenden, die berühmteste Gesellschaft von Abenteurern,<br />

Wagehälsen und Weltenbummlern, die es auf dem<br />

Globus gibt. Die beiden Kinder, die bisweilen an den Fenstern<br />

vorbeigehen, sind die gelangweilten Bewohner des Stockwerks<br />

Nummer 4½ dieses Klubs. Und es ist ihre Geschichte, die<br />

hier erzählt werden soll.<br />

Die meisten Kinder würden liebend gerne im 4½ten Stockwerk<br />

des Klubs der Forschungsreisenden wohnen. Sie wären<br />

ganz verrückt danach, von den Rätseln und Geheimnissen zu<br />

hören, die sich die Forschungsreisenden gegenseitig erzählen,<br />

und die meisten hätten gerne jeden Abend damit verbracht,<br />

den Geschichten über Gefahren und ferne Länder zu lauschen,<br />

die jene Weltenbummler und Abenteurer zum Besten gaben,<br />

die in diesen ehrwürdigen Hallen aus und ein gingen.<br />

7


Zumindest versuchten das die Abenteurer, Wagehälse und<br />

Weltenbummler den Navel-Zwillingen immer einzureden.<br />

Aber Celia und Oliver Navel, man kann es nicht anders sagen,<br />

waren nicht so wie die meisten Kinder. Sie mochten keine<br />

Rätsel und Geheimnisse, keine Geschichten von Gefahren und<br />

fernen Ländern, geschweige denn Abenteuer, und durch die<br />

Welt zu bummeln, war ihnen absolut zuwider. Während alle<br />

anderen Jungen grün vor Neid geworden wären, weil Oliver<br />

Navel seinen neunten Geburtstag auf einem verwunschenen<br />

Friedhof am Rande der Wüste Sahara verbracht hatte, wurde<br />

Oliver grün vor Übelkeit, wenn er an den süßsauren Raupenauflauf<br />

dachte, den es zu essen gab und der noch ekelhafter<br />

schmeckte, als es sich anhört.<br />

Und während die meisten Mädchen eifersüchtig aufgekreischt<br />

hätten, weil Celia zu ihrem sechsten Geburtstag ein<br />

mongolisches Pony geschenkt bekommen hatte, konnte Celia<br />

den Geruch von Pferden nicht ausstehen. Um ehrlich zu sein,<br />

ich glaube, dass auch das Pferd es nicht ausstehen konnte, wie<br />

Celia roch. Wie auch immer, sie mussten das Pferd mit einer<br />

förmlichen Entschuldigung des Forscherklubs in die Mongolei<br />

zurücksenden, woraufhin Celia Navel untersagt wurde, jemals<br />

wieder dieses Land zu betreten – was ihr nur recht war. Sie<br />

konnte weder Tiere noch fremde Gegenden leiden, genauso<br />

wenig wie ihr Bruder.<br />

Die Navel-Zwillinge wollten nur fernsehen.<br />

Sie liebten das Fernsehen mehr als alles andere auf der Welt.<br />

Sie konnten stundenlang ohne Unterbrechung vor dem Apparat<br />

sitzen, es war ihnen sogar egal, welches Programm lief, solange<br />

sich nur das beruhigende Flimmern des Bildschirms auf<br />

ihren Pupillen spiegelte.<br />

Die kleine Kiste war die Welt für sie! Naturfilme brachten ih-<br />

8


nen die Natur ins Haus. Katastrophenfilme brachten ihnen Katastrophen<br />

ins Haus. Und Zeichentrickfilme mit sprechenden<br />

Lamas brachten ihnen sprechende Lamas ins Haus, die man in<br />

der »richtigen« Welt nur schwerlich fand. Keinesfalls wollten<br />

sie eine Sendung versäumen, nur weil so etwas Langweiliges<br />

anstand wie Schule oder eine Einladung zum Abendessen oder<br />

um an der frischen Luft zu spielen, und erst recht nicht wegen<br />

einer Reise in die Mongolei.<br />

Unglücklicherweise aber wohnten Oliver und Celia mit ihren<br />

Eltern Dr. Navel und Dr. Navel im Klub der Forschungsreisenden.<br />

Nun ja, genau genommen wohnten sie nur mit ihrem Vater,<br />

Dr. Navel, dort, denn ihre Mutter, Dr. Navel, hatte sich aufgemacht,<br />

um die verlorene Bibliothek von Alexandria zu suchen,<br />

die, wie sie glaubte, niemals verloren gegangen war. Bei<br />

dieser Expedition aber war sie leider selbst verloren gegangen.<br />

Obwohl man eine Suchexpedition losgeschickt hatte, blieb sie<br />

spurlos verschwunden. Zwei der Forschungsreisenden, die<br />

ausgeschickt worden waren, um sie aufzuspüren, waren sogar<br />

selbst wie vom Erdboden verschluckt.<br />

Manchmal, wenn sie in einer Werbepause zwischen zwei<br />

Fernsehshows nichts Besseres zu tun hatten, unterhielten sich<br />

die Zwillinge über ihre Mutter.<br />

»Vermisst du sie eigentlich?«, fragte Oliver seine Schwester<br />

und stopfte sich Käseflips in den Mund, als spräche er von etwas<br />

Nebensächlichem. Aber er hielt den Atem an, so gespannt<br />

war er auf die Antwort seiner Schwester. Wenn er Celia sah,<br />

dann war es beinahe, als sähe er ein Bild seiner Mutter. Sie<br />

hatte die gleiche kleine Nase und die gleichen großen Augen.<br />

Sie hatte ebenso blasse Haut und dunkles Haar wie ihre Mutter.<br />

Oliver sah mehr seinem Vater ähnlich, aber seine Haare<br />

und seine Augen glichen denen seiner Schwester. Und beide<br />

9


hatten dunkle Ringe unter den Augen, weil sie ständig in die<br />

Röhre glotzten.<br />

»Selber schuld«, antwortete Celia. »Wäre sie einfach bei uns<br />

zu Hause geblieben, dann wäre sie nie verloren gegangen.«<br />

»Ja, aber meinst du nicht –«<br />

»Pssst«, schnitt ihm Celia das Wort ab. »Zehn-Zentner-<br />

Würstchen-Wettessen geht weiter.«<br />

Daraufhin sagte Oliver nichts mehr, denn zum einen mochte<br />

er Zehn-Zentner-Würstchen-Wettessen und zum anderen<br />

wusste er genau, dass seine Schwester nicht gerne über ihre<br />

Mutter sprach. Insgeheim aber vermisste Oliver seine Mutter<br />

sehr. Celia hingegen konnte insgeheim Zehn-Zentner-Würstchen-Wettessen<br />

nicht ausstehen. Sie sah sich die Sendung nur<br />

an, weil das Gebrutzel der Grillwürstchen sie davon abhielt, an<br />

den Samstagmorgen zu denken, an dem ihre Mutter sie verlassen<br />

hatte.<br />

»Auf Wiedersehen, Oliver«, hatte sie gesagt. »Auf Wiedersehen,<br />

Celia.« Und sie hatte jedem einen Kuss auf die Stirn gedrückt.<br />

»Hmmhmm«, hatten die Kinder gebrummelt, denn es lief gerade<br />

ein Zeichentrickfilm und sie wollten nicht gestört werden.<br />

Erst Stunden später hatten die Kinder gemerkt, dass ihre<br />

Mutter weggegangen war und ihren großen Rucksack mitgenommen<br />

hatte. Sie war immer irgendwohin unterwegs. So war<br />

es eben, wenn die Eltern Forscher sind. Entweder kamen sie<br />

gerade oder sie gingen gerade, entweder suchten sie die uralte<br />

Stadt X oder die verlorene Bibliothek von Y. Oliver und Celia<br />

konnten ja nicht wissen, dass dieser Kuss auf die Stirn der letzte<br />

Kuss sein würde, den sie von ihrer Mutter erhalten sollten.<br />

Manche Kinder hätten sich das eine Lehre sein lassen und<br />

nicht mehr so viel ferngesehen – aber nicht Oliver und Celia.<br />

10


Nachdem ihre Mutter weg war, schauten sie sogar noch mehr<br />

Fernsehen. Außerdem konnte das Fernsehen viel, was ihre<br />

Mutter nicht konnte, zum Beispiel Geschichten erzählen und<br />

ihnen Gesellschaft leisten, wenn sie einsam waren. Und wenn<br />

sie müde waren, konnten sie den Apparat einfach abschalten,<br />

was ja bei Müttern ganz und gar nicht geht. Aber natürlich<br />

wurden sie niemals müde fernzusehen. Und das wiederum<br />

machte ihren Vater wahnsinnig.<br />

»Zu viel Fernsehen macht euer Gehirn matschig«, schimpfte<br />

er. Er stand wie üblich hinter dem Sofa und hatte wie üblich<br />

die Arme entrüstet über der Brust verschränkt.<br />

»Nein«, erwiderte Celia, ohne den Blick vom Bildschirm zu<br />

wenden, »das mongolische Pferdefieber macht das Gehirn<br />

matschig.«<br />

Dr. Navel seufzte. Natürlich hatte Celia recht. Das Pony zu<br />

ihrem sechsten Geburtstag hatte sie mit Pferdefieber angesteckt.<br />

In letzter Minute hatte man sie damals ins Krankenhaus<br />

gebracht.<br />

»Nun«, sagte er und wechselte das Thema, »wir haben eine<br />

Einladung zum Abendessen. Zum Andenken an eure Mutter.«<br />

Die Zwillinge standen widerwillig auf. Wenn es um ihre<br />

Mutter ging, konnten sie keinen Streit anfangen. Das Zehn-<br />

Zentner-Würstchen-Wettessen musste ohne sie weitergehen.<br />

»Schon wieder so ein Festessen«, stöhnte Celia.<br />

»Ein Prinz, ein Ballonfahrer und ein Tiefseetaucher werden<br />

auch da sein«, sagte Dr. Navel voller Vorfreude.<br />

»Ahhh«, sagten Oliver und Celia wie aus einem Mund und<br />

sackten in sich zusammen wie zwei Heißluftballons, die ins<br />

Meer gefallen sind.<br />

11


2. Ein unerträgliches<br />

Festessen<br />

Bitte, denke immer daran, dass die Unternehmungen des<br />

Klubs der Forschungsreisenden ebenso geheim wie aufregend<br />

sind; also hänge die Dinge, die du nun erfährst, nicht an die<br />

große Glocke und sprich nicht mit Leuten darüber, die gern<br />

tratschen oder in Nachmittags-Talkshows auftreten. Wir, die<br />

wir das Abenteuer lieben, genießen den besonderen Vorzug,<br />

Augenzeuge des Unglücks, der Schrecknisse und der Gefahren<br />

zu werden, die Oliver und Celia Navel zustießen, und das, obwohl<br />

den beiden nichts lieber gewesen wäre, als in dieser Geschichte<br />

überhaupt nicht vorzukommen. Zu dumm für sie.<br />

Schon seit drei Jahren veranstaltete der Klub der Forschungsreisenden<br />

am Jahrestag des Verschwindens von Dr.<br />

Navel ein Galadiner und seit drei Jahren saßen Oliver und Celia<br />

als einzige Kinder an der langen Tafel unter den langweiligen<br />

Porträts alter Forscher. Sie waren genau genommen schon<br />

immer die einzigen Kinder in dem Klub gewesen.<br />

Den Eltern der Zwillinge war nämlich die Ehre zuteilgeworden,<br />

»residierende Forschungsreisende« zu sein, was bedeutet,<br />

dass die gesamte Familie im Klub wohnte. Sie gingen zu allen<br />

Reden und Vorträgen und Essen, die im Klub veranstaltet wurden,<br />

und Oliver und Celia mussten oft mit ihrem Vater durch<br />

die Lande reisen und auf der ganzen Welt neue Entdeckungen<br />

machen, damit sie diesen würdevollen Titel nicht verloren und<br />

auf die Straße gesetzt wurden. Es wäre nämlich sehr schwierig<br />

geworden, eine neue Wohnung zu suchen, in die all die Ge-<br />

12


genstände hineinpassten, die ihre Eltern gesammelt hatten –<br />

verwunschene Pfeilspitzen und mittelalterliche Folterinstrumente<br />

zum Beispiel.<br />

Dass seine Frau nun verschwunden war, machte es ihrem<br />

Vater noch schwerer. Die beiden waren immer ein Team gewesen<br />

und der Ruhm von Forschungsreisenden, die einfach verschwanden,<br />

währte nie lange.<br />

»Vielleicht ist sie in einem guten Buch versunken«, hatte Edmund<br />

S. Tithelthorpe-Schmidt III. gescherzt, als das Essen aufgetragen<br />

worden war. Er schob sich ein glitschiges Stück Alligator-Pastete<br />

in den Mund und lachte lauthals über seinen eigenen<br />

Witz.<br />

Die Zwillinge konnten Alligator-Pastete nicht ausstehen,<br />

genauso wenig wie sie Sir Edmund S. Titheltorpe-Schmidt III.<br />

oder Sir Edmund, wie er sich (dankenswerterweise) nennen<br />

ließ, ausstehen konnten. Er war so reich, dass er Forschungsreisen<br />

in die ganze Welt finanzierte, aber für gewöhnlich wurde<br />

er durch die Entdeckungen noch reicher als zuvor. Er prahlte<br />

damit, dass er im Weißen Haus, im Buckingham Palace und<br />

in der Sommerresidenz des Königs Faisal von Saudi-Arabien<br />

zum Essen eingeladen war. Man munkelte, dass er sich die<br />

Mitgliedschaft im Klub der Forschungsreisenden erkauft hatte<br />

– im Gegensatz zu all den anderen, die den Mount Everest<br />

bestiegen oder antike Ruinen entdeckt hatten.<br />

»Ich wünschte, wir könnten unsere Mitgliedschaft im Klub<br />

auch an ihn verkaufen«, meckerte Celia. Sie war stinksauer,<br />

dass sie die besten Fernsehsendungen des Tages wegen dieses<br />

dummen Essens verpasste.<br />

Sir Edmund behauptete, ein Experte für Kryptozoologie zu<br />

sein (das ist die Lehre von sagenhaften, seltenen Tieren und<br />

Fabelwesen). Er behauptete sogar, den entsprechenden akade-<br />

13


mischen Titel der Universität von Oxford zu besitzen, aber<br />

niemand hatte diese Urkunde je zu Gesicht bekommen.<br />

Ungeachtet seines Reichtums, seiner mächtigen Freunde und<br />

seiner zweifelhaften Titel war Sir Edmund ein sehr kleiner<br />

Mann; er blickte den Kindern fast auf Augenhöhe ins Gesicht.<br />

Er hatte einen buschigen roten Schnurrbart und sein Atem<br />

roch nach gekochten Möhren und eingeschlafenen Füßen.<br />

Oder nach eingeschlafenen Möhren und gekochten Füßen. So<br />

genau wussten es die Zwillinge nicht.<br />

»Ich wundere mich, wie eine solche Familie dazu kommt,<br />

den Titel ›residierende Forschungsreisende‹ zu führen«, beschwerte<br />

er sich, als alle sich zum Hauptgang setzten; es gab<br />

nigerianisches Affencurry. »Wo doch eine aus dieser Familie<br />

es selbst nach drei Jahren noch nicht geschafft hat, ihren<br />

Heimweg zu erforschen. Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Titel<br />

einem würdigeren Kollegen zu verleihen.«<br />

»Schön wär’s«, murmelte Oliver seiner Schwester ins Ohr.<br />

»Dann könnten wir in einem ganz normalen Haus wohnen«,<br />

flüsterte Celia zurück. »Und wir würden nicht die besten Fernsehsendungen<br />

verpassen, nur weil wir zu blöden Abendessen<br />

eingeladen werden.«<br />

Bei diesem Gedanken seufzten die beiden inbrünstig. Sie<br />

sehnten sich nach einem Leben mit Kabelfernsehen und ohne<br />

die endlosen Festlichkeiten bei den Forschungsreisenden.<br />

Heute war der letzte Schultag vor den Sommerferien. Eigentlich<br />

nicht der Zeitpunkt, sich in Schale zu schmeißen und die<br />

Streitereien der Erwachsenen anzuhören.<br />

»Meine Frau«, wandte sich Dr. Navel an Sir Edmund, »ist dem<br />

größten Wissensschatz des Universums auf der Spur. In der<br />

Bibliothek von Alexandria befanden sich Tausende von<br />

Schriftstücken aus der ganzen Welt: Bücher über Zauberei und<br />

14


andere mächtige Künste, unermesslich kostbare Gegenstände<br />

und wertvolle Schätze. Niemand weiß, was aus all diesen<br />

Wundern geworden ist, als die Bibliothek abbrannte. Es dauert<br />

eben seine Zeit, um dies alles zu erforschen. Und bis dahin«, er<br />

lächelte seinen Kindern, die neben ihm saßen, zu, »warten wir<br />

geduldig, bis sie zurückkehrt.«<br />

Die Mutter der Zwillinge war immer überzeugt gewesen,<br />

dass man diese großartige Bibliothek nur verlegt hatte, so wie<br />

eine Brille oder einen Schlüsselbund, und dass sie nur darauf<br />

wartete, dass man sie wiederfände und benutzte. Sie war felsenfest<br />

davon überzeugt, obwohl niemand sonst auf der Welt<br />

dies glaubte.<br />

Die Zwillinge hielten sich da eher an die Sendung Meisterwerke<br />

der Menschheitsgeschichte; dort hatten sie erfahren,<br />

dass die Bibliothek samt ihren Tausenden von Büchern,<br />

Schriftrollen und Kunstwerken vor zweitausend Jahren durch<br />

einen Brand zerstört worden war. Die Vorstellung, dass all diese<br />

Gegenstände während all dieser Zeit irgendwo versteckt gewesen<br />

waren, erschien ihnen absurd. Oliver fragte sich, wie<br />

man etwas nach so langer Zeit überhaupt noch finden konnte.<br />

Einmal hatte er ein belegtes Brötchen gefunden, das er das<br />

ganze Schuljahr über am Boden seines Spinds vergessen hatte.<br />

Es roch fürchterlich und es sah aus, als wäre ihm ein Fell gewachsen.<br />

Forschungsreisende aber waren begeistert von diesen<br />

alten Sachen – je älter und je verlorener, desto besser. Geruch<br />

schien ihnen niemals etwas auszumachen.<br />

»Ich hoffe, Sie werden jetzt nicht aufbrechen, um den Osterhasen<br />

zu suchen, Dr. Navel«, spottete Sir Edmund. »Was soll<br />

dann aus Ihren armen Kindern werden?«<br />

Er wieherte so laut vor Lachen, dass die Zwillinge zusammenzuckten<br />

und nervös auf ihren Stühlen hin und her rutschten.<br />

15


»Das alles erinnert mich an Colonel Percy Fawcett«, sagte Sir<br />

Edmund und schmatzte laut. »1925 verschwand der Bedauernswerte<br />

im Amazonas-Urwald, als er die versunkene Stadt Z<br />

suchte. Wussten Sie, dass er seinen ältesten Sohn Jack mitgenommen<br />

hatte? Ich vermute, sie sind Menschenfressern oder<br />

Giftschlangen zum Opfer gefallen.« An die Zwillinge gewandt<br />

fuhr er fort: »Eure Mutter hatte wenigstens so viel Vernunft,<br />

euch wohlbehalten zu Hause zurückzulassen, als sie euch im<br />

Stich ließ – pardon, ich meine, als sie wegging.« Er nahm einen<br />

tiefen Schluck von seinem widerlich süßen äthiopischen Honigwein.<br />

»Macht euch keine Sorgen«, sagte er lächelnd. »Falls<br />

sich auch noch euer Vater verirrt, werde ich höchstpersönlich<br />

die Verantwortung für eure Erziehung übernehmen.« Zufrieden<br />

stopfte er sich noch ein Stück von dem zähen Affenfleisch<br />

in den Mund. Oliver hatte das Wörtchen höchstpersönlich<br />

noch nie als eine Drohung empfunden, aber so, wie es Sir Edmund<br />

aussprach, bekam er eine Gänsehaut.<br />

»Ich frage mich, ob er wohl Kabelfernsehen hat«, flüsterte<br />

Celia ihrem Bruder zu.<br />

»Er ist nicht einmal ein Forschungsreisender«, sagte ihr Vater<br />

leise, während Sir Edmund an sein Glas klopfte und den Kellner<br />

rief, damit er ihm noch mehr Honigwein nachschenkte. »Er ist<br />

ein Geschäftemacher und ein...ein...ein...einScharlatan!«<br />

Die Kinder schlossen aus dem Tonfall ihres Vaters, dass es<br />

etwas Fürchterliches sein musste, ein Geschäftemacher und<br />

ein Scharlatan zu sein, besonders, wenn man beides auf einmal<br />

war. Auch wenn sie nicht genau wussten, was ein Scharlatan<br />

war (und wer, frage ich dich, weiß das schon), ein Forschungsreisender<br />

zu sein, war ihrer Meinung nach auch nicht<br />

gerade der Hit. Immerhin hatte dieser Beruf ihnen die Mutter<br />

genommen und endlose Kopfschmerzen bereitet.<br />

16


»Was ist ein Scharlatan?«, fragte Oliver seine Schwester. Sie<br />

gab ihm keine Antwort. Sie wollte nicht, dass ihr Vater glaubte,<br />

sie dächte auch nur im Entferntesten über seinen Forschungsreisenquatsch<br />

nach. Außerdem wusste sie die Antwort<br />

gar nicht, gab aber nur ungern zu, wenn sie etwas nicht wusste.<br />

Sie war nämlich drei Minuten und zweiundvierzig Sekunden<br />

älter als ihr Bruder und das hieß, dass ihr Bruder ihr den<br />

Respekt schuldete, den ein jüngerer Bruder eben seiner älteren<br />

Schwester schuldet.<br />

»Das bedeutet so viel wie Schwindler, Lügner, Betrüger«,<br />

antwortete Sir Edmund. »Und wenn hier an diesem Tisch ein<br />

Scharlatan sitzt, dann, das kann ich euch versichern, bin nicht<br />

ich es.«<br />

Oliver war verblüfft, dass Sir Edmund seine leise geraunte<br />

Frage gehört hatte. Dieser Mann war zwar sehr klein und mit<br />

seinem riesigen roten Bart sah er lächerlich aus, aber er war<br />

auch gefährlich schlau und er hörte verflixt gut.<br />

Die Zwillinge aßen schweigend zu Ende. Morgen würden sie<br />

zum letzten Mal in die fünfte Klasse gehen und danach hatten<br />

sie endlich Sommerferien. Sie freuten sich schon auf die drei<br />

Monate, die vor ihnen lagen und in denen sie nur faulenzen<br />

und fernsehen wollten und so wenig lernen wie nur irgend<br />

möglich. Die Mittelstufe, die sie dann im Herbst besuchen<br />

würden, war schon Abenteuer genug für sie.<br />

Während der Schulzeit mussten sie ihre Hausarbeiten machen<br />

und den Unterricht besuchen und mit ihrem Vater zusammen<br />

»lehrreiche Ausflüge« unternehmen, die üblicherweise<br />

damit endeten, dass sie sich in irgendwelchen Schreckenslabyrinthen<br />

verirrten oder dass Oliver von erst kürzlich entdeckten<br />

peruanischen Eidechsen gebissen wurde.<br />

Das war tatsächlich schon passiert.<br />

17


Sogar zwei Mal.<br />

Beim ersten Mal hatte sich seine Haut dunkelrot verfärbt und<br />

eine Woche lang schmeckte alles, was er aß, wie alte Bananen.<br />

Beim zweiten Mal wurde seine Haut grün und sein ganzer Körper,<br />

sogar seine Haare, taten ihm weh. Und wieder schmeckte<br />

alles nach Bananen. Und das, obwohl Oliver Bananen nicht<br />

ausstehen konnte.<br />

Die Lehrer protestierten oft, weil die Zwillinge so viele Unterrichtsstunden<br />

versäumten, aber ihr Vater ließ diese Einwände<br />

nicht gelten.<br />

»Abenteuer sind die beste Erziehung«, pflegte er dann zu sagen.<br />

Ihre Klassenkameraden hingegen beneideten sie und<br />

wünschten, sie könnten einen berühmten Forschungsreisenden<br />

begleiten, anstatt im Unterricht Vokabeln zu pauken und<br />

knifflige Rechenaufgaben zu lösen.<br />

»Ich wünschte, ihr wäret an unserer Stelle«, gaben die Zwillinge<br />

dann immer zur Antwort. Ihnen machten Abenteuer, die<br />

man auf dem Sofa erleben konnte, viel mehr Spaß als wirkliche<br />

Abenteuer.<br />

Wenn sie während des Schuljahres nicht gefährliche Reisen<br />

in exotische Länder unternehmen mussten, dann durften sie<br />

höchstens zwei bis drei Stunden am Tag fernsehen, was ihnen<br />

viel zu wenig erschien.<br />

Den ganzen Winter über träumten sie immer von langen<br />

Sommertagen, die sie vor dem Fernsehgerät verbringen konnten,<br />

aber jedes Mal, wenn es Sommer war, durchkreuzte ihr<br />

Vater diese Pläne.<br />

In diesem Sommer, so hofften sie, würde es nicht so weit<br />

kommen. Sie waren jetzt elf Jahre alt, kamen in die sechste<br />

Klasse und wollten nun ihr Schicksal und die Fernbedienung<br />

18


selbst in die Hand nehmen. Aber diese Essenseinladung hatte<br />

ihnen schon wieder einen kleinen Strich durch die Rechnung<br />

gemacht.<br />

Inzwischen unterhielt man sich über andere Themen als über<br />

ihre Mutter. Ihr Vater sprach mit einem afrikanischen Prinzen<br />

über die uralten Sagen der Pygmäen und Sir Edmund hielt jedem<br />

seiner Tischnachbarn Vorträge darüber, wie schwierig es<br />

sei, Fabelwesen zu jagen. Er behauptete, einen Bigfoot gefangen<br />

und ihn an den Vorsitzenden einer kanadischen Bergbaugesellschaft<br />

verkauft zu haben. Alle Forschungsreisenden,<br />

Abenteurer, Wagehälse, Weltenbummler und Geschäftemacher<br />

an seinem Tisch waren beeindruckt.<br />

Alle außer Oliver und Celia.<br />

»Der Trick, wenn man Fabeltiere fangen will«, erklärte Sir<br />

Edmund, »besteht darin, ihre Schwächen auszunutzen. Manche<br />

lieben das Fressen. Andere lieben Opern und hängen mit<br />

einer Affenliebe an ihren Kindern – dies ist beispielsweise<br />

beim Yeti, auch Schneemensch genannt, der Fall.« Er zwinkerte<br />

den Zwillingen zu. »Wieder andere verlangt es nur nach<br />

Menschenfleisch. Solche Kreaturen in einem Zoo zu halten,<br />

ist, wie ich gestehen muss, ein teures Hobby, aber eines, das<br />

mir sehr viel Spaß macht. Bigfoot, Schneemensch, Basilisk . . .<br />

die Wärter in meinem Zoo langweilen sich nie.«<br />

»Pah, ein Zoo«, brummte Celia verächtlich. Sie konnte sich<br />

nichts Langweiligeres vorstellen, als ein paar eingesperrten<br />

Tieren – ob Fabeltiere oder nicht – zuzusehen, wie sie schliefen,<br />

aßen und sich gegenseitig beschnüffelten. Oliver überlegte<br />

im Stillen, was ein Schneemensch wohl aß, aber er fürchtete,<br />

wenn er fragte, dann würde er sich stundenlange Vorträge<br />

anhören müssen. Forschungsreisende reden gerne. Und Celia<br />

würde ihn umbringen, wenn sie länger als nötig bei diesem<br />

19


Essen bleiben mussten. Sie beide wollten nur, dass der Abend<br />

möglichst schnell vorüberging und sie den letzten Schultag<br />

endlich hinter sich bringen konnten.<br />

Nachdem man sich noch eine Stunde lang über das giftige<br />

Dies und das uralte Das unterhalten hatte, durften die beiden<br />

endlich vom Tisch aufstehen und sich verabschieden. Sie liefen<br />

aus dem Saal zurück in ihre Wohnung im 4½ten Stock.<br />

Ihrem Vater war es kaum aufgefallen, dass seine Kinder gegangen<br />

waren. Er war zu sehr vertieft in das Gespräch mit dem<br />

afrikanischen Prinzen, der ihm von giftigen Pflanzen im Ituri-<br />

Wald erzählte. Doch Sir Edmund hatte bemerkt, wie rasch sie<br />

verschwunden waren.<br />

Wenn sie ihn beobachtet hätten, dann wäre ihnen aufgefallen,<br />

dass er sie mit einem grausamen Blick angelächelt hatte,<br />

als wüsste er, dass ihnen etwas Schreckliches bevorsteht, und<br />

als würde ihn dieser Gedanke außerordentlich erfreuen. Und<br />

um ehrlich zu sein: Er wusste tatsächlich, dass ihnen etwas<br />

Schreckliches bevorstand, und er freute sich in der Tat außerordentlich<br />

darüber.<br />

20


3. Weder Liebe noch Bären<br />

Warum geht ihr nicht nach unten und begrüßt Choden Thordup,<br />

die Bergsteigerin aus Tibet?«, fragte ihr Vater. Er stand<br />

hinter dem Sofa, auf dem die Kinder lümmelten und fernsahen.<br />

Es war am Tag nach dem Festessen. Irgendwie hatten sie<br />

auch den letzten Schultag hinter sich gebracht. Alle Schüler<br />

waren in Windeseile aus der Schule gerannt und freuten sich<br />

nun auf Baseballturniere, die während des Sommers stattfanden,<br />

auf Ferienlager und Urlaub. Und sie bestürmten Oliver<br />

und Celia mit Fragen.<br />

»Wohin fahrt ihr diesmal?«<br />

»Geht ihr Fallschirmspringen?«<br />

»Kämpft ihr gegen ein Ungeheuer?«<br />

»Trefft ihr einen König?«<br />

Alle glaubten, dass die Kinder eines weltbekannten Forschungsreisenden<br />

ein unglaublich aufregendes Leben führten.<br />

»Wir schauen uns Realityshows im Fernsehen an!«, sagte Oliver<br />

aufgeregt.<br />

»Und Seifenopern!«, kreischte Celia vor Freude.<br />

Die anderen Kinder verstummten enttäuscht. »Völlig verrückt,<br />

die beiden«, brummten sie im Weggehen. »Wenn ich<br />

solche Eltern hätte, würde ich niemals fernsehen wollen!«<br />

Oliver und Celia zuckten nur mit den Schultern. Sie hatten<br />

nicht viele Freunde. Aber es machte ihnen auch nichts aus, besonders<br />

jetzt nicht, wo sie zu Hause waren und der Sommer<br />

endlich angefangen hatte.<br />

21


Aber nun stand da wieder einmal ihr Vater und hatte seine<br />

eigenen Vorstellungen davon, wie sie ihre Zeit verbringen<br />

sollten.<br />

»Sie kann euch vom Dach der Welt erzählen!« Vor lauter<br />

Aufregung rutschte Dr. Navel die kleine runde Brille von der<br />

Nase, aber das tat seiner Begeisterung keinen Abbruch. »Sie<br />

hat mit dem Großen Orakel von Tibet gesprochen! Sie hat nur<br />

mit List die Angriffe der Gifthexen aus der Tsangpo-Schlucht<br />

überlebt ...undmithilfe eines Kartoffelbrei-Rezepts!«<br />

»Gleich fängt Die weltbesten Tierjagden, Teil 3 an«, murrte<br />

Oliver.<br />

»Weshalb wollt ihr euch irgendwelche Dokumentationen im<br />

Fernsehen anschauen, wo die Wirklichkeit doch so viel aufregender<br />

ist?« Dr. Navel rang die Hände. Er klang fast so wie die<br />

anderen Kinder in der Schule. Und wie die Lehrer.<br />

»Liebe in 30.000 Fuß Höhe ist keine Dokumentation«, belehrte<br />

Celia ihren Vater. »Das ist ein Film über eine Flugzeugbesatzung.«<br />

»Wir schauen uns Tierjagden an!«, beharrte Oliver.<br />

»Tun wir nicht«, widersprach Celia. »Wir schauen Liebe in<br />

30.000 Fuß Höhe. Heute gesteht Flugkapitän Sinclair der Gräfin<br />

in der Businessclass, dass er sie liebt.«<br />

»Heute jagen Bären Nilpferde!«<br />

»Liebe!«<br />

»Bären!«<br />

»Liebe!«<br />

»Bären!«<br />

»Genug!«, brüllte ihr Vater. »Es gibt wichtigere Dinge im Leben<br />

als Liebe und Bären – als Fernsehen, wollte ich sagen.« Er<br />

drückte den Ausschaltknopf, der Bildschirm brummte enttäuscht<br />

und wurde dann schwarz.<br />

22


»Hey!«, protestierten beide Kinder wie aus einem Mund. »Wir<br />

schauen gerade fern.«<br />

»Nein. Ihr geht jetzt runter und hört euch an, was die Bergsteigerin<br />

über die Tsangpo-Schlucht, das Dach der Welt und<br />

über das Große Orakel von Tibet zu erzählen hat.«<br />

»Wir wollen aber nichts über einen Wahrsager hören«, beschwerte<br />

sich Celia.<br />

»Das Große Orakel von Tibet ist viel mehr als nur ein Wahrsager,<br />

Celia. Ihr bekommt eine Gelegenheit geboten, die man<br />

nur einmal im Leben erhält.«<br />

»Das sagst du jeden Abend!«, meckerte Oliver.<br />

»Und es ist jeden Abend wahr. Los jetzt, Oliver, zieh deine<br />

Jacke und eine Krawatte an.«<br />

»Aber –«<br />

»Celia, dein Kleid.«<br />

»Aber –«<br />

»Kein Aber oder ihr habt Fernsehverbot für den Rest der<br />

Sommerferien.«<br />

Die Kinder setzten ihren traurigsten Dackelblick auf.<br />

»Choden Thordup gehört zu den wenigen Forschungsreisenden,<br />

die bei den Verborgenen Wasserfällen gewesen sind und es<br />

überlebt haben«, sagte ihr Vater in dem vergeblichen Versuch,<br />

seine Kinder zu begeistern. Aber es funktionierte nicht und sein<br />

Lächeln verflog. Oliver und Celia interessierten sich einfach nicht<br />

für Wasserfälle. »Ich schwöre euch, wenn ich in meiner Jugend<br />

nur halb so viel Aufregendes erlebt hätte wie ihr...«Erschüttelte<br />

traurig den Kopf. »Wir treffen uns in zehn Minuten unten. Heute<br />

Abend werdet ihr an der Entdeckerfeier teilnehmen.«<br />

»Dad!«, stöhnten die Geschwister entsetzt, aber es war zu<br />

spät. Ihr Vater hatte schon die Tür hinter sich zugemacht und<br />

war auf dem Weg nach unten in den großen Festsaal.<br />

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Seufzend gingen die beiden in ihre Zimmer und zogen sich<br />

um. Ihre Hoffnung, den Sommer sorglos vor dem Fernsehgerät<br />

verbringen zu können, löste sich gerade in Luft auf. Schon<br />

wieder mussten sie Berichte über Abenteuer und Machenschaften<br />

in fernen Ländern über sich ergehen lassen.<br />

Als sie wenig später aus ihren Zimmern kamen und sich dabei<br />

in ihren feinen Anziehsachen ganz und gar nicht wohlfühlten,<br />

blieben sie wie angewurzelt im Gang stehen, denn<br />

keiner wollte der Erste sein, der aus der Wohnung ging. Oliver<br />

zupfte an seiner Krawatte. Celia strich die Falten ihres Kleides<br />

glatt.<br />

»Ich kann diese Entdeckerfeier nicht leiden«, nörgelte Oliver.<br />

»Das ist wie Bildungsfernsehen, nur dass man das Programm<br />

nicht selber wählen kann«, klagte Celia.<br />

»Dad lässt uns nie tun, was wir wollen«, beschwerte sich Oliver.<br />

»Das sind unsere Ferien. Da sollten wir anschauen dürfen,<br />

was wir wollen.«<br />

»Ich wette, er wünschte sich, andere Kinder zu haben.«<br />

»Kinder, die Abenteuer mögen.«<br />

»Andere Kinder als wir.«<br />

Einen Moment lang standen die beiden schweigend da,<br />

starrten auf den schwarzen Fernsehbildschirm und dachten<br />

daran, was sie gerade versäumten.<br />

»Dann ist es also abgemacht«, stellte Celia fest.<br />

»Was ist abgemacht?«, fragte Oliver.<br />

»Wir werden fortlaufen, dann kann Dad neue Kinder haben<br />

und wir müssen nie wieder auf Abenteuerreisen gehen.«<br />

»Ist Fortlaufen nicht auch ein Abenteuer?«<br />

»Nicht wenn wir irgendwohin gehen, wo es nicht so schön<br />

24


ist, zum Beispiel in ein Waisenhaus oder in ein Kindergefängnis.<br />

Irgendwohin, wo es stinklangweilig ist. Hauptsache, es<br />

gibt dort Kabelfernsehen.«<br />

»Aha«, sagte Oliver, weil er bei einem Streit mit seiner<br />

Schwester ohnehin nie recht behielt und er sich ja auch Kabelfernsehen<br />

wünschte. »Und was wird aus Dad? Er ist dann ganz<br />

alleine.«<br />

»Doktor Trost in Dr. Trost weiß Rat sagt, dass man alle Stadien<br />

des Kummers am eigenen Leib erfahren muss, wenn man<br />

ein erfülltes Leben haben will«, erklärte ihm Celia.<br />

»Aber ich will gar nicht woandershin gehen«, entgegnete<br />

Oliver.<br />

»Ich auch nicht. Genau darum geht es ja.«<br />

»Diese Wissenschaftler«, maulte Oliver. »Warum müssen sie<br />

auch immer so viel Gepäck mit sich rumschleppen? Ich will<br />

nie wieder Koffer packen.«<br />

»Also sind wir uns einig?«<br />

»Worüber? Über Dr. Trost weiß Rat? Ich kann Talkshows<br />

nicht leiden.«<br />

»Nein! Dass wir fortlaufen, damit Daddy alle Stadien des<br />

Kummers durchleben kann und Kinder findet, denen Kofferpacken<br />

und all das Zeugs gefällt.«<br />

»Oh«, sagte Oliver erneut. Seine Schwester brachte ihn immer<br />

dazu, dass er ihr recht gab. Sie konnte einen zu allem überreden.<br />

Man hörte ihr zu und man wusste nicht, worauf sie hinauswollte.<br />

Es klang ganz normal, aber plötzlich, ehe man<br />

sich’s versah, hatte man, ohne es zu wollen, zugestimmt, Liebe<br />

in 30.000 Fuß Höhe anzuschauen oder irgendeine Folge von<br />

Amores Enchiladas auf dem spanischsprachigen Kanal. Auch<br />

wenn man dabei Spanisch lernte, die Sache war es nicht wert.<br />

Amores Enchiladas war eine langweilige Sendung, in der die<br />

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Frauen ständig heulten, wenn sie nicht gerade einen braun gebrannten<br />

Schwertkämpfer küssten.<br />

Aber wie üblich stimmte er Celia zu. Celia war drei Minuten<br />

und zweiundvierzig Sekunden älter als er und ein paar Zentimeter<br />

größer, was ihr eine gewisse Autorität verlieh. Damit<br />

war es also abgemacht: Sie würden weglaufen, irgendwohin,<br />

wo es langweilig war; dort würden sie ihre Fernsehshows anschauen<br />

und alle wären glücklich und zufrieden. Im Kindergefängnis<br />

konnte es auch nicht schlimmer sein als im Klub der<br />

Forschungsreisenden, oder?<br />

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