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Tagungsdokumentation - KIZ

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Unser Land.<br />

Kriseninterventionszentrum<br />

für Kinder und Jugendliche in Not<br />

Pradlerstraße 75, 6020 Innsbruck<br />

Wenn du nicht mehr weiter weißt...<br />

wir sind 24 Stunden für dich da!<br />

Tel.: 0512 / 58 00 59<br />

Email: info@kiz-tirol.at<br />

Abteilung Jugendwohlfahrt<br />

Erscheinungsort und Verlagspostamt 6020 Innsbruck 26003 | 91U P.b.b.<br />

HISTORISCHE UND AKTUELLE DISKURSE<br />

SCHWERPUNKT ÖSTERREICH<br />

DOKUMENTATION der<br />

Fachtagung anlässlich der<br />

10 Jahresfeier des <strong>KIZ</strong><br />

Ein<br />

sozialpädagogisches<br />

Jahrhundert?<br />

Integration und Ausschließung –<br />

Zur Geschichte und Funktion<br />

von Jugendwohlfahrt<br />

MITTEILUNGSBLATT<br />

D E S T I R O L E R B E R U F S V E R B A N D E S<br />

DIPLOMIERTER SOZIALARBEITERiNNEN<br />

Ausgabe<br />

Nr. 63<br />

Oktober 2003<br />

SOZIALARBEIT<br />

S O Z I A L A R B E I T I N T I R O L


Tagungsprogramm<br />

Tagungsprogramm der Fachtagung anlässlich der 10 Jahresfeier des <strong>KIZ</strong><br />

04inhalt<br />

Einleitung 05<br />

„Ein sozialpädagogisches Jahrhundert ?<br />

Integration und Ausschließung Zur Geschichte und Funktion von Jugendwohlfahrt“<br />

historische und aktuelle diskurse<br />

04inhalt 05inhalt<br />

Martin Guse 06<br />

„Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“ Eröffnungsbeitrag zur Ausstellung<br />

Manfred Kappeler 16<br />

Im Zeichen der „Hilfe“ Wiedersprüche und Ambivalenzen der Sozialen Arbeit<br />

erläutert an Beispielen aus Geschichte und Gegenwart<br />

Michael Lindenberg 31<br />

Von der Heimreform zur Heimrestauration:<br />

Das Beispiel der geschlossenen Unterbringung in den Jugendhilfe<br />

Helga Cremer-Schäfer 39<br />

Die „gefährliche und gefährdete Jugend“.<br />

Über öffentliche Debatten und was wir zu beachten haben,<br />

wenn sie gerade nicht stattfinden.<br />

Impressum<br />

SIT - Mitteilungsblatt des<br />

Tiroler Berufsverbandes Diplomierter SozialarbeiterInnen.<br />

Medieninhaber, Herausgeber, Redaktion:<br />

Tiroler Berufsverband Diplomierter SozialarbeiterInnen,<br />

6021 Innsbruck, Postfach 775<br />

Satz, Layout: ALMEX print&web design<br />

6330 Kufstein (Alexander Horejs),<br />

www.almex.at<br />

Herstellung: artis-Betriebe<br />

Erscheinungsort und Verlagspostamt:<br />

6020 Innsbruck<br />

Claudia Wallner 53<br />

Mädchenarbeit im Wandel sozialer Arbeit<br />

Andreas Schaarschuch 64<br />

Soziale Dienstleistung im Sozialstaat<br />

schwerpunkt österreich<br />

Josef Scheipl 73<br />

Jugendwohlfahrt in Österreich<br />

Historische Entwicklungslinien, aktuelle Zielsetzungen<br />

Hermann Putzhuber 83<br />

JU-Quest: ExpertInnenbefragungen zu Entwicklungen in der<br />

Jugendwohlfahrt Projektpräsentation<br />

SIT . Nr.63 . 03


tagungsprogramm<br />

Mittwoch, 9.04.2003<br />

Historische und aktuelle Diskurse<br />

9:00 Begrüßung, Eröffnungsworte<br />

LR Christa Gangl, Landesrätin für Soziales<br />

und Jugendwohlfahrt<br />

HR Dr. Manfred Weber, Amt der Tiroler Landesregierung,<br />

Abt. Jugendwohlfahrt<br />

Dr. Christian Posch, SOS-Kinderdorf, Fachbereich<br />

Pädagogik<br />

Dr. Brigitte Hackenberg, Obfrau des <strong>KIZ</strong><br />

9.30 Manfred Kappeler, TU-Berlin, Institut für<br />

Sozialpädagogik<br />

Im Zeichen der “Hilfe” - Widersprüche und<br />

Ambivalenzen der Sozialen<br />

Arbeit erläutert an Beispielen aus Geschichte<br />

und Gegenwart<br />

Anschließend Möglichkeit für Fragen<br />

10.30 Pause<br />

11.00 Michael Lindenberg, Evang. FH für Sozialpädagogik<br />

Rauhes Haus, Hamburg<br />

Revolte im Erziehungsheim, Bambule oder<br />

Qualitätssicherung?<br />

Zur Entwicklung und Funktion von<br />

Jugendhilfe/Jugendwohlfahrt<br />

zwischen Integration und Ausschließung<br />

Anschließend Möglichkeit für Fragen<br />

12.30 Mittagspause<br />

Nachmittag Schwerpunkt Österreich<br />

14.00 Josef Scheipl, UNI Graz,<br />

Erziehungswissenschaften<br />

Jugendwohlfahrt in Österreich. Historische<br />

Entwicklungslinien, aktuelle Zielsetzungen<br />

Anschließend Möglichkeit für Fragen<br />

15.00 Pause<br />

15.10 Hermann Putzhuber, SOS Kinderdorf,<br />

Soz.-Päd. Institut<br />

Präsentation: JU-QUEST-ExpertInnenbefragung<br />

zu Entwicklungen<br />

in der österreichischen Jungendwohlfahrt<br />

15.30 Pause<br />

ab 16.00 in der Osteria – Eintritt frei<br />

Erzählcafe: Aufbruch in der Jugendsozialarbeit<br />

während der 70er-Jahre<br />

In den 70ern hat sich in der Sozialarbeit mit<br />

Jugendlichen viel getan. Neue Einrichtungen<br />

sind entstanden, etablierte haben sich gewandelt.<br />

Die Teil-nehmerInnen diskutieren unter<br />

Einbeziehung des Publikums über damals und<br />

die Folgen des Aufbruchs.<br />

04<br />

. Nr.63 . SIT<br />

Donnerstag 10.4.2003<br />

Aktuelle Diskurse<br />

9.15 Begrüßung und Tagesüberblick<br />

9.30 Helga Cremer-Schäfer, UNI Frankfurt, Erziehungswissenschaften<br />

Gefährliche und gefährdete Jugend?<br />

Anschließend Möglichkeit für Fragen<br />

10.30 Pause<br />

11.00 Claudia Wallner, Referentin für Mädchenarbeit<br />

und Mädchenpolitik in Münster<br />

Mädchenarbeit im Wandel Sozialer Arbeit<br />

Anschließend Möglichkeit für Fragen<br />

12.30 Mittagspause<br />

14.00 Andreas Schaarschuch, UNI Wuppertal,<br />

Erziehungswissenschaften<br />

Soziale Dienstleistungen im Sozialstaat?<br />

Anschließend Möglichkeit für Fragen<br />

15.00 Pause<br />

15.30 Moderiertes ExpertInnengespräch<br />

Helga Cremer-Schäfer, Manfred Kappeler, Michael<br />

Lindenberg, Andreas Schaarschuch, Josef<br />

Scheipl, Claudia Wallner.<br />

Die Vortragenden der Tagung diskutieren<br />

Möglichkeiten und<br />

Zukunftsperspektiven. Publikumsbeteiligung<br />

erwünscht.<br />

17.00 Abschluss<br />

Zusätzlich zu dieser Tagung findet die Ausstellung<br />

“Wir hatten noch gar nicht angefangen zu<br />

leben”<br />

über die Jugendkonzentrationslager in Moringen<br />

(Jungen) und<br />

in der Uckermark (Mädchen), Deutschland<br />

statt.<br />

Eröffnet wird diese Ausstellung am Dienstag<br />

den 8.4.03 um 19.30 Uhr im Foyer des Haus der<br />

Begegnung (Innsbruck) mit einem einleitenden<br />

Vortrag von Martin Guse.<br />

Die Wanderausstellung bleibt 3 Wochen im<br />

Haus der Begegnung, Eintritt frei.<br />

Nähere Infos unter www.martinguse.de<br />

„ Ein sozialpädagogisches Jahrhundert ?<br />

Integration und Ausschließung<br />

Zur Geschichte und Funktion von Jugendwohlfahrt“<br />

Soziale Arbeit in westlichen Wohlfahrtsstaaten<br />

erfüllt ihren gesellschaftspolitischen Auftrag,<br />

indem sie das vorhandene materielle Sicherungssystem,<br />

das Gesundheitswesen, das<br />

Erziehungssystem und den staatlichen Justizapparat<br />

ergänzt oder teilweise ersetzt und<br />

diejenigen, die darin zu KlientInnen werden,<br />

resozialisiert, rehabilitiert und reintegriert.<br />

Wie es einerseits Tatsache ist, dass jeglichen<br />

Integrationsversuchen die Ausgrenzung bestimmter<br />

Personengruppen immanent ist und<br />

es ebenso geschieht, dass manche nicht oder<br />

nicht in der Form integriert werden wollen,<br />

wie es für sie vorgesehen wäre, bedarf es einer<br />

Auseinandersetzung damit, dass Soziale<br />

Arbeit nicht nur Grenzen „verwaltet“, sondern<br />

sie auch selbst schafft, verschiebt und neu<br />

zieht. Da im Rahmen der Jugendwohlfahrt Soziale<br />

Arbeit häufig nur statisch von Institutionen<br />

– Familie, Schule, Staat - aus gedacht wird,<br />

bleibt sie oft blind gegenüber deren politischen,<br />

kulturellen, ideologischen, moralischen und<br />

ökonomischen Voraussetzungen, was bewirkt,<br />

daß Jugendliche, die durch diese Institutionen<br />

in ihrer psychischen und physischen Integrität<br />

gefährdet werden, nur als Teenager betrachtet<br />

werden können, die das soziale System in<br />

seinem Funktionieren gefährden und somit in<br />

weiterer Folge behandelt werden müssen. Erziehungsverhältnisse<br />

wirken auf Soziale Arbeit,<br />

indem sie bestimmte Handlungsmöglichkeiten<br />

zulassen und andere ausschließen, die einen<br />

privilegieren, die anderen marginalisieren. Auf<br />

Mädchen/Frauen und Jungen/Männern wirken<br />

sich diese gewalt-tätigen Verhältnisse unterschiedlich<br />

diskriminierend aus.<br />

Die Fachtagung nahm zum einen diese jugendlichen<br />

Männer und Frauen als diejenigen, auf<br />

die Soziale Arbeit in Form der Jugendwohlfahrt<br />

ausgerichtet ist, ins Blickfeld und zum zweiten<br />

die Entwicklung von Institutionen, die sich helfend,<br />

strafend, disziplinierend, kontrollierend<br />

und begleitend mit Jugend (lichen) befassen.<br />

Die einzelnen Vorträge von ExpertInnen aus<br />

dem Schnittfeld Wissenschaft und sozialpädagogischer<br />

Praxis und die abschließende<br />

gemeinsame (Podiums-) Diskussion dieser<br />

haben aus unterschiedlichen Perspektiven das<br />

Spannungsfeld von Integration und Ausschlie-<br />

ßung, in dem sich Jugendwohlfahrt bewegt,<br />

beleuchtet und mögliche Wege und Unwege<br />

für die Zukunft angedacht.<br />

Ergänzt wurden die Vorträge durch ein Erzähl-<br />

cafe mit dem Titel „ Aufbruch in der Jugendso-<br />

zialarbeit während der 70er Jahre“, an dem 18<br />

Personen, die auf unterschiedliche Weise mit<br />

der sozialen Jugendarbeit in Innsbruck/Tirol<br />

verbunden sind, teilnahmen. Mit diesem Erzählcafe<br />

sollte ein strukturierter Rahmen geboten<br />

werden, der über ein nostalgieschwangeres<br />

VeteranInnentreffen hinausreichte und zugleich<br />

die Ernsthaftigkeit eines wissenschaft-<br />

lichen Oral-History-Projekts unterwanderte.<br />

Es ging um das persönlich Erlebte, die eigene<br />

Biografie, die in Geschichten wiedergegeben<br />

wurde, die wiederum in der Jugendarbeit in<br />

Tirol Geschichte geschrieben haben.<br />

Umrahmt wurde die Tagung durch die Ausstel-<br />

lung „Wir hatten noch gar nicht angefangen zu<br />

leben“ – über die Jugendkonzentrationslager<br />

in Moringen und in der Uckermark (Deutsch-<br />

land), die auch verdeutlichte, daß dabei vor<br />

allem Jugendämter und Erziehungsheime die<br />

Möglichkeit nutzten, missliebige Jugendliche<br />

aus der Heimerziehung auszusondern und sie<br />

der Verfolgung und Inhaftierung auszuliefern.<br />

Der Eröffnungsvortrag von Martin Guse widmet<br />

sich diesem Thema.<br />

Das Team des Kriseninterventionszentrums<br />

für Kinder und Jugendliche (<strong>KIZ</strong>) bedankt sich<br />

bei allen Vortragenden, den TeilnehmerInnen<br />

am Erzählcafe, den Moderatoren, Sponsoren,<br />

OrganisatorInnen und UnterstützerInnen, die<br />

zum Gelingen dieser Tagung beigetragen haben,<br />

und so dem <strong>KIZ</strong> anläßlich seiner 10- Jah-<br />

resfeier ihre Wertschätzung erwiesen haben.<br />

SIT . Nr.63 .<br />

einleitung<br />

05


historische und aktuelle diskurse<br />

Martin Guse<br />

„Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“<br />

Eröffnungsbeitrag zur Ausstellung<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

„Wir hatten noch gar nicht angefangen zu le-<br />

ben“ heißt die Ausstellung, die wir im Rahmen<br />

dieser Feierstunde eröffnen. Für die Dauer von<br />

drei Wochen – d.h. bis zum 02.05.2003 wird sie<br />

hier im Haus der Begegnung der Öffentlichkeit<br />

in Innsbruck und der näheren Umgebung prä-<br />

sentiert. Dass sie eingebettet ist in das Pro-<br />

gramm der Fachtagung unter dem Titel „Ein<br />

sozialpädagogisches Jahrhundert? – Integra-<br />

tion und Ausschließung – Zur Geschichte und<br />

Funktion von Jugendwohlfahrt“ ist für mich als<br />

Urheber und Autor der Ausstellung von ganz<br />

besonderer Bedeutung! Das hiesige Krisenin-<br />

terventionszentrum für Kinder und Jugend-<br />

liche begeht sein 10-jähriges Bestehen und<br />

will im Verlauf der Tagung für einen kritischen<br />

Blick auf sozialarbeiterisches Handeln in Ver-<br />

gangenheit, Gegenwart und Zukunft sensibili-<br />

sieren. Das <strong>KIZ</strong> wählte deshalb bewusst diese<br />

Präsentation zur Geschichte der sozialen Ver-<br />

folgung im Nationalsozialismus, um die histori-<br />

schen und aktuellen Diskurse der Fachtagung<br />

zu ergänzen. Den rührigen Organisator/innen<br />

des <strong>KIZ</strong> und dem Haus der Begegnung danke<br />

ich besonders herzlich für die Präsentation der<br />

Ausstellung, für die ausgezeichnete Zusam-<br />

menarbeit bei der Vorbereitung des Vorhabens<br />

und für die Einladung zu dieser Eröffnungsver-<br />

anstaltung.<br />

Das <strong>KIZ</strong> geht ausdrücklich auch den ergän-<br />

zenden Weg der Auseinandersetzung mit der<br />

NS-Vergangenheit, den Weg der Reflexion und<br />

der Selbstvergewisserung eines Berufsstandes<br />

hinsichtlich der jüngeren deutschen Geschich-<br />

te. Und das Haus will mit der Präsentations-<br />

dauer auch fachfremde Besucherinnen und<br />

Besucher der unterschiedlichen Generationen<br />

an durchaus aktualisierbare Bezüge von Diskri-<br />

minierung und Verfolgung heranführen.<br />

„Wir hatten noch gar nicht angefangen zu le-<br />

ben“ thematisiert die historischen Gescheh-<br />

nisse in zwei bis vor wenigen Jahren noch<br />

unbekannten, „vergessenen“ Lagern des<br />

NS-Staates, den Jugend-Konzentrationslagern<br />

Moringen und Uckermark. Diese Ausstellung<br />

soll in ihrer Zielsetzung exemplarisch veranschaulichen,<br />

dass sich das NS-Terrorsystem<br />

mit unterschiedlichsten Mitteln und Methoden<br />

– auch mit denen der Sozialarbeit – und innerhalb<br />

kürzester Zeit gegen jedes erdenkliche<br />

Ziel richten konnte. Sie soll aufzeigen, dass das<br />

System der Vernichtung und Versklavung nicht<br />

nur weit weg – in den großen Todeslagern<br />

– stattfand, sondern flächendeckend, überall<br />

und in unzähligen Strukturen.<br />

Reinhard Heydrich - der „Chef der Sicherheitspolizei<br />

und des SD“ - erhob Ende 1939 erstmals<br />

die Forderung nach speziellen Lagern zur<br />

Internierung sog. „verwahrloster“ und auffälliger<br />

Jugendlicher. 1 Die Ideen dazu waren im<br />

Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) entwickelt<br />

worden. Dementsprechend wurden in der<br />

Sitzung des Reichsverteidigungsrates vom<br />

01.02.1940 unter Görings Vorsitz die Fragen<br />

der „Jugendbetreuung“ unter dem Einfluss<br />

des Krieges diskutiert. Man hielt eine zunehmende<br />

„Verwilderung“ der Jugend und ein<br />

Ansteigen der Jugendkriminalität für wahrscheinlich.<br />

Heinrich Himmler - der „Reichsführer-SS“<br />

– unterstützte Heydrichs Forderung<br />

ausdrücklich. 2 In der genannten Sitzung beauftragte<br />

der Reichsverteidigungsrat das RKPA in<br />

Berlin, sog. „Jugendschutzlager“ zu errichten.<br />

In einem letztlich mehrjährigen Kompetenzgerangel<br />

mit der Justiz, die zunächst noch eine<br />

schärfere Abgrenzung der für die Haft in Frage<br />

kommenden Jugendlichen anmahnte und zudem<br />

für ein eindeutiges Mitspracherecht bei<br />

deren Inhaftierung in diesen Lagern plädierte,<br />

setzte sich letztlich der Polizeiapparat durch.<br />

Noch bevor dieser Streit beigelegt war: Ohne<br />

richterliche Anordnung, sondern durch bloße<br />

Verwaltungsanweisungen – die Runderlasse<br />

verschiedenster NS-Behörden – bzw. durch<br />

Schutzhaftbefehle der Gestapo, wurden bis<br />

zum Kriegsende knapp 1.400 Jungen im Lager<br />

Moringen und schätzungsweise über 1.000<br />

Mädchen und junge Frauen im Lager Uckermark<br />

inhaftiert.<br />

Die Motivation Himmlers, die Einrichtung der<br />

Jugend-KZs zu forcieren, resultierte offensichtlich<br />

aus seiner Meinung, dass „...die Einrichtungen<br />

der Fürsorgeerziehung nicht zum Ziele<br />

führen.“ 3 Mit dieser Aussage leitete Himmler<br />

das vorläufige Ende einer langjährigen Debatte<br />

über die Erziehbarkeit oder vermeintliche<br />

„Unerziehbarkeit“ von Zöglingen innerhalb der<br />

staatlichen Ersatzerziehung ein.<br />

Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz<br />

(RJWG) vom 05.07.1922 4 war erstmals eine<br />

reichseinheitliche Regelung dieser öffentlichen<br />

Erziehung getroffen worden. Der § 73<br />

dieses Gesetzes sah die Schaffung einer sog.<br />

„Bewahrung“ für diejenigen Jugendlichen vor,<br />

die in den Erziehungsheimen auffällig wurden,<br />

Schwierigkeiten bereiteten und als „unerziehbar“<br />

eingestuft wurden. Ein entsprechendes<br />

Gesetz wurde aber weder in der Weimarer<br />

Republik noch im nationalsozialistischen<br />

Deutschland realisiert, obwohl es in den Kreisen<br />

der Fürsorgeverbände lebhaft diskutiert<br />

wurde. Die Überführung sog. schwer- oder<br />

„unerziehbarer“ Jugendlicher aus der Fürsorgeerziehung<br />

in „Bewahranstalten“, die keine<br />

erzieherische Einflussnahme, sondern die bloße<br />

Verwertung der Arbeitskraft sicherstellen<br />

sollten, scheiterten in der Weimarer Republik.<br />

Sie scheiterten letztlich an der fehlenden eindeutigen<br />

Definition des Begriffes der „Verwahrlosung“,<br />

am ungeklärten Einweisungsverfahren<br />

und an der ungesicherten Finanzierung.<br />

In den Diskussionen um das „Bewahrungsgesetz“<br />

waren zunehmend Worthülsen wie<br />

„Nörgler“, „geistig stark Unterwertige“ oder<br />

„Stimmungsgestörte“ bei der Beurteilung des<br />

Klientels in den Vordergrund getreten. Dieser<br />

Paradigmenwechsel war in Wohlfahrtspflege<br />

und Jugendhilfe seit Jahrzehnten von Biologen,<br />

Fürsorgern und Medizinern entscheidend<br />

beeinflusst worden waren: Hin zur Idealisierung<br />

des „gesunden, edlen, leistungsfähigen“<br />

Menschen, dem im sozialdarwinistischen Prinzip<br />

der „unedle, belastete und nicht leistungsfähige“<br />

Mensch gegenüberstand. Das folgende<br />

Zitat eines Fürsorgefachmannes aus dem Jahr<br />

1926 veranschaulicht solche Gedankengänge:<br />

„Mit allem Nachdruck muß die baldige Verabschiedung<br />

eines Reichsbewahrungs-gesetzes<br />

für asoziale Personen als Korrelat der Fürsorgeerziehung<br />

gefordert werden. Erst dann können<br />

die für die Fürsorgeerziehung als unerziehbar<br />

in Betracht kommenden Fälle asozialen Ver-<br />

haltens einer in ihrem eigenen Interesse und historische im Interesse der Allgemeinheit notwendigen<br />

Bewahrung überwiesen werden. (...) Ohne das<br />

Bewahrungsgesetz treiben wir mit der ganzen<br />

Fürsorgeerziehung eine gefährliche Gegenaus-<br />

lese in rassenhygienischer Beziehung. Wir schä-<br />

digen bewußt das kommende Geschlecht, wenn<br />

wir diese geistig minderwertigen, dem Verbre-<br />

chertum, dem Betteln, der Landstreicherei oder<br />

Gewerbsunzucht mit absoluter Sicherheit an-<br />

heimfallenden Elemente bis zum 21. Lebensjahr<br />

unter Aufwendung großer Mittel in glänzend<br />

eingerichteten Anstalten bewahren und behü-<br />

ten, um sie dann am Tage der Großjährigkeit<br />

ihrem Schicksal zu überlassen und ihnen die<br />

Möglichkeit geben, ihr grausam verzerrtes Erb-<br />

bild in immer weiteren Individuen und Genera-<br />

tionen wiederaufleben zu lassen.“ 5<br />

Zu diesem Komplex der „Rassenhygiene und<br />

Eugenik“ innerhalb der Sozialen Arbeit hat<br />

Prof. Dr. Manfred Kappeler aus Berlin intensiv<br />

recherchiert, er wird uns dazu im Verlauf der<br />

Tagung sicherlich noch manchen Aspekt näher<br />

vorstellen.<br />

Durch Notverordnungen zur Kostenersparnis<br />

der öffentlichen Haushalte kam es in den Win-<br />

termonaten der Jahre 1932/33 zu unzähligen<br />

Heimentlassungen Jugendlicher, die das 19.<br />

Lebensjahr vollendet hatten, ohne dass der<br />

Gesetzgeber alternative Unterstützungsmög-<br />

lichkeiten in seine Überlegungen einbezogen<br />

hatte. Zahllose Mädchen und Jungen sahen<br />

sich ohne weitere Betreuung einer ungewis-<br />

sen Zukunft ausgeliefert. In Fürsorgekreisen<br />

verschärften sich die Tendenzen, erzieherische<br />

Schwierigkeiten im Heimalltag den Betroffe-<br />

nen selbst anzulasten und dabei mit den Ter-<br />

mini „Unerziehbarkeit“ und „minderwertige<br />

Erbanlagen“ zu operieren. 6<br />

Im nationalsozialistischen Deutschland wurde<br />

das Bewahrungsgesetz v.a. auch in Fürsorge-<br />

kreisen weiterhin gefordert. Auf Länderebene<br />

kam es zur Teilrealisierung durch eigene „Be-<br />

wahranstalten“, so in Hamburg, Berlin, Baden<br />

und der Rheinprovinz. Die rechtlichen Bestim-<br />

mungen zur Regelung der Fürsorgeerziehung<br />

blieben im Nationalsozialismus formal beste-<br />

hen, erfuhren aber durch die Neuausrichtung<br />

nach dem Führerprinzip und dem nazistischen<br />

Staatsrassismus eine erhebliche Aushöhlung<br />

06 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 07<br />

historische und aktuelle diskurse


und Deformation. Die Ausgrenzung und Aus-<br />

sonderung von sog. „erblich Minderwertigen“<br />

wurde vorangetrieben. Erbbiologische Prak-<br />

tiken traten immer mehr in den Mittelpunkt<br />

bei der Beurteilung jugendlicher Heiminsas-<br />

sen. Auf der Grundlage des „Gesetzes zur<br />

Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom<br />

14.07.1933 7 kam es im Erziehungsalltag der<br />

Heime zu zahllosen Sterilisierungen Jugend-<br />

licher. Verschiedene Pädagogen und Erzie-<br />

hungswissenschaftler forderten verstärkt sog.<br />

Sonderbehandlungen für vermeintlich „erbge-<br />

schädigte“ und „rassefremde“ Heimbewohner<br />

oder diejenigen, die in der „Anstaltsgemein-<br />

schaft“ auffällig geworden waren.<br />

diskurseund Deformation. diskursesonderung historische und aktuelle diskurse<br />

Die allzu häufig widerstandslose Übernahme<br />

der sozialrassistischen NS-Programmatik und<br />

die Aufspaltung des Klientels in „gemein-<br />

schaftsfähige“ und „gemeinschaftsfremde“<br />

Personen führte zur zunehmenden Radikalisie-<br />

rung innerhalb der deutschen Fürsorge, wobei<br />

etliche ihrer Vertreter/innen die Einrichtung<br />

der Jugendlager in Moringen und Uckermark<br />

als zweckmäßigen Ersatz für das seit langen<br />

Jahren durch die Fürsorgeinstanzen einge-<br />

forderte „Bewahrungsgesetz“ ansahen. Voll-<br />

kommen eindeutig drückten sich dabei zum<br />

Beispiel die örtlichen Vertreter der NS-Volks-<br />

wohlfahrt in Hamburg anlässlich einer Sitzung<br />

zu Jugendfragen vom 02.02.1940 aus, indem<br />

sie (Zitat) „...die Einrichtung der vom Reich vo<br />

rgesehenen...Konzentrationslager für Jugendli-<br />

che...“ ausdrücklich empfahlen. 8<br />

Zur rechtlichen Scheinlegitimierung der beiden<br />

Lager gaben die unterschiedlichen Ministerien<br />

allgemeine Runderlasse heraus, die die Haft<br />

der Jugendlichen formal regelten. Es waren<br />

zunächst die Jugend- und Landesjugendämter<br />

sowie die Kriminalpolizei, die vom Reichskri-<br />

minalpolizeiamt ein Vorschlagsrecht zur In-<br />

haftierung auffälliger Jugendlicher in den sog.<br />

„Jugendschutzlagern“ erhielten. Runderlasse<br />

mit unklaren und vielseitig interpretierbaren<br />

Formulierungen und Richtlinien ließen breiten<br />

Spielraum, missliebiges Verhalten Jugendli-<br />

cher zu ahnden, so dass in den folgenden Jah-<br />

ren neben Kriminalpolizei und Jugendämtern<br />

auch die Vormundschaftsrichter, die Gefäng-<br />

nisse, Justizstellen oder die jeweilige HJ-Ge-<br />

bietsführung die Haft im Jugend-KZ formal be-<br />

antragen konnten. Vor allem Erziehungsheime<br />

und Jugendämter machten in der Folge - wenn<br />

auch regional sehr unterschiedlich – regen Gebrauch<br />

von den Haftanträgen, um sich auffälliger<br />

und missliebiger Jugendlicher entledigen<br />

zu können. Nach einem Bericht des RKPA aus<br />

dem Jahr 1944 waren über 50 % der betroffenen<br />

Jugendlichen vor ihrer Haft in Moringen<br />

und Uckermark in Fürsorgeerziehungsanstalten<br />

aufgewachsen. 9<br />

In den mir vorliegenden Anträgen der Heime<br />

und Jugend- bzw. Landesjugendämter auf<br />

Unterbringung von Mädchen und Jungen in<br />

den Jugendlagern fällt besonders die radikale<br />

Reduzierung der darin getroffenen Aussagen<br />

auf negativ besetzte Verhaltensweisen oder<br />

Eigenschaften der Betroffenen auf. Dabei wurde<br />

häufig die Auflistung von Verfehlungen<br />

und vermeintlichen Charakterschwächen für<br />

die Argumentationskette geschickt benutzt,<br />

um über diesen Weg der Stigmatisierung und<br />

Kriminalisierung die jeweils „notwendige“<br />

Unterbringung im Jugend-KZ dringlich und<br />

revisionssicher zu untermauern. Kennzeichnend<br />

sind die Verwendung von dehnbaren<br />

Worthülsen bei der Verhaltensbeschreibung<br />

und die kategorische Abstempelung der Jugendlichen<br />

zu „Arbeitsscheuen“, „geborenen<br />

Verbrechern“ und „Volksschädlingen“. Die Einweisungsgründe<br />

verweisen eher auf erzieherische<br />

Bankrotterklärungen bei der Beurteilung<br />

der sog. „Zöglinge“. So regte ein Mitarbeiter<br />

des Landesjugendamtes Kattowitz in seinem<br />

Antrag vom 28.07.1944 zum Beispiel die Jugend-KZ-Haft<br />

an, da die „pubertätskritische<br />

Trotzhaltung“ des betroffenen Jungen „mit den<br />

Mitteln der Fürsorgeerziehung nicht gebrochen<br />

werden kann“. 10<br />

Zwangsläufig waren von der Haft im Jugend-<br />

KZ vor allem solche Jugendliche betroffen,<br />

die sich unter dem Einfluss des Krieges der<br />

zunehmenden Reglementierung sämtlicher<br />

Lebensbereiche zu entziehen versuchten und<br />

dadurch mit den Norm- und Wertvorstellungen<br />

des NS-Staates in Konflikt gerieten. So gelangten<br />

die Fälle zunehmender „Arbeitsverweigerung“<br />

(„Blaumachen“), des „Umherstreunens“,<br />

der Diebstähle und eines freizügigeren Sexuallebens<br />

als „volksschädigendes Verhalten“<br />

in das Blickfeld von Polizei und SS. Unter dem<br />

Einfluss der Kriegsgeschehnisse und der damit<br />

einhergehenden Militarisierung des gesamten<br />

Lebens- und Arbeitsumfeldes reagierte die<br />

staatliche Autorität zunehmend auch auf solche<br />

„inneren Feinde“. Dabei wurde die normative<br />

Bestimmung der Begriffe „Asozialität“ und<br />

„Kriminalität“ erheblich ausgedehnt.<br />

Nichtanpassung, Verweigerung, sog. „Unerziehbarkeit“<br />

(definiert durch Diebstähle oder<br />

mehrfache Entweichungen aus einem Erziehungsheim)<br />

mit der Aussonderung der Betroffenen<br />

aus der staatlichen Ersatzerziehung,<br />

nicht staatskonformes oder unerwünschtes<br />

Sexualverhalten, der Glaube als Zeuge Jehovas<br />

oder Jude, konkrete Opposition und Widerstand<br />

gegenüber dem NS-Staat – jeder 10.<br />

Häftling wurde aus diesem Grund interniert<br />

– oder der Wunsch nach einer freien und individuellen<br />

Lebensgestaltung - wie ihn die<br />

jungen Anhänger der englisch-amerikanischen<br />

Swing- und Jazzmusik zu verwirklichen suchten<br />

-, aus einer Vielzahl von Gründen wurden<br />

Mädchen und Jungen im Alter von 13 bis 25<br />

Jahren in den Jugend-KZ Moringen und Uckermark<br />

inhaftiert. In zwei Ausnahmefällen gar<br />

10 jährige.<br />

Vor dem Hintergrund der Tagungsthematik<br />

möchte ich Ihren Blick heute besonders auf solche<br />

Häftlinge lenken, die auf Veranlassung der<br />

Jugendfürsorge in die Haft gerieten.<br />

Da waren zum Beispiel zahlreiche jugendliche<br />

Trebegänger, der im Verlauf ihrer „Fluchten“<br />

aus den jeweiligen Fürsorgeanstalten kleinere<br />

Diebstähle begangen hatte.<br />

Der am 05.05.1928 geborene Kasimir T. aus Kattowitz<br />

lebte wegen mehrerer Diebstähle, unregelmäßigen<br />

Schulbesuches und häufigen Entweichens<br />

aus dem Elternhaus in Erziehungsheimen.<br />

In den unterschiedlichen Heimen wurde<br />

er in der Folgezeit sehr ungünstig beurteilt.<br />

Dort floh er mehrfach, wobei er von Freunden<br />

und Verwandten unterstützt wurde, die mit Lebensmitteln<br />

und Unterkünften aushalfen. Polizei<br />

und Jugendamt konnten ihm keinerlei neue<br />

Straftaten nachweisen. Doch Kasimir T. wurde<br />

mit der Begründung „Gefahr im Verzuge“ und<br />

wegen des bloßen Verdachtes, sich Partisanen<br />

angeschlossen zu haben, verhaftet und am<br />

19.09.1944 nach Moringen verschleppt, wo er<br />

die Lagernummer 1263 erhielt. Er starb im Juni<br />

1945 in Moringen, also nach der Befreiung des<br />

Lagers. Die angegebene Todesursache lautete: historische Lungen-TBC und Herzschwäche. Sein Grab be-<br />

findet sich auf dem Moringer Friedhof. 11<br />

Der 1921 geborene XY kam im Alter von 16<br />

Jahren in ein Fürsorgeerziehungsheim. Dort<br />

entwich er für mehrere Monate, bis die Polizei<br />

ihn wieder aufgriff. Auf dem „Trebegang“ hatte<br />

er sich vermutlich durch Diebstähle und kleine-<br />

re Straftaten ernährt. Der Jugendliche wurde<br />

deshalb zu 10monatiger Gefängnishaft verur-<br />

teilt. Nach der Strafverbüßung überstellte ihn<br />

das Jugendamt in das Landeserziehungsheim<br />

Marienthron bei Neustettin. Bereits nach we-<br />

nigen Wochen lehnte die dortige Heimleitung<br />

die weitere Betreuung des Jungen kategorisch<br />

ab. In der Akte hieß es dazu: „Hier versuch-<br />

te er wieder andere Zöglinge zu strafbaren<br />

Handlungen zu verleiten. Die Anstaltsleitung<br />

ist nicht mehr in der Lage, XY durch fürsorge-<br />

rische Maßnahmen zu erziehen.“ Diese päd-<br />

agogische Bankrotterklärung endete mit den<br />

Worten: „Eine straffe Erziehung in einem Kon-<br />

zentrationslager würde ihn vielleicht noch auf<br />

die rechte Bahn bringen.“ 12 Die Heimeinrich-<br />

tung begrüßte also die KZ-Haft unter SS-Regie<br />

mit dem Mittel der Zwangsarbeit ausdrücklich<br />

als adäquates „Erziehungsmittel“. Heim und<br />

Jugendamt forcierten die Haft, die im Jahr<br />

1940 in Moringen vollzogen wurde. Im Lager<br />

erkrankte der Junge 3 Jahre später an Lungen-<br />

tuberkulose. Es ist mir nicht bekannt, ob er La-<br />

gerhaft und TBC-Erkrankung überlebt hat. 13<br />

Die größte Häftlingsgruppe im Lager Ucker-<br />

mark bildeten die jungen Frauen, denen in der<br />

Fürsorgeerziehung neben weiteren Auffällig-<br />

keiten vor allem ein Fehlverhalten im Bereich<br />

ihres Sexuallebens attestiert wurde. Die Beur-<br />

teilungskategorie „sexuelle Verwahrlosung“<br />

- seit Jahrzehnten die zentrale Thematik in<br />

der Arbeit der deutschen Fürsorge gegenü-<br />

ber Mädchen - geriet im Nationalsozialismus<br />

in Symbiose mit dem Selektionskriterium der<br />

„Unerziehbarkeit“ zur tödlichen Bedrohung<br />

für die betroffenen Mädchen. Den ideologisch<br />

vorgegebenen Geschlechterrollen und dem<br />

Ideal der „deutschen Hausfrau und Mutter“<br />

nicht entsprechend, wurden Prostitution und<br />

wechselnde Sexualpartnerschaften von Mäd-<br />

chen nunmehr als „moralischer Schwachsinn“<br />

definiert. Außereheliche und selbst bestimmte<br />

08 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 09<br />

historische und aktuelle diskurse


diskurseSexualität historische und aktuelle diskurse<br />

Sexualität einerseits negierend, andererseits<br />

etwaig notwendig werdende fürsorgerische<br />

Hilfen ausschließend, boten Fürsorge und na-<br />

zistischer Verfolgungsapparat ihre gesamten<br />

Ermittlungstechniken zur Aufdeckung sexuell<br />

abweichenden Verhaltens auf und offenbar-<br />

ten gleichzeitig eine perfide Doppelmoral, die<br />

allein das weibliche Verhalten zum Verfol-<br />

gungsgegenstand machte und die Rolle der<br />

männlichen Geschlechtspartner gleichwohl<br />

außer acht ließ. So beantragte beispiels-wei-<br />

se das Jugendamt Ratibor am 14.09.1944 die<br />

Inhaftierung von Franziska B., 1924 geboren,<br />

in Uckermark. Am 09.02.1943 aus der Fürsor-<br />

geerziehung entlassen, hatte die Jugendliche<br />

eine Arbeitsstelle als Hausangestellte kurz-<br />

fristig verlassen. Nach dem Verlust drei wei-<br />

terer Arbeitsstellen und einer Vorstrafe wegen<br />

Diebstahls fiel die junge Frau dem Jugendamt<br />

wegen einer Geschlechts-erkrankung auf. Die<br />

weiteren Ermittlungen ergaben, „...dass Fran-<br />

ziska B. wechs-elnden Männerverkehr hat. Die<br />

Hauswirtin meldet, dass zu verschiedenen<br />

Tagesstunden immer wieder andere Soldaten<br />

und auch Zivilpersonen die Minderjährige<br />

besuchen.“ 14 Der Antrag auf Unterbringung<br />

in Uckermark wurde folgendermaßen begrün-<br />

det: „... sodass die Minderjährige eine grosse<br />

sittliche Gefahr für ihre Umwelt bedeutet, und<br />

zumal auch Wehrmachtsangehörige bei ihr aus<br />

und ein gehen auch eine Gefährdung und Schä-<br />

digung der Wehrmacht vorliegt.“<br />

In der NS-Diktion wurden diese Mädchen und<br />

Jungen – wie ihre Mithäftlinge – als „Ras-<br />

sefremde“, „Gemeinschaftsfremde“, „erbge-<br />

schädigte Asoziale und Kriminelle“ diffamiert.<br />

Zu rechtlosen Nummern im Lageralltag abge-<br />

stempelt - ihres Namens und ihrer Identität<br />

beraubt - waren sie der Willkür und dem Terror<br />

der SS sowie der bedingungslosen Ausnutzung<br />

ihrer Arbeitskraft bei völlig unzureichender<br />

Verpflegung ausgeliefert. Bei mangelhafter<br />

medizinischer Versorgung entschied zudem<br />

ein sog. „Wissenschaftler“ – der Kriminalbio-<br />

loge Dr. Dr. Robert Ritter – mit fragwürdigsten<br />

Untersuchungsmethoden über Leben und Tod<br />

der jungen Menschen. Die Häftlinge beider<br />

Jugend-KZ wurden schwer misshandelt und<br />

durch Zwangsarbeit ausgebeutet. Sie mussten<br />

als teilweise noch Pubertierende lernen, mit<br />

dem ständigen Gedanken an Tod und Überleben<br />

konfrontiert zu sein. Sie haben Gleichaltrige<br />

neben sich sterben - ja elend verrecken<br />

- sehen.<br />

Mit der Befreiung im April bzw. Mai 1945 war<br />

deshalb für viele der überlebenden Mädchen<br />

und Jungen der Gedanke an Genugtuung,<br />

an Wiedergutmachung für geschehenes Unrecht<br />

verbunden. Doch diese Hoffnungen zerschlugen<br />

sich nahezu vollständig. Der schnell<br />

einsetzende Prozess der Verdrängung, des<br />

Verschweigens und der Verharmlosung in beiden<br />

deutschen Staaten - flankiert von den Bedingungen<br />

des sog. „kalten Krieges“ und vom<br />

Verbleib zahlloser NS-Täter in ihren Positionen<br />

- ließ die Häftlinge der Jugend-KZs zu vergessenen<br />

Opfern des nazistischen Polizeistaates<br />

werden. In Renten- und Entschädigungsfragen<br />

werden die meisten der damals Jugendlichen<br />

bis heute diskriminiert und ausgegrenzt. Rentenzahlungen<br />

für die Haftzeit bleiben aus,<br />

Ansprüche auf solche Leistungen werden<br />

schlicht geleugnet. Auch hinsichtlich der Entschädigungszahlungen<br />

nach dem dafür vorgesehenen<br />

Bundesgesetz bleibt festzuhalten:<br />

Nahezu alle Häftlinge der Jugend-KZs fielen<br />

und fallen durch die Maschen dieses Gesetzes,<br />

das in seiner Wirkung für sie zutiefst ungerecht<br />

ist. Politisch, rassisch oder religiös Verfolgter<br />

gewesen zu sein: Dies haben die Betroffenen<br />

nachzuweisen. Die aus sozialen Gründen verfolgten<br />

Kinder, Frauen und Männer sind von<br />

solchen Zahlungen ausgeschlossen. Auch die<br />

Firmen, die von der Zwangsarbeit der jungen<br />

Menschen pro fitierten, sahen sich bis vor wenigen<br />

Monaten nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen<br />

zu leisten. Vielleicht gelingt es den<br />

ehemaligen Häftlingen nun – nachdem fast 60<br />

Jahre verstrichen sind - über die bereit stehenden<br />

Geldmittel für ehemalige Zwangsarbeiterinnen<br />

und Zwangsarbeiter des NS-Regimes<br />

eine symbolische Zahlung zu erhalten.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Die Idee, die Lebenswege und Haftbedingungen<br />

dieser jungen Menschen in einer Ausstellung<br />

nachzuzeichnen, resultierte aus dem Gedanken,<br />

das bis dato Unbekannte, Verdrängte<br />

einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen<br />

zu wollen. Zum einen sollte den vergessenen<br />

Opfern erstmalig Gehör verschafft werden.<br />

Andererseits sollte versucht werden, die Nach-<br />

und Folgewirkungen des Nationalsozialismus<br />

exemplarisch aufzuzeigen und Fragen nach<br />

etwaigen gesellschaftlichen Kontinuitäten<br />

bei der heutigen Begegnung mit Andersdenkenden<br />

und Außenseitern aufzuwerfen. Die<br />

Konzeption sah vor, vor allem Jugendliche an<br />

diese Thematik heranzuführen, um über die<br />

alterspezifische Verknüpfung zu ihrer eigenen<br />

Lebenswelt Interesse zu wecken.<br />

Die Ausstellung „Wir hatten noch gar nicht angefangen<br />

zu leben“ ist natürlich ein Versuch!<br />

Ein Versuch, aus historischen Zusammenhängen<br />

im Sinne des „Lernens aus der Vergangenheit“<br />

für die Mechanismen der Ausgrenzung,<br />

Diskriminierung und Verfolgung zu sensibilisieren.<br />

Sie soll auch über die Beteiligung und<br />

Verstrickung der Fürsorge – der sozialen Arbeit<br />

– in das nazistische System der Beobachtung,<br />

Stigmatisierung, Denunziation und Verfolgung<br />

informieren.<br />

Dabei könnten wir zum Selbstschutz verleitet<br />

werden, indem wir uns mit der Distanz eines<br />

halben Jahrhunderts gegenseitig versichern,<br />

dass wir unsere Lehren allemal gezogen hätten<br />

- mit der gleichzeitig implizierten Selbstversicherung:<br />

„Ich hätte niemals mitgemacht!“<br />

Doch der Versuch, die komplexen Zusammenhänge<br />

der NS- Machtstrukturen und der beteiligten<br />

Akteure zu erkennen, verlangt geradezu,<br />

dass wir solchen allzu schnellen – und auch falschen<br />

– Rückschlüssen nicht erliegen. Manfred<br />

Kappeler verweist mit seinem umfangreichen<br />

und überaus wichtigen Werk „Der schreckliche<br />

Traum vom vollkommenen Menschen“ 15 darauf:<br />

Wir müssen die Verantwortlichkeiten und<br />

Verstrickungen vor allem auch dort betrachten<br />

und erklären können, wo sie im scheinbar<br />

Harmlosen, im alltäglichen Handeln der Beteiligten<br />

verborgen sind. Und wir müssen nach<br />

möglichen Ähnlichkeiten in unseren eigenen<br />

alltäglichen Denk formen und Einschätzungen<br />

fragen. Wir haben uns zu vergegenwärtigen,<br />

dass Geschichte keine Aneinanderreihung<br />

von abgeschlossenen Ereignissen ist, sondern<br />

ihr jeweiliges „Vorher“ und „Nachher“ hat.<br />

So handelten auch die NS-Behörden vor dem<br />

Hintergrund einer langjährigen Tradition von<br />

erb- und rassenhygienischen Vorstellungen.<br />

Die NS-Ideologie war vom Gedankengut des<br />

19. Jahrhunderts und den gesellschaftlichen<br />

Die direkte und indirekte Teilhaberschaft von<br />

Vertretern der deutschen Fürsorge –<br />

der Heime, Jugendämter und Landesjugend-<br />

ämter – an den Einweisungen in die beiden<br />

sog. „Jugendschutzlager“ sowie die nachge-<br />

wiesene Mitwirkung der Fürsorgeinstanzen<br />

an den Verfolgungsmaßnahmen gegenüber<br />

jüdischen Kindern, gegenüber jungen Sinti<br />

und jungen Zeugen Jehovas, gegenüber den<br />

als „asozial“ abqualifizierten Frauen, Männern<br />

und Kindern, sind überdeutliche Belege, dass<br />

die Berufssparte der Sozialarbeit/Fürsorge ei-<br />

nen wesentlichen „Beitrag“ zur Ausmerzepo-<br />

litik der Nationalsozialisten geleistet hat. Mit<br />

der Hinwendung zur rigorosen Aufspaltung der<br />

Klientel in förderungswürdige „gemeinschafts-<br />

fähige Volksgenossen“ und auszusondernde<br />

„Gemeinschaftsfremde“ entsprachen etliche<br />

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der deut-<br />

schen Fürsorge den ihnen vom faschistischen<br />

System zugewiesenen Aufgaben allzu bereit-<br />

willig. Sie verweigerten den Betroffenen mit<br />

10 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 11<br />

Grundpositionen der Weimarer Republik historische maßgeblich beeinflusst und geprägt. Sie war<br />

weder neu, noch Erfindung eines einzelnen<br />

„Führers“.<br />

Die weit vor 1933 bereits vorangetriebene<br />

Ausgrenzung der „Auffälligen“, der weniger<br />

Leistungsfähigen, der „Schwächeren“ in der<br />

Gesellschaft hat das Aussondern und Morden<br />

nach der Machtübertragung an die Nationalso-<br />

zialisten erleichtert und ermöglicht. Solcher-<br />

maßen in der Gesellschaft angelegten Haltun-<br />

gen und Einstellungen bildeten also auch die<br />

Grundlage für die Entstehung und Ausformung<br />

der Jugend-KZs, waren die Basis dafür, dass<br />

Polizei, Fürsorger, Lehr herren, Nachbarn die<br />

ihnen anvertrauten Jugendlichen überwach-<br />

ten, ihr Verhalten, ihren Lebensstil – auch ihre<br />

„Fehltritte“ – denunzierten, sie als Menschen<br />

abstempelten und sie in die Lager – aus ihrem<br />

eigenen Blickfeld fort – abschoben! Diese Men-<br />

schen bereiteten den Weg für Zwangsarbeit<br />

und KZ-Haft, die wiederum von Menschen<br />

- vom diensteifrigen Beamten bis zum sadis-<br />

tischen Schläger – vollzogen wurde. Dabei<br />

waren unzählige Menschen „nur“ indirekt be-<br />

teiligt, agierten nicht als „Monstren“ oder mo-<br />

ralisch besonders verwerflich. Doch sie haben<br />

teilgenommen, waren verstrickt in das System<br />

und wurden somit zu Komplizen des Terrors.<br />

historische und aktuelle diskurse


dem Hinweis auf „Rassefremdheit“ oder „min-<br />

derwertige Erbanlagen“ konkrete Unterstüt-<br />

zungsleistungen und fürsorgerische Hilfen. In<br />

Behörden, Jugendämtern und Erziehungshei-<br />

men wurden sie zu Handlangern faschistischer<br />

Anpassungs- und Disziplinierungsmethoden,<br />

wobei man Jugendliche, die man nicht zu<br />

„brechen“ vermochte, in die totale Institution<br />

„Jugendschutzlager“ abschob und somit auch<br />

die Lagerhaft unter SS-Gewalt als opportunes<br />

„Erziehungsmittel“ anerkannte.<br />

diskursedem Hinweis historische und aktuelle diskurse<br />

Zu den Fragen der Kontinuität und Diskontinu-<br />

ität in der Sozialarbeit muss erwähnt werden,<br />

das die beiden Jugend-KZ im ersten Nach-<br />

kriegsjahrzehnt zum Gegenstand der Diskussi-<br />

onen um eine nun erneut angestrebte „Bewah-<br />

rung“ Jugendlicher in speziellen Einrichtungen<br />

wurden. An solchen Überlegungen waren vor<br />

allem auch solche Beamte beteiligt, die bereits<br />

während des Naziregimes für die Ausgestal-<br />

tung der Haft in Moringen und Uckermark<br />

verantwortlich zeichneten - wie zum Beispiel<br />

Friedericke Wieking, als ehemalige Leiterin<br />

der Weiblichen Kriminalpolizei beim RKPA. Sie<br />

negierte, wie die ehemaligen Aufseher/innen<br />

in den entsprechenden Nachkriegsprozessen<br />

gegen die Einsatzkräfte der Lager, gezielt den<br />

tatsächlichen Charakter der Lagerhaft und die<br />

Lebensumstände der betroffenen Mädchen<br />

und Jungen. Vor dem Hintergrund professio-<br />

neller Kontinuitäten im Bereich der Justiz und<br />

der Polizei – Ministerial- und Justizbeamte gin-<br />

gen weitgehend nahtlos in die neuen bundes-<br />

republikanischen Dienststellen über – fallen<br />

besonders die Publikationen zu Fragen des<br />

Jugendstrafrechts auf, in denen Bedeutung<br />

und Ausgestaltung der „Jugendschutzlager“<br />

im NS-Staat völlig verzerrt dargestellt und als<br />

Ausgangsbasis für die Bestrebungen einer<br />

sog. „Sicherungsverwahrung für Jugendliche“<br />

herangezogen wurden. 16 Man dachte also in<br />

Fürsorge-kreisen wieder laut über die Aus-<br />

grenzung „schwererziehbarer“ Minderjähriger<br />

aus der Fürsorgeerziehung nach und entwick-<br />

elte neue Konzepte für deren Ghettoisierung<br />

und weitere „Behandlung“. Diese Aspekte<br />

verweisen darauf, dass es mit dem Datum<br />

des 8. Mai 1945 auch für die Sozialarbeit/<br />

Sozialpädagogik keine „Stunde Null“ gegeben<br />

hat, sondern dass die historische Entwicklung<br />

des bundesrepublikanischen Sozialstaates<br />

auch vor dem Hintergrund personeller Kontinuitäten<br />

und der Langlebigkeit tradierter<br />

sozialer Normen, über die Jahrhundertwende,<br />

über „Weimar“ und den „NS-Staat“ hinweg,<br />

betrachtet und analysiert werden muss.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Die Häftlinge der Jugend-KZ wurden aus den<br />

unterschiedlichsten Gründen Opfer der Verfolgung.<br />

Sie fanden keine Fürsprecher, die für sie<br />

eintraten. Sie waren Kinder, junge Menschen!<br />

Wenn die Formel „Lernen aus der Vergangenheit”<br />

in unseren Ländern überhaupt noch<br />

Gültigkeit haben soll, so ist von uns eine<br />

genaue Einschätzung heutiger sozialer und<br />

politischer Positionen und Rahmenbedingungen<br />

gefordert. Dabei verschlechtert sich in<br />

Folge knapper Haushaltsmittel die Grundlage<br />

für gesellschaftlich so dringend notwendige<br />

Aufgaben. Vor dem Hintergrund der Ausstellungsthematik<br />

möchte ich dabei nur auf die<br />

erheblichen Einschnitte in der Sozial- und Jugendarbeit<br />

verweisen. In meiner beruflichen<br />

Praxis als Sozialpädagoge an einer Schule<br />

für Erziehungshilfe begegne ich zunehmend<br />

Haushalts bedingten Kürzungen. Der Ruf nach<br />

immer schärferen Maßnahmen zur Lösung finanzieller<br />

Probleme ist unüberhörbar. Und in<br />

einigen Medien und in Teilen der Öffentlichkeit<br />

und Politik werden soziale Leistungen zum Gegenstand<br />

erhitzter Debatten, werden Asylbewerber,<br />

Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger<br />

als sog. „Schmarotzer in der sozialen Hängematte”<br />

oder „Drückeberger” abqualifiziert.<br />

Werden „auffällige” Jugendliche – sie selbst,<br />

ihre Gangs und Cliquen – auffallend häufig<br />

allein mit schlechten Charaktereigenschaften<br />

dargestellt. Einerseits fehlen die Geldmittel<br />

für nötige pädagogische Interventionen<br />

oder präventive Maßnahmen, andererseits<br />

verstärken sich Diskussionen um Strafrechtsverschärfungen<br />

und weitere sanktionierende<br />

Maßnahmen gegenüber jungen Menschen.<br />

Und wie ich vor ca. 3 Jahren in meiner Tageszeitung<br />

las, glaubte ein Kommunalpolitiker<br />

aus dem Landkreis Nienburg/Weser in Niedersachsen<br />

allen Ernstes, mit „Arbeitslagern im<br />

Moor” ein adäquates Mittel zur Disziplinierung<br />

und Lenkung von gewaltbereiten oder auffälligen<br />

Jugendlichen entdeckt zu haben.<br />

Lassen Sie mich eine provokative Frage stellen:<br />

Wie weit sind wir in der heutigen finanziellen<br />

Situation von den Klassifizierungen des Sozialdarwinismus<br />

überhaupt noch entfernt? Wer<br />

gilt Ihnen und mir heute als „förderungswürdig”,<br />

wer gilt uns als „Ballastexistenz”? In<br />

einer zunehmend allseits neoliberal ausgerichteten<br />

Gesellschaft, in der dem wirtschaftlichen<br />

Nützlichkeitskalkül offensichtlich eine größere<br />

Bedeutung zukommt als der Bewahrung und<br />

weiteren Ausgestaltung sozialer Standards!<br />

Im weiteren Zurückdrängen sozialer Pflichtaufgaben<br />

wird die Kluft zwischen den „Machern”<br />

und den „Ohnmächtigen” wissentlich und willentlich<br />

vergrößert. Gleichzeitig gärt damit der<br />

Nährboden für Verunsicherung, Sozialneid und<br />

die alten/neuen “Sündenbocktheorien”, die<br />

sowohl an den Stammtischen als auch in den<br />

rechtsextremen Ideologiezirkeln Anhängerinnen<br />

und Anhänger finden.<br />

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird<br />

auch der Leidensweg der in Moringen und<br />

Uckermark inhaftierten Jugendlichen immer<br />

„aktuell” bleiben. Denn wir haben uns zu fragen,<br />

inwieweit heutigen Formen der Diskriminierung<br />

und Ausgrenzung in unserem Land<br />

vergleichbare Motive, Ursachen und gesellschaftliche<br />

Rahmenbedingungen zu Grunde<br />

liegen, wie vor über 60 Jahren.<br />

In dem Sinne einer solchen Spurensuche<br />

wünsche ich der Tagung des <strong>KIZ</strong> einen guten<br />

Verlauf sowie anregende Vorträge und Diskussionen.<br />

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!<br />

Ausgewählte Lesehinweise zur Thematik<br />

„Jugend-KZ“:<br />

Weitere Informationen über die Geschichte der<br />

Jugendkonzentrationslager auch im Internet<br />

unter:<br />

www.martinguse.de<br />

Ayass, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus“,<br />

Stuttgart 1995<br />

Guse, Martin/Kohrs, Andreas: Die „Bewahrung“<br />

Jugendlicher im NS-Staat – Ausgrenzung<br />

und Internierung am Beispiel der Jugendkonzentrationslager<br />

Moringen und Uckermark,<br />

(Diplomarbeit, masch.) Hildesheim 1985<br />

Guse, Martin/Kohrs, Andreas/Vahsen, Fried-<br />

helm: Das Jugendschutzlager Moringen Fried-historische – Ein<br />

Jugendkonzentrationslager, in: Otto, H.-U./<br />

Sünker, H. (Hrsg.), Soziale Arbeit und Faschis-<br />

mus, Bielefeld 1986, S. 321 – 344<br />

Guse, Martin/Kohrs, Andreas: Zur Entpädago-<br />

gisierung der Jugendfürsorge in den Jahren<br />

1922 – 1945, in: Otto, H.-U./Sünker, H. (Hrsg.)<br />

Soziale Arbeit und Faschismus, Frankfurt/Main<br />

1989, S. 228 – 249<br />

Guse, Martin: „Wir hatten noch gar nicht angefangen<br />

zu leben“. Zur Entstehung einer<br />

Wanderausstellung, in: Faulenbach, B./Jelich,<br />

H.-J. (Hrsg.) Reaktionäre Modernität und Völkermord.<br />

Probleme des Umgangs mit der NS-<br />

Zeit in Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten,<br />

Essen 1994, S. 181 – 188<br />

Guse, Martin: „Wir hatten noch gar nicht an-<br />

gefangen zu leben“ – Eine Ausstellung zu den<br />

Jugend-Konzentrationslagern Moringen und<br />

Uckermark 1940 – 1945“ - Katalog zur Ausstel-<br />

lung, Liebenau/Moringen 1992 (4. Auflage,<br />

Moringen/Liebenau 2001; Bezugsadresse:<br />

Guse Bildungsprojekte, Postfach 12 27, FRG-<br />

31615 Liebenau)<br />

Guse, Martin: „Der Kleine, der hat sehr leiden<br />

müssen...“ Zeugen Jehovas im Jugend-KZ<br />

Moringen, in: Hesse, Hans (Hrsg.), „Am mu-<br />

tigsten waren immer wieder die Zeugen Jeho-<br />

vas“. Verfolgung und Widerstand der Zeugen<br />

Jehovas im Nationalsozialismus, Bremen 1998;<br />

S. 102 - 120<br />

Guse, Martin: „Alles war darauf gerichtet, den<br />

eigenen Willen und das Selbstbewusstsein zu<br />

vernichten“ – Zur Inhaftierung von Mädchen<br />

und jungen Frauen im Jugend-KZ Uckermark<br />

1942 – 1945, in: Knab, E./Nickolai, W./Scheiwe,<br />

N. (Hrsg.), „Für die Zukunft lernen“, (hrsg.<br />

vom Bundesverband katholischer Einrichtun-<br />

gen und Dienste der Erziehungshilfen e.V.);<br />

Freiburg i. Br. 2000, S. 32 – 61<br />

Hepp, Michael: Vorhof zur Hölle. Mädchen im<br />

„Jugendschutzlager“ Uckermark; in: Ebbing-<br />

haus, A., Opfer und Täterinnen. Frauen des<br />

Nationalsozialismus, Nördlingen 1987, S. 191<br />

– 216<br />

12 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 13<br />

historische und aktuelle diskurse


diskurseKappeler, historische und aktuelle diskurse<br />

Kappeler, Manfred, Der schreckliche Traum<br />

vom vollkommenen Menschen. Rassenhygiene<br />

und Eugenik in der Sozialen Arbeit, Marburg<br />

2000<br />

Kuhlmann, Carola: „Erbkrank oder erziehbar?“<br />

– Jugendhilfe als Vorsorge und Aussonderung<br />

in der Fürsorgeerziehung in Westfalen von<br />

1933 – 1945, Weinheim und München 1989<br />

Limbächer, Katja/Merten, Maike/Pfefferle, Bet-<br />

tina: Das Mädchenkonzentrationslager Ucker-<br />

mark, Münster 2000<br />

Otto, Hans-Uwe/Sünker, Heinz (Hrsg.): Soziale<br />

Arbeit und Faschismus, Frankfurt/Main 1989<br />

Peukert, Detlev: Volksgenossen und Gemein-<br />

schaftsfremde – Anpassung, Ausmerze und<br />

Aufbegehren unten dem Nationalsozialismus,<br />

Köln 1982<br />

Schrapper, Christian: Hans Muthesius, Müns-<br />

ter 1993<br />

Wagner, Patrick: Volksgemeinschaft ohne Ver-<br />

brecher – Konzeptionen und Praxis der Krimi-<br />

nalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik<br />

und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996<br />

Auszug aus der Gehaltliste für die Lager Ravensbrück und Uckermark<br />

(Quelle: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück)<br />

Martin Guse<br />

Ausstellungskonzepte und Vertrieb<br />

Lange Strasse 29 D-31618 Liebenau<br />

www.martinguse.de e-mail: info@martinguse.de<br />

Innenhof des Jugend-KZ Moringen (Quelle: Niedersächsisches Landeskrankenhaus Moringen)<br />

Arbeitskommando „Schneiderei“ im KZ Ravensbrück. Hier wurden auch die jugendliche Häftlinge des Lagers Uckermark eingesetzt.<br />

(Quelle: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück)<br />

1<br />

Bundesarchiv (BA) Berlin R 22/1189, Bl. 25 - 30<br />

2<br />

Gesamter Vorgang ebenfalls in: BA R 22/1189. An der<br />

Sitzung nahmen u.a. teil: die Reichsminister Goebbels,<br />

Frick, Lammers, Kerrl und Rust, diverse Staatssekretäre<br />

der unterschiedlichen Ministerien, der Stabsführer der<br />

Reichsjugendführung, Lauterbacher sowie Himmler<br />

und Heydrich aus dem Polizeiapparat. Zum Verlauf der<br />

Sitzung und zur Vorgeschichte sehr interessant: Muth,<br />

Heinrich, Das „Jugendschutzlager“ Moringen; in: Dachauer<br />

Hefte 5, Die vergessenen Lager, Dachau 1989, S. 223<br />

– 252<br />

3<br />

BA R22/1189<br />

4<br />

Reichsgesetzblatt (RGBl.), Jg. 1922, Teil I, 633 ff.<br />

5<br />

Vossen, Die FE der über Achtzehnjährigen, Berlin 1925,<br />

S. 104<br />

6<br />

Zum Hintergrund und zur Ausformung der damaligen<br />

Situation in der Fürsorgeerziehung vgl.: Harvey, Elizabeth,<br />

Die Jugendfürsorge in der Endphase der Weimarer<br />

Republik - Das Beispiel der Fürsorgeerziehung, S. 198-<br />

227; sowie Guse, Martin/Kohrs, Andreas, Zur Entpädagogisierung<br />

der Jugendfürsorge in den Jahren 1922<br />

- 1945, S. 228-249; beide Beiträge in: Otto, H.-U./Sünker,<br />

H., Soziale Arbeit und Faschismus, Frankfurt/Main 1989<br />

7<br />

RGBl., Teil 1, Nr. 86, S. 529 – 531<br />

8<br />

zitiert nach Hepp, Michael, Vorhof zur Hölle. Mädchen<br />

im „Jugendschutzlager“ Uckermark; in: Ebbinghaus,<br />

Angelika (Hrsg.), Opfer und Täterinnen, Nördlingen<br />

1987, S. 196<br />

9<br />

Werner, Paul, Die Einweisung in die polizeilichen Jugendschutzlager,<br />

in: Deutsches Jugendrecht, Heft 4,<br />

Berlin 1944, S. 103<br />

10<br />

Akte zum Jugendlichen N.S. in: Archiwum Panstwo-<br />

wego w. Katowicach, Prov. Verw.. Kat.; Nr. 5508<br />

11 Vgl. Akte zum Jugendlichen Kasimir T. in: Archiwum<br />

Panstwowego w. Katowicach, Prov. Verw.. Kat.; Nr. 5557;<br />

sowie: Quellen: Lagerbuch Moringen beim Internationa-<br />

len Suchdienst Arolsen; Totenliste im Moringer-Magist-<br />

rats-Archiv; Begräbnisregister im Moringer-Magistrats-<br />

Archiv; sowie Sterberegister, in: HSTA Hannover Nds.<br />

721 Göttingen Acc 93/79<br />

12 Vgl. die Anordnung der „polizeilichen Vorbeugungs-<br />

haft“ vom 11.01.1940 gegenüber dem 1921 geborenen<br />

Häftling des Jugend-KZs Moringen; Akte in: Archiv des<br />

Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte Münster,<br />

ohne Signatur<br />

13<br />

ebd.<br />

14 Akte zu Franziska B. in: Archiwum Panstwowego w<br />

Katowicach, Prov. Verw. Kat. 6739, S. 2<br />

15 Kappeler, Manfred, Der schreckliche Traum vom voll-<br />

kommenen Menschen. Rassenhygiene und Eugenik in<br />

der Sozialen Arbeit, Marburg 2000<br />

16 Vgl. hierzu u.a.: G. Leonhard, Die vorbeugende Ver-<br />

brechensbekämpfung im nationalsozialistischen Staat<br />

und ihre Lehren für die Zukunft, Neckargemünd 1952;<br />

W. Lüders, Die Jugend-Bewahrung - eine Lösung des<br />

Problems der Behandlung minderjähriger Schwerster-<br />

ziehbarer, in: Monatsschrift für Kriminologie und Straf-<br />

rechtsreform, 42. Jhrg., Berlin/Köln 1959, S. 156 - 166;<br />

H. Petersen, Die Jugendbewahrung, Göttingen 1959; F.<br />

Schaffstein, Jugendstrafrecht, S. 53; F. Wieking, Die Ent-<br />

wicklung der weiblichen Kriminalpolizei in Deutschland<br />

von den Anfängen bis zur Gegenwart, Lübeck 1958<br />

14 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 15<br />

historische und aktuelle diskurse


Hilfe – ein Hauptwort der Sozialen Arbeit,<br />

vielleicht das<br />

Hauptwort, von dem sich das<br />

Selbstverständnis dieses „helfenden Berufs“<br />

ableitet. die großen Gesetze, die das sozialar-<br />

beiterische Handeln, seine Organisationsfor-<br />

men und Institutionen in Deutschland rechtlich<br />

regeln, tragen dieses Wort im Titel: Kinder- und<br />

Jugendhilfegesetz,<br />

Bundessozialhilfegesetz.<br />

Fast alle Praxisbereiche definieren sich über<br />

„Hilfe“: Jugendhilfe, Sozialhilfe, Drogenhilfe,<br />

Suchtkrankenhilfe, Altenhilfe, Bewährungs-<br />

hilfe, Jugendgerichtshilfe, Gesundheitshilfe,<br />

Hilfen zur Erziehung, Hilfen für Menschen mit<br />

Behinderungen, Hilfen in besonderen Lebens-<br />

lagen usw., usw. Und alle diese Hilfen sollen<br />

sich realisieren in der Gestalt von „helfenden<br />

Beziehungen“.<br />

Eine der in der Frühzeit der Sozialen Arbeit<br />

bedeutenden Zeitschriften, die von 1895 bis<br />

1943 erschien und unter anderem von Gertrud<br />

Bäumer, neben Alice Salomon meines Erach-<br />

tens die wichtigste Person der „Gründerzeit“<br />

unseres Berufs, herausgegeben wurde, hieß<br />

„Die Hilfe“, und auch der Verlag, in dem sie<br />

erschien, hatte diesen Titel. Käthe Kollwitz<br />

stellte den Publikationen dieses Verlags ihre,<br />

das proletarische Massenelend beklagenden,<br />

Grafiken zur Verfügung.<br />

In der Etymologie hat das Wort vom Althoch-<br />

deutschen bis heute eine Konnotation des<br />

Guten und Edlen, des Menschenfreundlichen<br />

und der Nächstenliebe. Es bedeutet: Unter-<br />

stützung, Beistand zur Rettung, zum Über-<br />

gang aus einer schlechteren Lage in eine<br />

bessere, Befreiung aus üblen Umständen. Der<br />

Helfer/die Helferin sind Beistand und Rettung<br />

Gewährende. Die Hilfeleistung<br />

wird als eine<br />

eilende, freiwillige, mitleidendliche Handlung<br />

beschrieben und ein Hilfloser ist der Mensch,<br />

der Hilfe entbehren muß und der sich nicht<br />

selbst helfen kann. Paulus erinnert uns im<br />

Hebräer-Brief daran, daß jeder Mensch in eine<br />

Lage kommen kann, in der er Hilfe benötigt:<br />

„Auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und<br />

historische und aktuelle diskurse<br />

Manfred Kappeler<br />

Im Zeichen der „Hilfe“<br />

Wiedersprüche und Ambivalenzen der Sozialen Arbeit erläutert an Beispielen<br />

aus Geschichte und Gegenwart<br />

Gnade finden, auf die Zeit, wenn uns Hilfe not<br />

sein wird“ und Schiller bringt die Skepsis darüber<br />

zum Ausdruck, ob wir, wenn es nötig ist,<br />

auch wirklich Hilfe bekommen werden. „Ja, Du<br />

bist gut und hilfreich, dienest allen, und wenn<br />

Du selbst in Not kommst hilft Dir keiner“. Daß<br />

„Hilfe“ nicht so eindeutig gut ist, wie die Wortgeschichte<br />

es uns nahe legt, zeigen Sprichwörter<br />

und Sentenzen, in denen „Hilfe“ als eine<br />

Bedrohung erscheint, „Wehedem, der Hilfe<br />

braucht!“ oder „Hilf Dir selbst – sonst wird Dir<br />

geholfen“ und „Dem ist nicht mehr zu helfen“,<br />

und auch die Drohung „Ich werde Dir helfen“<br />

im Sinne von „Ich werde Dir Beine machen“,<br />

um jemanden zu veranlassen, etwas zu tun<br />

oder nicht zu tun. In dem in der Sozialen Arbeit<br />

geläufigen Begriff „Hilfsmaßnahme“ – fast<br />

alle Hilfe wird in der Form von „Maßnahmen“<br />

gewährt – kommt ebenfalls der Januskopf von<br />

„Hilfe“ als Unterstützung und Kontrolle in Einem<br />

zum Vorschein: Jemanden „maßnehmen“<br />

heißt, ihn autoritär von oben herab, aus einer<br />

Machtposition heraus zu beurteilen, zu messen<br />

eben, an Kriterien, über die der „Maßnehmende“<br />

verfügt. Er hat die Definitionsgewalt über<br />

Inhalte, Gestalt und Ausmaß der Hilfe, kann sie<br />

gewähren oder verweigern. Eine „Maßnahme“<br />

ist ein obrigkeitlicher Akt, der den der Hilfe bedürftigen<br />

zum Objekt der Fremdbestimmung<br />

macht. Das meiste dessen, was unter dem erhabenen<br />

Titel „helfende Beziehung“ geschieht,<br />

hat noch immer diesen Charakter. Auf den paternalistischen<br />

Gestus von „Hilfen“ reagierte<br />

Immanuel Kant, indem er „Barmherzigkeit“ als<br />

„beleidigende Art des Wohltuens“ ablehnte<br />

und alternativ ein zu „tätigem und vernünftigem<br />

Wohlwollen“ förderliches Mit-Leiden<br />

vorschlug. Nietzsche hält die Barmherzigkeit<br />

für einen schädigenden pathologischen Effekt.<br />

Sie sei „weichlicher Egoismus“, vermehre die<br />

Leiden in der Welt und entehre die Leidenden.<br />

Seinen Zarathustra läßt er sagen: „Wahrlich ich<br />

mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind<br />

in ihrem Mitleiden: Zu sehr gebricht es ihnen<br />

an Scham.“ Er meint damit die selbstgewisse<br />

bornierte Aufdringlichkeit von Helfenden, die<br />

die mit Scham verbundene Hilflosigkeit, Not<br />

und Armut des Bedürftigen schamlos mißachten,<br />

indem sie ihm mit ihren ach so gut gemeinten<br />

Hilfe-Angeboten „auf den Leib rücken“ und<br />

erzürnt sind, wenn der so Bedrängte zurückweicht<br />

und die angebotene Hilfe ablehnt.<br />

Barmherzigkeit ist nur dann eine Tugend, wenn<br />

sie Ausdruck der Nächstenliebe ist. Ihr Leitspruch<br />

lautet: Hilfe hat kein Warum. Im alten<br />

Testament heißt es: Jahwe will Barmherzigkeit<br />

unter den Menschen: Daß jeder etwas zu essen<br />

hat, für den Mitmenschen gesorgt wird, daß er<br />

am Leben bleibt und nicht ausgeliefert wird!<br />

Dieses Verständnis von Hilfe ist von einem Gottesbild<br />

inspiriert, in dem der Allmächtige bedingungslos,<br />

das heißt unabhängig von allem<br />

Verdienst, den Menschen annimmt. Sich-Erbarmen<br />

in diesem theologischen Sinne bedeutet<br />

das erwartungslose und bedingungslose Sich-<br />

Entgegenkommen in den zwischenmenschlichen<br />

Beziehungen. Auf der Empfängerseite<br />

von Hilfe bedarf es keines „positiven Wertes“,<br />

keines „Anspruchs“: Ausschlaggebend<br />

für das helfende Handeln ist allein die Not<br />

des anderen, das Resultat einer Zerstörung,<br />

marginalisierende Lebensbedingungen und<br />

schließlich der drohende Tod. In dieser radikalen<br />

Auffassung von Helfen als voraussetzungsloser<br />

Nächstenliebe gibt es keine Spaltung<br />

von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit: Die<br />

Gerechtigkeit gibt rein distributiv einem jeden<br />

was er verdient hat (angeblich). In diesem Verhältnis<br />

wird Barmherzigkeit zur nachsichtigen<br />

Milde herabgewürdigt, die bereitwilliger wird,<br />

wenn der „Bedürftige“ sich bemüht, die an ihn<br />

gestellten Anforderungen zu erfüllen. Die sich<br />

so verstehende „Hilfe“ richtet an den „gefallenen<br />

Menschen“ die Forderung nach Umkehr<br />

und erst, wenn er Bereitschaft zur Besserung<br />

signalisiert, wird ihm geholfen. Wenn Barmherzigkeit<br />

und Gerechtigkeit voneinander geschieden<br />

werden, wird die Erhaltung von Gesetz<br />

und Ordnung zum Grundmuster von Hilfe.<br />

Das zeigt die gegenwärtige Debatte um den<br />

„Umbau“ des Sozialstaats: Die Einführung von<br />

sogenannten Niedrig-Lohngruppen verbunden<br />

mit dem „Lohnabstandsgebot“ der Sozialhilfe,<br />

der Vorwurf von „Arbeitsunwilligkeit“ gegenüber<br />

EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld/<br />

Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verbunden mit<br />

16 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 17<br />

der Drohung, diese Leistungen zu kürzen, spie-<br />

geln diese Auffassung von „Gerechtigkeit“<br />

spie-historische im<br />

Zusammenhang mit Hilfe wider. Handlungen,<br />

die diese Ordnung verletzen, können als „Feh-<br />

ler“ im Einzelfall schon mal verziehen werden,<br />

aber der Erhalt der Ordnung darf durch die ra-<br />

dikale Nächstenliebe nicht gefährdet werden.<br />

Die „Hilfe“ darf allenfalls Mängel kompensie-<br />

ren, und wenn die Mittel reichen, auch „Lö-<br />

cher stopfen“. Das biblische Grundmuster von<br />

Barmherzigkeit ist demgegenüber radikal-re-<br />

volutionär: Den Notleidenden muß immer Recht<br />

verschafft werden, die Hilfe ist durch seine Not<br />

und durch nichts anderes gerechtfertigt. Dar-<br />

aus resultiert eine Sozialethik, in deren Mittel-<br />

punkt der Mensch als der „Nächste“ steht. Der<br />

Nächste ist der, der Hilfe braucht und von dem<br />

man kein Gegengeschenk erwarten kann. Ihm<br />

gegenüber ist keine Güterabwägung statthaft,<br />

denn in der ihm gebotenen Hilfe realisiert sich<br />

die jedem Menschen zukommende Würde. Hil-<br />

fe so verstanden, kann keine sozialen, religiö-<br />

sen oder rassischen Schranken anerkennen. In<br />

der Ethik des Alten Testaments wird der Frem-<br />

de, der im Lande lebt, ausdrücklich der ge-<br />

genseitigen Achtung und Fürsorge unterstellt<br />

und in den Geltungsbereich des Liebesgebots<br />

einbezogen. In der „Theologischen Realen-<br />

zyklopädie“ (TRE), Berlin 1994 wird über die<br />

Reichweite von Hilfe nachgedacht. Es sei zwar<br />

ethisch und philosophisch richtig, zuerst den<br />

situationsethischen Standpunkt im Nahbereich<br />

einzunehmen, bevor man ihn mit weiter aus-<br />

greifenden Taten der Hilfe überschreitet. Die<br />

Entwicklung der Weltlage erfordere heute aber<br />

eine Erweiterung der Auffassung von „Nah<br />

und Fern“. Heute können wir von unserem er-<br />

reichten historischen Standort aus auch noch<br />

die „Fernsten“ als „Nächste“, als unsere Hilfe<br />

beanspruchende Menschen erkennen. Diese<br />

„Horizonterweiterungen“ verlangen eine Per-<br />

spektive „globaler Mitmenschlichkeit“. „Mit-<br />

mensch ist zwar zunächst der Nächste, der mir<br />

im wörtlichen Sinne nahe ist, so daß mich sein<br />

Anspruch unmittelbar und konkret betroffen<br />

machen kann (TRE, Stichwort: Nächster) und<br />

dem ich konkrete Hilfe leisten kann, aber die<br />

BewohnerInnen der Erde „sind einander im<br />

globalen Sinne Nächste geworden“. Mitmensch<br />

ist heute jeder, der Menschenantlitz trägt und<br />

prinzipiell mein Nächster“ werden kann (eben-<br />

da). Diese Sichtweise, die sich im Kontext des<br />

historische und aktuelle diskurse


sich in der Moderne allmählich durchsetzen-<br />

den sozialen und rechtlichen Gleichheitspostu-<br />

lats entwickelt hat, wird aber tagtäglich durch<br />

die „Horizonte“ totalitärer, patriarchaler und<br />

kapitalistischer Ordnungen eingeschränkt und<br />

an ihrer Realisierung gehindert. Die univer-<br />

salen Menschenrechte verlangen heute, daß<br />

jeder, der sie benötigt, die ihm angemessene<br />

„Hilfe“ zur Realisierung seiner Personalität<br />

bekommt. In der TRE heißt es dazu: „Das be-<br />

deutet auch, jeden der Hilfe zu solcher Selbst-<br />

verwirklichung braucht, in seinem Anderssein,<br />

in seiner Besonderheit anzuerkennen und zu<br />

fördern.“ Die politische und soziale Universali-<br />

tät dieser Auffassung vom Nächsten beinhaltet<br />

eine „verpflichtende Zuordnung von Menschen<br />

zueinander, jenseits von subjektiver Sympathie<br />

und Antipathie. Der Fremde wird zu meinem<br />

Nächsten umgeschaffen! Bei aller Bedeutung<br />

des konkreten Begegnungscharakters erstreckt<br />

sich die Dimension der Nächstenschaft von der<br />

mikrosozialen bis zur universalen Mitmensch-<br />

lichkeit“. (TRE a.a.o.)<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen,„Hilfe” beruht<br />

in der Sozialen Arbeit weitgehend auf der<br />

beanspruchten und praktizierten Definitions-<br />

macht der Professionellen und der durch sie<br />

repräsentierten Institutionen über die Leiden<br />

und das Wohlergehen der Menschen, die auf<br />

„Hilfe” angewiesen sind und sie wollen, aber<br />

auch der Menschen, die als „Hilfebedürftige”<br />

definiert werden, sich selbst aber nicht so se-<br />

hen und die „Hilfe” auch nicht wollen. Diese<br />

Definitionsmacht kommt ohne klassifizierendes<br />

Denken nicht aus. Es reproduziert und trans-<br />

portiert die hegemonialen Zuschreibungen, die<br />

normativen Erwartungen an das individuelle<br />

Handeln und die aus diesen – meist verborge-<br />

nen – Maßstäben hergeleiteten Beurteilungen,<br />

Wertungen über das „Gelingen“ oder „Schei-<br />

tern“ individueller Existenz.<br />

Die TheologInnen und SozialethikerInnen Ul-<br />

rike Suhr und Hans-Jürgen Benedict an der<br />

Hamburger Evangelischen Fachhochschule<br />

für Soziale Arbeit reflektieren in einer Dialog-<br />

Predigt zum fünfundzwanzigsten Jubiläum<br />

der Fachhochschule meines Erachtens genau<br />

dieses Paradigma der Sozialen Arbeit, das ich<br />

als die „Zumessung“ des den sogenannten<br />

KlientInnen als „angemessen“ zugestandenen<br />

„Wohlseins“ in Inhalt und Ausmaß bezeichnen<br />

möchte.<br />

diskursesich in historische und aktuelle diskurse<br />

Die Jesus salbende Frau in Bethanien (Markus<br />

14, 3-9) durchbricht mit ihrem non-konformistischen<br />

Handeln nicht nur die aus der symbolischen<br />

Ordnung der Zweigeschlechtigkeit resultierenden<br />

Rollenzuschreibungen an Frauen<br />

in patriarchalen Gesellschaften, sie mißachtet<br />

mit ihrer nicht dosierten Gabe an Christus den<br />

Nicht-Seßhaften, den Menschen ohne Obdach,<br />

das schon erwähnte Lohn-Abstandsgebot der<br />

Sozialhilfe, das die selbsternannten „Modernisierer“<br />

des Sozialstaats gegenwärtig wieder<br />

einmal verschärfen wollen. Niedriglohngruppen<br />

fordern sie und die Absenkung der Sozialhilfe,<br />

um zu diesen Hungerlöhnen den Abstand<br />

zu halten und es interessiert sie nicht, daß § 1<br />

BSGH die Mittel zur Gestaltung eines „menschenwürdigen<br />

Lebens“ verspricht. Sie beanspruchen<br />

die Definitionsmacht darüber, was<br />

menschenwürdiges Leben heute sein darf.<br />

Ulrike Suhr nennt in der Dialog-Predigt über die<br />

„salbende Frau“ die Wirkungen dieser Definitionsmacht<br />

die „kalkulierende, kostenbewußte<br />

Begrenzung und Zerstörung von Lebensmöglichkeiten“<br />

und fordert uns auf, dagegen sozialarbeiterisch-diakonisch<br />

zu protestieren. Wir<br />

sollen in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit<br />

dieses „Zumessungs-Paradigma“ in der Theorie<br />

de-konstruieren und im Handeln außer Kraft<br />

setzen, die Mischung aus „Mildtätigkeit und<br />

Strenge“, die sparsame Mildtätigkeit und die<br />

auf Ordnung bestehende Strenge aus unserem<br />

beruflichen Selbst-Verständnis verabschieden,<br />

damit wir fähig werden, „zu einem Handeln<br />

jenseits aller Konventionen“ und zum „Protest<br />

gegen das Diktat der Berechnung“ (Ulrike<br />

Suhr). In der diese Dialog-Predigt abschließenden<br />

Sentenz sagt Hans-Jürgen Benedict:<br />

„Daß die Armen auch ein Recht zu leben haben,<br />

wird schwerlich jemand bestreiten (obwohl<br />

auch das immer wieder geschieht). Aber daß<br />

es ihnen gut gehen soll oder sogar vorzüglich,<br />

das darf nicht sein. Der Arme soll spüren, daß<br />

er schuldhaft etwas versäumt hat. Immer noch<br />

ist Soziale Arbeit/Diakonie mit ihren knappen<br />

Mitteln Vermittlerin dieser Botschaft: Wenn ich<br />

Dir Armen etwas gebe, mußt Du Dich ändern.<br />

Nicht die Verhältnisse müssen sich ändern<br />

(Arme soll es nicht geben) nein, zuerst Du und<br />

deswegen darf es Dir nicht gut gehen.“<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Sozialen<br />

Arbeit, bei „öffentlichen“ und „freien“ Trägen,<br />

in Initiativen und Projekten, wird immer wieder<br />

versucht, den strukturellen Widerspruch der<br />

Sozialen Arbeit von „Hilfe und Unterstützung“,<br />

und von „Kontrolle/Disziplinierung“ aufzulösen,<br />

indem auch Unterdrückung, Kontrolle und<br />

Disziplinierung als „Hilfe“ definiert werden.<br />

Diese ideologische Um-Interpretation, notwendige<br />

Legitimation fragwürdigen Handelns mit<br />

dem Ziel der Aufrechterhaltung „beruflicher<br />

Identität“, begegnet uns alltäglich in vielen<br />

Bereichen der Sozialen Arbeit: in der Drogenhilfe,<br />

der Strafrechtspflege, der Psychiatrie, in<br />

wirtschaftlichen Hilfen, der Arbeit mit alten<br />

Menschen und selbst noch in ihrem freiesten<br />

Bereich, der Kinder- und Jugendarbeit nach<br />

§ 11 KJHG. In den Spuren Wicherns und Pestalozzis<br />

und der vielen anderen „Väter und Mütter“<br />

der Sozialen Arbeit werden Strategien der<br />

„Normalisierung“ und wird das Normative, auf<br />

das sie sich beziehen, mit der Begrifflichkeit<br />

von „Abweichung“ und „Anpassung“ definiert<br />

und im beliebten Gefahren- und Gefährdungsjargon<br />

des Präventionsparadigmas als Schutz,<br />

als Unterstützung, als Hilfe ausgegeben. Von<br />

den Anfängen bis heute können die Hauptlinien<br />

der Sozialen Arbeit als eine Strategie der<br />

Dominanzkultur zur Aufrechterhaltung des<br />

„Wertekonsens“ im „Dienst“ der „gesellschaftlichen<br />

Mitte“ gelesen werden.<br />

Seit jeher konstituiert sich das berufliche<br />

Selbstverständnis der in der Sozialen Arbeit<br />

Tätigen über die zentrale Kategorie „Hilfe“, mit<br />

der alles Handeln als „Helfen“ schon im Voraus,<br />

dann im Vollzug und schließlich im Nachhinein<br />

legitimiert ist. In der kirchlichen Sozialarbeit<br />

wird das „Helfen“ noch zum „Dienen“, die „Hilfe“<br />

zum „Dienst“ überhöht und den diakonischen<br />

MitarbeiterInnen die gewerkschaftliche<br />

Organisation und das Tarifrecht verweigert mit<br />

der Begründung, daß der kirchliche Träger kein<br />

Arbeitgeber und die MitarbeiterInnen keine<br />

ArbeitnehmerInnen seien (Bezeichnungen,<br />

die ja auch schon die Verhältnisse ideologisch<br />

auf den Kopf stellen), sondern alle miteinander<br />

eine „Dienstgemeinschaft“.<br />

Mit der Kategorie „Hilfe“ wird in der Sozialen<br />

Arbeit Identitätspolitik betrieben, um jenseits<br />

der Widersprüche und Ambivalenzen in Theorie<br />

und Praxis für die in ihr beruflich Handelnden<br />

über das Bewußtsein der Zugehörigkeit<br />

zu einer Profession, die sich selbst als den gesellschaftlichen<br />

Ort der „Hilfe“ definiert, eine<br />

18 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 19<br />

stabile berufliche Identität zu erwerben, die historische für ein auf Jahrzehnte bemessenes sogenann-<br />

tes Berufsleben halten soll, dem immer dro-<br />

henden Born-Out vorbeugen soll. Dieser Beruf<br />

sei in seinen diversen, die ganz Gesellschaft<br />

durchziehenden Handlungsfeldern, der Würde<br />

des Menschen und den Menschenrechten ver-<br />

pflichtet, wird behauptet und stehe in den ma-<br />

kellosen Traditionen christlicher Liebestätig-<br />

keit, humanistischer und sozialistischer Ideale.<br />

Christentum, Humanismus und Sozialismus<br />

und die ihnen zugehörigen sozialen Bewegun-<br />

gen seien die weltanschaulichen „Schutz- und<br />

Trägermächte“ der Sozialen Arbeit, die sich<br />

immer auf der Seite des Fortschritts engagiert<br />

hätten und mit ihnen die Soziale Arbeit selbst.<br />

Mit diesem tradierten Selbstverständnis ist<br />

das die Geschichte der Profession durchzie-<br />

hende klassifizierende und sozial-rassistische<br />

Denken und Handeln nicht vereinbar. Ein<br />

Selbst-Verständnis, das seine Eckpunkte in den<br />

Kategorien von Hilfe, Nächstenliebe, Selbst-<br />

losigkeit und Opfer findet, verbunden mit der<br />

Vorstellung, daß sich professionelle „Hilfe“<br />

jenseits aller Politik den „notleidenden und<br />

bedürftigen Mitmenschen“ zuwende, droht<br />

zusammenzubrechen, wenn es die Blindheit<br />

gegenüber dem eigenen Verstricktsein und<br />

der eigenen Komplizenschaft (Hannah Arendt)<br />

mit den Strukturen aufgibt, die die Aufrecht-<br />

erhaltung von Herrschaft, die Verteilung des<br />

gesellschaftlich produzierten Reichtums, die<br />

kulturelle Teilhabe jedes und jeder Einzelnen<br />

in dieser Gesellschaft bestimmt.<br />

Die De-Konstruktion des in der Sozialen Arbeit<br />

dominierenden Begriffs von „Hilfe“, würde<br />

deutlich machen, daß er „keine eigene, von<br />

der Sozialen Arbeit als Handlungsnorm be-<br />

ziehungsweise als Leitvorstellung selbstdefi-<br />

nierte Bedeutung hatte (hat), sondern ein in<br />

wechselnden politischen und weltanschauli-<br />

chen Konstellationen beliebig zu verwenden-<br />

der Joker war und ist, ein in jeder Lage hilfrei-<br />

cher Legitimationsbegriff, der bislang nie die<br />

Dignität eines an nicht austauschbare Inhalte<br />

gebundenen Imperativs erreichte“ (Kappeler<br />

2000, S. 633ff.)<br />

Daß die dominante Geschichtsschreibung in<br />

der Sozialen Arbeit weitgehend den Mythos<br />

von der helfenden Profession bedient und zu<br />

wenig ihr tradiertes Selbstverständnis de-kon-<br />

struiert, liegt meines Erachtens an einer ungehistorische<br />

und aktuelle diskurse


nügenden „Trennschärfe“ bezogen auf die nor-<br />

mative und die pragmatisch-praktische Ebene<br />

der Sozialen Arbeit. Diese „Verwischung“ führt<br />

dazu, daß die von den AutorInnen für die Ge-<br />

genwart der Sozialen Arbeit propagierten Leit-<br />

vorstellungen a-historisch der Profession und<br />

ihrer Geschichte in toto unterstellt werden.<br />

Die in den Begriffen von Menschenwürde und<br />

Menschenrechten zusammengefaßten ethi-<br />

schen Leitvorstellungen werden von einer<br />

identitätspolitischen<br />

Geschichtsschreibung<br />

in Vergangenheit und Gegenwart nur als von<br />

außen bedroht angesehen und ihre unzurei-<br />

chende Realisierung in der professionellen<br />

Praxis beziehungsweise ihre Verkehrungen in<br />

das gerade Gegenteil werden entweder als<br />

politisch-ideologische Instrumentalisierungen<br />

beziehungsweise Funktionalisierungen oder<br />

als Ausdruck individueller Bewußtseinsdefizi-<br />

te von Professionellen beschrieben. Die immer<br />

wieder zu beobachtende In-Eins-Setzung von<br />

normativen Leitideen und realisierter Praxis<br />

führt dazu, daß für Widersprüche und Um-<br />

kehrungen im Verhältnis von Leitnormen und<br />

Praxis nur noch Kräfte von außen, die mit Ge-<br />

walt und List die Soziale Arbeit um ihr „Eige-<br />

nes“ bringen, verantwortlich gemacht werden<br />

können. Es ist mithin das „Fremde“, daß das<br />

„Eigene“ korrumpiert. In dieser Sichtweise ist<br />

das „Eigene“ im konkreten Falle lediglich zu<br />

unaufmerksam, zu schwach oder zu verführbar<br />

und dem großen politischen Kräftespiel unter-<br />

legen. Soziale Arbeit und die in ihr Handelnden<br />

werden in dieser Sichtweise zu Opfern von<br />

Verhältnissen, die sie angeblich selbst kaum<br />

beeinflussen können, und ihre Täterschaft be-<br />

ziehungsweise Mit-Täterschaft kommt nicht<br />

in den selbst-kritischen Blick. Selbstverständ-<br />

lich ist heute allen, die sich überhaupt mit<br />

der Geschichte der Sozialen Arbeit befassen,<br />

bekannt, daß auch Kontrolle, Disziplinierung,<br />

Ausgrenzung, Fremdbestimmung, ja sogar<br />

Beteiligung an der Vernichtung von Menschen<br />

zu dieser Geschichte gehörten und gehören,<br />

aber diese „Schattenseiten“ werden nicht als<br />

zu ihrem „Eigenen“ gehörend verstanden, son-<br />

dern als Verirrungen und Verführungen durch<br />

Zumutungen von „außen“ gesehen. Was im<br />

widersprüchlichen und ambivalenten Handeln<br />

einzelner Professioneller und einzelner Institu-<br />

tionen noch gesehen wird, die dialektische Ver-<br />

schlingung von Emanzipation und Herrschaft,<br />

diskursenügenden historische und aktuelle diskurse<br />

wird im Blick auf die Profession als Ganzes und<br />

auf ihre Geschichte ausgeblendet.<br />

Die Instrumentalisierungsthese hat in der<br />

Geschichtsschreibung der Sozialen Arbeit zu<br />

einer Dichotomisierung geführt, die „gut“ und<br />

„böse“ im Prinzip jeweils eindeutig bestimmten<br />

Personen, Organisationen und politischen<br />

Verhältnissen zuordnet in dem Bestreben, die<br />

die Soziale Arbeit bislang durchziehenden<br />

Ambivalenzen aufzulösen, mit dem Ziel, den<br />

Studierenden und PraktikerInnen der Sozialen<br />

Arbeit – aber auch sich selbst? – die positive<br />

Identifikation mit einem an Menschenrechten<br />

und KlientInnenautonomie orientierten<br />

Hauptstrang in der Berufsgeschichte zu ermöglichen,<br />

als vermeintlich notwendige Voraussetzung<br />

für eine positive berufliche Identität. Das<br />

„Fremde“ wird als bedrohliche Kraft mit Instrumentalisierungsabsichten,<br />

als Projektionsfläche<br />

für Funktionen und Praktiken, die nicht<br />

zum gewünschten positiven Selbst-Berufsbild<br />

der Sozialen Arbeit passen, genommen.<br />

Dafür spricht auch die Hypostasierung der<br />

Sozialen Arbeit als einer „Menschenrechtsprofession“,<br />

die „wie keine andere“ den „Rechten<br />

und der Autonomie der Menschen“ (Engelke)<br />

verpflichtet sei. Dem Postulat, daß Soziale<br />

Arbeit sich an den politischen und sozialen<br />

Menschenrechten orientieren soll, kann ich<br />

ohne Einschränkungen zustimmen, gehe aber<br />

davon aus, daß dieses Postulat als ethische<br />

Leitvorstellung genauso für andere Professionen<br />

gilt und von ihnen auch beansprucht wird,<br />

sofern sie mit ihrem Handeln unmittelbar in<br />

die Lebensgestaltung von Individuen unter<br />

der Überschrift „Hilfe“ eingreifen, wie zum<br />

Beispiel MedizinerInnen, JuristInnen, PsychotherapeutInnen<br />

etc. Die Selbsterklärung der<br />

Sozialen Arbeit zu einer besonderen „Menschenrechtsprofession“<br />

ist aus meiner Sicht<br />

weder durch die Summe der Praxisvollzüge<br />

gedeckt, noch im Vergleich mit anderen Professionen,<br />

mit denen oft genug kooperiert werden<br />

muß, berechtigt und für die Kooperation nicht<br />

förderlich. Es handelt sich meines Erachtens<br />

um eine zum „Identitätsprojekt“ gehörende<br />

Selbststilisierung.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die immer<br />

umfassender und gleichzeitig detaillierter werdenden<br />

Studien zur Berufsgeschichte zeigen<br />

deutlich, daß Passung und Anpassung das Denken<br />

und Handeln der Personen, Institutionen<br />

und Organisationen der Sozialen Arbeit überwiegend<br />

bestimmen und nicht Distanzierung,<br />

Kritik, Verweigerung und Widerstand. Für die<br />

verschiedenen Ebenen der Selbst-Reflexion<br />

der Sozialen Arbeit kommt es meines Erachtens<br />

darauf an, die nicht mehr zu leugnenden<br />

historischen Befunde als Belege für die Mit-Täterschaft<br />

der Sozialen Arbeit zu verstehen, die<br />

Gründe für Beteiligung, Komplizenschaft und<br />

Verstrickung zu erforschen und nach Wegen zu<br />

suchen, die sich den postulierten Leitnormen<br />

und Zielen annähern: Selbstaufklärung statt<br />

Identitätspolitik.<br />

Das berufliche Handeln bedarf besonders in<br />

den sogenannten helfenden Berufen, die unmittelbar<br />

auf die individuelle Lebensgestaltung<br />

von Menschen einwirken, ethischer Normen,<br />

die für die Angehörigen solcher Berufe<br />

moralisch handlungsleitend werden sollen.<br />

Diese Normen müssen von der Profession als<br />

Ganzes aber auch gesellschaftlich vertreten<br />

werden und gegenüber den widerstreitenden<br />

Mächten verteidigt werden. Sie müssen, sollen<br />

sie praktische Bedeutung erlangen und nicht<br />

nur<br />

ideale Orientierungen für Einzelne bleiben,<br />

in den gesellschaftlichen Handlungsfeldern der<br />

Sozialen Arbeit, in denen sich viele Interessen<br />

begegnen und überschneiden, auch politisch,<br />

als Kritik an Herrschaftsstrukturen und verhärteten<br />

Handlungsmustern und als nicht-affirmative<br />

bewahrende Praxis in Handeln umgesetzt<br />

werden.<br />

Die Handelnden sind die gegenwärtig professionell<br />

in der Sozialen Arbeit Agierenden, als<br />

einzelne und in Zusammenschlüssen. Was die<br />

Profession ausmacht, entsteht aus der Summe<br />

dieses Handelns. Die Profession, also ihre Organisationen<br />

und Institutionen – in welcher Form<br />

auch immer sie sich materialisieren – darf die<br />

Verwirklichung ethischer Normen als Handlungsmaximen<br />

nicht an die einzelnen Professionellen<br />

delegieren, denn sie ist der Rahmen, in<br />

dem diese handeln.<br />

Die einzelnen Professionellen wiederum dürfen<br />

ihrerseits die ethisch-moralische Verantwortung<br />

für ihr individuelles berufliches Handeln<br />

nicht an die Meta-Ebene einer scheinbar<br />

übergeordneten Gesamt-Profession – an den<br />

„ideellen Gesamtsozialarbeiter“ – abgeben,<br />

denn beide leben voneinander: die Individuen<br />

von der Profession, die Profession durch die<br />

Beispiel 1: Das eugenische Paradigma in der<br />

Sozialen Arbeit<br />

Das eugenische Paradigma bestimmte wesent-<br />

lich die sozialpolitischen, fürsorgepolitischen,<br />

gesundheitspolitischen und kriminalpoliti-<br />

schen Diskurse – die viele Überschneidungen<br />

untereinander hatten – vom Ende des neun-<br />

zehnten Jahrhunderts bis zur Machtübernah-<br />

me der Nationalsozialisten in Deutschland<br />

1933. Der NS-Staat bündelte diese Diskurslini-<br />

en, trieb sie mit seiner rassistischen Bevölke-<br />

rungspolitik auf die Spitze und gab ihnen eine<br />

„flächendeckende“ technokratisch-hocheffek-<br />

tive Organisationsform (Gesetz zur Verhütung<br />

des erbkranken Nachwuchses 1933 / Nürnber-<br />

ger Rassengesetze 1935), gegen die es so gut<br />

wie keinen Widerstand gab. Alle Bereiche der<br />

Sozialen Arbeit waren in die nationalsozialis-<br />

tische Klassifizierungs- und Vernichtungsma-<br />

schinerie involviert.<br />

Julius Tandler (1869-1936), ein bis heute pro-<br />

minenter österreichischer sozialistischer Für-<br />

sorgepolitiker, 1919 Staatssekretär des Staats-<br />

amtes für Soziale Fürsorge und ab 1922 Leiter<br />

des international als vorbildlich berühmten<br />

Wohlfahrtsamtes der Stadt Wien schrieb 1924,<br />

neun Jahre vor Beginn der NS-Herrschaft in<br />

Deutschland und vierzehn Jahre vor dem An-<br />

schluß Österreichs an dieses Deutschland:<br />

„Rund achtzig Milliarden betragen die Ausga-<br />

ben für die geschlossene Armenpflege, also für<br />

Versorgungshäuser, das ist für jene Menschen,<br />

die im Leben Schiffbruch erlitten haben und<br />

ihre letzten Tage auf Kosten der Allgemeinheit<br />

in dazu bestimmten Anstalten verbringen, ge-<br />

wiß gerecht und human, aber sicher nicht pro-<br />

duktiv. Und vierundvierzig Milliarden kostet die<br />

Irrenpflege, gewiß nicht produktiv und umso<br />

irrationaler, als ein Großteil der Menschen, die<br />

in Irrenanstalten ihr Leben verbringen, dorthin<br />

kommen auf Grundlage jener Schäden, welche<br />

20 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 21<br />

Individuen. Nur wenn die Individuen sich als historische politische Subjekte verstehen, kann die Organi-<br />

sation politische Kraft entfalten und nur wenn<br />

sie dieses kann, müssen sich die Individuen<br />

nicht im ethisch-moralischen Einzelkämpfer-<br />

tum erschöpfen.<br />

Jeder Ethik-Kodex der Berufsverbände bliebe<br />

wirkungslos, wenn er (psychoanalytisch gese-<br />

hen) zum „Über-Ich“ verkommen würde.<br />

historische und aktuelle diskurse


sie sich selbst erworben haben durch Syphilis<br />

und Alkohol oder welche ihre Eltern ihnen mit-<br />

gegeben haben, die selbst dem Trunke ergeben<br />

oder der Syphilis verfallen waren. Sie büßen Die<br />

Sünden ihrer Väter. Nehmen wir an, daß es uns<br />

gelänge, durch vernünftige bevölkerungspo-<br />

litische Maßregeln die Zahlen der Irrsinnigen<br />

auf die Hälfte herabzusetzen, so daß wir nur<br />

zweiundzwanzig Milliarden ausgeben müßten,<br />

so wäre es möglich, rund siebzigtausend Kin-<br />

der, nahezu ein Drittel aller Schulkinder Wiens,<br />

durch vier Wochen in Ferienerholung zu halten.<br />

(…) Welchen Aufwand die Staaten für vollkom-<br />

men lebensunwertes Leben leisten müssen, ist<br />

zum Beispiel daraus zu ersehen, daß dreißig-<br />

tausend Vollidioten Deutschlands diesen Staat<br />

zwei Millionen Friedensmark kosten. Bei der<br />

Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem<br />

der Vernichtung lebensunwerten Lebens im<br />

Interesse der Erhaltung lebenswerten Lebens<br />

an Aktualität und Bedeutung. Gewiß, es sind<br />

ethische, es sind humanitäre oder fälschlich<br />

humanitäre Gründe, welche dagegen spre-<br />

chen, aber schließlich und endlich wird auch<br />

die Idee, daß man lebensunwertes Leben op-<br />

fern müsse, um lebenswertes zu erhalten, im-<br />

mer mehr ins Volksbewußtsein dringen, denn<br />

heute vernichten wir vielfach lebenswertes<br />

Leben, um lebensunwertes Leben zu erhalten.<br />

Dieselbe Gesellschaft, die (…) in ihrer leicht-<br />

sinnigen Gleichgültigkeit Hunderte von Kin-<br />

dern, darunter vielleicht Talente und Genies,<br />

glatt zugrunde gehen läßt, füttert in sorgsamer<br />

Ängstlichkeit Idioten auf und rechnet es sich<br />

als Leistung an, wenn es ihr gelingt, den sel-<br />

ben ein behagliches Greisenalter zuzusichern.“<br />

(zitiert nach Kappeler, 2000, S. 238)<br />

Mit dieser Auffassung konnte Tandler sich auf<br />

bedeutende sozialistische Bevölkerungstheore-<br />

tiker wie Karl Kautzky, Rudolf Goldscheid, Oda<br />

Olberg stützen. Der klassifizierende eugenische<br />

Diskurs in der Sozialen Arbeit war von Anfang<br />

an legiert mit einer „Menschenökonomie“, die<br />

mit ihrer Skala vom wertvollen über das nütz-<br />

liche schließlich das noch brauchbare Men-<br />

schenleben bis hin zum unwerten, das heißt<br />

unbrauchbaren Menschenleben (die sogenann-<br />

ten Ballastexistenzen) die gesellschaftlichen<br />

Produktions- und Reproduktionskosten aus-<br />

rechnete, also die Kosten-Nutzen-Relation der<br />

„Menschenproduktion“ als wissenschaftliche<br />

Grundlage in die Sozialpolitik und damit auch<br />

historische und aktuelle diskurse<br />

diskursesie sich historische und aktuelle<br />

in die Soziale Arbeit einführte. Ihr prominentester<br />

Vertreter war der Wiener Sozialist Rudolf<br />

Goldscheid (1870-1931), dessen Hauptwerk<br />

„Höherentwicklung und Menschenökonomie<br />

– Grundlegung der Sozialbiologie“ (1911) zu<br />

den Standardwerken der soziologischen und<br />

volkswirtschaftlichen Literatur vor 1933 zählte.<br />

Die schreckliche Rede von der „Vernichtung<br />

des unwerten Lebens“ ist also keine Erfindung<br />

der Nationalsozialisten gewesen.<br />

Die „Menschenökonomie“ mit ihrer Input-Output-Relation,<br />

ihren Hauptkriterien von Effizienz<br />

und Effektivität der für die Soziale Arbeit bereitgestellten<br />

gesellschaftlichen Ressourcen,<br />

spiegelt sich in modernisierter Form in der<br />

aktuellen Ökonomisierung der Sozialen Arbeit<br />

und ihrer Rhetorik, die nur ein Teil der umfassenderen<br />

Strategie des sogenannten Umbaus<br />

des Sozialstaats ist. Auch die seit Jahren laufende<br />

Polemik vom Mißbrauch sozialer Leistungen<br />

gehört zu diesem Komplex.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das „eugenische<br />

Paradigma“ war ein Kristallisationspunkt<br />

des „Zeitgeistes“ im letzten Drittel des<br />

neunzehnten Jahrhunderts, eine Konsequenz<br />

der naturwissenschaftlich-technischen Revolution.<br />

Der uralte Traum vom „vollkommenen<br />

Menschen“ beziehungsweise der Vervollkommnung<br />

der Menschheit in der Gestalt<br />

des Fortschrittglaubens, sollte schließlich in<br />

Deutschland, mitten im zwanzigsten Jahrhundert,<br />

mörderische Konsequenzen haben. Dieses<br />

Denken war um 1900 Allgemeingut der sogenannten<br />

Schutz- und Trägermächte der sich<br />

entwickelnden Sozialen Arbeit mit Akzentuierungen<br />

je nach dem, ob es sich um christliche,<br />

sozialistische, bürgerlich-humanistische oder<br />

völkisch-nationale Gruppierungen, Frauen und<br />

Männer handelte.<br />

Um dies zu belegen, will ich einen Blick in das<br />

späte neunzehnte Jahrhundert, in die Zeitschrift<br />

„Soziale Praxis“ werfen, die aus meiner<br />

Sicht die bedeutendste Fachzeitschrift der ersten<br />

Professionalisierungsphase der Sozialen<br />

Arbeit war. Sie erschien wöchentlich in hoher<br />

Auflage ohne Unterbrechung von 1893 bis 1933<br />

und spiegelt die bedeutenden Diskurse und<br />

Praxisentwicklungen dieses Zeitraums wieder.<br />

In einer Serie von Grundsatzartikeln in den<br />

Nummern 13 bis 20 des sechsten Jahrgangs<br />

1896 wird der Vorwurf an die „Armenpflege<br />

und Wohltätigkeit“ diskutiert: Sie wirke unter<br />

eugenischen Gesichtspunkten betrachtet<br />

kontraselektorisch, weil sie verhindere, daß die<br />

Schwachen und Untüchtigen im „Kampf ums<br />

Dasein“ untergehen und ihnen die Gelegenheit<br />

zur Fortpflanzung, das heißt zur Weitergabe<br />

ihres „minderwertigen Erbguts“ an die<br />

nächste Generation ermögliche. Abgesehen<br />

von der kontraselektorischen Wirkung sei das<br />

auch eine Verschwendung von Ressourcen an<br />

Zeit, Geld und Engagement, die der Förderung<br />

und Unterstützung „wertvoller, erbgesunder<br />

Kinder und Familien“ entzogen würde. Die „Soziale<br />

Praxis“ nimmt diesen Vorwurf ernst und<br />

fordert von ihren LeserInnen aus den „Kreisen<br />

der Armenpflege und Wohltätigkeit“ in ihrer<br />

Arbeit eugenische Gesichtspunkte zu berücksichtigen,<br />

die sich „auf ernste wissenschaftliche<br />

Forschung“ stützen könnten. Wie in der<br />

Sozialen Arbeit üblich, wurde diese Forderung<br />

an die Praxis mit Fallbeispielen aus der Praxis<br />

begründet. Dazu ein Beispiel:<br />

„Wir haben vor uns einen chronischen Kandidaten<br />

der Armenpflege. Der Mann ist gewöhnlicher<br />

Tagelöhner und keineswegs von besonderer<br />

Intelligenz, er ist des öfteren krank, sehr<br />

häufig ohne Arbeit und hat bereits ein- oder<br />

zweimal im Gefängnis gesessen; die Frau ist<br />

von ähnlicher Beschaffenheit. Beide haben eine<br />

Menge Kinder, zu denen sich fortgesetzt noch<br />

neue gesellen. Diese Kinder sind kränklich,<br />

schwächlich und nach verschiedenen Richtungen<br />

hin erblich stark belastet. Was würde aus<br />

dieser Familie ohne Armenpflege und Wohltätigkeit<br />

werden? Das Leben der Eltern würde<br />

in Ermangelung dieser Hülfe sehr viel früher<br />

enden, und infolge dessen würden sie auch<br />

weniger Kinder haben. Die einmal zur Welt gekommenen<br />

Kinder würden weniger Hülfe und<br />

Unterstützung finden als heute, und infolge<br />

dieser beiden Umstände würde die Zahl der<br />

zum Aufwachsen gelangenden Nachkommen<br />

dieses Elternpaares bedeutend geringer sein.“<br />

Der Autor fragt seine Leserinnen und Leser<br />

nach der Präsentation dieses „Falles“, ob Armenpflege<br />

und Wohltätigkeit gut daran täten,<br />

solchen Eltern die Fortpflanzung zu ermöglichen:<br />

„Belasten sie nicht vielmehr die Gesellschaft<br />

mit einer Reihe Existenzen, die fortgesetzt<br />

wieder anderen zur Last fallen, ohne selbst<br />

irgendwelche Freude am Dasein haben zu können?<br />

Mit einem Wort: Verschlechtern sie nicht<br />

die Rasse?“<br />

Die „Soziale Praxis“ empfiehlt, die rassenhygi-<br />

enische Kritik positiv aufzunehmen und „nach<br />

Mitteln Umschau zu halten, durch welche<br />

die humanitäre sozialpolitische Tätigkeit so<br />

ergänzt und umgestaltet werden kann, daß<br />

ihre rassenverschlechternde Tendenzen durch<br />

entgegengesetzte rassenverbessernde Wir-<br />

kungen aufgewogen und mehr als aufgewogen<br />

werden“.<br />

Die Artikelserie endet mit einem Resümee, aus<br />

dem ich zitiere:<br />

„Wird das allgemeine körperlich-geistige Ni-<br />

veau der Bevölkerung nicht heruntergedrückt<br />

dadurch, daß Armenpflege und Wohltätigkeit<br />

fortgesetzt die Reihen dieser Bevölkerung sys-<br />

tematisch gerade durch die Schwächsten und<br />

Elendesten verstärken, denen sie ihre Hülfe an-<br />

gedeihen lassen? Man kann diesen Gedanken<br />

auch noch von einer anderen Seite fassen und<br />

in etwas andere Richtung ausbauen: Schaffen<br />

Armenpflege und Wohltätigkeit nicht oft, in-<br />

dem sie Kranken und Schwachen zur Verlän-<br />

gerung ihres Lebens, zur Fortpflanzung, oder<br />

als Kindern überhaupt zum Aufwachsen ver-<br />

helfen, mehr Leid als Freude? Mehr Leid für die<br />

Unterstützten selber, die nie zu einem vollen,<br />

gesunden Leben gelangen; mehr Leid für ihre<br />

Umgebung, die ihre Schmerzen und Sorgen<br />

teilt; mehr Leid für ihre Kinder, die von Anfang<br />

an schwer belastet ins Leben eintreten; mehr<br />

Leid schließlich auch, wenn man die Sache so<br />

ausdrücken will, für die Gesellschaft, deren<br />

Hülfe in einem großen Bruchteil der Fälle von<br />

diesen schwachen Existenzen in hohem Grad<br />

in Anspruch genommen wird, und die oft, zum<br />

Beispiel wenn es sich um Verbrecher handelt,<br />

sogar direkt geschädigt wird?“<br />

Der Autor antwortet auf diese selbst gestellte<br />

Frage folgendermaßen:<br />

„Der Verbrecher, der Vagabund, der Kranke,<br />

der mit schweren Gebrechen behaftete ist kein<br />

produktives Glied der Volkswirtschaft; er lebt<br />

in irgendeiner Weise auf Kosten der Gesell-<br />

schaft. Indem die Armenpflege dahin wirkt,<br />

die Zahl dieser Unglücklichen zu vermindern,<br />

erhöht sie die Ziffer der produktiven Glieder<br />

der Volkswirtschaft im Verhältnis zu den un-<br />

produktiven.“<br />

Soweit die „Soziale Praxis“ aus den neunziger<br />

Jahren des neunzehnten Jahrhunderts.<br />

22 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 23<br />

historische und aktuelle diskurse


diskurseBeispiel historische und aktuelle diskurse<br />

Beispiel 2: Wohnungslose Jugendliche – soge-<br />

nannte Straßenkinder<br />

Die Ordnungspolitik dieser Gesellschaft ver-<br />

langt und protegiert das Seßhaft-Sein als do-<br />

minante Lebensform, entweder im Eigentum<br />

oder in gemieteten Räumen oder in zugewie-<br />

senen Räumen. Nicht-Seßhafte Menschen<br />

„ohne festen Wohnsitz“ werden als Nomadi-<br />

sierende, Obdachlose, Wohnungslose, Penner<br />

bezeichnet und wenn es sich um Jugendliche<br />

handelt, manchmal auch um Kinder, werden<br />

sie TrebegängerInnen, Straßenkinder, Streune-<br />

rInnen genannt. Kunden hießen sie in der DDR<br />

und Wanderer vor 1945, als Sozialpolitiker aller<br />

weltanschaulichen Richtungen noch ungeniert<br />

vom „Wandererunwesen“ reden konnten, wie<br />

der Landesrat Würmeling 1934:<br />

„Das Ziel der Gesetzgebungs- und Verwal-<br />

tungsmaßnahmen darf nicht nur dahingehen,<br />

das Wandererwesen unter dem Gesichtspunkt<br />

des kleineren Übels in möglichst geordne-<br />

te Bahnen zu lenken, sondern das Ziel muß<br />

sein, den mittellosen Wanderer als überhaupt<br />

noch existenzberechtigt völlig zu beseitigen.<br />

Es wird bestimmt nicht verkannt, daß dieses<br />

Ziel nur unter erheblichen Schwierigkeiten zu<br />

erreichen ist, aber wenn je ein Zeitpunkt zur<br />

Erreichung eines solchen Zieles geeignet war,<br />

so ist es der jetzige, in dem der Staat eine nie<br />

dagewesene Stärke besitzt und tatsächlich<br />

durch straffes Zusammenarbeiten von Justiz<br />

und Polizei hierzu in der Lage ist.“<br />

Der 1934 so redete und schrieb war von 1953<br />

bis 1962 Bundesminister für Familie und Ju-<br />

gend in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Flüchtlinge, Asylsuchende/Asylanten, Ver-<br />

triebene, Exilierte heißen Menschen, die nicht<br />

freiwillig, die durch Not und Krieg und Gewalt,<br />

durch religiöse politische und rassistische<br />

Verfolgung und Unterdrückung ihr Land, ihre<br />

Heimat, ihre Wohnung verlassen mußten.<br />

Heimatlose werden sie alle genannt. Heimat,<br />

das ist bei uns ein emotional hoch besetzter<br />

Begriff. Wer keine Heimat hat ist „arm dran“,<br />

er/sie muß in der Fremde leben, unter den<br />

dort Beheimateten, den Einheimischen, den<br />

Verwurzelten (Erde, Bodenhaftung, Sicherheit,<br />

Vertrautheit, fällt dazu ein), als Fremdling, als<br />

Entwurzelter, Suchender, Ruheloser. Der An-<br />

tisemitismus in Deutschland hat im Bild vom<br />

ewigen Juden sogar einen negativen Sozialcharakter<br />

daraus konstruiert: Den „unsteten,<br />

rastlosen, entwurzelten, verschlagenen“ Juden<br />

und den „herumzigeunernden, diebischen und<br />

verschlagen-tückischen Zigeuner“ im Gegensatz<br />

zum „erdverbundenen, heimatliebenden,<br />

seßhaften, zuverlässigen, ehrlich-treuen Germanen-Stämmling“.<br />

Das nicht-seßhafte, das umherschweifende<br />

Leben in allen seinen Formen, ob nun aus eigenem<br />

Entschluß oder als aufgezwungene Wanderung,<br />

gilt als minderwertige Lebensform,<br />

als ein Überbleibsel einer längst überwundenen<br />

„niedrigen“ Kulturstufe der „Jäger und<br />

Sammler“ und der „nomadisierenden Stämme“,<br />

die in den „Zigeunern“ als ein „schäbiger<br />

Rest“ bis auf unsere Tage und in unsere Zeit<br />

und in unsere Stadt gekommen sind. In der<br />

auf Seßhaftigkeit gegründeten Gesellschaft, in<br />

einer Kultur der Seßhaften, repräsentieren alle<br />

Formen des umherschweifenden Lebens das<br />

radikal Andere.<br />

Uns mittelschichtsozialisierten SozialpädagogInnen<br />

und SozialarbeiterInnen ist das umherschweifende<br />

Leben fremd. Es bleibt uns<br />

fremd, auch wenn wir in unserem beruflichen<br />

Selbstverständnis die ordnungspolitischen<br />

Absichten unserer öffentlichen Geldgeber ablehnen<br />

und ihnen unsere professionelle Ethik<br />

entgegensetzen, mit der wir uns verpflichten,<br />

mit unserem Handeln allen Formen der Diskriminierung<br />

und Ausgrenzung entgegenzutreten.<br />

Diese Hinwendung, unser Angebot zur<br />

Hilfe/Unterstützung, setzt aber immer schon<br />

voraus, daß wir unser Gegenüber als ein unserer<br />

Hilfe Bedürftiges beurteilt haben, daß wir<br />

seine aktuelle Lebenssituation als eine zu behebende,<br />

zu beendende Notsituation definiert<br />

haben, daß unsere Einschätzung der Lebenslage<br />

der „Hilfe-Bedürftigen“, ihrer Selbstwahrnehmung,<br />

Selbsteinschätzung, Eigendefinition<br />

auch entspricht, zumindest mit ihr korrespondiert,<br />

so daß wir Anknüpfungspunkte für<br />

unser sozialpädagogisches Handeln finden<br />

können. Und immer wieder gibt es auch solche<br />

Übereinstimmungen und Anknüpfungspunkte,<br />

immer dann, wenn Menschen erstens ihre<br />

Lebenssituation als ihnen durch Bedingungen/<br />

Verhältnisse und eigenes Unvermögen aufgezwungen<br />

erleben und wenn sie zweitens nicht<br />

über ausreichende eigene Kräfte/Vorstellungen<br />

und Mittel verfügen, um die Situation, unter<br />

der sie leiden, wirksam und dauerhaft verändern<br />

zu können. Dann geht es uns gut. Unsere<br />

Beurteilungen und unsere Angebote werden<br />

angenommen. Unser Leiden resultiert dann<br />

aus der Erfahrung, daß unsere Unterstützungsmöglichkeiten<br />

begrenzt sind, wenn es um Wohnung,<br />

um Arbeit, um regelmäßiges und ausreichendes<br />

Einkommen, um Gesundheit geht und<br />

es gehört zu unseren Alltagserfahrungen, daß<br />

wir mit unserer Arbeit scheitern an eben den<br />

Bedingungen/Verhältnissen, an denen die der<br />

Hilfe Bedürftigen im privaten Leben schon gescheitert<br />

sind.<br />

Aber wenn die Umherschweifenden die auf<br />

Seßhaftigkeit gegründeten Lebensformen,<br />

die wir ihnen anbieten, ablehnen, wenn sie<br />

das Umherschweifen zur Form/zum Stil ihres<br />

Lebens gemacht haben, den sie beibehalten<br />

wollten, jedenfalls auf unbestimmte Zeit und<br />

jedenfalls in diesem Augenblick und wenn es<br />

sich dann um Minderjährige, um Jugendliche<br />

handelt, sind wir ganz schnell in einer sozialpädagogischen<br />

Grenzsituation, von der wir uns<br />

entlasten, indem wir auf vertraute und tradierte<br />

Sichtweisen, auf gesetzliche Regelungen<br />

und scheinbar klare Verantwortlichkeiten zurückgreifen:<br />

Kinder und Jugendliche gehören<br />

nicht auf die Straße – Erwachsene auch nicht,<br />

aber das mag noch hingehen, sie sind für sich<br />

selbst verantwortlich. Kinder und Jugendliche<br />

brauchen Geborgenheit, sie müssen versorgt<br />

werden. Die Straße aber ist kein Ort der Geborgenheit,<br />

sie ist das Gegenteil: Ein Ort der<br />

extremen Gefährdung, des Unverwahrt-Seins,<br />

ein Ort, der zwangsläufig in die „Verwahrlosung“<br />

führt, in die Prostitution, in die Eigentums-<br />

und Rauschgift- und Gewaltkriminalität,<br />

in den geistigen, seelischen und körperlichen<br />

Ruin. Die Straße ist ein „jugendgefährdender<br />

Ort“, der die Kinder und Jugendlichen ausgesetzt<br />

sind. Sie sind Ausgesetzte und wir<br />

sind gesetzlich und moralisch verpflichtet, die<br />

„Unreifen“, „Unmündigen“ vor solch einem Leben<br />

und seinen vorprogrammierten Folgen zu<br />

bewahren. Dies im Einzelfall auch gegen ihren<br />

erklärten Willen!? – denn zur Unreife gehöre<br />

der Mangel an Lebenserfahrung und die Unfähigkeit,<br />

die im Augenblick nicht sichtbaren<br />

Folgen des eigenen Handelns erkennen zu können.<br />

So sehen wir die Kinder/in der Mehrzahl<br />

Können denn die Argumente von Kindern und<br />

Jugendlichen, die sich nicht unterbringen las-<br />

sen wollen, als subjektive Willensäußerungen<br />

ernstgenommen werden? Sind es nicht nur<br />

trotzige Reflexe auf die Bedingungen, die sie<br />

auf die Straße getrieben haben? Denn Vertrie-<br />

bene sind sie doch alle, immer liegen doch die-<br />

sem Schritt Erfahrungen/Verhältnisse zugrun-<br />

de, die nicht mehr ertragen beziehungsweise<br />

verkraftet werden konnten. Zumindest aber<br />

haben diese Kinder und Jugendlichen in der<br />

frühen Zeit des Lebens erworbene Dispositio-<br />

nen, die wir in jeder einzelnen Biographie mit<br />

unseren Anamnese- und Diagnose-Instrumen-<br />

ten fachlich und wissenschaftlich begründet<br />

„erheben“ können, seit wir nicht mehr wie<br />

die Wohlfahrtspflege noch bis in die fünfziger<br />

Jahre vom „Wandertrieb“ ausgehen. Das mag<br />

ganz überwiegend so sein. Die pure Abenteu-<br />

erlust aus einem prallen Lebensgefühl heraus<br />

oder die einfache Verführung und Verlockung<br />

des Fremden wird uns als Ausgangspunkt für<br />

ein „Leben auf der Straße“ nur selten begeg-<br />

nen. Allermeist wird es ein Befreiungsversuch<br />

aus unerträglicher Enge und Bedrückung sein.<br />

Vielleicht die vorletzte Möglichkeit, dem tota-<br />

len Objektzustand zu entkommen und Subjek-<br />

tivität zurückzugewinnen, auch um den Preis<br />

hoher Risiken. Die letzte Möglichkeit wäre viel-<br />

leicht „nur“ noch der Suizid.<br />

24 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 25<br />

die Jugendlichen, die „auf der Straße leben“ historische wollen. Wir glauben, daß wir solche Jugend-<br />

liche vor sich selbst und den ihnen drohenden<br />

Gefahren bewahren müssen, daß wir zumin-<br />

dest verhindern müssen, daß sie sich Gefahren<br />

aussetzen, die ihnen „auf der Straße“ drohen<br />

und die sie als solche nicht erkennen können.<br />

Und wenn sich diese Kinder/Jugendlichen<br />

hartnäckig weigern, die sie gefährdenden Orte<br />

zu verlassen, sich von uns in Sicherheit brin-<br />

gen zu lassen, glauben wir auch Zwang an-<br />

wenden zu dürfen, mit helfender Gewalt und<br />

mit barmherziger Strenge sie an Orte bringen<br />

zu dürfen, die wir für sie ausgesucht haben, an<br />

denen sie aber nicht sein wollen. Schließlich<br />

gibt es ein Aufenthaltsbestimmungsrecht und<br />

eine Aufsichtspflicht und eine gesellschaftliche<br />

Verantwortung der Jugendhilfe und ein Grund-<br />

gesetz, das den seßhaften Lebensformen in der<br />

Gestalt von Ehe und Familie den besonderen<br />

Schutz des Staates verspricht.<br />

historische und las-historische aktuelle diskurse


diskurseIn mehr 2.historische und aktuelle 1.historische diskurse<br />

In mehr als zwanzig Jahren sozialpädago-<br />

gischer Praxis, in der Heimerziehung, in der<br />

Arbeit mit TrebegängerInnen, im Georg-von-<br />

Rauch-Haus, in sozialpädagogischen Wohn-<br />

gemeinschaften, in der Offenen Jugendarbeit<br />

und in der Drogenarbeit sind mir unzählige<br />

Mädchen und Jungen begegnet, die auf die<br />

Straße gingen, um die Orte ihres Leidens und<br />

ihrer Zerstörung zu verlassen, die geflohen<br />

sind, zum zu überleben. Sie waren und sind<br />

Flüchtlinge mitten in unserer seßhaften Ge-<br />

sellschaft. Das sind nun zwei Bestimmungen,<br />

die zum klassischen Vokabular der Jugendhil-<br />

fe gehören: Flucht und Überleben. Sie deuten<br />

Not-Lösungen an, die schnellstens durch Per-<br />

spektivlösungen ersetzt werden sollen. Dabei<br />

übersieht unser sozialpädagogisches Denken<br />

drei Aspekte:<br />

Die Flucht ist auch eine Befreiung, in der<br />

tatsächlich auch unter prekären Bedingungen<br />

Freiheit erlebt wird und Subjektivität gewon-<br />

nen wird. Und die Not-Lösung ist eine Lösung<br />

von Not, auch wenn mit dieser Lösung wieder<br />

andere Nöte verbunden sein können bezie-<br />

hungsweise in der Regel verbunden sind. Es<br />

handelt sich um subjektiv bedeutsame Erfah-<br />

rungen, die mit dieser Bewegung gewonnen<br />

werden, um Erfahrungen, die wir, die das Ge-<br />

schehen bei allem fachlichen Wissen und bei<br />

aller Sensibilität doch immer nur von außen be-<br />

trachten können, nicht mit den sozialpädago-<br />

gisch tradierten negativen Bedeutungen von<br />

Flucht und Notlösung bewerten und abwerten<br />

sollen, etwa mit dem wirklich dummen Spruch:<br />

„Sucht ist Flucht“, mit dem noch immer in<br />

Bausch und Bogen der Gebrauch verbotener<br />

psychoaktiver Substanzen durch Jugendliche<br />

diskriminiert wird.<br />

Das Über-Leben ist auch ein Leben aus<br />

erster Hand. Es ist kein Zweitrangiges oder<br />

Drittklassiges per se, sondern ein anderes, in<br />

dem sich Erfahrungsräume öffnen lassen und<br />

Kompetenzen entwickelt werden, die zu Än-<br />

derungen des individuellen Werte-Horizontes,<br />

der Bedürfnisse und Wünsche und Notwendig-<br />

keiten führen, die im subjektiven Bewußtsein/<br />

Lebensgefühl alles andere als Notlösungen sein<br />

können. Mit anderen Worten: Im Überleben<br />

verbirgt sich – verborgen für unseren sozial-<br />

pädagogischen Blick – Entwicklung, das Über-<br />

Leben kann Selbstentwicklung sein. Jedenfalls<br />

steckt diese Behauptung – im Sinne von sich<br />

selbst Be-Haupten – in der Weigerung, die auf<br />

Unterbringung, auf fragwürdige Geborgenheit<br />

und auf Seßhaftigkeit zielende und auf diesen<br />

Zielen insistierende sozialpädagogische Hilfe<br />

anzunehmen.<br />

Was also in der Not, mit der Flucht begann,<br />

kann zu einem Weg der Selbst-Bestimmung<br />

und der Individuation in der Non-Konformität<br />

werden. Diese Möglichkeit anzuerkennen<br />

fällt uns schwer, weil sie in ihren je konkreten<br />

Ausdrucksformen in unseren, wie liberal auch<br />

immer gestrickten, Lebensentwürfen nicht<br />

vorgesehen sind und vor allem, weil in dieser<br />

Gesellschaft kein Raum für sie zu sein schient.<br />

Wenn wir schon die Identität von Huren, Junkies,<br />

Straßenkindern, Knackis anerkennen<br />

müssen, dann aber – und so retten wir unser<br />

sozialpädagogisches Bewußtsein – als negative<br />

Identität.<br />

3. Erst wenn das umherschweifende Leben,<br />

oder weitergefaßt, das Non-Konformistische,<br />

sich organisiert, eine öffentlich vernehmbare<br />

Stimme bekommt, wie die Hurenbewegung,<br />

wie JES (Selbstorganisation von Junkies,<br />

Ehemaligen und Substituierten), wie die Irren-Offensive<br />

oder um bei unserer Zielgruppe<br />

zu bleiben, die in den siebziger Jahren (auch<br />

wenn mit sozialpädagogischer Unterstützung)<br />

entstandene „Trebe-Bambule” der unter vierzehnjährigen<br />

TrebegängerInnen, ändern wir<br />

– vielleicht – unsere Haltung. Erst dann also,<br />

wenn sie als Selbstorganisation sichtbar werden,<br />

werden die neuen Qualitäten dieses aus<br />

der Not entwickelten anderen Lebens für uns<br />

annehmbar und erst dann wird uns die Unterstützung<br />

leichter, weil diese Formen der<br />

Selbstorganisation in unser Meta-Konzept von<br />

„Hilfe zur Selbsthilfe“ passen.<br />

Mir geht es in diesem Beispiel der Ambivalenzen<br />

von „Hilfe“ in erster Linie um die Jugendlichen<br />

und Kinder, die mit unseren Definitionen<br />

und Angeboten in ihrem aktuellen Leben<br />

nichts anfangen können und wollen. Wenn es<br />

uns gelingt, die Selbstdefinitionen dieser Kinder<br />

und Jugendlichen zu erkennen und anzuerkennen,<br />

bekommen wir eine Basis, von der<br />

aus wir diesem Leben angemessene Formen<br />

der Unterstützung entwickeln können, die die<br />

Subjekt-Behauptung solcher Jugendlicher anerkennen.<br />

Die Kinder und Jugendlichen, die das umherschweifende<br />

Leben zu einer passageren oder<br />

längeren dauernden Lebensform entwickeln,<br />

gehen diesen Weg.<br />

Zugegeben, bei Kindern und Jugendlichen gibt<br />

es eine Fülle besonderer Schwierigkeiten. Je<br />

jünger sie sind, je größer werden die Probleme,<br />

die einerseits in der Entwicklungstatsache und<br />

der Notwendigkeit von Erziehung und andererseits<br />

in den rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

liegen und durch die außergewöhnliche emotionale<br />

Besetzung von Kindheit und Jugend in<br />

der Öffentlichkeit noch verstärkt werden. Die<br />

meisten Gesetze zum Beispiel, die wir als soziale<br />

Errungenschaften zum Schutz von Kindern<br />

und Jugendlichen im Laufe des letzten Jahrhunderts<br />

gegen schrankenlose Ausbeutung,<br />

Züchtigung und Mißbrauch aller Art, aber auch<br />

für Bildung und Ausbildung in dieser Gesellschaft<br />

gegen Widerstände durchgesetzt haben<br />

und an denen unserer Profession großen Anteil<br />

hatte, sind für Minderjährige, die sich gegenüber<br />

der bürgerlichen Erziehungsordnung als<br />

„Totalverweigerer“ verhalten, kontraproduktiv.<br />

Denken Sie nur an diverse Arbeitsverbote, die<br />

zu illegaler Sicherung des Lebensunterhalts<br />

zwingen – an das bei den Erwachsenen liegende<br />

Aufenthaltsbestimmungsrecht – an die mit<br />

Gewalt durchzusetzende Schulpflicht – alles<br />

mächtige und in ihrem Bestand für die heranwachsende<br />

Generation hoffentlich unantastbare<br />

rechtliche Bastionen. Im einzelnen Fall aber<br />

verkehren sie sich zu Gewaltinstrumenten,<br />

deren Anwendung für wenige und besondere<br />

Kinder, die sich existentiell gegen diese Anforderungen<br />

stellen, fürchterliche Folgen haben<br />

können.<br />

Hier zum Beispiel könnten wir professionell<br />

ansetzen, mit unserem Wissen und unserer<br />

Stimme Öffnungen schaffen und die Umherschweifenden<br />

ermutigen, ihre eigene Stimme<br />

zu erheben. Wir sind verantwortlich für die<br />

Öffnung unseres Blicks und für die Humanisierung<br />

der Gesellschaft im Sinne des „Räume-<br />

Öffnens“ für non-konforme Lebensformen. Auf<br />

der Ebene der unmittelbaren Begegnung mit<br />

den Kindern und Jugendlichen, die „auf der<br />

Straße leben“ wollen, sind wir verantwortlich<br />

für die Herstellung von Offenheit, für Akzeptanz<br />

und Toleranz, für die Aufrechterhaltung<br />

von Kommunikation.<br />

Der Erwerb und die Verstetigung all der Fähig-<br />

keiten des Verstehens und Handelns, die Fähig-historische<br />

eine<br />

Voraussetzung für die Offenheit gegenüber<br />

den Formen des „umherschweifenden Lebens“<br />

sind und die Umsetzung dieser Offenheit in<br />

eine Praxis der verstehenden und unterstüt-<br />

zenden Annäherung sind für mich der Inbegriff<br />

qualifizierter sozialpädagogischer Arbeit, die<br />

den Titel „Hilfe“ verdient.<br />

Beispiel 3: Kein Ort – nirgends? Die Ausgren-<br />

zung von Jugendlichen, die verbotene Drogen<br />

nehmen.<br />

Seit Jahren wird von KritikerInnen darauf auf-<br />

merksam gemacht, daß Jugendliche, die aus<br />

der Sicht von Erwachsenen mit illegalisierten<br />

Drogen einen problematischen Umgang ent-<br />

wickeln (im Suchtjargon „Drogenabhängige“<br />

oder „Suchtkranke“ genannt), in das soge-<br />

nannte Bermuda-Dreieck von Jugendhilfe-Dro-<br />

genhilfe-Jugendpsychiatrie geraten, das heißt<br />

zwischen den Hilfe-Systemen hin- und herge-<br />

schoben werden, mit fast gleichlautenden Be-<br />

gründungen: nicht zuständig, überfordert, mit<br />

diesen therapie- und behandlungsresistenten<br />

Jugendlichen, die eine Gefahr für die anderen<br />

Jugendlichen in der Einrichtung seien usw.<br />

Im gerade neu herausgegebenen Handbuch<br />

Sozialarbeit/Sozialpädagogik von H.U. Otto<br />

und H. Thiersch (Luchterhand) kann man im<br />

Stichwortartikel „Psychiatrie und Jugendhilfe“<br />

lesen:<br />

„Beobachtet werden kann beispielsweise,<br />

daß eine Jugendhilfeeinrichtung, die noch<br />

mit der Betreuung eines schwierigen Ju-<br />

gendlichen beschäftigt ist, argumentiert,<br />

es handle sich nicht um ein erzieherisches<br />

Problem, sondern es sei eine psychische<br />

Störung zu diagnostizieren. Ihr bliebe nur,<br />

einen Zustand jugendpsychiatrischer Be-<br />

dürftigkeit mit unzulänglichen Mitteln fort-<br />

zuschreiben. In diesem Moment bedient<br />

sich die sozialpädagogische Institution<br />

einer eher fremden Logik, nämlich der des<br />

medizinischen Modells. Ebenso kann beob-<br />

achtet werden, daß eine jugendpsychiatri-<br />

sche Klinik die Behandlung eines solchen<br />

Jugendlichen mit der Begründung ablehnt,<br />

es handle sich um ein pädagogisches Pro-<br />

blem. Dem Jugendlichen müsse ermöglicht<br />

werden, sich in soziale Zusammenhänge<br />

26 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 27<br />

historische und aktuelle diskurse


Weiter heißt es in diesem Stichwortartikel, daß<br />

Jugendliche, die „suchtmittelabhängig“ seien<br />

und in diesem Zusammenhang wiederholt in<br />

psychische Krisen geraten, zu dem Personen-<br />

kreis gehören, für die beide Systeme – und ich<br />

erweitere: alle drei Systeme – eine gemeinsame<br />

„Fallverantwortung“ haben und einen „Modus<br />

der Zusammenarbeit“ finden müssen.<br />

Die Diskussion über die gemeinsame Verant-<br />

wortung der verschiedenen Hilfe-Systeme war,<br />

nach meiner Erinnerung, schon 1996 in Müns-<br />

ter auf dem Kongreß „In Kontakt bleiben“ das<br />

Hauptthema. Schon damals richtete sich das<br />

Hauptaugenmerk auf die Kooperation der Hil-<br />

fe-Systeme. Die unterschiedlichen Traditionen,<br />

Menschenbilder, Methoden und die Konkurrenz<br />

um staatlich anerkannte Zuständigkeiten und<br />

damit verbundene Finanzierungen wurden als<br />

Barrieren beklagt, auch die jeweilige Arbeits-<br />

belastung, die ein zusätzliches Engagement<br />

bedeute – und Kooperation, die Systemgrenzen<br />

durchlässig machen soll, kostet viel Zeit, Ge-<br />

duld und langen Atem – verhindere immer wie-<br />

der die als notwendig erkannte Zusammenarbeit<br />

historische und aktuelle diskurse<br />

hineinzufinden und angemessene Umgangsweisen<br />

zu erlernen. Eine jugendpsychiatrische<br />

Maßnahme bedeute hingegen<br />

eine zu große Gefahr der Stigmatisierung<br />

eines an sich nicht pathologischen Verhaltens.<br />

Auch die Klinik bedient sich hier<br />

einer eher fremden Entscheidungsgrundlage,<br />

nämlich dem Modell der pädagogisch<br />

zu fördernden Entwicklung. Es soll nun an<br />

dieser Stelle nicht um die Frage gehen, ob<br />

solche Einwände gegebenenfalls berechtigt<br />

scheinen, auch nicht darum, daß sie unter<br />

anderen Bedingungen ein Zeichen für Kooperationswillen<br />

und Interdisziplinarität<br />

sein könnten. Stutzig macht, daß beide Argumentationsgänge<br />

nur einem Ziel dienen:<br />

Sie sollen die eigene Unzuständigkeit beweisen.<br />

Dies geschieht mit Hilfe einer idealtypischen<br />

Argumentation, die noch dazu<br />

häufig einer fremden Disziplin entlehnt<br />

wurde. Nur so können Überschneidungsphänomene<br />

ausgeblendet werden, die sich<br />

eigentlich keiner der beiden Institutionen<br />

ausschließlich zuordnen lassen. Kinder und<br />

Jugendliche in psychosozialen sehr belasteten<br />

Lebenslagen ist mit einem solchen<br />

Streit um Zuständigkeiten natürlich nicht<br />

geholfen.“<br />

und vor allem ihre Verstetigung über zaghafte<br />

Anfänge hinaus. Diese Befunde für das Nicht-<br />

Zustande-Kommen beziehungsweise das<br />

Scheitern von Kooperationen der Hilfe-Systeme<br />

in der alltäglichen Praxis wiederholen sich seitdem<br />

und abgesehen von beispielhaften Einzelinitiativen<br />

bleibt das „Bermuda-Dreieck“<br />

im Ganzen unverändert. Es liegt also an den<br />

Traditionen, den Systemegoismen, den „objektiven“<br />

Hemmnissen, die in den rechtlichen und<br />

ökonomischen Rahmenbedingungen zu suchen<br />

seien – so die übereinstimmende Diagnose. Ich<br />

habe starke Zweifel, ob sie stimmt, ob die Analyse<br />

überhaupt die richtige Ebene getroffen<br />

hat. Zweifellos sind die genannten Faktoren<br />

wichtige und starke Punkte, aber es sind allesamt<br />

auch wieder nur „Äußerlichkeiten“, die<br />

bei so eindeutiger Übereinstimmung bezogen<br />

auf die große Bedeutung von Kooperation zur<br />

Erreichung einer nicht ausgrenzenden Praxis<br />

mit Jugendlichen doch zu überwinden sein<br />

müßten, jedenfalls im Verlauf so vieler Jahre.<br />

Ich wage eine andere These: Meines Erachtens<br />

bilden die beklagten Kooperationsschwierigkeiten<br />

nur den Vordergrund des Problems, mit<br />

dem die dahinter liegenden ausgrenzenden<br />

Sichtweisen und die aus ihnen resultierenden<br />

Abwehrmechanismen gegen Jugendliche,<br />

die verbotene Drogen konsumieren, vor allem<br />

wenn sie einen problematischen Konsum entwickeln,<br />

verdeckt werden.<br />

Diese ausgrenzenden Sichtweisen sind das<br />

heimliche Gemeinsame der verschiedenen Hilfe-Systeme,<br />

ihrer Institutionen und der Mehrheit<br />

der in ihnen arbeitenden Professionellen,<br />

ob sie nun SozialpädagogInnen, TherapeutInnen,<br />

PsychologInnen, MedizinerInnen etc.<br />

sind. Das setzt nur unterschiedliche Akzentuierungen<br />

im selben Geschehen. Ich spitze meine<br />

These absichtlich zu – überspitze sie vielleicht<br />

– um der Deutlichkeit willen, indem ich<br />

behaupte, daß die Kooperation zwischen den<br />

Hilfesystemen funktioniert und zwar als heimlicher<br />

Lehrplan auf der Ebene der Ausgrenzung.<br />

Sie funktioniert nicht auf der Ebene der<br />

offiziell immer wieder geforderten Integration<br />

der jugendlichen KonsumentInnen illegalisierter<br />

Drogen, die in den Handlungsbereich von<br />

Jugendhilfe, Drogenhilfe und Jugendpsychiatrie<br />

kommen. Die Praxis der drei Hilfe-Systeme<br />

braucht ja auch, genau besehen, den für solche<br />

Veränderungen notwendigen Leidensdruck<br />

nicht zu entwickeln, denn da gibt es noch ein<br />

viertes System im Bunde, das in der ganzen mir<br />

bekannten Kooperationsliteratur und Präventionsliteratur<br />

systematisch verschwiegen wird,<br />

obwohl es alle beteiligten PraktikerInnen und<br />

TheoretikerInnen kennen: Die von der Bundesdrogenbeauftragten<br />

erst vor kurzem auf einer<br />

internationalen Drogenkonferenz der Friedrich-<br />

Ebert-Stiftung in Berlin als „unverzichtbar“<br />

verteidigte sogenannte Ultima Ratio des Strafrechts<br />

in der Gestalt des Betäubungsmittelgesetzes,<br />

die „Repression als vierte Säule“ neben<br />

Prävention, Therapie und Nachsorge, wie die<br />

polizeiliche und justizielle Verfolgung der<br />

KonsumentInnen verbotener Stoffe vornehm<br />

genannt wird.<br />

Diskriminierung, Verfolgung und Unterdrückung<br />

durch das Strafrecht tatsächlich im<br />

klassischen Sinne als „Ultima Ratio“, als letzte<br />

Instanz im Hintergrund, die Jugendstrafrechtspflege,<br />

dieser riesige Apparat von Polizei,<br />

Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe,<br />

Jugendgerichten, Bewährungshilfe, das alles<br />

als letzte „Auffanglinie“, wo diejenigen aufgefangen,<br />

eingefangen und zuletzt gefangen<br />

werden, die, wie es so lapidar heißt, bei den<br />

drei anderen Hilfesystemen „durch die Roste<br />

gefallen sind“. Erst in diesem Vierer-Verbund<br />

kann das mit der BTMG-Novelle von 1982 installierte<br />

System von „Therapie statt Strafe“,<br />

das sich längst als ein System von Therapie<br />

und Strafe und oft genug von Therapie als<br />

Strafe gezeigt hat, funktionieren. Liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen, wie kommen drogenkonsumierende<br />

Jugendliche ins Gefängnis,<br />

was haben sie da zu suchen? Ich weiß: Die<br />

Straftatbestände des BTMG, die sogenannten<br />

Wiederholungs- und Intensiv-Täter und die<br />

Beschaffungskriminalität – aber wie kann jemand<br />

ernsthaft behaupten, daß der Umgang<br />

mit psychoaktiven Substanzen eine strafbare<br />

Handlung ist, genauer: mit bestimmten dieser<br />

Substanzen, mit anderen nicht minder riskanten<br />

aber nicht? Wie ist es möglich, diesen Umgang<br />

als Vergehen und Verbrechen zu definieren?<br />

Ich weiß, mit dem Hinweis auf die doch<br />

offensichtlichen schädlichen Folgen für das<br />

Individuum und die sogenannte Volksgesundheit<br />

– aber diese Folgen, das wissen wir inzwischen,<br />

sind doch in ihrer Mehrzahl und ihrer<br />

Schwere selbst die Wirkungen der Verbotspraxis,<br />

die sie angeblich verhindern sollen: Die Il-<br />

legalisierung schafft den schwarzen Markt mit historische seinen Profitstrategien, schafft das gestreckte<br />

und gepanschte Straßen-Heroin, die Kriminali-<br />

sierung, die Beschaffungskriminalität und die<br />

Beschaffungsprostitution – alle die Formen der<br />

Verelendung, die als sichtbares und medial<br />

vorgeführtes Schreckenszenario die Abwehrre-<br />

flexe in der Bevölkerung, bei den PolitikerInnen<br />

und nicht zuletzt in den Hilfesystemen selbst<br />

hervorrufen und verstärken.<br />

„Kein Ort – nirgends?“ – Ja, denn auch aus der<br />

Jugendstrafanstalt muß man sie schließlich<br />

wieder entlassen und auch aus den geschlos-<br />

senen Einrichtungen der Jugendhilfe und der<br />

Jugendpsychiatrie, den „sicheren Orten“ im<br />

sogenannten Vorfeld der Jugendstrafe muß<br />

man sie wieder entlassen.<br />

Kann jemand ernsthaft annehmen, daß dieses<br />

System in der Öffentlichkeit, im Bewußtsein<br />

aller Beteiligten, keine Wirkungen hinterläßt?<br />

Kann jemand in den Drei Hilfesystemen ernst-<br />

haft annehmen, die durch das Betäubungsmit-<br />

telgesetz implantierten Bedingungen seien<br />

unbedeutend für die eigene Arbeit und sei sie<br />

noch so weit weg im „Vorfeld“ angesiedelt?<br />

Und kann jemand, der es mit dem Anspruch der<br />

Integration von jugendlichen KonsumentInnen<br />

illegalisierter Drogen ernst meint glauben, die<br />

„vierte Säule der Repression“ sei hereditär und<br />

eigentlich zu vernachlässigen? Liebe Kollegin-<br />

nen und Kollegen, die willkürliche rechtliche<br />

Diskriminierung einer Reihe von psychoaktiven<br />

Substanzen, die vor allem von Jugendlichen<br />

genommen werden, die damit stigmatisiert<br />

und ausgegrenzt werden, hat kontraproduktive<br />

Wirkungen bis in die Präventionsbemühungen<br />

in den Feldern der primären Erziehung und<br />

der Offenen Jugendarbeit hinein. Die latenten<br />

Drogenängste der Erwachsenen drohen nicht<br />

ohne Grund in offene Panik und entsprechen-<br />

de Reaktionen umzuschlagen, schon bei nur<br />

vermuteten geringen Anzeichen von illegalem<br />

Konsum der Heranwachsenden. Mütter, Väter,<br />

LehrerInnen vereint im Credo der Angst: Hof-<br />

fentlich überstehen die Jugendlichen die gro-<br />

ßen Gefahren und Gefährdungen von Pubertät<br />

und Adoleszenz, deren größte der Umgang<br />

mit verbotenen Drogen zu sein scheint. Statt<br />

offener Kommunikation ohne Tabuisierungen<br />

und schon immer feststehenden Verboten, der<br />

moralische und pädagogische Zeigefinger, die<br />

angstvolle forschende Stimme, der suchende<br />

28 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 29<br />

historische und aktuelle diskurse


zweifelnde Blick – statt Vertrauen Mißtrauen<br />

und schließlich Abbruch der Kommunikation,<br />

die eigentlich keine ist, denn von Dialog, der<br />

auf der Wertschätzung und der Offenheit be-<br />

ruht, kaum eine Spur in diesem sogenannten<br />

pädagogischen Gesprächen an allen Orten wo<br />

erzogen wird. Die Folge: aus-dem-Feld-gehen,<br />

verbergen, vertuschen, verheimlichen. So bil-<br />

den sich für die Jugendlichen, die sich in ihren<br />

jugendkulturellen Zusammenhängen zum ex-<br />

perimentierenden oder verstetigten Drogen-<br />

konsum entscheiden, zwei einander entge-<br />

gengesetzte und einander aus-schließende<br />

polarisierende Kommunikations-ebenen:<br />

Mit den erziehenden Erwachsenen eine ver-<br />

tikale „Kommunikation“, als Einbahnstraße<br />

von oben nach unten, mit einem negativen<br />

Thematisierungs-Modus, der alle möglichen<br />

negativen Aspekte des Drogenkonsums, auch<br />

solche, die im Drogendiskurs erfunden werden,<br />

monopolisiert und die verbotenen Stoffe und<br />

ihren Konsum dämonisiert und auf der anderen<br />

Seite in der jugendkulturellen Szene, in der die-<br />

se Drogen eine Rolle spielen, eine horizontale<br />

Kommunikation mit den Gleichaltrigen mit der<br />

Gefahr eines ausschließlich positiven Themati-<br />

sierungs-Modus, der alle denkbaren positiven<br />

Aspekte des Drogenkonsums monopolisiert<br />

unter Ausblendung möglicher Risiken, also im<br />

Gegenzug zur „Dämonisierung“ des Drogen-<br />

konsums durch die Erwachsenen eine „Glorifi-<br />

zierung“ unter den Jugendlichen hervorbringt.<br />

Beide wirken zusammen und die sich aus die-<br />

ser Polarisierung entwickelnde kommunikative<br />

Schere verhindert eine für erziehende Erwach-<br />

sene und Jugendliche gleichermaßen produk-<br />

tive Kommunikation des Drogenthemas. Das ist<br />

das Grab jeglicher Präventionsbemühungen,<br />

deren Erfolg ja zu hundert Prozent von gelin-<br />

gender Kommunikation abhängt.<br />

diskursezweifelnde historische und aktuelle diskurse<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Kom-<br />

munikationsabbrüchen beginnt der Weg von<br />

Jugendlichen in die Ausgrenzung.<br />

Zum Schluß muß ich mein Motto für dieses<br />

Beispiel „Kein Ort – nirgends“ relativieren. Es<br />

gilt nur für die von Erwachsenen organisierten<br />

und verantworteten Räume. Der Ort, der bleibt<br />

und immer wichtiger wird, ist die Gruppe der<br />

Gleichaltrigen mit ähnlichen Interessen, Wün-<br />

schen und Erfahrungen, die jugendkulturelle<br />

Szene und bei fortgeschrittener Abkoppelung<br />

von der sogenannten Normalgesellschaft<br />

schließlich die subkulturelle Drogenszene mit<br />

ihrer eigenen Sprache, ihren Lebensstilen und<br />

spezifischen Verstrickungen. Und diese Orte<br />

werden nun erst recht zur Provokation der Dominanzkultur,<br />

wozu unsere Hilfe-Systeme ja auch<br />

gehören, und zu einem ordnungspolitischen<br />

Problem erster Güte. Diese Orte, tatsächlich<br />

Überlebensorte der Marginalisierten, werden<br />

als „soziale Brennpunkte“, als „kriminogene<br />

Zonen“, als „jugendgefährdende Orte“ etc.<br />

klassifiziert. Sie werden zum öffentlichen Ärgernis,<br />

das aus dem Alltagsbild der Städte<br />

verschwinden soll: Zero-Toleranz, wie jetzt<br />

in Hamburg, oder „polizeiliche Auflösung der<br />

Szene“, zumindest ihre Verdrängung aus der<br />

City, dem Zentrum von Business und Tourismus,<br />

an die Peripherie – so heißen die Strategien.<br />

Wenn sie Erfolg haben, steigt die Zahl der<br />

Verelendeten und auch der Drogentoten, denn<br />

wer wirklich auch den letzten Ort noch verliert,<br />

ist am Leben bedroht.<br />

Mit einem Zitat des Geschichts-Philosophen<br />

Theodor Lessing aus seinem 1927 veröffentlichtem<br />

Buch „Geschichte als Sinngebung des<br />

Sinnlosen – Die Geburt der Geschichte aus<br />

dem Mythos“ möchte ich meinen Vortrag beschließen:<br />

„Immer tiefer verfestigt sich der Widerwille gegen<br />

all die unser Machtbegehren verkleidende<br />

Zielverborgenheit. (…) Handle es sich nun um<br />

das religiöse oder um das weltliche Anbild,<br />

handle es sich um staatliche oder um geistige,<br />

um völkische oder um gesellige, um künstlerische<br />

oder um sittlicher Wunsch- und Hochbilder<br />

– alles das, woran ich auf Erden gelitten<br />

habe und was mir am Menschen böswillig<br />

und gehässig erschien, brüchig und gemein,<br />

machtwillig oder eitel, alles das begegnete mir<br />

auf meinem Lebenswege stets im Gewand der<br />

Ideale. Im Gewande der Wahrheit: die Lüge. Im<br />

Gewande der Logik: der Irrsinn. Im Gewande<br />

des Rechts: jegliches Unrecht. Im Gewande<br />

des Menschheitsfortschritts: alles den Menschen<br />

entwürdigende. Und nie sah ich eine<br />

geschichtliche Niedertracht, nie eine wirkliche<br />

Abscheulichkeit, die nicht geübt wurde im Namen<br />

irgendeines Ideals.“<br />

Ein solches Ideal ist auch die unsere Profession<br />

begründende und legitimierende Kategorie<br />

„Hilfe“. Wir kommen nicht darum herum, sie<br />

immer wieder zu de-konstruieren um erkennen<br />

zu können, was in ihrem „Zeichen“ geplant<br />

und beabsichtigt ist und um entscheiden zu<br />

können wie wiruns, als Angehörige eines „helfenden<br />

Berufs“, im konkreten Fall dazu verhalten<br />

wollen.<br />

Zusammenfassung<br />

In dem folgenden Beitrag treffe ich Anmerkungen<br />

zu der Entwicklung der Jugendhilfe hin<br />

zu einer punitiven Pädagogik. Ich bespreche<br />

diese Entwicklung anhand der Rückkehr der<br />

geschlossenen Unterbringung. Dabei gehe ich<br />

folgendermaßen vor: Im ersten Schritt erinnere<br />

ich an die Gründe für die Heimreform in den<br />

siebziger und achtziger Jahren, die eine Reform<br />

von Unten, eine von den damaligen Zöglingen<br />

und veränderungsbereiten Erziehern<br />

beförderte Reform gewesen ist. Im zweiten<br />

Schritt beschreibe ich die derzeitige Entwicklung<br />

als eine Reform von Oben: Heute sind es<br />

nicht die pädagogischen Kräfte, die auf Änderung<br />

drängen, sondern der Veränderungsbedarf<br />

wird von Seiten der Politik formuliert.<br />

In einem dritten Schritt analysiere ich diese<br />

Entwicklung als eingebettet in die Politik des<br />

aktivierenden Staates, der ein helfender und<br />

ein strafender Staat zugleich sein will und seinen<br />

Strafanteil unter anderem in der Wiedereinführung<br />

der geschlossenen Unterbringung<br />

zu verwirklichen trachtet. In diesem dritten<br />

Schritt stelle ich einem ersten Abschnitt die<br />

politische Argumentation des aktivierenden<br />

Staates vor und zeige, dass ihr eine politische<br />

Ethik der Interessenlosigkeit zugrunde liegt. In<br />

dem letzten Absatz dieses dritten Teils arbeite<br />

ich die dazu korrespondierende punitive Praxis<br />

als eine politisch-pädagogische Methode des<br />

aktivierenden Staates heraus.<br />

Prof. Dr. Manfred Kappeler<br />

Technische Universität Berlin<br />

Institut für Sozialpädagogik<br />

Franklinstr. 28/29<br />

D-10587 Berlin<br />

Michael Lindenberg<br />

Von der Heimreform zur Heimrestauration:<br />

Das Beispiel der geschlossenen Unterbringung in den Jugendhilfe<br />

Bambule: Heimreform von Unten<br />

Die Darstellung des Teils über die Soziale<br />

Arbeit im 20. Jahrhundert, dem sozialpäda-<br />

gogischen Jahrhundert zwischen Reform und<br />

Revolte möchte ich mit dem längeren Zitat ei-<br />

nes Zeitzeugen beginnen. Peter Jürgen Boock<br />

(Jahrgang 1951), hat in den vergangenen Jah-<br />

ren gelegentlich über seine Erfahrungen zu<br />

den Studenten meiner Hochschule gesprochen,<br />

und mein Kollege Timm Kunstreich hat das in<br />

seinem „Grundkurs Soziale Arbeit“ (Kunstreich<br />

2001) zu Papier gebracht. Peter Boock war bis<br />

Ende der 70er Jahre Mitglied der RAF, stieg<br />

dann aus und lebte einige Zeit im Untergrund.<br />

Dort arbeitete er zeitweise an dem Aufbau<br />

eines alternativen Kommunika tionszentrums<br />

mit, wurde dann verhaftet und in mehreren<br />

Prozes sen zu lebenslanger Haft verurteilt. Zum<br />

Zeitpunkt seines hier zitierten Berichts (1995)<br />

war er Freigän ger in einer Übergangsanstalt,<br />

was ihm auch ermöglichte, an der Hochschule<br />

für Wirtschaft und Politik in Hamburg zu stu-<br />

dieren. Peter Jürgen Boock berichtet aus seiner<br />

Zeit in einem geschlossenen Heim Mitte der<br />

60er Jahre (vgl. Kunstreich 2001,88)<br />

„(Es) war ein in sich geschlossenes System.<br />

Makabrer ging‘s eigentlich kaum noch. Es gab<br />

zwei Möglichkeiten, vor 21 (...) rauszukommen,<br />

das eine war die Heringsfischerei und das an-<br />

dere die Bundesmarine. Und zwar deswegen,<br />

weil die Leute aus dem Heim dann direkt aufs<br />

Schiff kamen und erst in einem Jahr wieder<br />

30 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 31<br />

historische und aktuelle diskurse


vor Ort waren. Makaber war weiter, dass die<br />

Leute, die die Heringsfischerei auch in Massen<br />

produzierte, nämlich die mit abgehackten Fin-<br />

gern oder Beinen, dann Heimerzieher wurden.<br />

Diese Leute waren furchtbar guter Stimmung<br />

und verbreiteten Optimismus, also herrschte<br />

eine Atmosphäre, wie man sie sich schlimmer<br />

nicht vorstellen kann (...).Die wichtigste Ar-<br />

beit, die man in diesem Heim verrichten konn-<br />

te, war Fischer netze stricken. Dafür gab es<br />

vier Zigaretten pro Tag. Die Kleidung bestand<br />

aus ehemaliger KZ-Kleidung und aus Holzlat-<br />

schen, damit man nicht weglaufen konnte.<br />

Bekocht wurden wir von weiblichen Insassen<br />

einer Irrenanstalt, die dem Erziehungsheim<br />

angegliedert war. (Das Heim, M.L.) hat in sich<br />

eine ‚nette‘ Geschichte: erst kaiserliche Kadet-<br />

tenanstalt, dann Frauengefängnis, dann Frau-<br />

en-KZ und jetzt eben Erziehungsheim - eine<br />

ungebrochene Tradition!“<br />

Es kam zur Revolte. Peter Boock berichtet:<br />

„Eines Tages bekam einer der Insassen des A-<br />

Hauses (das war das Zugangs haus) ein Paket<br />

und wollte es ausgehändigt bekommen. Der<br />

Erzieher sagte ‚nein‘, der Typ sagte, ‚das sehe<br />

ich überhaupt nicht ein, das hole ich mir jetzt<br />

doch.‘ Der Erzieher holte den Gummiknüppel<br />

aus dem Halfter und sagte ‚das kannste ja mal<br />

probieren‘, der Insasse haute ihm dann eins in<br />

die Fresse und holte sich sein Paket. Der Mann<br />

stieg auf die Trillerpfeife, innerhalb von kurzer<br />

Zeit war alles, was an Erziehern im Heim vor-<br />

handen war, beieinander, und der Aufstand<br />

begann. Im Verlaufe dieses Aufstandes wurde<br />

das gesamt A-Haus demoliert, die Heizung<br />

aus den Wänden gerissen, die Bettgestelle<br />

aus dem Fenster geworfen, einige Erzieher<br />

ziemlich verprügelt. (...) In der Zwischenzeit<br />

hatten Insassen die Treppe dieses A-Flügels<br />

mit flüssi gem Bohnerwachs überkippt und<br />

angezündet, damit keiner reinkommt. Dieses<br />

Feuer entwickelte sich allerdings sehr schnell<br />

und hatte zur Folge, dass wir nicht mehr<br />

rauskamen. Die Marine, einer solchen Situa-<br />

tion wohl noch nie ausgesetzt, hat dann noch<br />

zusätzlich Gasgranaten in das Treppenhaus<br />

geschossen. Wir waren ganz kurz davor, im<br />

zweiten Stock dieses Blocks abzukratzen. Wir<br />

haben uns mit Messern und Gabeln durch den<br />

Dielenboden einen Stock tiefer gearbeitet und<br />

sind im letzten Moment damit fertig geworden,<br />

bevor die Flammen im zweiten Stock über uns<br />

diskursevor Ort historische und aktuelle diskurse<br />

zusammenschlugen. Deswegen sind wir noch<br />

mal davon ge kommen. Ansonsten wären wir<br />

alle verbrannt.“ (Kunstreich 2001,88-89)<br />

Peter Boock wird in eine anderes Heim abgeschoben<br />

und erlebt folgendes: „Etwa eine Woche,<br />

nachdem ich (...) angekommen war, wurde<br />

uns angekündigt, dass Studenten der Pädagogischen<br />

Fakultät der Uni Frankfurt kommen<br />

würden, um sich in der Praxis anzusehen, was<br />

sie bis dato nur in der Theorie durchgenommen<br />

hatten. Als dann an dem Wochenende diese<br />

Studenten wirklich kamen, saß uns eine Gruppe<br />

gegenüber, zu der unter anderem Andreas<br />

Bader, Gudrun Ensslin, Thorwald und Astrid<br />

Proll gehörten. Der Hintergrund war eine<br />

Kaufhaus-Brandstiftung in Frankfurt gewesen,<br />

wegen der die genannten Leute vor Gericht gestanden<br />

hatten. Sie waren verurteilt worden,<br />

in Revision gegangen und bis zum Entscheid<br />

über die Revision wurden sie auf freien Fuß<br />

gesetzt - mit der Auflage, eine Tätigkeit im sozialen<br />

Bereich wahrzunehmen. Diese Tätigkeit<br />

im sozialen Bereich sahen sie darin, die Erziehungsheime<br />

zu leeren. Das stieß bei uns auf<br />

große Gegenliebe.“ (Kunstreich 2001,90)<br />

Aus heutiger Sicht ist es unglaublich, wie damals<br />

in Deutschland mit Jugendlichen in der<br />

Jugendhilfe umgegangen wurde. Wie unglaublich,<br />

erkenne ich immer an dem Unglauben der<br />

Studierenden, wenn ich mit ihnen den Film<br />

„Bambule“ sehe, der ja mit einem weiteren berühmten<br />

Namen aus dieser Zeit verbunden ist:<br />

Ulrike Meinhof. Weil der Film in Schwarz-Weiß<br />

gedreht ist, meinen einige der Studierenden,<br />

dass Zustände im Dritten Reich beschrieben<br />

werden oder aus der Frühzeit der DDR, aber<br />

ganz gewiss nicht aus der Bundesrepublik<br />

Deutschland zu einer Zeit, in der sie gerade geboren<br />

wurden. Die Zeit ist offensichtlich über<br />

diese von Boock beschriebene und von Baader<br />

und Meinhof bekämpfte Form der Einsperrung<br />

hinweggeschritten, sie ist undenkbar geworden.<br />

Daran besteht kein Zweifel, auch, wenn<br />

etwa Jugendgefängnisse weiterhin bestehen,<br />

und teilweise immer noch mit alter baulicher<br />

Struktur. Daran besteht kein Zweifel, auch<br />

wenn immer noch und andauernd in der Jugendhilfe<br />

noch geschlossen untergebracht<br />

wurde. Zuletzt bekannte Zahlen deuten auf<br />

mehr als 140 Plätze in Deutschland hin (vgl.<br />

Landesjugendamt Saarland 2001), Tendenz in<br />

den kommenden Jahren: Vermutlich steigend.<br />

Doch bewachen in diesen heutigen Heimen<br />

keine ehemaligen Heringsfischer mit Gummiknüppeln<br />

die Minderjährigen. Das ist abgeschafft.<br />

Und der Symbolgehalt der Abschaffung<br />

dieser deutlich grausamen und den Menschen<br />

vernichtenden Form der Jugendwohlfahrt war<br />

daher seinerzeit entsprechend beachtlich (Ehlers<br />

2002,1). Zur Zeit von Boock wurde nach<br />

drei Gesichtspunkten geschlossen untergebracht:<br />

einmal als gesicherte Unterbringung<br />

im Rahmen des Jugendwohlfahrtsgesetzes<br />

(das wurde ersatzlos abgeschafft), zweitens<br />

als einstweilige Unterbringung in einem geeigneten<br />

Erziehungsheim zur Abwendung<br />

der Untersuchungshaft (noch heute Unterbringungen<br />

nach §§ 71/72 GG) sowie drittens als<br />

kurzfristige Sicherung aufgegriffener Kinder<br />

nach den Vorschriften zum Schutze der öffentlichen<br />

Sicherheit und Ordnung (heute nach § 42<br />

SGB VIII, also als Maßnahme in Ausübung des<br />

Wächteramtes). (vgl. Bittscheidt-Peters & Koch<br />

1982,2)<br />

Ziel der Heimreform war es damals, „die Aufgaben<br />

von Heimerziehung als Hilfsangebot zu<br />

klären und damit zugleich repressive, sanktionierende<br />

oder generalpräventive Funktionen<br />

auszugrenzen.“ (Bittscheidt-Peters & Koch<br />

1982,1). Das bedeutete die Abschaffung der<br />

gesicherten Unterbringung im Rahmen des<br />

Jugendwohlfahrtsgesetztes (JWG). Und Hilfe<br />

im Wege der Einsperrung erschien nicht mehr<br />

möglich, die Verbindung von Einsperren und<br />

Hilfe war durch die Erfahrungen der Vergangenheit<br />

desavouiert.<br />

Heimreform von Oben: Restauration<br />

Trotz der reformerischen Anstrengungen im<br />

Ausgang des 20. sozialpädagogischen Jahrhunderts<br />

ist allerdings weiterhin festgehalten<br />

worden, wenn auch in einer dem Zeitgeist<br />

entsprechenden Form. Diese Form zeigt sich<br />

an den Sprachregelungen zur geschlossenen<br />

Unterbringung. Ich nenne einige Beispiele, aus<br />

Deutschland zusammengetragen: „pädagogisch-betreute<br />

Intensivgruppe“; „individuelle<br />

Teilgeschlossenheit“; „intensiv-pädagogische<br />

Gruppe“; „individuell-geschlossene intensivtherapeutische<br />

Gruppe“; „teilgeschlossene<br />

Gruppe.“ (Landesjugendamt Saarland 2001) In<br />

Hamburg wurde der Leiter der Einrichtung, die<br />

im Auftrag der Landesregierung seit Beginn<br />

Das doppelte Gesicht des<br />

aktivierenden Staates<br />

32 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 33<br />

Politik<br />

Dazu muß zunächst einmal gefragt werden, wie<br />

diese wiederauflebende Verbindung aus Päda-<br />

gogik (also Hilfe, Anleitung und Unterstützung<br />

für Kinder und Jugendliche bei ihrer Entwick-<br />

lung) und Ordnungspolitik (also Strafe mit dem<br />

Ziel der General- und Spezialprävention) mög-<br />

lich wird. Diese Verbindung kann im Schatten<br />

des aktivierenden Staates hergestellt werden.<br />

Dem Leitbild des aktivierenden Staates sind<br />

in Deutschland mittlerweile alle Parteien mit<br />

Regierungsverantwortung verpflichtet. Dieser<br />

aktivierende Staat will ein helfender und ein<br />

strafender Staat zugleich sein. Hilfe gibt es in<br />

diesem Staat vorrangig für diejenigen, die sich<br />

des Jahres 2003 Minderjährige einsperrt, mit historische der Idee vorstellig, die Einsperrung „Zentrum<br />

für Intensivpädagogik“ zu nennen. Der zustän-<br />

dige Staatsrat (Staatssekretär) soll aber abge-<br />

lehnt haben: Das sei eine geschlossene Einrich-<br />

tung, und sie solle daher auch so heißen. Je-<br />

doch soll heute offensichtlich nicht mehr in die<br />

gewalttätigen Einrichtungen aus den Zeiten<br />

von Peter Boock eingesperrt werden, sondern<br />

nun sind es freundliche geschlossene Syste-<br />

me, in denen positive Beziehungen hergestellt<br />

werden sollen. Dabei muss jedoch die seit dem<br />

Ausgang des 20. Jahrhunderts und seit der Ab-<br />

schaffung der alten Erziehungsheime in der Ju-<br />

gendhilfe durchgängig als schädlich bewerte-<br />

te Verbindung von Hilfe und Strafe (denn nicht<br />

anders als Strafe kann die Einsperrung von den<br />

Eingesperrten aufgefasst werden) notwendig<br />

wieder zum Leben erweckt werden. Diese Ver-<br />

bindung ist die Grundvoraussetzung jeglicher<br />

Argumentation für geschlossene Unterbrin-<br />

gung. „Das Konzept der geschlossenen Unter-<br />

bringung verbindet Sicherungsnotwendigkei-<br />

ten mit modernen Grundsätzen erzieherischer<br />

Betreuung“ (FHH 2002,5), formuliert beispiels-<br />

weise die Jugendbehörde in Hamburg. Es sind<br />

also offensichtlich die „modernen Grundsätze<br />

erzieherischer Betreuung“, die die Freundlich-<br />

keit des Systems erzeugen sollen. Was nun<br />

unterscheidet diese modernen Grundsätze von<br />

den Grundsätzen der Heringsfischer in dem<br />

Heim von Peter Boock?<br />

historische und aktuelle diskurse


nicht selbst helfen können, also vor allem Be-<br />

hinderte und Kranke. Dazu formuliert etwa die<br />

Hamburger Sozialsenatorin: „Es gibt Rechte<br />

und Pflichten im Sozialstaat. Wer Hilfe braucht,<br />

dem wird Hilfe gewährt. Aber die Devise lautet<br />

auch: Wer kann, aber nicht will, dem müssen<br />

wir nicht helfen.“ (Schnieber-Jastram 2002)<br />

Strafe setzt immer dann ein, wenn die mit der<br />

Hilfegewährung verknüpften Erwartungen<br />

nicht erfüllt werden und dieses Versagen den<br />

Hilfeempfängern zugerechnet werden kann.<br />

In diesem Spannungsfeld aus Hilfe und Strafe<br />

bewegt sich auch die aktuelle Debatte in der<br />

Jugendhilfe und besonders beispielhaft um die<br />

geschlossene Unterbringung. Dabei ist eine<br />

bedingungslose Ablehnung der ordnungspoli-<br />

tischen Straf-Anteile in der Jugendhilfe immer<br />

weniger anzutreffen (Position 1). Offensichtlich<br />

geraten die Erfahrungen mit den Straf-Heimen<br />

und die Kritik, die das ausgehende sozialpäda-<br />

gogische Jahrhundert an ihnen formulierte, be-<br />

reits zu Beginn des 21.Jahrhunderts wieder ins<br />

Vergessen. Eine zwar allgemeine Ablehnung<br />

der geschlossenen Unterbringung als regelhaf-<br />

te Einrichtung, aber dann doch eine Zustim-<br />

mung in besonderen Einzelfällen bei Gefahr für<br />

Leib und Leben und unter Wahrung hoher Prüf-<br />

kriterien ist häufiger geworden und scheint mir<br />

selbst auf dem Gebiet der lebensweltorientier-<br />

ten Jugendhilfe auch unter Fachleuten durch-<br />

gesetzt (Position 2). Eine Zustimmung aus<br />

pädagogischen oder therapeutischen Gründen<br />

unter Hinnahme der ordnungspolitischen As-<br />

pekte ist dagegen die Position einer klinisch<br />

und therapeutisch orientierten, einschließen-<br />

den Jugendhilfe (Position 3). Eine Zustimmung<br />

zur Einsperrung ausschließlich aus ordnungs-<br />

politischen Gründen ist allerdings unter Fach-<br />

leuten weiterhin nicht jugendhilfefähig, wird<br />

aber immer deutlicher politikgängig (Position<br />

4). Die Übergänge dieser vier Positionen sind<br />

sicher fließend. Doch stehen sich im Rahmen<br />

der Politik des aktivierenden Staates vor allem<br />

die Position zwei (Lebensweltorientierung)<br />

und die Position drei (klinisch-therapeutische<br />

Sichtweise) in der Fachdiskussion strittig ge-<br />

genüber.<br />

Was ist nun mit der „Qualitätssicherung“ der<br />

Einsperrung im aktivierenden Staat, denn dar-<br />

auf legt er doch so viel wert? Schließlich ist<br />

Qualität in seinem Verständnis kein für sich<br />

stehendes Gut, sondern wird von ihm in den<br />

diskursenicht selbst historische und aktuelle diskurse<br />

Zusammenhang einer Zweck-Mittel-Relation<br />

gebracht. Ob die einsperrende, punitive Pädagogik,<br />

wie etwa die geschlossene Unterbringung,<br />

in diesem Sinn funktioniert, es also<br />

zu einem angemessenen Verhältnis zwischen<br />

den eingesetzten finanziellen Mitteln und<br />

den zu erreichenden Zielen kommt, ist bei der<br />

wiederauflebenden Einsperrung von Kindern<br />

und Jugendlichen, und anders als sonst in der<br />

Sozialen Arbeit, allerdings keine entscheidende<br />

Frage. Denn bei der geschlossenen Unterbringung<br />

haben wir es mit einer politischen<br />

„Bedarfsentscheidung mit entsprechender<br />

Kostendeckungsgarantie“ (Halfar 2001,540)<br />

zu tun. Kostendeckungsgarantien sind jedoch<br />

bereits seit Jahren für die Soziale Arbeit untypisch<br />

geworden. Heute wird eine Entscheidung<br />

für oder gegen eine soziale Investition<br />

immer weniger von politischen Erwägungen,<br />

sondern immer mehr von ökonomischen Gesichtspunkten<br />

abhängig gemacht wird (vgl.<br />

Halfar 2001,540). In diesem an ökonomischen<br />

Parametern orientierten „Finanzstrom schwimmen<br />

natürlich Partikel einer Logik, die nicht<br />

mehr politischen Präferenzordnungen, sondern<br />

der wirtschaftlichen Rentabilitätsüberlegung<br />

gehorcht.“ (Halfar 2001,541) Diese wirtschaftlichen<br />

Rentabilitätserwägungen werden bei<br />

Entscheidungen für geschlossene Unterbringungen<br />

jedoch vollständig außer Kraft gesetzt.<br />

Bei der geschlossenen Unterbringung fließt der<br />

Finanzstrom in dem ansonsten als veraltet betrachteten<br />

Bett einer ausschließlich staatlichpolitischen<br />

Steuerung. Und die Umlenkung in<br />

dieses zunehmend trocken gelegte Bett wird<br />

gerade von den politischen Kräften vorgenommen,<br />

die ansonsten alle ihre Mittel einsetzen,<br />

um den Zufluss in dieses staatliche Bett sorgsam<br />

abzudichten und dagegen auf ein ökonomisches<br />

Mäandern setzen.<br />

Damit offenbart sich jedoch kein Widerspruch,<br />

sondern die Doppelstrategie des aktivierenden<br />

Staates.2 So soll dieser aktivierende Staat zwar<br />

einerseits kein klassischer Interventionsstaat<br />

mehr sein. Stattdessen sei, so etwa Evers und<br />

Leggewie (1999,332), eine Leitidee auf den Plan<br />

getreten, die den Staat als Partner sozialer Hilfe,<br />

als Moderator sozialer Konflikte, als Supervisor<br />

sozialer Probleme, oder aber auch als Animateur<br />

der Selbsthilfe und Eigentätigkeit sieht.<br />

Nichts davon findet sich in der geschlossenen<br />

Unterbringung. Mit ihr wird nicht supervidiert,<br />

sondern überwacht, es wird nicht Selbsthilfe<br />

gefördert, sondern Fremdbestimmung gefordert,<br />

es wird nicht Eigentätigkeit angemahnt,<br />

sondern Eigentätigkeit wird eingeschränkt.<br />

Und eindeutig gehört es dieser Selbstbeschreibung<br />

zufolge zum aktivierenden Staat, dass er<br />

private, „also vor allem marktgestützte Aktivitäten<br />

fördert, sie durch Setzung angemessener<br />

Standards reguliert, dabei normativ die Verantwortlichkeit<br />

von Individuen und Familien<br />

hervorhebt, gleichzeitig aber einen festen Sockel<br />

an Hilfe und soziale Unterstützung für die<br />

meisten Bedürftigen garantiert“ (vgl. Evers &<br />

Leggewie 1999,332). Aber davon kann in der<br />

geschlossenen Unterbringung nicht die Rede<br />

sein. Wie beschrieben, handelt es sich bei der<br />

geschlossenen Unterbringung nicht um eine<br />

marktgestützte Aktivität, sondern um eine<br />

ausgesprochen marktferne, ausschließlich politisch<br />

motivierte Veranstaltung.<br />

In der geschlossenen Unterbringung offenbart<br />

sich daher die autoritäre Seite des aktivierenden<br />

Staates. Dieser Staat ist, entgegen der<br />

offiziellen Rhetorik, überhaupt nicht darauf<br />

angelegt, auf staatliche Oberleitung zugunsten<br />

einer Ökonomisierung sozialer Prozesse<br />

zu verzichten. Zwar wird außerökonomische,<br />

unmittelbare Gewalt wie in der geschlossenen<br />

Unterbringung nur ausnahmsweise angewandt.<br />

Doch bleibt außerökonomische und<br />

unmittelbare Gewalt auch im aktivierenden<br />

Staat unverzichtbar. Daher stecken im aktivierenden<br />

Staat zwei Grundströmungen. Der<br />

„aktivierende Staat“ ist ein „schlanker Staat“<br />

und ein „autoritärer Staat“ zugleich. Diese beiden<br />

Grundströmungen ergänzen sich wechselseitig;<br />

die eine Strömung ist ohne die andere<br />

nicht denkbar. Neben seinen Versuchen der<br />

indirekten Steuerung („Aktivierung“) über den<br />

Arbeitsmarkt ist der aktivierende Sozialstaat<br />

daher „trotz aller Rhetorik nach wie vor in<br />

erster Linie eine Institution mit externen Gewalt-<br />

und Kontrollcharakter.“ (Gruppe Blauer<br />

Montag 2003,3).<br />

Politische Ethik der Interessenlosigkeit<br />

In dieser Politik des aktivierenden Staates<br />

kommt gegenüber den auffälligen Minderjährigen<br />

eine Ethik der Interessenlosigkeit zum<br />

Ausdruck. Damit ist gemeint, dass sich die für<br />

die Durchsetzung der geschlossenen Unterbrin-<br />

gung und für die Durchsetzung einer punitiven historische Pädagogik politisch Verantwortlichen nur noch<br />

am Rande für die subjektiven Beweggründe der<br />

Minderjährigen interessieren, und dann auch<br />

nur soweit, wie sie Aufschluss darüber geben,<br />

wie deren künftiges abweichendes Verhalten<br />

vermieden werden kann. Diese Ethik der Inter-<br />

essenlosigkeit geht allerdings nicht ursächlich<br />

von der in der geschlossenen Unterbringung<br />

praktizierten Pädagogik aus. Im Gegenteil, es<br />

ist der Beruf und die Aufgabe der dort tätigen<br />

Erzieher, Interesse, also Aufmerksamkeit und<br />

Neigung für die Minderjährigen zu entwickeln.<br />

Daher, und auch, weil sie auf eine elaboriertes<br />

klinisch-therapeutisches Vokabular zurückgrei-<br />

fen, unterscheiden sie sich deutlich von den<br />

verquälten Erziehern aus dem Heringsfang, die<br />

Peter Boock uns geschildert hat. Doch nimmt<br />

die politisch erzeugte Ethik der Interessenlo-<br />

sigkeit diese Pädagogik in ihren Dienst, indem<br />

sie ihr deutlich punitive Aufgaben zuweist und<br />

ihre pädagogische Arbeit damit dominiert und<br />

überwuchert. Dies wird etwa in dem bereits<br />

angeführten Zitat aus dem Konzept zur ge-<br />

schlossenen Unterbringung deutlich, wonach<br />

in der geschlossenen Unterbringung Siche-<br />

rungsnotwendigkeiten mit modernen Grund-<br />

sätzen erzieherischer Betreuung verbunden<br />

werden. Damit sind die Pädagogen, „wie ihre<br />

Zöglinge, Subjekte der Einsperrung, sind in<br />

ihrem pädagogischen Wirken der Einsperrung<br />

unterworfen. Ihr Gewinn durch das Habhaft-<br />

Werden der Zöglinge ist ein trügerischer Ge-<br />

winn, der um den Preis der Unterwerfung un-<br />

ter ein geschlossenes System und seine Folgen<br />

erkauft werden muss.“ (Lindenberg 2002,121)<br />

Daher kommt diese Ethik der Interessenlosig-<br />

keit nicht nur gegenüber den eingesperrten<br />

Minderjährigen zum Tragen, sondern sie gilt<br />

auch gegenüber dem pädagogischen Personal,<br />

dass in einen unlösbaren Konflikt geschickt<br />

wird. Dabei besteht jederzeit für die Politik die<br />

Möglichkeit, die durchführende Pädagogik und<br />

eben nicht die entscheidende Politik für das<br />

voraussehbare Scheitern dieser punitiven Pä-<br />

dagogik verantwortlich zu machen.<br />

34 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 35<br />

Methode<br />

Diese Ethik der Interessenlosigkeit kann zwar<br />

einerseits handlungsentlastend, entstigmati-<br />

sierend und rationell für alle Beteiligten sein,<br />

historische und aktuelle diskurse


diskurseweil sie historische und aktuelle diskurse<br />

weil sie der Rationalität des Marktes zu folgen<br />

versucht und dabei nicht mehr den Täter als<br />

Bezugspunkt sieht, denn an ihm hat sie in je-<br />

der Hinsicht das Interesse verloren, auch das<br />

Besserungsinteresse. Doch formen Praktiker<br />

auf der Grundlage dieser Ethik der Interessen-<br />

losigkeit eine spezielle „Ausgrenzungs-Me-<br />

thodik“ (vgl. Kunstreich & Lindenberg 2002).<br />

Diese Ausgrenzungs-Methodik greift immer<br />

dann mit voller Härte zu, wenn die Motive und<br />

die soziale Lage der Minderjährigen nicht mehr<br />

interessieren. Denn diese Methodik fragt zwar<br />

nach den Gründen des Handelns, aber nur in-<br />

soweit sie für die zukünftige Verhinderung des<br />

eingetretenen Schaden bzw. für die zukünftige<br />

Mehrung des Nutzens von Interesse sind. Eine<br />

darüber hinaus gehende Empathie oder gar So-<br />

lidarität kennt sie nicht, weder hinsichtlich der<br />

„Täter“, noch in Bezug auf die „Opfer“.<br />

Wie wird diese Ethik der Interessenlosigkeit<br />

methodisch umgesetzt? Zunächst einmal: es<br />

ist zu erwarten, wenn unter den Praktikern ein<br />

Übergang von der Vagheit der alten Pädagogik<br />

zur vermeintlichen Entscheidbarkeit der neu-<br />

en punitiven Pädagogik auf Gegenliebe stößt.<br />

Das ist das Hervortreten einer Managemen-<br />

torientierung, die sich selbstbewusst neben<br />

die Moralorientierung der alten Pädagogik<br />

stellt. „Maneggiare“ (it.), heißt handhaben,<br />

bewerkstelligen. Und zwar so, wie es in der<br />

(Zirkus)Manege geschieht, an einem festen,<br />

voraussehbaren Ablauf orientiert. Damit ist<br />

beschrieben, was in der wissenschaftlichen<br />

Fachdiskussion „Managerialismus“ genannt<br />

wird (vgl. Schaarschuch 2001)<br />

Es gibt einen kleinen Witz, den ich zu diesem<br />

Managerialismus erzählen möchte. Frage: Wer<br />

war der erste Sozialarbeiter? Antwort: Chris-<br />

toph Kolumbus. Warum? Als er seine Reise<br />

begann, hatte er keine Vorstellung, wohin er<br />

fahren würde. Als er die Neue Welt erreich-<br />

te, wusste er nicht, wo er sich befand. Als er<br />

nach Hause kam, konnte er nicht sagen, wo<br />

er gewesen war. Und all dies passierte mit<br />

dem Geld anderer Leute. Die Botschaft ist<br />

klar: Menschen, die sich sozial-beruflich mit<br />

anderen Menschen beschäftigen, wissen nicht<br />

wirklich, was sie tun, und sie bekommen auch<br />

noch Geld dafür. Und das, so die Botschaft des<br />

Managerialismus, gehört geändert.<br />

Warum kann dieser Sozialarbeiterwitz einen<br />

Hinweis auf die Umsetzung der Ethik der Interessenlosigkeit<br />

geben? Zur Beantwortung<br />

dieser Frage möchte ich ein kleines Experiment<br />

vorschlagen. Vielleicht haben Sie gelegentlich<br />

die Zeit, einen Tag mit jemanden zu verbringen,<br />

der dafür bezahlt wird, sich mit den Menschen<br />

zu beschäftigen, die der Jugendhilfe unterworfen<br />

sind. Wie geht jemand in der Jugendhilfe<br />

mit einem Minderjährigen um, ist die Forschungsfrage.<br />

Das kann jemand aus einer ambulanten<br />

Hilfe, einer stationären Maßnahme,<br />

von einem freien oder von einem staatlichen<br />

Träger der Jugendhilfe sein. Stellen Sie jedes<br />

Mal, wenn der Jugendliche oder das Kind den<br />

Raum verlassen hat, eine einfache Frage: „Warum<br />

haben Sie das gerade gemacht?“ Stellen<br />

Sie keine komplizierten Fragen, komplizierte<br />

Fragen führen zu komplizierten Antworten. Die<br />

Person wird in der Regel etwa so antworten:<br />

„Ich habe das bislang immer so gemacht.“<br />

Oder: „Das war reine Erfahrung und Intuition.“<br />

Oder: „Es hat ich bewährt.“ Oder: „Ich habe<br />

das von meinen Kollegen abgeguckt.“<br />

Was bedeutet das? Obwohl die Fachkraft aller<br />

Wahrscheinlichkeit nach sehr gute Arbeit leistet,<br />

kann sie nicht wirklich erklären, warum<br />

genau sie ihre professionellen Aktionen durchgeführt<br />

hat. Die Neue Sachlichkeit und ihr<br />

Managerialismus akzeptiert das jedoch nicht<br />

länger. Managerialismus will die Beschäftigten<br />

dazu zwingen, exakte Aussagen darüber<br />

zu treffen, was in welcher Zeit mit welchen<br />

Mitteln zur Erreichung eines vorher definierten<br />

Ergebnisses getan worden ist. Und wie kann<br />

das in die Tat umgesetzt werden? Indem das<br />

soziale Handeln der Beschäftigten trivialisiert<br />

wird.<br />

Ich gebrauche das Wort „trivialisieren“ nicht<br />

in einem beleidigenden Sinne, nicht im Sinne<br />

von: „das ist aber platt und abgedroschen“,<br />

sondern so, wie es in der soziologischen Systemtheorie<br />

benutzt wird: als die Grundlage<br />

von Entscheidbarkeit. Ich will das mit einem<br />

Beispiel verdeutlichen: Ein Auto ist eine triviale<br />

Maschine. Wir drehen den Schlüssel (Input)<br />

und die Maschine beginnt zu laufen (Output).<br />

Eine bestimmte Handlung ruft eine bestimmte<br />

Reaktion erwartbar hervor. Trivialität ist daher<br />

Verlässlichkeit und Determination. Was aber<br />

ist, wenn Sie aus der Garage herausfahren,<br />

und schon fällt Ihnen das erste Rad ab? Dann<br />

funktioniert Input-Output nicht mehr. Um das<br />

wiederherzustellen, bringen Sie das Auto in<br />

die Werkstatt, und der Automechaniker, oder<br />

besser: der Trivialisateur, macht das Auto wieder<br />

trivial, also erwartbar.<br />

Managerialismus ist der Versuch, die Komplexität<br />

des sozialen Handelns zu trivialisieren,<br />

also verlässlich zu machen. Damit jedoch wird<br />

der Dialog aus dem Sozialen Handeln beseitigt.<br />

Im Managerialismus bestehen sehr gute Gründe,<br />

diesen Dialog zu entfernen. Denn ein Dialog<br />

bedeutet, dass wir niemals sicher sein können,<br />

was bei ihm herauskommen wird. Und eine<br />

derartige Unsicherheit (Kontingenz) ist tödlich<br />

für den Managerialismus.<br />

Gute Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen<br />

wissen um die Unsicherheit und um die Grenzenlosigkeit<br />

des Dialogs. Sie bringen aber<br />

immer wieder den Mut auf, diesen Dialog zu<br />

führen. Sie wollen nicht einfach den Schlüssel<br />

umdrehen, wie es der Managerialismus,<br />

die Neue Sachlichkeit, von ihnen verlangt. In<br />

dem Regime der Neuen Sachlichkeit jedoch ist<br />

gerade derjenige ein guter Mitarbeiter, der zur<br />

rechten Zeit den rechten Schlüssel umdreht.<br />

So besteht der Zynismus des aktivierenden<br />

Staates in sozialpolitischer Hinsicht darin,<br />

„die Freiheit der Freien zu vergrößern, die Aktiven,<br />

die am wenigsten der Hilfe bedürfen, zu<br />

unterstützen, und die, die Hilfe bräuchten, zu<br />

marginalisieren“ (Ziegler 2001,36). Dieses politische<br />

Praxis ergänzt die punitive Pädagogik<br />

im Rahmen der geschlossenen Unterbringung<br />

dadurch, dass sie nicht mehr eine nachträgliche<br />

moralische Verurteilung und auch nicht die<br />

(re-)integrative, bessernde Einwirkung auf das<br />

Individuum anstrebt, sondern auf die Beantwortung<br />

der Frage gerichtet ist, wie Sicherheit<br />

durch eine „gerechtfertigte“ Einsperrung wie<br />

die geschlossene Unterbringung zuverlässig<br />

hergestellt werden kann. „Erzeugt Jugendhilfe<br />

Sicherheit? Ja oder nein?“ Das ist die triviale,<br />

aber vermeintlich entscheidbare Frage. Kennzeichnend<br />

dafür ist ein politischer Verzicht auf<br />

Empathie und Solidarität gegenüber den Minderjährigen,<br />

ein Verzicht auf Fragen nach ihren<br />

inneren Beweggründen. Das ist mit der Ethik<br />

der Interessenlosigkeit gemeint.<br />

Ich möchte mit einer kritischen Anmerkung in<br />

die Richtung der Sozialen Arbeit schließen, die<br />

sich gegenüber dieser punitiven Pädagogik ablehnend<br />

verhält. Diese Soziale Arbeit darf nicht<br />

in den hier beschriebenen Fehler der punitiven<br />

Pädagogik verfallen und ebenfalls so tun, als<br />

36 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 37<br />

Literatur<br />

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schen statt Mauern. Ein Konzept auf dem Prüf-<br />

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Eckpunktepapier des Arbeitskreises Jugend<br />

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S. 331-340.<br />

Freie und Hansestadt Hamburg. (2002). Senats-<br />

drucksache Nr. 2002/ 1002: Geschlossene Un-<br />

terbringung für Minderjährige bei Kindeswohl-<br />

gefährdung durch die Begehung von Straftaten<br />

in wiederholten oder gravierenden einzelnen<br />

Fällen und Maßnahmen der Jugendhilfe zur<br />

Stärkung der Erziehungsverantwortung der<br />

Eltern. Hamburg.<br />

Gruppe Blauer Montag. (2003). Arbeitskraftun-<br />

ternehmer, Ich-AG und „aktivierender Sozial-<br />

staat“. Hamburg: Manuskript.<br />

ob sie Kriminalität verhindern könnte, wenn sie historische nur genügend Ressourcen hätte. Es ist für sie<br />

zwar höchst bedauerlich, dass politische Ent-<br />

scheidungen zunehmend polizeiliche und ord-<br />

nungspolitische Maßnahmen zu ihrem Nachteil<br />

stützen. Sie kann sich gegen die damit verbun-<br />

denen Zumutungen aber nur wehren, wenn sie<br />

deutlich macht, dass sie stets der ernsthafte<br />

Versuch ist, die Probleme der Jugendlichen<br />

mit der Gesellschaft und die Schwierigkeiten<br />

der Gesellschaft mit den Jugendlichen zwar<br />

zu bearbeiten, aber wohl kaum zu lösen. Zu<br />

ihrer Ernsthaftigkeit gehört es auch, dass sie<br />

sich offen zu ihren begrenzten Möglichkeiten<br />

bekennt. Sie sollte keine unhaltbaren Verspre-<br />

chungen machen, wie sie von politischer Seite,<br />

aber zum Teil auch von interessieren Pädago-<br />

gen – oder besser: Managerialisten - im Zusam-<br />

menhang mit der absehbaren Renaissance der<br />

Straf-Heime in den Raum gestellt werden.<br />

und aktuelle 6historische diskurse<br />

,<br />

historische


diskurseHalfar, B. diskurseIn Otto, historische chehistorische und aktuelle diskurse<br />

Halfar, B. (2001). Finanzierung Sozialer Arbeit.<br />

In Otto, H.-U. & Thiersch, H. (Hg.), op.cit (S.<br />

540-547).<br />

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Sieben Blicke auf Geschichte und Gegenwart<br />

Sozialer Arbeit (Bd. 1 und 2). Bielefeld: Kleine<br />

Verlag.<br />

Kunstreich, T. & Lindenberg, M. (2002). Die Tan-<br />

talus-Situation. Soziale Arbeit mit Ausgegrenz-<br />

ten. In W. Thole (Hg.), Grundriss Soziale Arbeit.<br />

Ein einführendes Handbuch (S. 349-366). Opla-<br />

den: Leske und Budrich.<br />

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frage Juni 2000: Einrichtungen der Jugendhilfe,<br />

die geschlossene Unterbringung durchführen.<br />

Saarbrücken: Manuskript.<br />

Lindenberg, M. (2002). Geschlossene Unter-<br />

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Kommentar zur Wiedereinführung der ge-<br />

schlossenen Unterbringung in Hamburg. Wi-<br />

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Lindenberg, M. (Hg.). (2000). Von der Sorge zur<br />

Härte. Kritische Beiträge zur Ökonomisierung<br />

Sozialer Arbeit. Bielefeld: Kleine Verlag.<br />

Otto, H. U. & Thiersch, H. (2001) (2., völlig neu<br />

überarbeitete Auflage). Handbuch Sozialarbeit<br />

Sozialpädagogik. Neuwied & Kriftel: Luchter-<br />

hand.<br />

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Karrieren. Die Kommerzialisierung der Sozialen<br />

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on. In M. Lindenberg (Hg.), op.cit (S. 153-163).<br />

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Ziegler, H. (2001). Prävention - Vom Formen des<br />

Guten zum Lenken des Freien. In: Widersprü-<br />

, 79, S. 7-24.<br />

1 Der aktivierende Staat wird im Leitbild der<br />

Bundesregierung folgendermaßen definiert<br />

„Der aktivierende Staat bedeutet eine neue<br />

Verantwortungsteilung zwischen Bürger und<br />

Staat. Eigeninitiative und Freiraum werden<br />

stärker gefördert. Natürlich bleibt der Staat<br />

weiter verpflichtet, für individuelle Freiheit und<br />

Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen.<br />

Das gilt zum Beispiel für Innere Sicherheit,<br />

Rechtsschutz und die Finanzverwaltung. Aber<br />

in vielen anderen Bereichen müssen öffentliche<br />

Aufgaben nicht unbedingt direkt von staatlichen<br />

Organen wahrgenommen werden, zum<br />

Beispiel in Dienstleistungsbereichen wie Post,<br />

Kommunikation und Verkehr. Hier kann sich der<br />

Staat darauf beschränken, den Rahmen festzulegen.<br />

Bei Konflikten tritt er als Moderator auf,<br />

mit dem Ziel, mehr Freiraum für gesellschaftliches<br />

Engagement zu schaffen. So aktiviert<br />

der Staat gesellschaftliche Verantwortung.“<br />

(www.staat-modern.de/programm)<br />

Dr. Michael Lindenberg<br />

Ev. Fachhochschule des Rauhen Hauses<br />

Horner Weg 170<br />

D-22111 Hamburg<br />

e-mail: mlindenberg@rauheshaus.de<br />

Helga Cremer-Schäfer<br />

Die „gefährliche und gefährdete Jugend“. Über öffentliche Debatten und was<br />

wir zu beachten haben, wenn sie gerade nicht stattfinden.<br />

Hochkonjunkturen und das Versickern aufgeregter<br />

Debatten der Öffentlichkeit über gerade<br />

herrschende gesellschaftliche Zustände gehören<br />

zu unseren vertrauten Erfahrungen. Die<br />

Klage oder die Entrüstung über den Zustand<br />

„der Jugend“ zeigt sich als ein Vorgang, in<br />

dem bestimmt wird, wer unter welchen Bedingungen<br />

an Gesellschaft (den gesellschaftlich<br />

erzeugten Ressourcen) partizipieren soll und<br />

für wen dabei wer welche Grenzen setzen<br />

kann. Die bisher letzte Konjunktur der Debatte<br />

über eine „gewaltbereite Jugend“ und die Entrüstung<br />

darüber, dass „Die Täter immer mehr.<br />

Immer jünger. Immer brutaler“ werden, nahm<br />

schon fast den Charakter einer „langen Welle“<br />

an, als sie 1999 doch recht abrupt ein (wahrscheinlich<br />

vorläufiges) Ende fand. Die Nicht-<br />

Thematisierung einer „gefährlichen Jugend“<br />

bedeutet nicht zu jeder Zeit einen Fortschritt<br />

an Aufgeklärtheit der Akteure, die sie üblicherweise<br />

betreiben und der Akteure, denen Kampagnen<br />

gerade recht kommen. Es kann schlicht<br />

sein, dass Jugend als Projektionsfläche für Ordnungsphantasien<br />

gerade nicht gebraucht wird.<br />

Für die Darstellung von herrschender Moral,<br />

von Grenzen der Freiheit und der Zugehörigkeit<br />

können auch andere „Krisen“ auf die Agenda<br />

gesetzt werden. Die öffentliche Propagierung,<br />

dass wir alle nur als hochflexible „Arbeitskraftunternehmer“<br />

gebraucht werden, dass wir uns<br />

nicht zu beklagen brauchen, wenn wir uns den<br />

Markt-Verhältnissen nicht anpassen und dann<br />

zu den „Verlierern“ und „Überflüssigen“ zählen<br />

und im Übrigen die Lohnarbeits- und Lebensrisiken<br />

„selbstverantwortlich“ zu bewältigen<br />

haben, genügt als Begründung dessen, was an<br />

Veränderungen des „impliziten Gesellschaftsvertrages“<br />

machtvoll durchgesetzt wurde und<br />

wird.<br />

Der Vortrag bezieht sich insofern auf ein – ausnahmsweise<br />

– nicht „aktuelles Thema“. Die<br />

vergangene Hochkonjunktur der Aufregung<br />

über eine „gefährliche Jugend“ hat im Vergleich<br />

zu früheren Debatten nicht nur viele<br />

Jahre angehalten, es wurden in deren Verlauf<br />

auch neue „Typen“ von Abweichlern und Etiketten<br />

entwickelt, die weit über die professio-<br />

nelle Ideologie der benevolenten Degradierung<br />

von „gefährlichen, doch sozial schwachen<br />

Gesellschaftsmitgliedern“ und der bekannten<br />

Strategie des „Pessimismus als pädagogische<br />

Triebkraft“ hinaus in die Richtung einer neu-<br />

en „Punitivität“ gingen. Damit nicht alle mit<br />

„neu“ erscheinenden Etiketten naiv in eine<br />

nächste Kampagne driften und um über die<br />

etablierte „Kultur der Punitivität“ aufzuklären,<br />

werde ich Debatten über die „gefährliche, weil<br />

gefährdete Jugend“ rekonstruieren.<br />

Exkurs über Punitivität:<br />

Mit Punitivität meine ich nicht einen neuerli-<br />

chen Trend zur „Kontrolle“ von Jugend bzw. zur<br />

Selbstkontrolle sozialer Akteure. Es geht viel-<br />

mehr um eine Politik, die Personen und Gruppen<br />

in Privilegierte und Diskriminierte aufspaltet,<br />

und die den letzteren Ressourcen verweigert,<br />

die unverzichtbar sind, um sich innerhalb ei-<br />

ner herrschenden Arbeits- und Lebensweise zu<br />

reproduzieren. Das Herstellen einer diskrimi-<br />

nierenden Ordnung wird darüber hinaus syste-<br />

matisch mit der Herrschaftstechnik der Strafe<br />

und mit Prozessen sozialer Ausschließung<br />

verbunden. Die Politik der Punitivität bedeu-<br />

tet mehr als Reglementierung, als Repression<br />

oder Kontrolle; vielmehr ist es die Übertragung<br />

der Logik von staatlicher, moralisch legitimier-<br />

ter Bestrafung und amoralisch durchgesetzer<br />

sozialer Ausschließung auf Vorgänge der Her-<br />

stellung von Ordnung und der Strukturierung<br />

von Gesellschaft. Die nach wie vor gültigen<br />

disziplinierenden Formen der Herstellung von<br />

Ordnung und von Vorgängen der „Sekundärin-<br />

tegration“, die durch Hilfe und Kontrolle ge-<br />

schieht, erhalten eine andere Bedeutung, weil<br />

nicht mehr alle als disziplinierte bzw. pazifizier-<br />

te Subjekte gebraucht werden. In einer „Kultur<br />

der Punitivität“ werden Disziplinierungs- und<br />

Kontrollprozesse nicht überflüssig, aber stärker<br />

mit Hierarchisierungen, mit Grenzziehungen<br />

und Selektionen verbunden. Wer „ohne Erfolg“<br />

bleibt, wer gar trotz Kontrolle „versagt“, dem<br />

werden Ressourcen entzogen. Gleichzeitig wird<br />

unterstellt, dass jeder, der will, sich auch aus<br />

Existenzschwierigkeiten herausarbeiten kann.<br />

Das Prinzip der Strafenpolitik in den USA wur-<br />

38 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 39<br />

historische und aktuelle diskurse


de mit der Metapher „Three strikes and you are<br />

out!“ charakterisiert. Im veränderten Kontext<br />

mutiert die „Spielregel“ der Sport-Veranstal-<br />

tung in eine soziale Drohung mit „Chancen“,<br />

die einem vorgegeben werden. Bei dreifachem<br />

Misserfolg kann sich keiner beklagen, er oder sie<br />

sind selbst an ihrem Schicksal schuld, weil sie<br />

(per Definition) eine „selbstverantwortliche Per-<br />

son“ sind. Das ist eine herrschaftlich gewendete<br />

Variante der bürgerlichen, kontrafaktischen<br />

Annahme der „Autonomie des Individuums“.<br />

Die Vermutung ist nicht unbegründet, dass in<br />

der (eventuell kurzen) Phase der Baisse der<br />

Entrüstung über die „gefährliche Jugend“<br />

eine weitere Möglichkeit versäumt wird, über<br />

„Kampagnenpolitik“ nachzudenken. Das Nach-<br />

denken braucht überhaupt nicht innovativ zu<br />

sein. Es steht inzwischen ein ziemlich fundier-<br />

tes Wissen über den Diskurs „gefährliche Ju-<br />

gend, gefährdete Jugend“ zur Verfügung. Die<br />

Geschichte von Wohlfahrtsstaaten (und insbe-<br />

sondere die des bundesdeutschen) könnte man<br />

auf eine interessante Weise als eine Geschich-<br />

te von öffentlichen Kampagnen schreiben, die<br />

eine „gefährliche, weil gefährdete Jugend“<br />

als eine gesellschaftliche Tatsache etablieren.<br />

Dass bei aller Rede von der Produktivkraft „Wis-<br />

sen“ das Wissen über solche Kampagnen er-<br />

folgreich für irrelevant erklärt wird, hängt nicht<br />

zuletzt damit zusammen, dass insbesondere<br />

helfende Professionen und erklärende Wissen-<br />

schaften sich damit ein Stück über ihre eigene<br />

Beteiligung an Kampagnenpolitik aufklären<br />

würden. Ebenso würde die Verankerung von<br />

Kampagnenpolitik im „strukturellen Populis-<br />

mus“ parlamentarischer Demokratien deutlich<br />

und könnte nicht mehr umstandslos nur dem<br />

Volksressentiment zugeschrieben werden. Zu-<br />

dem würde offengelegt, dass jeder „Ordnung“<br />

immer auch „überflüssige Herrschaft“ imma-<br />

nent ist und jede Ordnung deshalb, aufgrund<br />

innerer Widersprüche, eine ihr eigene „Dialek-<br />

tik“ impliziert. Jede Ordnung beruht auf Grenz-<br />

ziehung und schließt mit der Definition der<br />

Mitglieder „Nicht-Mitglieder“ aus ohne dass<br />

die „verhandelt“ würde. Das „Re-Odering“<br />

erzeugt Ausschließung von Personen, die es zu<br />

verdienen scheinen, dass ihnen der Status des<br />

„vollen“ Mitgliedes symbolisch und faktisch<br />

(wieder) aberkannt werden muss oder, wie bei<br />

Nachkömmlingen oder „Ankömmlingen“, noch<br />

nicht zuerkannt werden kann. Nach einem Akt<br />

diskursede mit historische und aktuelle diskurse<br />

von „Selbstaufklärung“ kann man nur unter<br />

erschwerten Bedingungen weitermachen wie<br />

bisher. Denn ein bisschen reflexiv sein, das<br />

geht nicht. – Vielleicht haben wir auch deshalb<br />

keine Geschichte der Entrüstungen über „die<br />

Jugend heute“.<br />

Disziplinierung und ein selbstreflexiver Umgang<br />

damit. Ein kurzes Wort zum Verhältnis<br />

von Disziplinierung und Befreiungen davon<br />

Wer heute gute 50 bis 60 Jahre alt ist, zählt zu<br />

einer Generation mit einer historisch spezifischen<br />

Erfahrung, was den Zusammenhang von<br />

Herrschaft und Fortschritt anbelangt: Das war<br />

zunächst die Erfahrung der Verallgemeinerung<br />

einer „disziplinierten“ Lebens- und Arbeitsweise<br />

und deren Intensivierung als eine Bedingung<br />

von Partizipation an Bildungs-, Arbeits-,<br />

Konsum- und von Befreiungsmöglichkeiten. Ich<br />

will keine Vergangenheitsverklärung betreiben,<br />

aber man kann nicht zuletzt am „Jugendprotest“<br />

der 60er und 70er Jahre ablesen, dass<br />

und in welchen Grenzen in der „fordistischen“<br />

Phase der Entwicklung des Kapitalismus,<br />

im Kontext von „Konsum- und Freizeitgesellschaft“<br />

bzw. sich „modernisierender“ staatlicher<br />

Apparate, verschiedene Lebensentwürfe<br />

lebbar wurden, zwar nicht nur die bürgerliche<br />

und proletarische „Rechtschaffenheit“ eines<br />

„autoritären Charakters“. Die Verallgemeinerung<br />

und Durchsetzung von Disziplin bedeutete<br />

daher, bei allem notwendigen realistischen<br />

Pessimismus, nicht nur ein umfassendes institutionelles<br />

Kerker- und Kontrollnetz, sondern<br />

war ein Prozess mit Widersprüchen und Grenzen,<br />

nicht nur auf der ökonomischen, sondern<br />

auch auf der Seite der Herrschaftstechnologie<br />

„Disziplin“. Eine „klug beherrschte Disziplin“<br />

kann an manchen Orten noch entwickelt und<br />

zur Grundlage von Selbstaufklärung über<br />

verschiedene Formen von Zurichtungen und<br />

verdinglichendes Denken werden. Vielleicht<br />

sollte ich viel vorsichtiger formulieren. Teil und<br />

„Lohn“ für die Selbstdisziplinierung einer sich<br />

ziemlich ausweitenden „(aus)gebildeten Klasse“<br />

war eine Beteiligung an der Ausübung von<br />

Herrschaft in der Form von erziehenden, bildenden,<br />

rehabilitierenden Investitionen in die<br />

(künftige) Arbeitskraft, von herrschaftlich gewährter<br />

Hilfe, sanfter Kontrolle, erzieherischen<br />

Strafen etc. Nicht zuletzt der widersprüchliche<br />

Charakter dieser Herrschaftstechniken einer<br />

auf Selbstdisziplin zielenden Fremddisziplinierung<br />

und die ziemliche Ausweitung des<br />

Herrschaftspersonals (Herrschaftsarbeit als<br />

Lohnarbeit) ermöglichte einen reflektierteren<br />

Umgang mit der eigenen Diszipliniertheit und<br />

der Herrschaftsform, an der man darüber vielfach<br />

beteiligt ist. Ich will wieder nicht übertreiben<br />

mit der Hoffnung auf Reflektiertheit des<br />

Erziehungs-, Helfer-, Wissenschafts-Personals,<br />

aber es gibt doch noch einige, die sich eine<br />

distanzierte Position erhalten konnten. In eine<br />

distanzierte Position kann man kommen, weil<br />

man z.B. politisch oder durch Konkurrenz an einer<br />

eigenen Karriere und Biographie-Disziplin<br />

gehindert wurde oder aktuell daran gehindert<br />

wird. Im anderen (erfreulicheren Fall) beruht<br />

die Distanz auf einem Privileg (z.B. dem einer<br />

„autonomen Wissenschaft“), die im Inneren<br />

eine (gewisse) Unabhängigkeit begründet.<br />

Distanz und Entfremdung sind hilfreiche<br />

Ressourcen für das Nach-Denken über gesellschaftliche<br />

Ereignisse und über die Deutungen<br />

und Begriffe, mit denen verschiedene Akteure<br />

solche Ereignisse beschreiben.<br />

Als eine kleine Vorarbeit und Reflexivitätsübung<br />

habe ich versucht, eine Geschichte der<br />

Kampagnen um Jugend als eine „Gefahr“<br />

(heute sagen wir ein „Sicherheitsrisiko“) zu<br />

skizzieren und die Hochkonjunkturen in Bezug<br />

zu meiner eigenen Arbeits-Biographie im Feld<br />

von Wissenschaft zu setzen. Ich will damit zunächst<br />

einmal den „Nutzen“ charakterisieren,<br />

den man als Kopfarbeiterin von einer „halbstarken“,<br />

„wohlstandsverwahrlosten“, „kriminellen“<br />

und „gewaltbereiten“ Jugend haben<br />

konnte. Sichtbar werden auch Formen von<br />

„Entfremdung“, die durch die jeweilige Reaktion<br />

auf eine „gefährdete Jugend“ veranlasst<br />

wurden.<br />

Zur Bezeichnung öffentlicher Debatten um eine<br />

„gefährdete und gefährliche Jugend“ werde<br />

ich den Begriff der „Moral-Panik“ übernehmen.<br />

Er wurde von dem Sozialwissenschaftler Stanley<br />

Cohen (1987/1972) vorgeschlagen, um eine<br />

der wichtigsten öffentlichen Kampagnen der<br />

„Skandalisierung“ von Jugend, einer gleichzeitigen<br />

Entrüstung über und der Sorge um die<br />

Nachwachsenden, zu analysieren: Es waren<br />

die Mods und die Rocker, Teile einer Jugend,<br />

die sich zu Beginn der 60er Jahre gerade anschickte,<br />

eine „Bewegung“ zu werden. In der<br />

Einleitung seiner Analyse der Jugenddebatte<br />

der 60er Jahre in England schildert Cohen ei-<br />

nen spezifischen Lauf von Ereignissen, ein Set<br />

ei-historische von sozialen Akteuren und ein spezifisches<br />

Arrangement:<br />

„Gesellschaften scheinen von Zeit zu Zeit<br />

Perioden einer Moral-Panik ausgesetzt. Ein<br />

Zustand, eine Episode, eine Person oder eine<br />

Gruppe taucht auf, um als Bedrohung gesell-<br />

schaftlicher Werte und Interessen definiert<br />

zu werden. Die Natur des Ereignisses wird<br />

von Medien geformt und stereotypisiert, die<br />

moralischen Barrikaden durch Redakteure, Bi-<br />

schöfe, Politiker und rechtschaffen denkende<br />

Bürger besetzt. Experten für das Soziale und<br />

das Abweichende geben ihre Diagnosen ab<br />

und machen ihre Lösungsvorschläge. Reak-<br />

tionen auf die Vorgänge werden entwickelt<br />

und angewendet; daraufhin verschwinden<br />

die Zustände, sie werden erstickt oder sie ver-<br />

schlimmern sich und werden noch sichtbarer.<br />

Manchmal sind die Objekte der Panik relativ<br />

neu, manchmal schon alte Bekannte, die neu<br />

aus- und beleuchtet werden. Manchmal geht<br />

die Panik vorüber und wird vergessen, ausge-<br />

nommen als Teil von Folklore und kollektivem<br />

Gedächtnis; zu anderen Zeiten gibt es ein<br />

ernsthafteres Nachspiel und sie kann Verände-<br />

rungen in der (Straf-)Rechts und Sozialpolitik<br />

auslösen oder sogar das Selbstverständnis von<br />

Gesellschaft verändern.“ (Cohen 1987: 9; mei-<br />

ne Übersetzung)<br />

„Moral panics“ bearbeiten das jeweilige Gene-<br />

rationenverhältnis einer Gesellschaft. Was sich<br />

daran verändert hat oder verändern soll, wird<br />

dargestellt, indem öffentlich über ausgesuchte<br />

„folk devils“ diskutiert wird. Als Politik-Typus<br />

gehören Moral-Paniken zu den „symbolic po-<br />

litics“. Damit bezeichnete der Politikwissen-<br />

schaftler Murray Edelman (auch bereits in den<br />

70er Jahren) Strategien der „Politik-Darstellun-<br />

gen“. Es wird keine Problem-Politik gemacht,<br />

es werden „Werte“ beschworen (und damit<br />

mindesten hochgehalten), es wird die starke<br />

„Hand des Staates“ verbal demonstriert (und<br />

ein entsprechendes Handeln legitimiert). Mo-<br />

ral- und Politik-Darstellungen haben eine ge-<br />

wisse Neutralität gegenüber den jeweiligen<br />

Inhalten. Wert- und Moraldarstellungen kön-<br />

nen sich auf Pflicht-Moralen und Nutzen für<br />

Ordnungen beziehen oder auf Befreiungen der<br />

Individuen von Zumutungen. Der Staat (oder<br />

andere institutionelle Akteure bzw. soziale Be-<br />

40 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 41<br />

historische und aktuelle diskurse


wegungen) kann sich als ein „autoritärer oder<br />

demokratischer Staat“ (Franz Neumann) dar-<br />

stellen. Bei Moral-Paniken haben wir also sorg-<br />

fältig zu fragen, wann geht das einigermaßen<br />

ohne Folgen für die Situation von Jugendlichen<br />

ab, wann werden schwierigen Situationen (ins-<br />

besondere solche sozialer Ausschließung, aber<br />

auch solche der Intensivierung einer „integrie-<br />

renden“ Disziplinierung) durch Verweigerung<br />

intellektuellen Verstehens noch schwieriger<br />

für junge Leute? Können wir uns darauf ver-<br />

lassen, dass die Chancen für Entdramatisie-<br />

rung und Dramatisierung gleichverteilt sind?<br />

Ungefähr jedenfalls? Wie kommen wir auf den<br />

Gedanken, dass Drohung mit einer undiszipli-<br />

nierten, einer brutalisierten, einer normlosen<br />

Jugend als eine Werbung gelesen wird, dieser<br />

Jugend neue Freiheiten zu ermöglichen, Bil-<br />

dungsmöglichkeiten zu eröffnen, für ihr Dasein<br />

zu sorgen – oder doch wenigstens in sie zu<br />

„investieren“? Was garantiert, dass es keine<br />

law-and-order-Kampagne, dass es keine Aus-<br />

schluß-Propaganda für Teile der Jugend wird,<br />

die Feindbilder erzeugt oder mit vorhandenen<br />

Feindbildern arbeitet. Wann eskaliert die nicht<br />

mehr „symbolische“ Reaktion in Richtung „Pu-<br />

nitivität“?<br />

Mit einer gewissen Verzweiflung und Re-<br />

spektlosigkeit hat in den 80er Jahren Katha-<br />

rina Rutschky auf eine „in der Pädagogik seit<br />

altersher angewandte und grundlegende<br />

Technik“ hingewiesen, eine Technik, „mit<br />

Greuelmeldungen über den Zustand der Welt,<br />

der Jugend und der Kinder einen Handlungs-<br />

bedarf zu erzeugen, den sie (die Pädagogik)<br />

dann –die anderen sind ja vor Schrecken wie<br />

gelähmt- gern befriedigt.“ (Rutschky 1987:85)<br />

Die Lösung liegt in „Erziehung“, was immer<br />

historisch und praktisch in einer jeweiligen<br />

Herrschaftsordnung damit gemeint war. Diese<br />

Technik nennt Rutschky „Pessimismus als eine<br />

pädagogische Triebkraft“. Ich weiß nicht ge-<br />

nau, ob es für die Pädagogik eine gewisse Eh-<br />

renrettung darstellt, dass andere Professionen<br />

und wissenschaftliche Disziplinen bzw. soziale<br />

Bewegungen diese Technik ebenfalls ange-<br />

wendet haben und sogar der Wohlfahrtsstaat<br />

durch „Pessimismus als sozial-reformerische<br />

Triebkraft“ abgesichert wurde. Wie auch im-<br />

mer, zumindest gibt es im Feld von Erziehung<br />

und Fürsorge eine ziemlich lange Übung in die-<br />

ser Technik, man braucht nur an die Geschich-<br />

diskursewegungen) historische und aktuelle diskurse<br />

te der Verwahrlosungsdiagnosen zu denken.<br />

„Erfahrungen“ mit den Folgen dieser Technik<br />

wurden allerdings kaum tradiert (abgesehen<br />

von der einen oder anderen „Flaschenpost“).<br />

Das Wissen um die Dynamik des Pessimismus<br />

als pädagogische/reformerische Triebkraft<br />

blieb ziemlich erfolgreich neutralisiert: immer<br />

wieder schnell vergessen. „Dynamik“ klingt<br />

ziemlich neutral dafür, wie sich der Pessimismus<br />

als pädagogische oder sozialreformerische<br />

Triebkraft entwickeln und benutzen ließ. Die<br />

Transformation des Verwahrlosungskonzeptes<br />

von der Befürchtung, dass Menschen ohne<br />

Bewahrung weder „tüchtig“ noch „moralisch“<br />

werden können, zur Diagnose von „Verwahrlosung“<br />

als einer Eigenschaft der Person, zur<br />

Definition von „Asozialität“ als „Artung“ von<br />

„Rechtsbrechern“ und schließlich ein sichtbares<br />

Zeichen der „Gemeinschaftsfremden“ zeigt<br />

die Ausschlußdynamik dieses Pessimismus<br />

eigentlich sehr deutlich. Auch wenn das 10.<br />

Schuljahr, obwohl mit Dekadenztheorien begründet,<br />

eingeführt wurde, und die „Gewalt an<br />

der Schule“ mehr Jugendarbeit ins Gespräch<br />

gebracht hat, auch wenn „kriminelle Straßenkinder“<br />

Streetworker mobilisieren konnten und<br />

„Jugendgangs“ durch Mitternachtssport präventiv<br />

begegnet wurde – Moral-Paniken bleiben<br />

gefährlich. Auch in modernisierter Sprache<br />

und bei einem wohlfahrtsstaatlichen Kontext<br />

bleibt die Ausschlusstendenz erhalten, weil<br />

Moral-Paniken über Degenerations-Theorien,<br />

über Theorien einer gesellschaftlich erzeugte<br />

„Unzivilisiertheit“ betrieben werden. Das unterscheidet<br />

die „moralische Entrüstung“ über<br />

Abweichler der „Moral-Unternehmer“ (Becker<br />

1973) von der „moralischen Empörung über<br />

Ungerechtigkeit“, die von (manchen) sozialen<br />

Bewegungen artikuliert wird.<br />

Bei der Kontinuität von Moral-Paniken lernt<br />

man einerseits Lachen, wie Rutschky zurecht<br />

betont. Man lernt aber auch, wie einfach Tatsachen<br />

(„Wellen von Gewalt“) hergestellt werden,<br />

was alles geglaubt und welches Wissen<br />

(oder besser Unsinn) verbreitet wird, wenn der<br />

„Quelle“ nur Autorität zugeschrieben wird. Es<br />

gibt einen Grund, sich immer wieder ernsthaft<br />

mit dem degradierend-moralisierenden Reden<br />

über Jugend zu befassen: Moral-Paniken sind<br />

gesellschaftliche Ereignisse, in denen Ideologien<br />

erzeugt und verbreitet werden. Das Wissen<br />

um diese „Ideologieproduktion mit Menschenopfern“<br />

(Heinz Steinert) ist eine notwendige<br />

(wenn auch nicht hinreichende) Ressource für<br />

Gegenstrategien. Ich will versuchen, dieses<br />

Wissen zur Sprache zu bringen, indem ich eine<br />

ganz kurze Geschichte der Debatten über „die<br />

gefährliche und gefährdete Jugend“ rekonstruiere<br />

und die jeweiligen gesellschaftlichen<br />

Funktionen bzw. den sozioökonomischen bzw.<br />

politischen Kontext benenne.<br />

Eine ganz kurze Geschichte der Debatten<br />

über eine „gefährliche und gefährdete Jugend“<br />

In dem Alter, in dem ich wie andere Mädchen<br />

auch als ein „Teenager“ bezeichnet wurde (und<br />

mich selbst auch so bezeichnet habe), war gerade<br />

die Aufregung über die „halbstarke Jugend“<br />

am Abklingen. Die Entrüstung über die<br />

„Halbstarken“ in der zweiten Hälfte der 50er<br />

Jahre, bezog sich auf ihre „Ausschreitungen“<br />

in den städtischen Vergnügungsvierteln, auf<br />

„Großkrawalle“ als Begleitveranstaltung von<br />

Rockkonzerten, auf ihre Nutzung der Waren der<br />

Kultur- und Konsumgüterindustrie (gemeint<br />

war das ziellose Umherfahren mit Mopeds in<br />

einer „Horde“). Jugendliche, die die Ordnung<br />

störten, wurden auch von wohlwollenden<br />

Pädagogen in einem Vokabular beschrieben,<br />

das dem sozialrassistischen über den „Pöbel“<br />

wahlverwandt war und „den Arbeiter“ bzw.<br />

„den Jugendlichen“ als die „unzivilisierten<br />

Wilden“ typisierte. Und gegen eine „unzivilisierte“,<br />

„wilde“ Jugend waren allemal anständige<br />

Autoritätsverhältnisse zu restaurieren. Die<br />

Kosten dieses Redens über „Bedrohte Jugend<br />

– drohende Jugend“ hatten vor allem Jugendliche<br />

der „Unterschicht“ zu tragen. Die (bis heute)<br />

normale, klassenspezifische Kriminalisierung<br />

entwickelte sich in jener Phase zu einer<br />

„Kriminalisierungswelle“. Es gab keine Phase<br />

in der Bundesrepublik, in der mehr junge Leute<br />

in Gefängnisse und geschlossene Anstalten<br />

eingewiesen wurden als in der zweiten Hälfte<br />

der 70er. Sowohl die Moral-Panik wie die Kriminalisierungswelle<br />

können wir aus heutiger<br />

Distanz als ein „kulturelles Abwehrbündnis“<br />

beschreiben, gegen das die Arbeiterjugendlichen<br />

auch eine „Gegenmacht“ mobilisieren<br />

konnten, dass die „Welle“ nach einigen Jahren<br />

gebrochen wurde. Der Kulturwissenschaftler<br />

Kaspar Maase (1991) beschrieb die „vergebliche<br />

Kriminalisierung der Halbstarken“ als<br />

42 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 43<br />

einen Restaurationsversuch, der sich im „for-<br />

distischen“, auf Massenkonsum und Lohn-<br />

„for-historische arbeit beruhenden Kapitalismus nicht lange<br />

halten konnte. Er schrieb: „Bedrohte Jugend“<br />

– drohende Jugend“ hieß eine zeitgenössische<br />

Broschürenreihe. Bedrohlich schienen in ers-<br />

ter Linie vulgärer Materialismus und fehlende<br />

Moral der Arbeiterjugendlichen; in dem Maß,<br />

in dem sie über die Generationenschiene die<br />

Kinder der höheren Schichten ansprachen,<br />

wurde Jugend überhaupt zur Gefahr für die<br />

überkommenen Ordnungen. Das kulturelle<br />

Abwehrbündnis konnte die Masse der Arbei-<br />

ter-Eltern hege-monial einbeziehen – aber die<br />

Jugendlichen hatten die Kultur- und die Frei-<br />

zeitindustrie an ihrer Seite. (...) Züge popularen<br />

Geschmacks, „gewöhnlichen“ Verhaltens und<br />

„ungehemmter Genusssucht“ nahmen ihren<br />

Weg in den Alltag der Bundesbürgerinnen“<br />

(Maase 1991: 199f). Auch aufgrund dieses<br />

„Bündnisses“ konnte der latente Konflikt um<br />

die „repressive“, „vormoderne“ Kriminalisie-<br />

rungs- und Strafen-politik gegenüber der Ju-<br />

gend bessere gesellschaftliche Bedingungen<br />

finden, in Richtung eines liberalisierten und<br />

doch erziehenden Strafrecht gelöst zu wer-<br />

den. Im Feld von Jugend, Erziehung und Strafe<br />

konnten sich staatliche Apparate und Professi-<br />

onen als „liberale“ darstellen. Wobei die Gren-<br />

zen von „modernisierenden“ Reformen stets<br />

sichtbar blieben. Einige unserer Beiträge zu<br />

einer „Geschichte der Kriminalisierungs- und<br />

Strafenpolitik“ der zweiten Hälfte des 20. Jahr-<br />

hunderts haben Heinz Steinert und ich in dem<br />

Buch „Straflust und Repression“ zusammenge-<br />

stellt. (Cremer-Schäfer/Steinert )<br />

Ab 1966, dem Jahr meines Studienbeginns,<br />

konnte ich das Verhältnis von „Protest der<br />

studentischen Jugend und Reaktion“ recht<br />

unmittelbar erfahren. An der Reaktion auf die<br />

rebellischen Studenten, die mehrheitlich eine<br />

andere Klassenzugehörigkeit als die „Halbstar-<br />

ken“ hatten (von der aber nur in der Kategorie<br />

der „Schicht“ gesprochen wurde), wird der<br />

Doppelcharakter der institutionellen Reaktion<br />

bereits wesentlich deutlicher. Für „Rädels-<br />

führer“ und solche, die allzu radikal blieben<br />

oder wurden, bedeutete dies ein „autoritäres<br />

Zurückschlagen“. Doch allen, die bereit und<br />

in der Lage waren, sich Integration durch<br />

„Leistung“ zu verdienen und sich ein wenig zu<br />

mäßigen, wurden mit der „Konsum- und Freihistorische<br />

und aktuelle diskurse


zeitgesellschaft“ (nach und durch den Protest)<br />

auch andere Möglichkeiten eröffnet als die der<br />

politisch bleiernen „Wirtschaftswunder“- Zeit.<br />

Vom Beginn der 70er Jahre bis zur politischen<br />

Wende zu Beginn der 80er Jahre konnte man<br />

eine dauerhafte Hochkonjunktur öffentlicher<br />

Debatten erleben: über Jugendkriminalität,<br />

das Rockerunwesen, das Rauschgiftproblem,<br />

den Terrorismus, die Rowdys, die Hausbeset-<br />

zer, die Startbahngegner, die Chaoten (alles<br />

sollte in Anführungszeichen gesagt werden).<br />

Für mich selbst war diese Phase das, was<br />

man in der Wissenschaft „Assistenten-Zeit“<br />

nannte. Und als angehende Wissenschaftlerin<br />

hatte ich die Gelegenheit über die „Wellen der<br />

Jugendkriminalität“, die „Randgruppen“ oder<br />

die „Rocker“ und die „Gewalttäter“ nachzu-<br />

denken.<br />

Um Fragen (weshalb steigt die Jugendkrimi-<br />

nalität? Ist Jugend „wohlstandsverwahrlost“,<br />

„normlos“ und daher eine „Gefahr“) nicht naiv,<br />

sondern reflexiv zu beantworten, wurde und<br />

ist (mir) die Etikettierungsperspektive sehr<br />

nützlich. Denn, wie das Stanley Cohen aus-<br />

gedrückt hat, „action“ (die Handlungsweisen<br />

von Jugendlichen) wird in dieser Perspektive<br />

stets in ein Verhältnis zu öffentlichen und insti-<br />

tutionellen Formen von „reaction“ gesetzt. Die<br />

Handlung erhält ihre Bedeutung aus der Reak-<br />

tion, die darauf erfolgt bzw. erfolgen soll. Was<br />

an der Jugend gefährlich, was „kriminell“ ist,<br />

ist keine Qualität der Handlung. „Jugendkri-<br />

minalität“ oder „Jugendgewalt“ sind Be- und<br />

Verurteilungen von Handlungen bzw. sozialen<br />

Gruppen. Und dass dies so und nicht anders<br />

thematisiert wird, sagt etwas über einen Konf-<br />

likt aus. Reaktion und Kategorisierung (Etiket-<br />

ten) geben einen Korridor vor, wie mit einem<br />

Konflikt umgegangen werden soll bzw. kann.<br />

An Kampagnen wird sichtbar, ob ein Konflikt<br />

pragmatisch mit Beteiligung von Jugend (oder<br />

anderer „Outsider“, wie es damals hieß) und<br />

durch Kompromissbildung reguliert werden<br />

kann oder ob machtvoll gegen (einen Teil der)<br />

Jugend entschieden wird, sei es auf einer<br />

symbolischen Ebene oder, folgenreicher, auf<br />

der Ebene des „Grenzen Setzens“. Das kann<br />

Disziplinierung und Kontrolle heißen oder in<br />

Richtung Ausschließung und Strafe gehen.<br />

Wenn man unter dieser Konflikt-Perspektive<br />

die „großen“ Kampagnen (wie die um die Ter-<br />

roristen, ihre Sympathisanten und geistigen<br />

diskursezeitgesellschaft“ historische und aktuelle diskurse<br />

Wegbereiter) und die Vielzahl der gleichzeitigen<br />

und anschließenden „kleineren“ Moral-Paniken<br />

rekonstruiert, lässt sich folgendes über<br />

„Deutungen, Kampagnen und Widersprüche“<br />

dieser Zeit festhalten: In den späten 60ern und<br />

vor allem den 70ern wurde im Reden (und auch<br />

auf der Ebene der Drogen- und Terrorismusgesetzgebung)<br />

reichlich kriminalisiert. Die Funktion<br />

der Kampagnen lag in der Produktion und<br />

Verbreitung von „Feindbildern“, die die Politik<br />

der inneren Sicherheit gegen Teile der sozialen<br />

Bewegungen begleitete und legitimierte. Am<br />

offensichtlichsten richteten sich Kampagnen<br />

gegen den linken Terrorismus und die Drogendealer,<br />

die aber beide ihre jüngeren Geschwister<br />

hatten. Den Topos „die Täter werden immer<br />

mehr, immer jünger und brutaler“ konnte man<br />

in den Medien bereits 1972 finden. (vgl. Cremer-Schäfer<br />

2000/1998)<br />

Trotz der Politik der inneren Sicherheit, die<br />

an die „Feindbildkampagnen“ gebunden war,<br />

muss man bei Jugendlichen auf der Ebene der<br />

institutionellen Reaktion dieser Phase auch<br />

eine andere Entwicklung festhalten. Im Reden<br />

wurde kriminalisiert, die institutionellen Reaktionen<br />

entpönalisierten und pädagogisierten<br />

sich dagegen. Die Kontrolle insgesamt wurde<br />

„sanfter“ und disziplinierender, sie formierte<br />

und integrierte. Dass der in den 50er und 60er<br />

Jahren auch mit polizeilichen Mitteln und strafrechtlicher<br />

Kontrolle ausgetragene Generationenkonflikt<br />

ein Stück von nachkommenden<br />

Generationen gewonnen wurde, zeigt nicht<br />

zuletzt die Veränderung der ausschließenden<br />

Formen der Jugendkontrolle (Jugendstrafe,<br />

Fürsorgeerziehung) in dieser recht langen<br />

Hochkonjunktur von Moral-Paniken. Der gedoppelte<br />

Umgang mit „gefährlichen Jugendlichen“,<br />

kriminalisierendes Reden einerseits, Rationalisierung<br />

der Reaktion in Richtung einer<br />

Disziplinierung durch Hilfe und Qualifizierung<br />

andererseits, demonstriert aber auch, dass die<br />

befreienden Initiativen (nicht nur, aber auch)<br />

der Jugend abgestoppt wurden.<br />

Ein Teil der Wissenschaft hat die Kampagnenpolitik<br />

der 70er und 80er Jahre gründlich<br />

wissenschaftlich analysiert. Die „Kritische Kriminologie“<br />

(die aber faktisch eine Sozialwissenschaft<br />

war und noch nicht der Strafrechtswissenschaft<br />

untergeordnet) der 70er und 80er<br />

Jahre bestand zu einem guten Teil darin, die<br />

soziale und politische Selektivität von Kriminalisierung<br />

und staatlichem Strafrecht empirisch<br />

zu belegen. Im Kontext von Herrschaftssoziologie,<br />

von Sozialtheorie und kritischer Gesellschaftstheorie<br />

wurde die Wahlverwandtschaft<br />

von Moral-Kampagnen, law-and-order-Kampagnen<br />

und Formen von Propaganda unübersehbar.<br />

Ich gestehe, dass ich doch überrascht war, wie<br />

schnell dieses wissenschaftliche Wissen in<br />

den 90er Jahren in der Institution Wissenschaft<br />

vergessen wurde, die sich gerade noch intensiv<br />

mit der „Politik der inneren Sicherheit“, mit den<br />

Funktionen von Kriminalisierung, von Feindbildern<br />

und von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen<br />

(„Stigmatisierung“) beschäftigt<br />

hatten. Retrospektiv haben wir zur Kenntnis zu<br />

nehmen, dass Wissen als Kritik aktiv nicht zur<br />

Kenntnis genommen worden war, zumindest<br />

keine „Nachhaltigkeit“ zugebilligt bekam. Die<br />

Kampagnen der 90er Jahre über „Jugendgewalt“,<br />

„Ausländerkriminalität“, „Kinderkriminalität“,<br />

„Gewalt in der Schule“, „Straßenraub“,<br />

„Streetgangs“ wurden jedenfalls wesentlich<br />

stärker als zuvor unter Beteiligung von<br />

Fachleuten, Expertinnen und Wissenschaftlern<br />

geführt. Insbesondere hat sich „Kriminologie“<br />

in der neuen Form einer Wissenschaft vom<br />

„sozialen Delinquenten“ und den „soziale<br />

Problemen“, die diesen erzeugen, wieder als<br />

eine eigene Spezial- und Kontrollwissenschaft<br />

etablieren können. (Der „soziale Delinquent“<br />

geht übrigens ebenso auf Cesare Lombroso zurück<br />

wie der „geborene Verbrecher“.) Medien<br />

könnten ohne diese Wissenschaft vom „heteronomen<br />

Verbrecher“ und ohne die Ursachen-Erklärung<br />

der wissenschaftlichen „primären Definierer“<br />

kein „Problem“ auf die Tagesordnung<br />

der Öffentlichkeit bringen. Ebenso wenig wäre<br />

eine „Gefahr“ oder „Gefährdung“ zu benennen<br />

und „notwendige“ bzw. „legitime“ Reaktionen<br />

zu diskutieren.<br />

Diese Beteiligung von Experten und –Expertinnen<br />

wirkte nicht nur „aufklärend“. Es sei<br />

denn in der Hinsicht, dass insbesondere mit<br />

der Suche nach den „sozialen Ursachen“ von<br />

Delinquenz und Verbrechen viel Material entstand,<br />

an dem die Strukturen, Techniken und<br />

Funktionen solcher Diskurse deutlich gemacht<br />

werden konnten. Hier kann ich eine letzte<br />

arbeitsbiographische Anmerkung machen:<br />

Es gab viele Gelegenheiten, den Akteuren<br />

von Moral-Paniken zurückzuspiegeln, was in<br />

Sozialpädagogik und Öffentlichkeit<br />

Die „Öffentlichkeit“ ist für die Institution „Sozi-<br />

alpädagogik“ ein traditionell ambivalentes Feld.<br />

Es gilt den Professionellen als selbstverständ-<br />

lich, dass die Ressourcen für die Adressaten<br />

(und die Bezahlung der eigenen Arbeitskraft)<br />

konkurrierenden Verwendungen abgerungen<br />

werden muss. Wohlfahrtsstaatliche Regulati-<br />

on folgt dem Prinzip, dass hauptsächlich das,<br />

was zu einer ökonomischen oder politischen<br />

Dysfunktion führt, durch Intervention zu regu-<br />

lieren ist. Beseitigung von „Ungerechtigkeit“<br />

oder gar die Absicherung individueller Repro-<br />

duktion und Selbstbestimmung sind allenfalls<br />

nachrangig in die institutionelle Struktur ein-<br />

geschrieben. Da weder die Klientel der Hilfein-<br />

44 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 45<br />

solchen Kampagnen über „soziale Sprengsät-<br />

Sprengsät-historische ze“ und „gesellschaftliche „Brutstätten von<br />

Gewalt und Kriminalität“ vor sich geht, wie<br />

Gewalt- und Kriminalitätswellen gemacht<br />

werden, wie die Typen des „jugendlichen An-<br />

greifers“, des „brutalisierten Gewalttäters“,<br />

des „zerstörerischen Fremden“, des „Intensiv-<br />

täters“, des „jungen Mehrfachauffälligen“, der<br />

„pädagogisch nicht Erreichbaren“ konstruiert<br />

wurden und für welchen Zweck das geschieht,<br />

welche Folgen es für die Etikettierten hat, und<br />

welche Folge für die soziale Kategorie, der sie<br />

zugehören. Das mag „die Jugend“ sein, meist<br />

wird aber schnell ein Teil herausgegriffen: „die<br />

Ausländer“, „die Modernisierungsverlierer“<br />

etc. Mir scheint, dass mit einem gewissen Ab-<br />

flauen der Entrüstung über kriminelle Kinder<br />

und gewaltbereite Jugend oder Modernisie-<br />

rungsverlierer bei einem Teil der Akteure die<br />

Nützlichkeit und die Folgen solcher Moral-Pani-<br />

ken überdacht werden. Haben die „Dramatisie-<br />

rer“ vielleicht „übertrieben“? Sollten wir nicht<br />

fragen, ob es überhaupt um etwas anderes<br />

ging als „Integration“?<br />

Die „Typen“, wenn wir sie uns etwas genauer<br />

ansehen, haben ja tatsächlich weniger etwas<br />

mit dem „Pessimismus als pädagogische Trieb-<br />

kraft“ gemein, den Katharina Rutschky als eine<br />

notwenige professionelle Ideologie des päda-<br />

gogischen Personals geschildert hat, als mit<br />

Feindbildproduktionen und der gesellschaftli-<br />

chen Praxis des „Fremdmachens“ zum Zweck<br />

der Ausschließung, mindestens zum Zweck<br />

der Bestimmung der Ausnahmen von Zugehö-<br />

rigkeit und „Förderungswürdigkeit“.<br />

historische und aktuelle diskurse


stitutionen noch deren Professionelle auf eine<br />

direkte Lobby zurückgreifen können, bleibt den<br />

„fürsprechenden Professionellen“ nur der Weg<br />

über das öffentliche „Skandalisieren“ eines<br />

„Problems“. Das Skandalisieren nimmt nach<br />

allen Beobachtungen schneller als z.B. im Fall<br />

sozialer Bewegungen, die „moralische Empö-<br />

rung über Ungerechtigkeit“ artikulieren, die<br />

Form der Warnung vor einer „Problemgruppe“<br />

an, die zu einer Gefahr für die Ordnung werden<br />

kann. Aber was steht denn einer „gefährlichen<br />

Jugend“ zu?<br />

Öffentliche Diskurse über Probleme, Konflikte<br />

und Adressaten von Sozialpädagogik aner-<br />

kennen oder verweigern die institutionelle<br />

Zuordnungen von Problemen, Konflikten und<br />

Adressaten. Sie organisieren einen Rahmen für<br />

die Zuteilung oder den Entzug von materiellen<br />

und immateriellen Ressourcen. Vor allem wird<br />

kanalisiert, in welcher Perspektive eine „sozia-<br />

le Arbeit“ erfolgen kann: Wird Sozialpädagogik<br />

in das traditionelle Geschäft einbezogen, die<br />

‚Dropouts‘ von Familie, Arbeitsmarkt, Schule,<br />

Sozialversicherungssystem, medizinischer Ver-<br />

sorgung und dem privaten Psychosektor noch<br />

einmal auf ihre „sekundäre Integrationsfähig-<br />

keit“ zu testen, sie erneut zu klassifizieren und<br />

die verlorenen Fälle mit Recht als „pädagogisch<br />

nicht erreichbar“ auszuschließen? Oder kann<br />

sie Widersprüche nutzen und unterschiedliche<br />

Lebensformen und Bewältigungsstrategien<br />

(nicht nur) von jungen Leuten stützen und sie<br />

(wenigsten vorläufig) nicht zum Identisch-Wer-<br />

den mit einem Leitbild zu bringen oder dazu<br />

zu zwingen. Ob die Spannung bestehen bleibt<br />

bzw. nach welcher Seite sich der Schwerpunkt<br />

und die Grenzen der Sozialen Arbeit verschie-<br />

ben, wird nicht allein fachlich, sondern in der<br />

Konkurrenz mit anderen Akteuren und Interes-<br />

sen entschieden.<br />

diskursestitutionen historische und aktuelle diskurse<br />

Jugend-Diskurse als Politik-Ressource. Für<br />

welche Politik und zu wessen Nutzen?<br />

Eines der wichtigsten Muster der „Öffentlich-<br />

keitsarbeit“ von Sozialpädagogik bestand und<br />

besteht in der Praxis einer „doppelten Beschrei-<br />

bung“. Sozialpädagogisches Wissen setzt „Ver-<br />

halten und Verhältnisse“ in Beziehung. Die<br />

Systematisierung dieses Wissens war verbun-<br />

den mit der gesellschaftlichen Funktion und<br />

den Praktiken der Institution. Zum „Klientel“<br />

von Fürsorge und Sozialpädagogik wurden die<br />

Gruppen, die auf Dauer oder Zeit von zentralen<br />

Institutionen (Arbeitsmarkt, Privateigentum,<br />

Familie) ausgeschlossen waren und sich daher<br />

in einer bürgerlichen, kapitalistisch organisierten<br />

Gesellschaft nicht selbst reproduzieren<br />

konnten. Aber selbst „Fürsorge-Erziehung“ als<br />

eine herrschaftlich gewährte Hilfe musste gegen<br />

Politiken sozialer Ausschließung durchgesetzt<br />

werden. Anlässlich einer Diskussion von<br />

„Modernitätsanforderungen und Traditionsbeständen“<br />

in der sozialen Arbeit schrieb Klaus<br />

Mollenhauer speziell zur Jugendhilfe: „Die<br />

sozialpolitischen Engpässe nötigen schon früh<br />

dazu, individuell erscheinende Problemlagen<br />

im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen<br />

und Bewegungen zu interpretieren (...) von den<br />

quasi-privaten Merkmalen der Beziehungen<br />

und ihren Störungen sich voranzuarbeiten zu<br />

meso- und makrosozialen Kontexten, vom ‚Verhalten‘<br />

zu den ‚Verhältnissen‘.“ (1992, S.110)<br />

Dieses Argumentationsmuster zielte auf die<br />

Begründung einer „kompensierenden“, die<br />

Klientel „einpassenden“ Intervention. Verhältnisse,<br />

die die Entwicklung (Tüchtigkeit/ Autonomie/<br />

Mündigkeit/ Persönlich keit/ Subjektivität)<br />

der nachwachsenden Generation „fördern“<br />

und/oder „schädigen“, bilden den Kern des<br />

wissenschaftlichen und des Experten-Wissens<br />

über Jugend.<br />

Daraus abgeleitete und Interventionen begründende<br />

bzw. einklagende Argumente<br />

unterscheiden sich in einem zentralen Punkt<br />

von politischen, auf „Befreiungen“ zielenden<br />

Reden, die von „Rechten“ des Einzelnen oder<br />

„Interessen“ von sozialen Akteuren ausgehen.<br />

Das Wissen über „Verhalten und Verhältnisse“<br />

fasst Konflikte mit der nachwachsenden Generation,<br />

Verschiedenheiten von Menschen,<br />

Formen des Leidens an Ordnungen und der<br />

Widerständigkeit gegen Herrschaft als „Störung<br />

von Ordnung“ und als „Abweichungen<br />

von Normen“ durch die einzelne Person. Dem<br />

Abweichler wird jedoch (anders als etwas im<br />

Strafrecht) kein moralischer Schuldvorwurf gemacht.<br />

Diese Kategorie wird als defekter und<br />

verformter, aber formbarer Mensch typisiert,<br />

der der Gesellschaft zurückgegeben werden<br />

kann, wenn er kunstfertig und im Rahmen einer<br />

hierarchischen, aber fürsorglichen Beziehung<br />

von oben nach unten erzogen und eingepasst<br />

würde. Das impliziert mindestens eine soziale<br />

Degradierung: wer die Ordnung stört und von<br />

der Norm abweicht, wird stets zu einem Objekt<br />

„legitimer“ Veränderungstechnik. Es ist nicht<br />

zufällig, dass Erving Goffman dieses Deutungsmuster<br />

als die Logik von „totalen Institutionen“<br />

identifiziert hat. Totale Institutionen<br />

„sind die Treibhäuser, in denen unsere Gesellschaft<br />

versucht, den Charakter von Menschen<br />

zu verändern. Jede dieser Anstalten ist ein<br />

natürliches Experiment, welches beweist, was<br />

mit dem Ich des Menschen angestellt werden<br />

kann.“ (Goffman 1971: 22) Der Klassiker weist<br />

uns nur wenige Seiten später darauf hin, dass<br />

der Zweck der Institution, die Veränderung des<br />

Charakters „nicht wirklich einen kulturellen<br />

Sieg“ meint (geschweige denn ihn herbeiführen<br />

kann). Die totale Institution organisiert ein<br />

Spannungsverhältnis zwischen „Drinnensein“<br />

und „Hinauskommen“, zwischen (innerer) Ausschließung<br />

und Einbeziehung (draußen).<br />

Goffman benutzte die Metapher des „Treibhauses“<br />

zur Charakterisierung einer „modernen“<br />

Institution. Zygmunt Bauman veranschaulicht<br />

eine Dimension des modernen (Ordnungs-)<br />

Denkens mit der Metapher vom „gesellschaftlichen<br />

Gartenbau“. Gesellschaft als Zusammenhang<br />

von Einzelnen ist ein ständig zu bearbeitendes<br />

Projekt, das nur Nutzpflanzen an dafür<br />

vorgesehen Stellen hervorbringen soll, keine<br />

Unkräuter, keine Gewächse im falschen Beet,<br />

keine ungeplanten Wucherungen, ungestutzte<br />

Pflanzen. Wenn in die Gesellschaft Menschen<br />

nachwachsen sollen, die Regeln einhalten und<br />

an ihren Plätzen bleiben, bedarf das der vorbeugenden<br />

Pflege der Nutzpflanzen, dem Zurechtstutzen<br />

der Gewächse, ebenso wie dem<br />

gelegentlichen Ausrupfen des Unkrautes.<br />

Der Topos von der „gefährdeten und gefährlichen<br />

Jugend“ war einer der bedeutsamsten,<br />

die dem sozialpädagogischen Wissen inhärente<br />

„doppelte Beschreibung“ in verschiedenen<br />

Öffentlichkeiten zu verbreiten. Die Abhängigkeit<br />

des Verhaltens von den Verhältnissen, die<br />

Determiniertheit des sozialen Delinquenten<br />

durch sein „Milieu“ war immer wieder und in<br />

der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts<br />

sogar eine vergleichsweise lange Zeit<br />

eine Ressource, Elemente des „Generationenvertrages“<br />

zu verschieben. Jugendliche als<br />

Menschen „in Entwicklung“ zu verstehen ist<br />

heute eine Selbstverständlichkeit. Dieses Verständnis<br />

ist im „Sozialpädagogischen Jahrhundert“<br />

nicht nur als Anspruch formuliert, son-<br />

dern in beträchtlichem Umfang auch errungen historische worden. Jugend wurde als ein geschützter und<br />

von den Rechten und Pflichten der Erwachse-<br />

nen ausgenommener Status institutionalisiert.<br />

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat<br />

sich das hierarchische Gefälle zwischen Eltern<br />

und Kindern verändert. Als Herrschaftsverhält-<br />

nis ist das zwischen den Generationen weniger<br />

„autoritär“ und mehr „sorgender“ geworden;<br />

das bedeutet aber keineswegs aber weniger<br />

Disziplinierung, sondern ein Formwandel. Mit<br />

dem gesamten Prozess verband und verbindet<br />

sich gelegentlich ein Unbehagen („Jugend-<br />

wahn“). Dass Jugendliche in ihrer „Persön-<br />

lichkeitsentwicklung“ Unterstützung erfahren<br />

sollten, wurde verrechtlicht, institutionalisiert<br />

und zum Gegenstand der Arbeit verschiedener<br />

Professionen. Monetäre und infrastrukturelle<br />

Leistungen für die nachwachsende Generation<br />

gehören zum Kernbereich sozialstaatlicher Auf-<br />

gaben. In einem Resümee dieser Entwicklung<br />

für Kinder weisen Honig, Leu, Nissen auch dar-<br />

auf hin, dass und wie eine Ambivalenz bear-<br />

beitet wird. Sie schreiben: „Es gibt wenige Be-<br />

reiche, in denen sich das. Jahrhundert so sehr<br />

als eine Epoche der Humanisierung begreift<br />

wie in seinen Leistungen für Kinder und in der<br />

Klage über sein Versagen gegenüber Kindern.“<br />

(1996: 9) – Hier wird ein für Jugend erprobtes<br />

Muster „verjüngt“. In einer Phase, in der „Kin-<br />

der“ in den Status von Jugend kommen sollen,<br />

wird uns das auf Jugend angewandete Muster<br />

klarer.<br />

Nun war gerade das 20. Jahrhundert keines-<br />

wegs nur eine Epoche von Humanisierung<br />

oder gar eine „libertäre“ Phase . Nach Welt-<br />

kriegen und Nationalsozialismus lässt sich<br />

gerade eine (kurze) Phase abgrenzen, in der<br />

die auf Mündigkeit und Selbstbestimmung<br />

zielenden und die disziplinierenden Elemente<br />

des bürgerlichen Jugendkonzeptes auch für<br />

andere „Jugenden“ in Geltung gesetzt wur-<br />

den. „Die Mädchen“ waren die letzten in der<br />

(kurzen) Reihe; ihnen soll, inzwischen gegen<br />

einen gesellschaftlichen Trend, immer noch<br />

mehr „Selbstbestimmung“ ermöglicht wer-<br />

den. Generell ist die Vorstellung von „Jugend<br />

als Krise“ oder „Innovationspotential“ ein in<br />

öffentlichen Diskursen zunehmend weniger<br />

verbreiteter Topos. Abweichungen und Stö-<br />

rungen werden selten durch den Hinweis auf<br />

„Adoleszenz“ normalisiert (und verstanden).<br />

46 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 47<br />

historische und aktuelle diskurse


diskurseUnd dass diskurse„Avantgarde“ historische und aktuelle diskurse<br />

Und dass in öffentlichen Diskursen Jugend als<br />

„Avantgarde“ gesellschaftlicher Entwicklung<br />

gilt, das habe ich lange nicht mehr gehört.<br />

Die Umsetzung von „lebenswerten, stabilen<br />

Verhältnissen, die es nicht zu Konflikten und<br />

Krisen kommen lassen“ (so formulierte dies der<br />

bundesdeutsche 8. Jugendbericht 1990), war<br />

und ist weiterhin verbunden mit spezifischen<br />

Jugend- und Kindheits-„Rhetoriken“, die Ab-<br />

weichungen von Jugend („unfertigen Men-<br />

schen“) und Kindheit („unschuldige Kinder“)<br />

als einen zu korrigierenden Defekt konzeptu-<br />

alisieren und somit eine Palette von erziehen-<br />

den, heilenden, disziplinierenden, helfenden,<br />

das Verhalten verändernden Interventionen<br />

legitimieren. Die wichtigsten Typen sind: Der<br />

junge Rebell, der jugendliche Delinquente, der<br />

benachteiligte Jugendliche, der kranke und<br />

schwache Jugendliche, das Opfer. (Die Typolo-<br />

gie lehnt sich an die „Kindheits-Rhetorik“ von<br />

Joel Best (1990) an.) Im Konkreten ist es nicht<br />

gleichgültig, welchen „Defekt“ die „gefährden-<br />

den“ Verhältnisse hervorbringen. „Gefährdun-<br />

gen“ sind nämlich nicht durch Diskriminierung<br />

und Ausschließung definiert, sondern durch<br />

Anomie im Sinn von „Normlosigkeit“, den<br />

Individuen fehlt das Korsett von Norm und<br />

(stets herrschaftlicher) Kontrolle. Insofern ist<br />

es logisch, dass der derzeitige Diskurs „ge-<br />

fährliche Jugend“ mit seiner Grundfigur, dem<br />

„Delinquenten“ arbeitet und nicht mit dem der<br />

„Sozialrebellen“.<br />

Sogar in guten Zeiten liegt der Demokratie<br />

ein „struktureller Populismus“ zugrunde: Po-<br />

litische Intervention kommt fast nur noch zu-<br />

stande, wenn ein „Skandal“ in der Form einer<br />

Bildungskatastrophe oder einer Gefahr für den<br />

Bürger und die Ordnung ausgerufen wird. „Un-<br />

gerechtigkeit“ entfaltet kaum mehr Wirkung.<br />

Das wissen auch Fachleute der Jugendhilfe<br />

und der Jugendforschung. Aber welches Bild<br />

führt zu welcher Politik? Skandalisierung von<br />

Ungerechtigkeit, die durch die Form des Wirt-<br />

schaftens, die Staatsform, die Lebensweise und<br />

die Herrschaftsverhältnisse erzeugt werden,<br />

legt andere Schlussfolgerungen nahe als eine<br />

„Gefährlichkeit“, die vom Menschen ausgeht.<br />

Der Diskurs über die „gefährliche Jugend“<br />

verwendet den oben beschriebenen „sozialpä-<br />

dagogischen“ Topos: den der „gefährdeten und<br />

gefährlichen Jugend“. D.h. es wird auf eine<br />

merkwürdige Weise das Ungerechtigkeitsthema<br />

mit dem der Gefährlichkeit verwirrt. Wer<br />

die Notwendigkeit von Reformen, „die soziale<br />

Gegensätze ausgleichen“, nicht aus sozialen<br />

Rechten von jungen Leuten ableitet, sondern in<br />

Aussicht stellt, dass damit ihre Disziplinlosigkeiten,<br />

Abweichungen und Gewalttätigkeiten<br />

verhindert würden, der praktiziert den „Pessimismus<br />

als pädagogische Triebkraft“ (Rutschky<br />

1987). Die Argumentationsweise degradiert<br />

eine Gruppe von Menschen in bezug auf ihre<br />

sozialen und moralischen Kompetenzen, um für<br />

sie etwas Gutes zu tun. Die Mahnung, mehr<br />

Gerechtigkeit, mehr Sozialarbeit und Sozialpolitik<br />

könnten Täter, die „immer jünger und<br />

brutaler“ werden, verhindern, enthält durchaus<br />

einen Erfahrungs-Kern. Die Vermutung<br />

ist nicht unbegründet, dass Diskriminierung<br />

und Ausschließung von der Teilhabe an gesellschaftlich<br />

produziertem Reichtum zu Protestbewegungen<br />

oder zu einem individuellen<br />

„Gegenschlag“ führen könnten. Der Ratschlag,<br />

(potentielle) Delinquente durch Reformen zu<br />

„bekämpfen“, richtet sich dementsprechend<br />

an die Mächtigen und den Herrschaftsapparat,<br />

sie sollten in ihrem eigenen Interesse die Zumutungen<br />

an Verzichtsleistungen der jungen<br />

Leute und Ungleichheit nicht übertreiben.<br />

Die Drohung, eine „gefährliche Klasse“ bzw.<br />

eine „gefährliche Generation“ könnte entstehen,<br />

kann vorhandene Reformtendenzen in<br />

Richtung einer Disziplinierung, die mit einem<br />

Versprechen von einem besseren Leben verbunden<br />

ist, gelegentlich verstärken. Ein Beispiel<br />

wären in der Tat die 70er Jahre und einige<br />

Reform-Nachzügler (wie das KJHG z.B.). Auch<br />

an den Vorhaben, die jetzt das Etikett „Prävention“<br />

erhalten, ist nicht alles verkehrt. Eine Politik,<br />

die sich gegen herrschende Tendenzen in<br />

Richtung mehr Partizipation entwickelt, kann<br />

sie nicht herbeiführen. Der Preis dieser Art<br />

von „Sozialanwaltschaft“ zeigt sich als hoch<br />

und muss von einem Teil der Jugend entrichtet<br />

werden. Von dem Teil, deren Bearbeitungsstrategien<br />

gesellschaftlicher Zumutungen (die die<br />

von Erziehungs- und Hilfeinstitutionen einschließt),<br />

nicht verstehbar gemacht werden.<br />

Mit und in den Kampagnen passiert etwas<br />

anderes als der „Pessimismus als reformerische<br />

Triebkraft“ es phantasiert. Ich habe an<br />

verschiedenen Teil-Kampagnen der 90er Jahre<br />

mit umfangreichem empirischem Material<br />

aus Printmedien und durch Vergleiche mit<br />

Kampagnen seit den 60er Jahren diese in der<br />

Geschichte sich wiederholenden Funktionen<br />

aufgezeigt. Das bezog sich generell auf (Un-<br />

)Sicherheitskampagnen, auf Gewalt, Gewalt in<br />

der Schule, auf Kinderkriminalität, Jugendkriminalität<br />

und die brutalisierten Mädchen; bei<br />

einem Teil der Arbeiten konnten offene Fragen<br />

am Ende der Kampagnen nochmals eingearbeitet<br />

werden. (Vgl. Cremer-Schäfer 1993, Cremer-<br />

Schäfer 2000/1992, Cremer-Schäfer 2000/1998,<br />

Cremer-Schäfer 2001, Cremer-Schäfer/Steinert<br />

1998) Im folgenden werde ich die Funktionen<br />

zusammenfassend benennen und versuchen,<br />

das neue Element der Kampagnen der 90er<br />

Jahre herauszuarbeiten.<br />

1. Die Artikulation von Unbehagen und sozialer<br />

Angst:<br />

Öffentliche, über Massenmedien vermittelte<br />

Debatten über Abweichler, Außenseiter und<br />

„Unmenschen“, über Kriminalität und Gewalt<br />

dienen generell dazu, öffentlich Unbehagen<br />

und soziale Angst über ökonomische und<br />

gesellschaftliche Entwicklungen zu artikulieren.<br />

Abweichung hat zudem den Vorteil der<br />

Unterhaltungsfunktion von Medien und dem<br />

Warencharakter dieses Mediums besonders<br />

gerecht zu werden. Indem gesellschaftliche<br />

Veränderungen bzw. soziale Angst am Thema<br />

„Kriminalität“ aufgehängt werden, findet eine<br />

„Verschiebung“ und ein Rationalitätsverlust<br />

der Diskussion statt.<br />

Das ist das Argument, sich nicht an Kampagnen<br />

zu beteiligen: Man kann in dieser Form<br />

nicht direkt über das sprechen, was<br />

an ge-<br />

sellschaftlichen Verhältnissen Unbehagen<br />

verursacht, sondern muss personalisierend<br />

darüber schreiben, wer<br />

Angst macht; genauer:<br />

wer zum Angst Machen benutzt wird. Soziale<br />

Angst ist ein hergestelltes soziales Gefühl.<br />

Über Kapitalismus, Ausschließung aus dem<br />

Arbeitsmarkt, über Konflikte um Teilhabe an<br />

gesellschaftlichen Ressourcen oder über politische<br />

Korruption, wirtschaftliche Konkurrenz<br />

und Ausbeutung braucht nicht direkt gesprochen<br />

zu werden, sie werden im Zusammenhang<br />

mit der Konstruktion einer bedrohlichen<br />

Generation von Kindern, Jugendlichen oder<br />

Ausländern z.B. als „Ellenbogengesellschaft“<br />

besungen. Verschieben und Projizieren als eine<br />

gesellschaftliche Praxis zielt auf Verkennen<br />

der eigenen Mitarbeit an einer „darwinstisch<br />

2. Die Personalisierung und Familialisierung<br />

gesellschaftlicher Konflikte:<br />

Wenn im Zusammenhang von „Kriminalität“<br />

über gesellschaftliche Verhältnisse in Form<br />

von „sozialen Problemen“ gesprochen (Ar-<br />

beitslosigkeit, Armut, verschärfte Konkurrenz)<br />

oder über die Zumutungen durch Institutionen<br />

(Schule, Markt, Medien) geklagt wird, ist nicht<br />

wirklich eine „Politisierung“ der Verhältnisse<br />

gemeint, d.h. Demokratisierung von Organi-<br />

sationen oder Reform von Strukturen. In äti-<br />

ologischen, in „Ursachentheorien“ führt die<br />

Diagnose, dass „etwas schief läuft in der Ge-<br />

sellschaft“, über eine Argumentationsschlaufe<br />

zurück zur Personalisierung des Problems. Die<br />

Theorie, dass „Normlosigkeit“ (konservative<br />

Version) oder „Ungerechtigkeit“ (liberale Ver-<br />

sion) „kriminelle Motive“ herausbildet, ist wis-<br />

senschaftlich erzeugt. Es mag paradox klingen,<br />

gerade durch die Darstellung von Theorien der<br />

„sozialen Ursachen“ als „Brutstätten der Moti-<br />

ve“ der Kriminalität bleibt die Aufmerksamkeit<br />

zuerst und wieder zuletzt an Personen hängen.<br />

Theorien der „sozialen Ursachen“ ermöglichen<br />

Vorgänge der Individualisierung. In medialen,<br />

auch für den Unterricht bestimmten Dokumen-<br />

tationen liest sich das dann so:<br />

„Wie Helden in US-Serien hauen sie drauf“<br />

Die Abwärtsspirale beginnt, wenn Eltern<br />

sich nicht um ihre Kinder kümmern.<br />

Der Katalog geht von A wie Arbeitslosigkeit bis<br />

Z wie Zappen. Die Faktoren, die Wissenschaft-<br />

ler und Praktiker als Ursache für kriminelles<br />

Verhalten anführen erreichen eine stattliche<br />

Zahl. Wenn man das alles zusammenzieht,<br />

müsste eigentliche jeder Jugendliche krumme<br />

Dinger drehen.“ (Serie „Jugendkriminalität“<br />

der Frankfurter Rundschau, Mai 1999, Sonder-<br />

druck, 5. Serienfolge)<br />

Bei der Ursachenfrage sind sowohl Wissen-<br />

schaftler wie Expertinnen unverzichtbar. Sie<br />

werden gebeten, ihr Wissen zu Verfügung zu<br />

stellen. Sie werden oft genug durch die bana-<br />

lisierte Form, in der das geschieht, öffentlich<br />

vorgeführt. Im vorliegenden Zitat etwa durch<br />

48 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 49<br />

funktionierenden Gesellschaft“; es kann auch historische über die drohende Bedeutungslosigkeit und<br />

Machtlosigkeit beruhigen. Politik wird durch<br />

ein Ritual ersetzt. Insofern geht es bei Moral-<br />

Paniken nicht einmal um die Skandalisierung<br />

von Ungerechtigkeit.<br />

historische und aktuelle diskurse


den Hinweis, dass soziale Ursachentheorien<br />

viel zu viel Kriminalität prognostizieren. Was<br />

mit dem Experten- und dem wissenschaftli-<br />

chen Wissen in diesen Debatten geschieht,<br />

ist allerdings ziemlich selbstverschuldet. Wie<br />

immer differenziert und in neuem Vokabular<br />

kommen die meisten Wissenschaftler auf die<br />

altbekannten Faktoren zurück, die mit Krimina-<br />

lität und Gewalt korrelieren. Die Kritische So-<br />

zialwissenschaft und Erziehungswissenschaft<br />

hatte es schon einmal klar, wie Verstehen und<br />

Erklären hier ansetzen könnte: weshalb korre-<br />

liert was mit wem? Die neuerliche Beliebtheit,<br />

Armut, Familie und Kriminalität statistisch zu<br />

verknüpfen, zeigt das Elend dieser Theorie<br />

ganz besonders.<br />

Familialisierung dient dazu, das moralisierende<br />

Erklärungsschema vom „bösen und schuldigen<br />

Verbrecher“ zu verlassen und es durch das per-<br />

sonalisierende und sozial degradierende Bild<br />

des „gefährlichen Delinquenten“ und „defizi-<br />

tären Menschen“ zu ersetzen. Familialisierung<br />

wurde mit der Unterstützung wissenschaftli-<br />

cher Theorien ein moderner „Alltagsmythos“.<br />

Die implizite Theorie lautet, Kriminalität und<br />

Gewalt entsteht, wenn erzieherische Autori-<br />

tät ausfällt – nicht wenn Sorge und Offenheit<br />

fehlt.<br />

3. Legitimation professioneller und politischer<br />

Interessen:<br />

Die Akteure der Moral-Panik verbinden mit der<br />

„steigenden Kinder- und Jugendkriminalität“<br />

stets organisatorische Interessen. Folgende<br />

Verschiebungen konnte man beobachten:<br />

- Der Polizei ging es in den letzten Moral-Pani-<br />

ken weniger um mehr Personal und Kompeten-<br />

zen, sie war und ist darauf bedacht, unbeque-<br />

me „Sozialfälle“ anderen Instanzen zu über-<br />

eignen. Der Umgang mit schwierigen Kindern<br />

gehöre nicht zu den „eigentlichen Aufgaben“<br />

der Polizei, stört die Routinen, und deshalb for-<br />

derten einige Akteure eine Senkung der Straf-<br />

mündigkeitsgrenze auf 12 Jahre. Einige gingen<br />

es auch kumpelhaft und per „Eigenanzeige“<br />

an. (Gefunden habe ich diese Anzeige in der<br />

Frankfurter Rundschau, Lokalausgabe Main-<br />

Kinzig-Kreis, 31.1.1998)<br />

Wer ist schuld, wenn Kinder stehlen?<br />

Täter,<br />

Opfer,<br />

Abenteurer?<br />

Liebe Eltern, Lehrer und Geschäftsleute,<br />

diskurseden Hinweis, historische und aktuelle diskurse<br />

wer nur mit Strafe droht, hat null<br />

Feeling für Kids und Teenies.<br />

Wir wollen, daß Sie sicher leben. Ihre Polizei<br />

Wenn Verstehen („Feeling“) und „Pädagogisierung“<br />

angemahnt werden, dann in der<br />

Form wie das Patriarchen tun: Den Jungen soll<br />

„offiziell“ die Grenze gezeigt werden: vom Jugendrichter,<br />

vom Jugendamt, von der Jugendhilfe<br />

(aber nicht vom Jugendgefängnis), die<br />

auch über kleine, Anpassung ermöglichende<br />

Ressourcen verfügen und diese auch vergeben.<br />

Vor allem mit der Klage, was die jungen<br />

„Intensiv- und Mehrfachtäter“ alles anstellen<br />

können, weil sozialpädagogische Helfer das<br />

patriarchale Muster nicht bringen, nur helfen<br />

ohne zu kontrollieren, konnten pädagogischen<br />

Instanzen in diesen letzten Kampagnen mühelos<br />

diskreditiert werden. Sie haben sich ziemlich<br />

„anpassend“ verteidigt.<br />

- Wissenschaftler und insbesondere Kriminologen<br />

erhielten durch die Jugendgewalt und die<br />

„steigende Kinder- und Jugendkriminalität“<br />

eine weitere Gelegenheiten, Öffentlichkeit und<br />

Politik daran zu erinnern, dass „sanfte Kontrolle“<br />

und Integration durch eine soziale Technologie<br />

langfristig für ihre Interessen nützlicher<br />

sei als Sozialabbau und Law-and-Order-Kampagnen.<br />

„Kriminologen“ bestätigen sich dadurch<br />

mindestens selbst ihre Bedeutsamkeit<br />

als Verbrechens- und Ordnungsexperten und<br />

den Sinn ihrer forschenden Geschäftigkeit.<br />

Allerdings geht es nicht nur um Status: hier<br />

fließen eine Menge an Forschungsgeldern, an<br />

Anerkennung und Bedeutsamkeit an Politik-<br />

Berater, als Hüter der (instrumentellen) Vernunft<br />

und einer halbierten Integration.<br />

- Die sozialen Professionen hatten ein weiteres<br />

Thema, um ihre Arbeitsplätze zu legitimieren<br />

und Ressourcen für Kinder- und Jugendhilfe<br />

einzuklagen.<br />

- Die Forderungen nach einer Ersatzanstalt für<br />

die geschlossenen Heime und die Untersuchungshaft<br />

für Jugendliche erhielten einigen<br />

Nachdruck. Daran sind sowohl Akteure aus Polizei<br />

und Justiz wie solche aus der Jugendhilfe<br />

selbst interessiert. Geschlossene Unterbringung<br />

hat inzwischen wieder den Status einer<br />

Selbstverständlichkeit erreicht. In einer „enggeführten<br />

Betreuung“ sieht insbesondere die<br />

sonst auf die Freiheit des Einzelnen bedachte<br />

„gebildete Klasse“ die Lösung für die „sozialen<br />

Sprengsätze“.<br />

Kampagnen: „Ideologieproduktion mit Menschenopfern“?<br />

Generell ging es seit Beginn der 90er Jahre in<br />

den Kampagnen darum, dass Erziehung mehr<br />

Wert auf „Grenzziehung“ legen soll, vor allem<br />

bei dem Teil der jungen Leute, der durch die<br />

ökonomische Entwicklung nicht einmal mehr<br />

als eine „Reservearmee“ für den Arbeitsmarkt<br />

gebraucht wird. Der Ratschlag, „gefährliche<br />

Klassen“ und „soziale Sprengsätze“ durch<br />

soziale Reformen zu „bekämpfen“, ist noch<br />

verbreitet, erhält aber zunehmend einen Begleiter.<br />

Es ist die Phantasie, Delinquente seien<br />

zu reformieren, wenn sie nur in einer „festen<br />

Ordnung“ aufwachsen. Die Sympathie für eine<br />

„feste Ordnung“ hat „the sympathy for the little<br />

devil“ abgelöst. Die Phantasie einer „festen<br />

Ordnung“, einer „enggeführten Betreuung“<br />

ist in der Tat noch eine relativ „sanfte“ Variante<br />

der neuen Punitivität. Gehandelt werden<br />

deutlich punitivere Varianten bis hin zur Form<br />

der militärischen Anstaltsdisziplin (Glen Mills<br />

Schools) und Techniken der „schwarzen Psychologie“<br />

(Anti-Aggressions-Training als „Konfrontationspädagogik“).<br />

Insgesamt hören wir inzwischen weniger über<br />

die „gefährliche Jugend“, weil „Punitivität“<br />

eine verstärkte Legitimation erfahren hat. Man<br />

kann das an folgenden Veränderungen sehen:<br />

1. Die Rehabilitation der Jugend-Strafe wurde<br />

mit der Debatte über „rechte Jugendgewalt“<br />

eingeleitet. Getroffen hat das Klima der Punitivität<br />

zuerst „Ausländer“. Junge Leute ohne<br />

deutschen Pass bevölkern die Jugendgefängnisse.<br />

Sie wurden konsequenter zu „Insassen“<br />

gemacht als zu „Integrierten“. Insbesondere<br />

in der Verbindung mit der Diskussion um<br />

„junge Intensiv- und Mehrfachtäter“, um die<br />

Folk-Devils namens „Mehmet“, „Jens“ oder<br />

„Christian“, die von der Polizei besonders befördert<br />

wurde, wurde eine ganze Menge an<br />

ideologischer Arbeit geleistet, die Einsperrung<br />

und das Strafen rehabilitierte. Liberale Bürger<br />

und Soziale-Probleme-Professionen legen bei<br />

bestimmten Gruppen ihre vergangen, starken<br />

„Zweifel am Sinn der Strafe“ ab.<br />

2. Die neue Punitivität der „gebildeten Klasse“<br />

und das damit (noch) verbundene „schlechte<br />

Gewissen“ (oder auch Reste der Aufklärung)<br />

kann man an den Überhöhungen der Pädagogik<br />

beobachten, mit denen das neue Projekt<br />

der Grenzziehung gegen Delinquente verse-<br />

hen wird. Auf den Punkt gebracht hat dies am historische Ende der Kampagne ein Text, den ich in einer<br />

Wochenschrift für die „gebildete Klasse“ ge-<br />

funden habe (DIE ZEIT Nr. 27 v. 1.7.99, S. 4).<br />

In einem Artikel, der den sozialpädagogischen<br />

Topos „gefährlich und gefährdet“ als Headline<br />

gebrauchte, wird ein Reiz-Reaktionsmuster an-<br />

geboten: „Die Jugendgewalt nimmt zu: Krimi-<br />

nelle Kinder brauchen eine feste Ordnung“.<br />

Das Mitleid ist jungen Leuten noch gewiss,<br />

die aus einem entsetzlichen Zuhause kommen,<br />

auch dass man „Armut, Unwissenheit und<br />

Gewalttätigkeit in „schwierigen, eher subpro-<br />

letarischen als proletarischen Verhältnissen“<br />

bekämpfen müsse. Doch diese Kinder sind<br />

eben nicht nur „Opfer“. Sie sind fremdunterge-<br />

bracht, weil:<br />

„sie schlagen, stehlen, vergewaltigen, Drogen<br />

nehmen und Drogen verkaufen, weil sie, un-<br />

erreichbar, in einer eigenen regellosen Welt<br />

leben. Merkwürdig unbeteiligt sind sie, starr,<br />

wenig beeindruckt von niedlichen Zwergzie-<br />

gen und Ponys. Es sind, offen gesagt, nicht<br />

immer besonders nette Kinder. Niemand wür-<br />

de sich die härteren Fälle als Schulkameraden<br />

des eigenen Sohnes, der eigenen Tochter wün-<br />

schen.“<br />

Zu dem Wissen über den Umgang mit schwie-<br />

rigen Jugendlichen heißt es:<br />

„Niemand weiß, ob die Einzelbetreuung im<br />

Ergebnis mehr brächte als die Einzelzelle.<br />

Also muss man sich für die Praxis mit Mutma-<br />

ßungen und Plausibilitäten behelfen. Einiges<br />

spricht dafür, dass desorientierte Jugendliche<br />

enggeführte Betreuung brauchen, einen klar<br />

strukturierten Tag, Pflichten und Aufgaben,<br />

deren Erfüllung ihr Selbstwertgefühl stärkt;<br />

Regeln, deren Verletzung unweigerlich Kon-<br />

sequenzen nach sich zieht und verlässliche<br />

Beziehungen.“<br />

Die Zeit-Autorin beschreibt die Verhältnisse<br />

einer totalen Institution, der Erziehungsanstalt<br />

- das Modell für die erzieherische Jugendstra-<br />

fe. Dahin sollen die Jugendlichen der „eher<br />

subproletarischen“ Herkunft, die man sich<br />

nicht als Schulkamerad des eigenen Kindes<br />

wünscht. Weil sie aber weiß und schreibt, dass<br />

„Erziehungsgefängnisse“ nichts genützt hät-<br />

ten, beschwört sie den bildungsbürgerlichen<br />

Mythos von „pädagogischen Persönlichkei-<br />

ten“, mit „Berufung“, „Charakter“, „Vorbild“.<br />

Der Weg „jenseits von Liberalisierung und<br />

50 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 51<br />

historische und aktuelle diskurse


Pädagogik vom Delinquenten aus, ist vielleicht<br />

der charismatische Erzieher.“<br />

Was die Autorin vergessen hat: „Charisma“ ist<br />

eine subtile Form von Führung und Beeinflus-<br />

sung und Fremdbestimmung und kann sehr<br />

leicht in eine sich maskierende Herrschaft<br />

umschlagen. Ehrlicher sind da tatsächlich<br />

diejenigen, die offen das Strafrecht den jungen<br />

(ausländischen, armen) Männern wieder näher<br />

bringen wollen.<br />

3. Neu ist, dass über die „gefährliche Jugend“<br />

und die „sozialen Sprengsätze“ in einer Form<br />

diskutiert wird, die die Geschlechterdifferenz<br />

betont. Der bescheidene Gewinn, den Mäd-<br />

chen von Gewalt- und Kriminalitätsdiskursen<br />

haben, liegt im großen und ganzen in der Be-<br />

stätigung, dass sie das „brave Geschlecht“<br />

seien. Kriminalität und Gewalt ist ein „Jungen-<br />

problem“, das wird von Expertinnen und Ex-<br />

perten, von Wissenschaftlerinnen und Wissen-<br />

schaftlern, von Politikerinnen anerkannt. Mehr<br />

Ressourcen mobilisiert das „brave Mädchen“<br />

nicht. „Wer keine Probleme macht, wird auch<br />

keine Probleme haben.“<br />

Die vergleichsweise immer noch „unvollkom-<br />

mene“ Modernisierung des Kontroll- und Kri-<br />

minalisierungsmusters bzw. der Strafenpolitik<br />

bei Frauen wird durch ein Bild von „immer<br />

mehr Mädchen, die prügeln und foltern“, nicht<br />

verändert. Im Gegenteil: Obwohl die „braven<br />

Mädchen“ heute nicht zur „gefährliche Ju-<br />

gend“ gezählt werden, steigt bei jungen Frau-<br />

en der Trend zu mehr kurzen und gleichzeitig<br />

den „langen“ Gefängnisstrafen stärker an als<br />

bei jungen Männern.<br />

Es gibt ein fundiertes Wissen über Moral-Pani-<br />

ken. Wir werden es wahrscheinlich auch brau-<br />

chen. Es wird sich wiederholen, was Stanley<br />

Cohen am Ende seines Buches über die Mods,<br />

die Rocker und die Moral-Paniken der 60er Jah-<br />

re feststellte:<br />

„Es werden mehr Moral-Paniken erzeugt wer-<br />

den und unsere Gesellschaft, so wie sie gegen-<br />

wärtig strukturiert ist, wird weiterhin für eini-<br />

ge ihrer Mitglieder – wie die Jugendlichen der<br />

Arbeiterklasse – Probleme erzeugen und wird<br />

verdammen, was immer diese Gruppen an Be-<br />

arbeitungsstrategien für diese Probleme finden<br />

wird.“ (Cohen 1987: 204, meine Übersetzung)<br />

Wenn die gesellschaftliche Reaktion in der<br />

Strategie „mehr desselben“ erfolgt, dann hält<br />

Wissen über die vergangen Kampagnen von<br />

diskursePädagogik historische und aktuelle diskurse<br />

Naivität und vom gutgemeinten Mitmachen ab.<br />

In der Situation der kritischen Distanz lassen<br />

sich dann (hoffentlich) weitere Ressourcen für<br />

einen pragmatischen oder sogar freundlichen<br />

Umgang mit jungen Leuten entwickeln.<br />

Literatur:<br />

Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung: Die<br />

Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992.<br />

Becker, Howard S.: Außenseiter. Zur Soziologie<br />

abweichenden Verhaltens, Frankfurt 1971.<br />

Best, Joel: Threatened Children. Rhetoric and<br />

Concern about Child-Victims. Chicago/London<br />

1990.<br />

Cohen, Stanley: Folk-Devils & Moral Panics.<br />

The Creation of the Mods and Rockers, Oxford<br />

1987.<br />

Cremer-Schäfer, Helga/Steinert, Heinz: Straflust<br />

und Repression. Zur Kritik der populistischen<br />

Kriminologie, Münster 1998.<br />

Cremer-Schäfer, Helga: Einpolitisches Mandat<br />

schreibt man sich zu, in: Merten, Roland (Hg.),<br />

Har soziale Arbeit ein politisches Mandat? Positionen<br />

zu einem strittigen Thema, Opladen<br />

2001, S. 55-70.<br />

Cremer-Schäfer, Helga: Emanzipation, Anpassung<br />

und Gewalt. Über den einen oder<br />

anderen Vorteil der öffentlichen Bedeutungslosigkeit<br />

von jungen Frauen und Nachteile der<br />

öffentlichen Aufmerksamkeit für die gefährlichen<br />

jungen Männer, in: Rang Brita/ May, Anja<br />

(Hg.): Das Geschlecht der Jugend. Adoleszenz:<br />

weiblich/männlich?, Frankfurter Beiträge zur<br />

Erziehungswissenschaft. Kolloquien Bd. 5,<br />

Frankfurt 2001.<br />

Cremer-Schäfer, Helga: Sie klauen, schlagen,<br />

rauben, in: Heiner Barz (Hg.), Pädagogische<br />

Dramatisierungsgewinne. Jugendgewalt.<br />

Analphabetismus. Sektengefahr, Frankfurter<br />

Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Reihe<br />

Kolloquien Bd. 3, Frankfurt, S. 81-108.<br />

Cremer-Schäfer, Helga: Skandalisierungsfallen,<br />

in: Heiner Barz (Hg.), Pädagogische Dramatisierungsgewinne.<br />

Jugendgewalt. Analphabetismus.<br />

Sektengefahr, Frankfurter Beiträge zur<br />

Erziehungswissenschaft, Reihe Kolloquien Bd.<br />

3, Frankfurt 2000 S. 109-130.<br />

Edelman, Murray: Politik als Ritual: Die symbolische<br />

Funktion staatlicher Institutionen und<br />

politischen Handelns, Frankfurt 1976.<br />

Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation<br />

psychiatrischer Patienten und anderer<br />

Insassen, Frankfurt 1972.<br />

Honig, Michael-Sebastian/Leu, Hans Rudolf/<br />

Nissen, Ursula: Kindheit als Sozialisationsphase<br />

und kulturelles Muster, in: Dies. (Hg.), Kinder<br />

und Kindheit, Weinheim, München 1996, S.<br />

9-30.<br />

Maase, Kaspar: Vergebliche Kriminalisierung.<br />

Zum Platz der Halbstarken in der Geschichte<br />

des Alltags, in: Kriminologisches Journal, 23.<br />

Jg., 1991, S. 189-203.<br />

Mollenhauer, Klaus: Jugendhilfe. Modernitätsanforderungen<br />

und Traditionsbestände für die<br />

sozialpädagogische Zukunft, in: Rauschenbach,<br />

Thomas/Gängler, Hans, Soziale Arbeit<br />

und Erziehung in der Risikogesellschaft, Neuweid,<br />

Kriftel Berlin 1992, S. 101-119.<br />

Moore, Barrington: Ungerechtigkeit: Die sozialen<br />

Ursachen von Unterordnung und Widerstand,<br />

Frankfurt 1982.<br />

Rutschky, Katharina: Das Milchmädchen rechnet<br />

– Über den Pessimismus als pädagogische<br />

Triebkraft, in: Baacke, Dieter (Hg.): Am Ende<br />

Postmodern, Weinheim und München 1987, S.<br />

83-85.<br />

Ausgrenzung und Integration<br />

Das Verhältnis der Jugendhilfe zu ihrer Zielgruppe<br />

der Mädchen und jungen Frauen ist<br />

über die gesamte Geschichte der Bundesrepublik<br />

Deutschland gekennzeichnet durch die<br />

Begriffe Integration und Ausgrenzung.<br />

Jugendhilfe kannte und kennt bis heute keinen<br />

anderen Umgang mit ihrer weiblichen Klientel:<br />

Sie grenzt sie aus, indem sie sich immer noch<br />

am patriarchalen Normalbild des Menschen<br />

(Mann-Sein = Mensch-Sein, Frau-Sein = Abweichung<br />

davon) orientiert. Damit waren und<br />

sind Mädchen und junge Frauen flur die Jugendhilfe<br />

allenfalls eine besondere Gruppe,<br />

eine Problemgruppe oder eine Minderheitengruppe,<br />

der „besonderer“ Aufmerksamkeit<br />

bedarf. Zu keiner Zeit aber waren Mädchen<br />

als Mädchen und als Hälfte der Zielgruppe<br />

1 Erweiterte Fassung des Vortrages. Auf einen großen<br />

Anmerkungsapparat wurde verzichtet. Wer die dar-<br />

gestellte Perspektive überprüfen möchte und weitere<br />

dar-historische Quellen heranziehen, kann in meinen zitierten Veröffent-<br />

lichungen entsprechende Verweise finden. Der Vortrag<br />

und der Text führen die Argumente aus verschiedenen<br />

Veröffentlichungen seit Beginn der 90er Jahre zusam-<br />

men.<br />

Prof. Dr. Helga Cremer-Schäfer<br />

Johann Wolfgang Goetheuniversität Frankfurt<br />

Fachbereich Erziehungswissenschaften<br />

Postfach 11 19 32<br />

D-60054 Frankfurt am Main<br />

e-mail: cremer-schaefer@em.uni-frankfurt.de<br />

Claudia Wallner:<br />

Mädchenarbeit im Wandel sozialer Arbeit<br />

der Jugendhilfe im Blick. Die Orientierung an<br />

männlichen Lebenswelten in der Gewissheit,<br />

dies sei die Normalität und der Standard führt<br />

zwangsläufig zur Ausgrenzung von Mädchen<br />

mit ihren Erfahrungen und Lebensrealitäten.<br />

Mädchen zu integrieren, das ist bis heute das<br />

einzige Angebot der Jugendhilfe an Mädchen<br />

und junge Frauen. Nur: Integration bedeutet,<br />

etwas oder Jemanden in ein bestehendes<br />

System einzufügen, nicht ein System zu über-<br />

denken, ob es für eine bislang vernachlässigte<br />

Gruppe attraktiv und richtig ist. Die Botschaft<br />

an Mädchen lautet heute immer noch wie Ende<br />

der sechziger Jahre im Rahmen der Einführung<br />

der Koedukation: die Angebote der Jugend-<br />

hilfe sind offen für Mädchen wie für Jungen,<br />

und wenn Mädchen sie nicht nutzen, so wie<br />

sie sind, dann haben sie offenbar keinen Be-<br />

52 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 53<br />

historische und aktuelle diskurse


diskursedarf. Integration diskurseist faktisch historische und aktuelle diskurse<br />

darf. Integration in diesem Sinne verstanden<br />

ist faktisch eine weitere Form der mittelbaren<br />

Ausgrenzung.<br />

Jugendhilfe ist bis heute weit von einer kri-<br />

tischen Reflexion darüber entfernt, ob sie für<br />

Mädchen geeignete Strukturen, Leistungsbe-<br />

reiche, Träger- und Personalstrukturen, Ein-<br />

richtungen und Angebote vorhält.<br />

Konservatismus und Negierung<br />

Mädchenarbeit im Wandel sozialer Arbeit ist<br />

eine Geschichte von Ausgrenzung und Integra-<br />

tion, keine Geschichte von Gleichberechtigung<br />

und adäquater Förderung. Das spiegelt sich<br />

auch im pädagogischen Umgang mit Mädchen<br />

im Verlauf der Nachkriegsgeschichte wider:<br />

Auch hier werden zwei Strategien sichtbar, die<br />

Mädchen eher behindert als gefördert haben:<br />

In geschlechtshomogenen Angeboten und<br />

Einrichtungen transportierte Pädagogik kon-<br />

servative Mädchen- und Frauenbilder. Dies<br />

realisierte sich einerseits in einseitigen The-<br />

menangeboten, die Mädchen auf ihre zukünf-<br />

tige Hausfrauen- und Mutterrolle vorbereiteten<br />

und andererseits in einem rigiden Umgang mit<br />

weiblicher Sexualität. Die zweite Strategie des<br />

Umgangs mit Mädchen war ihre Nichtbeach-<br />

tung durch ihre unreflektierte Subsumierung<br />

unter die Gruppe der „Kinder und Jugendli-<br />

chen“.<br />

Mädchenbildungsarbeit<br />

Seit 1957 gab es in der BRD ein eigenständiges<br />

Angebot an Mädchen, das explizit als Mäd-<br />

chenangebot angelegt war. Insgesamt waren<br />

die Angebote der Jugendhilfe durch die Tren-<br />

nung der Geschlechter gekennzeichnet, was<br />

den moralischen Vorstellungen dieser Zeit ent-<br />

sprach. Doch führte der Bundesjugendplan als<br />

vom Bund finanziertes Förderinstrument der<br />

Jugendhilfe ein eigenständiges Programm der<br />

Mädchenbildung. Mädchenbildungsarbeit war<br />

das Pendant zur Jugendarbeit für Jungen und<br />

sollte sich vornehmlich an junge Arbeiterinnen<br />

richten. Ihnen sollten neben ihrer oftmals stu-<br />

piden Arbeit geistig anregende Betätigungen<br />

angeboten werden. Tatsächlich aber erreichten<br />

die Mädchenbildungsangebote in erster Linie<br />

junge Angestellte im Alter von 18 bis 24 Jah-<br />

ren. Sie fanden in Seminarform und in<br />

Mädchenclubheimen statt. Ihre Ziele beschrieb<br />

der erste Jugendbericht der Bundesregierung<br />

1965:<br />

„Mädchenbildung muss der weiblichen Jugend<br />

eine Zukunftsperspektive nahe bringen,<br />

die den häuslichen Lebenskreis in allen seinen<br />

erhöhten menschlichen und geistigen Ansprüchen<br />

sieht, die das Streben nach wirtschaftlicher<br />

Unabhängigkeit und beruflicher Leistung<br />

vernünftig beurteilt und die eine verbindliche<br />

Aussage darüber macht, wo, wann und wie<br />

lange den Familienaufgaben der Vorrang vor<br />

jeder anderen Anforderung gebührt.“ (Deutscher<br />

Bundestag 1965, S.85)<br />

Diese Form der einseitigen Mädchenbildungsarbeit<br />

geriet Ende der sechziger Jahre zunehmend<br />

in die Kritik, weil im Zuge des demokratischen<br />

Auf bruchs (außerparlamentarische<br />

Opposition, Studenten- und Frauenbewegung)<br />

auch die konservative Frauenrolle in die öffentliche<br />

Kritik geriet‘. Die Forderungen gingen bis<br />

hin zur Abschaffung dieser geschlechtshomogenen<br />

Form der Mädchenarbeit. Hier zeigten<br />

sich die Einflüsse einerseits der Frauenbewegung<br />

und andererseits der Debatte um die<br />

Einführung der Koedukation: Plädiert wurde<br />

für koedukative Angebote verbunden mit der<br />

Hofffiung, dadurch die konservative Ausrichtung<br />

der Mädchenbildungsarbeit auflösen zu<br />

können (Kentler 1966 und Bilden 1969).<br />

Fürsorgeerziehung<br />

Ebenso in die Kritik geriet Ende der sechziger<br />

Jahren die Fürsorgeerziehung für Mädchen.<br />

Die Heimkampagne im Rahmen der Außerparlamentarischen<br />

Opposition brachte menschenverachtende<br />

Zustände in deutschen Fürsorgeheimen<br />

zutage. Mädchenheime kamen<br />

nur vereinzelt in den Blick, aber wenn, dann<br />

wurden dramatische Lebensbedingungen<br />

der Mädchen deutlich: sie erhielten weder<br />

Schul- noch Ausbildung, wurden als billige Arbeitskräfte<br />

missbraucht, waren nicht über ihre<br />

Rechte informiert und unterlagen mangelnder<br />

medizinischer Versorgung und Gewalt.<br />

„Mädchen im Heim bekommen keine Ausbildung.<br />

Sie arbeiten für 20 Pfennig die Stunde in<br />

der Wäscherei, in der Heißmangel, in der Küche,<br />

im Garten, in der Nähstube. Industriearbeit im<br />

Heim besteht aus Tüten kleben, Lampenschirmen<br />

montieren, Besteckkästen mit Seidenstoff<br />

füttern, Puppen anziehen — idiotisierende,<br />

ungelernte Industriearbeit. Nicht einmal für<br />

den Haushalt werden sie ausgebildet im Heim:<br />

Nähte von Weißwäsche rauf und runter nähen,<br />

Nähte von Brauereischürzen, Laken heiß mangeln,<br />

den Hof fegen — davon lernt man nicht<br />

Wirtschaftsgeld einteilen, einkaufen, kochen.“<br />

(Meinhof 1971, S.9-10)<br />

Und während Jungen wegen krimineller Delikte<br />

oder aggressivem Verhalten der Fürsorgeerziehung<br />

zugeführt wurden, war es bei<br />

den Mädchen — und das ist ein dramatischer<br />

Unterschied zu den Jungen, der auf die gesellschaftliche<br />

Position und Rolle von Frauen<br />

in den sechziger Jahren verweist — ihr Sexualverhalten:<br />

HWG (häufig wechselnder Geschlechtsverkehr)<br />

war bei den Mädchen der<br />

häufigste Grund, sie in geschlossene Heime<br />

wegzusperren.<br />

‘Insbesondere in der „Deutschen Jugend“ wurden<br />

zwischen 1963 und 1969 umfassende Debatten<br />

darüber geführt, wie Mädchenbildungsarbeit<br />

an die sich verändernden gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse angepasst und sie dem neuen<br />

Frauenbild gerecht werden könnte. Geführt<br />

wurde eine programminterne Debatte, die auf<br />

Veränderungen bezüglich der Zielgruppen, der<br />

Ziele und des gesellschaftlichen Frauenbildes<br />

abzielten und eine, die den Sinn der Mädchenbildungsarbeit<br />

im Kontext gesellschaftlicher<br />

Entwicklungen und politischer Zielsetzungen<br />

reflektierte.<br />

Ulrike Meinhof, die Journalistin, die 1970 in den<br />

Untergrund ging und sich der Roten Armee<br />

Fraktion anschloss, schrieb in ihrem Buch<br />

„Bambule“ 2 über die Einweisungsgründe von<br />

Mädchen:<br />

„In den Akten steht: sexuell haltlos, Herumtreiberei,<br />

Unzucht gegen Entgelt, Arbeitsplatzwechsel.<br />

Oder: Verkehrt mit Ausländern, trägt<br />

Miiröcke. Oder: renitent, aufsässig, verlogen.“<br />

(Meinhof 1971, S.10)<br />

An den Beispielen der Mädchenbildung und<br />

der Fürsorgeerziehung wird deutlich, dass Jugendhilfe<br />

in den sechziger Jahren aktive Beiträge<br />

zum Erhalt der weiblichen Rolle in Sinne<br />

der züchtigen, asexuellen, sorgenden Hausfrau<br />

und Mutter beisteuerte, gerade dort, wo es<br />

geschlechtshomogene Angebote für Mädchen historische<br />

und junge Frauen gab.<br />

Arbeitermädchenarbeit<br />

Erste Aufbrüche aus dieser einseitigen Sozi-<br />

alisation von Mädchen brachte die Jugend-<br />

zentrumsbewegung mit sich: sie war Teil<br />

der Außerparlamentarischen Opposition und<br />

zunächst getragen von GymnasiastInnen und<br />

StudentInnen, die aus der antiautoritären Be-<br />

wegung heraus Möglichkeiten der Freizeitge-<br />

staltung und der politischen Agitation suchten,<br />

die nicht repressiv und nicht fremdbestimmt<br />

sein sollten (Diemer u. a. 1973, S. 10) Die aus<br />

den Initiativen entstehenden selbstverwal-<br />

teten Jugendzentren hatten schnell mit dem<br />

Problem zu kämpfen, dass die BesucherInnen<br />

aus der Arbeiterschicht deutlich andere Be-<br />

dürfnisse der Freizeitgestaltung zeigten als die<br />

Mittelschichtsjugendlichen. Während letztere<br />

politisch arbeiten wollten, beanspruchten die<br />

Arbeiterjugendlichen Raum zur Erholung und<br />

zum Abschalten, was zu häufigen Konflikten<br />

innerhalb der Häuser führte. Die politisierten<br />

jungen Frauen sahen in der Verbindung von<br />

Klassenkampf und Frauenemanzipation die<br />

Mädchen aus Arbeiterfamilien, die die Jugend-<br />

zentren besuchten, als neue Zielgruppe der<br />

politischen Agitation: als zur Arbeiterklasse<br />

Gehörende im Kapitalismus und als Frauen im<br />

Patriarchat sahen sie diese Mädchen als dop-<br />

pelt marginalisierte und unterdrückte gesell-<br />

schaftliche Gruppe an, die es zu befreien und<br />

zu mobilisieren galt. Sozialistisch-feministische<br />

Konzepte sollten im Arbeitermädchenansatz in<br />

reinen Mädchengruppen das Bewusstsein der<br />

Mädchen für ihre unterdrückte gesellschaftli-<br />

che Position wecken und mit ihnen Möglichkei-<br />

ten der Veränderung erarbeiten.<br />

Der Arbeitermädchenansatz war der erste Ver-<br />

such, eine bestimmte Gruppe von Mädchen in<br />

ihrem unterdrückten gesellschaftlichen Status<br />

wahrzunehmen und mit pädagogischen Ange-<br />

boten zur Befreiung und Optioneneröfthung für<br />

diese Mädchen und jungen Frauen beizutra-<br />

gen. Der Ansatz scheiterte Anfang der siebzi-<br />

ger Jahre, weil er zu deterministisch ‚ zu global<br />

und zu wenig übersetzt auf den Alltag der Mäd-<br />

chen war und die Mädchen sich entsprechend<br />

verweigerten. Helga Bilden kritisierte Anfang<br />

der siebziger Jahre den Arbeitermädchenan-<br />

satz, weil Mädchen lediglich auf der Wahrneh-<br />

mungsebene ihres Verhaltens begegnet wür-<br />

54 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 55<br />

historische und aktuelle diskurse


de, ohne die sozioökonomischen Beweggründe<br />

ihres Handelns zu erkennen (Bilden 1973, 5.82).<br />

Neben den politischen Gründen gab es auch<br />

alltagspraktische, sich der Gruppe der soge-<br />

nannten Arbeitermädchen 3 zu beschäftigen:<br />

Der Freiraum der selbstorganisierten Zentren<br />

in Zeiten der sexuellen Revolution führte of-<br />

fenbar zu immer wiederkehrenden sexuellen<br />

Über- und Angriffen von Jungen auf Mädchen.<br />

Die Mädchengruppen waren auch ein Versuch,<br />

Mädchen zu weniger „animierenden“ Verhal-<br />

tensweisen und Bekleidung zu bewegen, um<br />

diesen Übergriffen zu begegnen. Auch hier<br />

zeigte sich wieder das alte Bild sexueller Rol-<br />

lenverteilung: Nicht mit den aggressiven<br />

diskursede, ohne diskurseihres Handelns historische und aktuelle diskurse<br />

2 „Bambule“ war die Veröffentlichung des<br />

Drehbuchs eines Films, den Ulrike Meinhof<br />

1970 über die Zustände<br />

in westdeutschen Mädchenheimen drehte.<br />

Sogenannt deshalb, weil die Mädchen nicht<br />

selbst Arbeiterinnen waren, sondern aus Ar-<br />

beiterfamilien stammten und damit über ihre<br />

Herkunftsfamilien definiert wurden.<br />

Jungen wurde gearbeitet an ihrer Aggression,<br />

sondern mit den Opfern, den Mädchen, daran,<br />

durch ein verändertes Verhalten das Problem<br />

zu lösen (Jödicke 1975, S.20). Deutlich wird,<br />

dass der Umgang mit Mädchen in der sozialen<br />

Arbeit immer dem aktuellen gesellschaftlichen<br />

Status von Frauen und gesellschaftspolitischen<br />

Entwicklungen entsprach:<br />

- die Hausfrauen- und Mutterorientierung<br />

nebst der Sexualitätsreglementierung<br />

in den biederen fünfziger und sechziger<br />

Jahren und<br />

- der sozialistisch-feministische Aufbruch<br />

in Folge der Studenten- und Frauenbewegung.<br />

Feministische Mädchenarbeit<br />

1973/74 begann dann die Ära des Ansatzes<br />

von Mädchenarbeit, der sich bis heute in der<br />

Jugendhilfe durchgesetzt hat: die feministische<br />

und parteiliche Mädchenarbeit. Sie war von<br />

Anbeginn eine Provokation für die und in der<br />

Jugendhilfe:<br />

- Anfang der siebziger Jahre hatte sich<br />

gerade die Koedukation in der Jugendhilfe<br />

durchgesetzt, da forderte die feministische<br />

Mädchenarbeit die Rückkehr<br />

zur Geschlechtshomogenität.<br />

- Feministische Mädchenarbeit berief<br />

sich auf eine umfassende Kritik an der<br />

Jugendhilfe und insbesondere an der<br />

Jugendarbeit. Sie wurde als jungenund<br />

mannerlastig analysiert und damit<br />

als staatliches System, das die Hälfte<br />

ihrer Klientel durch Nichtbeachtung<br />

ausschloss.<br />

- Feministische Mädchenarbeit definierte<br />

sich als notwendige Kombination aus<br />

Pädagogik und Gesellschaftspolitik: individuelle<br />

Hilfe und Unterstützung für<br />

Mädchen sei nur sinnvoll in einem patriarchalen<br />

Gesellschaftssystem, wenn<br />

gleichzeitig das System selbst bekämpft<br />

würde. Feministische Mädchenarbeit<br />

wollte Mädchen individuell stärken und<br />

gleichzeitig Gleichberechtigung erreichen<br />

durch die Abschaffung des Patriarchats.<br />

Mädchenarbeit definierte sich als<br />

politische Pädagogik, was deutlich nicht<br />

dem allgemeinen Selbstverständnis der<br />

Jugendhilfe entsprach.<br />

- Feministische Mädchenarbeit agierte<br />

mit einem Mädchen- und Frauenbild,<br />

das seit Ende der sechziger Jahre in der<br />

Frauenbewegung entwickelt worden<br />

war und über die massive öffentliche<br />

Wahrnehmung der Frauenbewegung<br />

und ihrer Forderungen öffentlich diskutiert<br />

wurde aber das noch weit davon<br />

entfernt war, allgemein gültiges Frauenbild<br />

zu sein: Die Frau als Mensch mit<br />

den gleichen Rechten auf Bildung, Ausbildung<br />

und Erwerbsarbeit, auf eigene<br />

Sexualität, auf wirtschaftliche Unabhängigkeit<br />

und Selbstbestimmung über<br />

Körper und Lebensplanung, das war<br />

nicht das Mädchen- und Frauenbild der<br />

frühen siebziger Jahre und auch nicht<br />

das der Jugendhilfe.<br />

Feministische Mädchenarbeit kritisierte also<br />

Jugendhilfe grundsätzlich als männerlastig,<br />

lehnte ihre Modernisierung durch die Einführung<br />

der Koedukation als ebenso männerlastig<br />

ab, forderte eine eindeutige Politisierung der<br />

Pädagogik und agierte mit einem revolutionären<br />

Mädchen-, Frauen- und Gesellschaftsbild<br />

(Savier 1980a, 1980b, Savier/Wildt 1977 und<br />

1978). Feministische Mädchenarbeit war damit<br />

Provokation der Jugendhilfe und gleichzeitig<br />

Teil einer gesellschaftlichen Revolution, der<br />

Frauenbewegung.<br />

Das Frauenbild der sechziger und frühen<br />

siebziger Jahre<br />

Denn die Zeit der Entstehung feministischer<br />

Mädchenarbeit Anfang der siebziger Jahre<br />

war eine Zeit gesellschaftlichen Umbruchs<br />

und damit des Nebeneinanders alter und neuer<br />

Wertvorstellungen. Während Frauen zu Tausenden<br />

auf die Straße gingen und für ihr Recht<br />

auf Abtreibung, für Freiheit und Gleichberechtigung<br />

kämpften, sprachen deutsches Recht<br />

und Volkes Stimme deutlich Anderes: Frauen<br />

waren tatsächlich meilenweit von der Gleichberechtigung<br />

entfernt. Trotz des Artikels 3 im<br />

Grundgesetz, der Männer und Frauen seit 1949<br />

als gleichberechtigt deklarierte, vollzog sich<br />

Gleichberechtigung lediglich im<br />

Rahmen der zugeordneten gesellschaftlichen<br />

Rollen. Noch bis weit in die sechziger Jahre<br />

wurde davon ausgegangen, dass die Rollenverteilung<br />

zwischen den Geschlechtern biologisch<br />

vorgegeben und damit nicht veränderbar<br />

ist. Der erste Frauenbericht der Bundesregierung<br />

1966 zog dann unter Verweis auf Simone<br />

de Beauvoir erstmalig in Erwägung, dass diese<br />

Auffassung diskussionswürdig sei:<br />

„Erst in neuerer Zeit wurde die Auffassung<br />

vertreten, dass das Leitbild der Frau nicht<br />

etwas von vornherein Gegebenes, sondern<br />

etwas historisch Gewordenes sei (...); außer<br />

durch die Eigenschaften und Fähigkeiten der<br />

Frau werde die Vorstellung von der Frau vor<br />

allem durch die Erwartung geprägt, welche<br />

die Gesellschaft jeweils an sie stelle. Nach dieser<br />

Auffassung ist das Bild der Frau in einem<br />

bestimmten zentralen, insbesondere mütterlichen<br />

Bereich zwar ein für allemal festgelegt, im<br />

übrigen aber Wandlungen zugänglich.“ (Deutscher<br />

Bundestag<br />

1966, S.9)<br />

Die Frau sei, so der Frauenbericht weiter,<br />

nach ihrer körperlichen und geistig-seelischen<br />

Beschaffenheit auf die Mutterschaft hin ausgelegt.<br />

Erwerbstätigkeit sei nur dann akzeptierbar,<br />

wenn sie mit den Kindererziehungsund<br />

Haushaltsaufgaben vereinbar sei und für<br />

Mütter von Kleinkindern generell abzulehnen.<br />

Die in den sechziger Jahren katastrophale Bildungssituation<br />

von Mädchen insbesondere aus<br />

der Arbeiterklasse wurde durch ihren Bildungs-<br />

Bildungs-historische unwillen begründet und damit individualisiert.<br />

Dieses Frauenbild manifestierte sich auch in<br />

den bundesrepublikanischen Gesetzen. Bis zur<br />

Änderung des Familienrechts 1977 galt:<br />

„Die Frau führt den Haushalt in eigener Ver-<br />

antwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu<br />

sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und<br />

Familie vereinbar ist.“ (BGB § 1356 von 1957)<br />

Die Frau war demnach eine verheiratete Frau,<br />

etwas Anderes sah das Gesetz nicht vor. Und<br />

sie war zur Haushaltsführung und Kinderer-<br />

ziehung verpflichtet und zur Erwerbstätigkeit<br />

nur eingeschränkt berechtigt. Verpflichtet zur<br />

Erwerbsarbeit hingegen war sie, wenn die Ar-<br />

beitskraft oder die Einkünfte des Mannes nicht<br />

ausreichten.<br />

Bis 1970 legte das Bürgerliche Gesetzbuch<br />

fest, dass unverheirateten Frauen als Strafe<br />

dafür, dass sie Teilnehmerin einer unsittlichen<br />

Handlung waren, die elterliche Gewalt über ihr<br />

unehelich geborenes Kind zunächst generell<br />

entzogen und später nur in Ausnahmefällen<br />

zugebilligt wurde.<br />

Abtreibung war bis 1974 generell verboten,<br />

und erst mit Änderung des Familiengesetzes<br />

1977 erhielten beide EhepartnerInnen das<br />

Recht auf Erwerbstätigkeit. Ebenfalls bis 1977<br />

galt das Schuldprinzip im Rahmen des Schei-<br />

dungsrechts. Demnach hatte die/der schuld-<br />

haft geschiedene PartnerIn keinen Anspruch<br />

auf Unterhalt, und das Sorgerecht wurde in<br />

der Regel der/dem „Unschuldigen“ zugespro-<br />

chen. Diese Regelung traf insbesondere nicht<br />

erwerbstätige Frauen.<br />

Entstehung feministischer Mädchenarbeit<br />

Das Konzept feministischer Mädchenarbeit<br />

wurde von Sozialarbeiterinnen in der ersten<br />

Hälfte der siebziger Jahre entwickelt. Beein-<br />

flusst von den Analysen der Frauenbewegung<br />

zur gesellschaftlichen Situation von Frauen<br />

reflektierten sie ihren eigenen Arbeitsalltag<br />

insbesondere in Einrichtungen der offenen Ju-<br />

gendarbeit und kamen zu dem Schluss, dass<br />

die patriarchalen Gesellschaftsverhältnisse<br />

sich auch in der sozialen Arbeit wiederfinden<br />

und auch hier zu bekämpfen seien. Dabei lag<br />

der Fokus zunächst auf den eigenen Arbeits-<br />

bedingungen als Sozialarbeitemnnen im Ver-<br />

56 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 57<br />

historische und aktuelle diskurse


hältnis zu den männlichen Kollegen und den<br />

Besuchern.<br />

Anders als in anderen europäischen Ländern<br />

hatte sich in der deutschen Frauenbewegung<br />

schnell die radikalfeministische Strömung in<br />

der Frauenbewegung durchgesetzt, die die<br />

Separierung des Frauenthemas und der Frauen<br />

vom allgemeinpolitischen Kampf um die Ab-<br />

schaffung des Kapitalismus propagierte und<br />

sich im Wesentlichen auf die Entwicklung von<br />

Frauenkultur und Frauenidentität festlegte.<br />

Grund dafür war, dass der in der Studenten-<br />

bewegung geführte antikapitalistische Kampf<br />

die Abschaffung des Patriarchats lediglich als<br />

einen Nebenwiderspruch gelten lassen wollte<br />

und davon ausging, dass in einem sozialisti-<br />

schen Staat die Gleichberechtigung der Ge-<br />

schlechter sich „von allein“ einstellen würde.<br />

Dieser Glauben fehlte den Frauen nach jahre-<br />

langen Erfahrungen mit ihren studentischen<br />

Kollegen in der gemeinsamen politischen Ar-<br />

beit.<br />

- Eigene Räume für Mädchen,<br />

- Geschlechtshomogenität der Angebote,<br />

- Ausschließlich Frauen in der Mädchenarbeit<br />

und<br />

- Die Abschaffung des Patriarchats<br />

diskursehältnis zu historische und aktuelle diskurse<br />

waren und sind bis heute die dem Radikalfemi-<br />

nismus geschuldeten Eckpfeiler feministischer<br />

Mädchenarbeit.<br />

Die siebziger Jahre<br />

In den siebziger Jahren wurden insbesondere<br />

in der Jugendarbeit aber auch in der Jugend-<br />

bildungsarbeit und in sozialen Trainingskursen<br />

die ersten Ansätze feministischer Mädchenar-<br />

beit entwickelt und erprobt. Mädchengruppen<br />

und —angebote wurden in koedukativen Ein-<br />

richtungen installiert, oftmals gegen den Wi-<br />

derstand von Kollegen und Besuchern. Wegen<br />

des Widerstands und mangelnder Unterstüt-<br />

zung und aus der radikalfemiistischen Einsicht<br />

heraus, dass Mädchenarbeit in gemischtge-<br />

schlechtlichen Arbeitszusammenhängen und<br />

Trägerstrukturen nicht möglich sei, gründeten<br />

Frauen erste autonom feministische Träger<br />

und richteten hier, außerhalb der Jugendhil-<br />

festrukturen, Angebote für Mädchen ein. Diese<br />

autonomen Strukturen boten die Möglichkeit,<br />

fern der Vorgaben und Reglementierungen des<br />

Jugendhilfesystems Angebote für Mädchen<br />

entlang ihren Lebenslagen, Bedürfnissen und<br />

Problemen zu entwickeln. Die Freiheit des autonomen<br />

Raums, den die Sozialarbeiterinnen<br />

mit Ehrenamtlichkeit und befristeten Arbeitsplätzen<br />

bezahlten, eröfthete Möglichkeiten,<br />

Ansätze von Mädchenarbeit zu entwickeln, die<br />

direkt an ihren Lebensbedingungen ansetzten.<br />

Innerhalb der Jugendhilfestrukturen wäre dies<br />

so nicht möglich gewesen.<br />

Die achtziger Jahre<br />

In den achtziger Jahren differenzierte femiistische<br />

Mädchenarbeit sich aus: innerhalb der<br />

Jugendhilfe wurde versucht, adäquate Angebote<br />

für Mädchen auf- und auszubauen und<br />

dabei<br />

auch die in der autonomen Mädchenarbeit entwickelten<br />

Themen und Ansätze aufzugreifen.<br />

Innerhalb der autonomen Mädchenarbeit wurden<br />

Konzepte entwickelt in den<br />

Themenbereichen<br />

- sexuelle Gewalt und Gewalt gegen<br />

Mädchen<br />

- Gesundheit<br />

- Sexualität und Körper<br />

- Bewegung und Raumaneignung<br />

- Kultur<br />

- Freizeit.<br />

Aber auch für spezielle Gruppen von Mädchen<br />

wurden Konzepte erarbeitet, so für lesbische<br />

Mädchen, für Migrantmnnen (wobei sich dies<br />

auf muslimische Türkinnen beschränkte) und<br />

Mädchen mit Behinderungen.<br />

Da im autonomen Bereich das Konzept der feministischen<br />

Mädchenarbeit so definiert wurde,<br />

dass dazu auch feministische Trägerstrukturen<br />

gehörten, bezeichneten die Frauen in der<br />

Jugendhilfe ihre Arbeit zunehmend als parteiliche<br />

Mädchenarbeit. Diese beinhaltete die<br />

gleichen Ziele wie die feministische Mädchenarbeit,<br />

war aber auch in koedukativen Zusammenhängen<br />

möglich.<br />

Gestützt wurde der Ausbau der Mädchenarbeit<br />

in den achtziger Jahren durch den sechsten<br />

Jugendbericht der Bundesregierung 1984<br />

zur Situation von Mädchen in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Er wies die strukturellen<br />

Benachteiligungen von Mädchen sowohl<br />

gesamtgesellschaftlich als auch im Rahmen<br />

der Jugendhilfe nach und forderte u.a. die flächendeckende<br />

Einführung von Mädchenarbeit<br />

in der Jugendhilfe und eine generelle Kehrtwende<br />

in der Jugendhilfe zugunsten einer<br />

geschlechterdifferenzierten Pädagogik. Mit<br />

dem sechsten Jugendbericht hatten die Mädchenarbeitemnnen,<br />

wie die Pädagoginnen sich<br />

selbst nannten, erstmals ein wissenschaftliches<br />

Unterstützungsinstrument in der Hand,<br />

mit dem sie ihre Forderungen nach Mädchenarbeit<br />

untermauern konnten.<br />

Die neunziger Jahre<br />

Die neunziger Jahre brachten zwei Ereignisse<br />

hervor, die die Mädchenarbeit stark beeinflussten:<br />

Die Wiedervereinigung der beiden<br />

deutschen Staaten und die Einführung des<br />

Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG)<br />

1990/91. Die Neunziger waren das Jahrzehnt<br />

struktureller Verankerung von Mädchenarbeit<br />

in der Jugendhilfe und gleichzeitig die Zeit<br />

des Aufbaus von Mädchenarbeit in den neuen<br />

Bundesländern, da die Koedukation in der DDR<br />

generelles Erziehungsprinzip war.<br />

Nach 25 Jahren Debatte erhielt die Jugendhilfe<br />

nun also eine neue gesetzliche Grundlage.<br />

Mädchenarbeit war bis dato maximal geduldet<br />

in der Jugendhilfe. Mit dem KJHG kam nun<br />

eine gesetzliche Verpflichtung, alle Angebote<br />

und Leistungen der gesamten Jugendhilfe so<br />

zu gestalten, dass die unterschiedlichen Lebenslagen<br />

von Mädchen und Jungen berücksichtigt<br />

werden, Benachteiligungen abgebaut<br />

und die Gleichberechtigung der Geschlechter<br />

gefördert wird (~ 9,3 KJHG). Waren die achtziger<br />

Jahre geprägt von der konzeptionellen<br />

Entwicklung und dem Ausbau der Praxis, so<br />

kennzeichneten Anstrengungen um die strukturelle<br />

Verankerung von Mädchenarbeit in der<br />

Jugendhilfe die Entwicklung der Mädchenarbeit<br />

in den neunziger Jahren. Dabei stellt sich<br />

die Situation in den alten und neuen Bundesländern<br />

gänzlich unterschiedlich dar: Während<br />

in den alten Bundesländern die neue Aufgabe<br />

der geschlechterdifferenzierten Pädagogik<br />

in der Jugendhilfe auf die Frauenbewegung<br />

und 16 Jahre Auf- und Ausbau feministischer<br />

Mädchenarbeit zurückgreifen konnte, Personal-<br />

und Angebotsstrukturen sowie Konzepte<br />

vorhanden waren, ereilte die neu aufzubauende<br />

Jugendhilfe in den neuen Bundesländern<br />

mit ihrer Koedukationshistorie die Anforderung<br />

als gesetzliche Vorgabe ohne irgend eine Vorerfahrung.<br />

Hinzu kam, dass in den neuen Bundesländern<br />

große Teile der Jugendhilfe über ar-<br />

beitsmarktpolitische Maßnahmen eingerichtet historische wurden, was bedeutete, dass viele Kräfte über<br />

keine oder nur geringe pädagogische Ausbil-<br />

dungen verfügten und schon gar keine Erfah-<br />

rungen in der Mädchenarbeit besaßen.<br />

Auf der Grundlage dieser unterschiedlichen<br />

Voraussetzungen in den alten und neuen Bun-<br />

desländern waren die neunziger Jahre in der<br />

Mädchenarbeit gekennzeichnet von Anstren-<br />

gungen der strukturellen Verankerung in der<br />

Jugendhilfe. Mädchenarbeit entwickelte mit<br />

dem Gesetz im Rücken vielfältige Instrumente,<br />

die die Angebote und Einrichtungen zu Re-<br />

gelangeboten der Jugendhilfe werden lassen<br />

sollten:<br />

- mädchengerechte Konzepte der Jugend-<br />

hilfeplanung,<br />

- Leitlinien zur Mädchenarbeit<br />

- MädchenfiSrderpläne<br />

- Arbeitsgemeinschaften zur Mädchenar-<br />

beit gemäß § 78 KJHG<br />

- Arbeitskreise zur Mädchenarbeit<br />

- Sitz und Stimme für die Mädchenarbeit<br />

in Jugendhilfeausschüssen<br />

- Mitarbeit in Jugendhilfegremien<br />

- Gründung von Landesarbeitsgemein-<br />

schaften der Mädchenarbeit<br />

- Gründung der Bundesarbeitsgemein-<br />

schaft Mädchenpolitik<br />

waren solche Instrumente, die mit großen<br />

Anstrengungen und gegen oftmals erhebli-<br />

che Widerstände durchgesetzt wurden, und<br />

der Mädchenarbeit fortan einen gesicherte-<br />

ren Status verlieh. Ziel war, die bestehenden<br />

Angebote der Mädchenarbeit konzeptionell,<br />

finanziell und personell zu sichern und alle Ju-<br />

gendhilfeangebote mädchengerecht weiter zu<br />

entwickeln.<br />

Mädchenarbeit im neuen Jahrtausend<br />

Dreizehn Jahre nach Einführung des KJHG<br />

kann nicht die Rede davon sein, dass die Vor-<br />

gabe des § 9,3 in der Jugendhilfe umgesetzt<br />

wäre. Die strukturelle Verankerung von Mäd-<br />

chenarbeit ist immer noch eine Arbeit gegen<br />

Widerstände, ist immer noch Provokation. Ein-<br />

ziger Motor ist die Mädchenarbeit selbst, und<br />

Jugendhilfe bewegt sich nur an den Stellen auf<br />

Mädchen zu, an denen sie von der Mädchen-<br />

arbeit unter öffentlichen Druck gesetzt werden<br />

kann. Trotzdem haben die Bemühungen der<br />

Mädchenarbeit Erfolg gezeigt: Mädchenarbeit<br />

58 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 59<br />

historische und aktuelle diskurse


ist zwar keine Selbstverständlichkeit, aber auch<br />

nicht mehr wegzudenken aus der Jugendhilfe.<br />

Zumindest theoretisch ist sie anerkannt als<br />

Notwendigkeit. In einigen Leistungsbereichen,<br />

insbesondere in denen, in denen Mädchenar-<br />

beit entstand, gehört sie heute zum Angebot<br />

vieler Einrichtungen: Jugendzentren verfügen<br />

in der Regel über Mädchenräume oder Mäd-<br />

chentage. Aber auch in anderen Leistungsbe-<br />

reichen wie der Jugendsozialarbeit, der Inob-<br />

hutnahme und den erzieherischen Hilfen gibt<br />

es inzwischen Angebote der Mädchenarbeit.<br />

Gemeinsam ist allen, dass Mädchenarbeit in<br />

der Regel nicht strukturell sondern personell<br />

verankert ist. D. h., dort, wo engagierte Frauen<br />

Mädchenarbeit durchsetzen und anbieten, gibt<br />

es sie. Gehen die Frauen, geht die Mädchen-<br />

arbeit mit, weil sie nicht in den Konzeptionen<br />

der Träger und Einrichtungen verankert ist und<br />

weil sich außer den Mädchenarbeitermnnen<br />

Niemand verantwortlich fühlt.<br />

Die ehemals autonomen Projekte feministi-<br />

scher Mädchenarbeit der achtziger Jahre sind<br />

entweder zu Regelangeboten der Jugendhilfe<br />

geworden (insbesondere die Mädchenhäu-<br />

ser) oder mangels finanzieller Möglichkeiten<br />

geschlossen worden. Somit konzentriert sich<br />

Mädchenarbeit heute im Wesentlichen auf die<br />

Jugendhilfe und ist damit wieder in den Schoß<br />

zurück gekehrt, aus dem sie in den Siebzigern<br />

aufhrach. Diese Rückkehr war und ist mit Rei-<br />

bungsverlusten verbunden: zu verzeichnen ist<br />

ein Verlust gesellschaftspolitischer Ansprüche<br />

zu Gunsten politischer Arbeit innerhalb der<br />

Jugendhilfe. Ebenso konstatiert werden muss<br />

eine Qualitätsverschiebung respektive ein<br />

Qualitätsverlust: Mit den Bemühungen um die<br />

strukturelle Verankerung von Mädchenairbeit<br />

in der Jugendhilfe und dem Sterben der auto-<br />

nomen Projekte verschwand der feministische<br />

Anspruch der Mädchenarbeit zusehends und<br />

wurde durch die Parteilichkeit als Merkmalsbe-<br />

schreibung ersetzt. Aber auch die parteiliche<br />

Mädchenarbeit verschwindet seit einigen Jah-<br />

ren als Begriff. Übrig bleibt „Mädchenarbeit“,<br />

die ohne die Spezifizierungen als feministisch<br />

oder parteilich alles, was mit Mädchen getan<br />

wird, zu Mädchenarbeit deklarieren lässt. In<br />

neuerer Zeit wird sogar der Begriff der Mäd-<br />

chenarbeit zunehmend durch den Begriff der<br />

geschlechtsspezifischen Arbeit mit Mädchen<br />

ersetzt. Mit diesen Begriffsänderungen sind<br />

diskurseist zwar historische und aktuelle diskurse<br />

deutliche Einbußen der Ziele und Inhalte verbunden.<br />

Mädchenarbeit heute ist ein eigenständiges<br />

System im System der Jugendhilfe. Dieser Fakt<br />

ist einerseits dem Widerstand der Jugendhilfe<br />

und andererseits den radikalfeministischen<br />

Wurzeln feministischer Mädchenarbeit geschuldet.<br />

Aus Sicht der Mädchenarbeit wird<br />

dieser Status zwiespältig erlebt und beurteilt:<br />

einerseits ermöglicht er, Konzepte der Mädchenarbeit<br />

relativ autonom zu entwickeln,<br />

andererseits ist er ein wesentlicher Grund, warum<br />

Mädchenarbeit nicht zum Regelangebot<br />

der Jugendhilfe werden kann. Die Betonung<br />

des Besonderen macht es schwer, zur Normalität<br />

zu gehören, und dieses Dilemma ist bis<br />

heute nicht lösbar.<br />

Mädchenarbeit in der Kritik<br />

Und während Mädchenarbeit noch mit der Rettung<br />

ihrer Grundsätze und ihrer strukturellen<br />

Verankerung in der Jugendhilfe beschäftigt ist<br />

und Jugendhilfe ihren gesetzlichen Vorgaben<br />

in Bezug auf die Förderung der Gleichberechtigung<br />

noch nicht ausreichend nachkommt,<br />

werden seit einigen Jahren die Stimmen lauter,<br />

die Mädchenarbeit grundsätzlich in Frage stellen.<br />

Genährt werden diese Stimmen aus unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen, forscherischen<br />

und rechtlichen Entwicklungen jüngerer Zeit,<br />

die fehlinterpretiert darauf hinzudeuten scheinen,<br />

dass Mädchenarbeit nicht mehr notwendig<br />

oder sogar kontraproduktiv für die Gleichberechtigung<br />

von Mädchen und jungen Frauen<br />

wirkt. Als Argumente werden angeführt:<br />

- Mädchen heute sind starke, selbstbewusste<br />

Mädchen, die keine explizite<br />

Förderung mehr brauchen und wollen.<br />

Sie sind besser gebildet als Jungen,<br />

verfügen zusätzlich über mehr soziale<br />

Kompetenz und sind, abgesehen von<br />

wenigen Bereichen, heute gleichberechtigt.<br />

- Jungen haben große Schwierigkeiten<br />

mit ihrer klassischen Jungensozialisation<br />

in der modernen Gesellschaft. Ihre<br />

Fähigkeiten sind nicht mehr zeitgerecht,<br />

ihre Bildung ist nicht ausreichend und<br />

Selbstmord, stottern oder Bettnässen<br />

sind Symptome, die auf massive Schwierigkeiten<br />

hinweisen und bei Jungen<br />

erheblich öfter vorzufinden sind als bei<br />

Mädchen. Insofern brauchen nun Jungen<br />

die Aufmerksamkeit geschlechtsspezifischer<br />

Pädagogik.<br />

- Die moderne Frauenforschung beschäftigt<br />

sich mit dem Dekonstruktivismus<br />

als gesellschaftstheoretisches Konstrukt.<br />

Differenz- und gleichheitstheoretische<br />

Ansätze, die geschlechtshomogene<br />

Angebote für Mädchen begründeten,<br />

gelten heute als überholt. Insofern sind<br />

Angebote, die am Geschlecht als Zugang<br />

und Ausrichtung ansetzen, veraltet<br />

und führen eher zur Manifestation<br />

von Benachteiligungen als zu ihrer Aufhebung.<br />

- Gender Mainstreaming ist das kommende<br />

Instrument der Gleichberechtigungsförderung<br />

und macht Mädchenarbeit<br />

überflüssig.<br />

Diese Argumentationen haben Konjunktur,<br />

weil sie eingängig in ihrer Schlichtheit sind<br />

und weil sie all denen, die weiterhin unterschwellig<br />

oder offen Widerstand gegen Mädchenarbeit<br />

übten, Argumente an die Hand<br />

geben. Dass die sogenannten neuen Mädchen<br />

nicht reale Mädchen sind, sondern zunächst<br />

einmal medial hergestellte Bilder, an denen<br />

Mädchen sich orientieren, dass die Schwierigkeiten<br />

von Jungen nicht einhergehen mit einer<br />

Verbesserung der gesellschaftlichen Situation<br />

von Mädchen, sondern für sich als Problem zu<br />

lösen sind, dass die Frauenforschung immer<br />

wieder darauf verweist, dass theoretische Dekonstruktionskonzepte<br />

nicht einfach in Politik<br />

zu übersetzen sind und dass die Strategie des<br />

Gender Mainstreaming ausdrücklich als ergänzende<br />

Strategie zur bisherigen Mädchen-und<br />

Frauenpolitik verabschiedet wurde, scheint dabei<br />

nicht zu stören. Diese neuen Gegenstrategien<br />

gegen die Mädchenarbeit weisen deutlich<br />

darauf hin, dass das Patriarchat seine männlichen<br />

Machtpfründe auch weiterhin verteidigt<br />

und darauf, dass es richtig und notwendig ist,<br />

auch weiterhin strukturelle und reale Privilegien<br />

von Männern und Benachteiligungen von<br />

Frauen öffentlich zu benennen und Maßnahmen<br />

einzufordern.<br />

Perspektiven feministischer Mädchenarbeit<br />

Abgesehen davon, dass Mädchenarbeit ihre<br />

Konzepte und Angebote regelmäßig an<br />

gesellschaftliche Veränderungen anpassen<br />

60 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 61<br />

muss, stehen für die kommenden Jahre we-<br />

sentliche<br />

we-historische Fragen und Aufgaben an, für die es Antworten<br />

und Lösungen zu finden gilt:<br />

- Gesellschaftliche<br />

Individualisierungs-<br />

und Pluralisierungstendenzen wirken<br />

sich auch auf die Lebensbedingungen<br />

von Mädchen aus. Immer weniger gibt<br />

es „die“ Mädchen, immer stärker diffe-<br />

renziert sich die „Gruppe“ der Mädchen<br />

aus. Für die Mädchenarbeit bedeutet<br />

dies den Abschied von Konzeptionen<br />

„für Mädchen“ und die<br />

Entwicklung zielgruppengenauer Kon-<br />

zepte, die immer wieder überprüft und<br />

modifiziert werden müssen. Neben dem<br />

Merkmal Geschlecht müssen andere<br />

wie die ethnische und religiöse Zuge-<br />

hörigkeit, die Familiensituation, der<br />

Bildungsstand oder das Lebensumfeld<br />

gleichermaßen in den Blick genommen<br />

werden, wenn Mädchenarbeit passge-<br />

nau Konzepte für Mädchen anbieten<br />

will.<br />

- Mädchenarbeit muss sich dem System<br />

der Jugendhilfe stärker öfTnen, ohne<br />

ihre Identität zu verlieren, will sie per-<br />

spektivisch zum Regelangebot werden.<br />

Das bedeutet, innerhalb der jeweiligen<br />

Einrichtung offensiv in Debatten um<br />

Konzepte von Mädchenarbeit zu gehen,<br />

mit allen Kolleginnen und Kollegen.<br />

Mädchenarbeit darf nicht länger die<br />

Aufgabe einzelner, sondern muss in die<br />

Verantwortung aller in einer Einrichtung<br />

gelegt werden. Wird sie dann um Jun-<br />

genarbeit ergänzt, ist dies zu begrüßen.<br />

Die gemeinsame Verantwortung für die<br />

Zielgruppe Mädchen kann aber auch<br />

übernommen werden, wenn es keine<br />

Jungenarbeitsangebote gibt.<br />

- Als eher „autonomes“ System im Sys-<br />

tem der Jugendhilfe brauchte Mädchen-<br />

arbeit sich nie mit den grundsätzlichen<br />

pädagogischen Fragen der Jugendhilfe<br />

zu beschäftigen und hat dies auch nicht<br />

getan. Debatten um die Funktionen von<br />

Jugendhilfe zwischen Strafe, Überwa-<br />

chung und Unterstützung liefen an der<br />

Mädchenarbeit vorbei. Mädchenarbeit<br />

hat sich immer als ausschließlich un-<br />

terstützend verstanden. Will sie zur<br />

historische und aktuelle diskurse


Die Geschichte der Mädchenarbeit im Wandel<br />

sozialer Arbeit ist eine Geschichte zweier Be-<br />

reiche, die eigentlich ineinander und mitein-<br />

ander existieren sollten, die aber, so zeigt die<br />

Geschichte, von zwei voneinander weitgehend<br />

unabhängigen Entwicklungen erzählt. Im Inte-<br />

historische und aktuelle diskurse<br />

Jugendhilfe gehören, kommt Mädchenarbeit<br />

aber nicht länger daran vorbei,<br />

sich auch mit den grundsätzlichen Fragen<br />

staatlicher Ziele von Jugendhilfe zu<br />

beschäftigen.<br />

- Gender Mainstreaming ist eine Strategie,<br />

die, wenn sie ernsthaft umgesetzt<br />

wird, die Gleichberechtigung der<br />

Geschlechter fördern kann. Damit sie<br />

sinnvoll installiert wird, ist das Wissen<br />

der Frauen- und Mädchenforschung<br />

notwendig und die Fachkompetenz der<br />

Mädchenarbeiterinnen. Mädchenarbeit<br />

muss sich in Gender Mainstreaming<br />

Prozesse aktiv einmischen und sie qualifizieren.<br />

Gleichzeitig braucht Mädchenarbeit<br />

eine eigenständige Debatte und<br />

Standortbestimmung darüber, wie die<br />

zukünftige Zusammenarbeit mit den<br />

zumeist männlichen Kollegen in Leitungspositionen<br />

aussehen kann, wenn<br />

diese zu überprüfen haben, ob Entscheidungen<br />

geschlechtergerecht sind oder<br />

nicht und welche Maßnahmen zu treffen<br />

sind, um Gleichberechtigung herzustellen.<br />

Hier verschiebt sich die Definitionsmacht,<br />

und Mädchenarbeit muss<br />

konkrete Umgangswege entwickeln.<br />

Wesentliche Privilegien von Männern liegen<br />

heute noch im Erwerbsarbeitssektor und<br />

in der Verteilung von Verantwortung für<br />

Familienaufgaben. Entsprechend verlagern<br />

sich Benachteiligungen für Mädchen<br />

auf das frühe Erwachsenenalter<br />

und realisieren sich auch wesentlich außerhalb<br />

von Feldern, die durch pädagogische<br />

Intervention bearbeitet werden<br />

können. Das bedeutet, dass das Feld der<br />

Jugendhilfe alleine für die Begleitung<br />

und Unterstützung von Mädchen und<br />

jungen Frauen zu eng ist. Mädchenarbeit<br />

muss stärker kooperieren lernen mit<br />

Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik, mit<br />

Arbeitgeberverbän-<br />

Gewerkschaften,<br />

den, Kammern etc.<br />

resse von Mädchen und jungen Frauen sollte<br />

sich das zukünftig ändern. Gender Mainstreaming<br />

in Verbindung mit dem Beharren auf der<br />

Notwendigkeit parteilicher und feministischer<br />

Mädchenarbeit könnte eine Perspektive sein,<br />

in Zukunft von der Geschichte einer mädchengerechten<br />

Jugendhilfe zu erzählen.<br />

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Neue Ansätze einer emanzipatorischen<br />

Praxis. In<br />

MATERIALIEN ZUM FUNFTEN JUGENDBE-<br />

RICHT 5:<br />

Jugendarbeit - Mädchen in der Jugendarbeit<br />

— Gewerkschaftliche Jugendbildung.<br />

München 1980 b, 5.173 -211<br />

SAVIER, MONIKA! WILDT, CAROLA: Rockerbräute,<br />

Trebemnnen und Schulmädchen<br />

—zwischen Anpassung und Gegenwehr.<br />

Ein Beitrag über die Diskriminierung von<br />

Mädchen. In: KURSBUCH 47, 1977, S.161-<br />

173<br />

SAVIER, MONIKA! WILDT, CAROLA: Mädchen<br />

zwischen Anpassung und Widerstand.<br />

Neue Ansätze zur femiistischen<br />

Jugendarbeit. München 1978<br />

WALLER,, CLAUDIA: Das Kinder- und Ju-<br />

gendhilfegesetz und die Mädchenförde-<br />

rung, in:<br />

FRIEBERTSHAUSER, BARBARA! JAKOB,<br />

GISELA! KLEES-MÖLLER, RENATE(Hrsg.):<br />

Sozialpädagogik im Blick der Frauenfor-<br />

schung. Weinheim 1997, S.184-191<br />

WALLNER, CLAUDIA: Feministische Mäd-<br />

chenarbeit im Dilemma zwischen Diffe-<br />

renz und Integration, in:<br />

G1NTZEL, ULLRICH! SCHONE, REINHOLD<br />

(Hrsg.): Jahrbuch der sozialen Arbeit<br />

1997. Münster 1996, 5.208-223<br />

Dipl. Päd. Claudia Wallner<br />

Scheibenstrasse 102<br />

D-48153 Münster<br />

e-mail: clwallner@aol.com<br />

62 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 63<br />

historische und aktuelle diskurse


Auf den ersten Blick erscheint die Frage nach<br />

sozialer Dienstleistung im Sozialstaat ein<br />

wenig trivial und wenig herausfordernd. Bei<br />

genauerem Hinsehen jedoch erweist es sich<br />

als ein höchst komplexes Thema. Dies hat vor<br />

allem damit zu tun, daß „die „ Gesellschaft<br />

und mit ihr die Rolle „des“ Staates und damit<br />

zugleich die Rolle des Sozialstaates zur Zeit be-<br />

trächtlichen Wandlungsprozessen unterliegen<br />

(Schaarschuch 2003).<br />

historische und aktuelle diskurse<br />

Andreas Schaarschuch<br />

Soziale Dienstleistung im Sozialstaat<br />

Häufig wird in der medialen Öffentlichkeit die<br />

Kategorie der ‚Globalisierung’ herangezogen,<br />

um diese Veränderungen zu kennzeichnen: die<br />

Globalisierung der Weltwirtschaft – also der<br />

internationalen Finanzströme, die zunehmende<br />

ökonomische und politische Macht transnatio-<br />

naler Unternehmen – so die These schränke die<br />

Handlungsspielräume der verschiedenen Nati-<br />

onalstaaten insbesondere im Hinblick auf die<br />

Höhe der Sozialleistungsquote erheblich ein.<br />

Daraus wird dann oft - aber fälschlicherweise<br />

- der Schluß gezogen, die regulative Macht und<br />

Funktion des Staates selber sei in Mitleiden-<br />

schaft gezogen. Es ist jedoch vielmehr davon<br />

auszugehen, daß sich die staatliche Regulati-<br />

onstätigkeit auf andere Bereiche verlagert und<br />

zudem einem Formwandel unterliegt. Dieser<br />

Wandlungsprozeß kann in regulationstheore-<br />

tischen Kategorie angemessen rekonstruiert<br />

und prägnant mithilfe englischsprachlicher<br />

Begriffe als der Übergang vom ‚welfare sta-<br />

te’ zum ‚workfare state’ (Jessop 1994; 2002)<br />

oder aber zum ‚nationalen Wettbewerbstaat’<br />

(Hirsch 1998; 2001) gekennzeichnet werden.<br />

Beide Konzeptionen gehen weitgehend von<br />

denselben Entwicklungen aus, setzen aber<br />

leicht unterschideliche Akzente: Während der<br />

‚nationale Wettbewerbstaat’ primär die Di-<br />

mension der Außenbeziehungen der verschie-<br />

denen Nationalstaaten zueinander bezeichnet,<br />

richtet sich die Bezeichnung ‚workfare state’<br />

primär auf die Binnendimension dieser Verän-<br />

derungen.<br />

Veränderungen der Wohlfahrtsstaatlichkeit<br />

Der Wohlfahrtsstaat klassischen Typs – und das<br />

heißt für alle westlichen Wohlfahrtsstaaten,<br />

insbesondere aber für den deutschen Wohlfahrtsstaat<br />

– ist gekennzeichnet durch eine<br />

Strategie der Sicherung der Vollbeschäftigung<br />

in relativ geschlossenen nationalen Ökonomien<br />

einerseits und andererseits durch die Organisierung<br />

korporativer ‚tripartistischer’ Formen<br />

gesellschaftlicher Steuerung. Hingegen sind<br />

die zentralen Kennzeichen des workfare State<br />

zum einen die Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit<br />

der nationalen Ökonomien im<br />

globalen Kontext primär durch Interventionen<br />

auf der Angebotsseite, d. h. im Bereich der<br />

Infrastrukturpolitik, der Forschungs- und Entwicklungspolitik,<br />

also dem, was unter dem<br />

Stichwort „Standortpolitik“ zusammengefaßt<br />

werden kann; zum zweiten die Unterordnung<br />

der Sozialpolitik unter die Anforderungen der<br />

nationalstaatlichen Standortpolitik. Hier geht<br />

es in erster Linie um die sog. „Arbeitsmarktflexibilisierung“,<br />

insbesondere aber um die<br />

Bearbeitung der Konsquenzen der politischen<br />

Hinnahme von struktureller Massenarbeitslosigkeit<br />

mit dem Ergebnist der Spaltung der<br />

Gesellschaft entlang der Scheidelinie von „Arbeit<br />

haben“ und „keine Arbeit haben“. Drittens<br />

hat sich im Übergang zum workfare state auch<br />

die Form der Regulationstätigkeit des Staates<br />

verändert. Statt einer Orientierung an relativ<br />

starren inhaltlichen Vorgaben zur Ausgestaltung<br />

von Lebensverhältnissen, wie sie etwa<br />

im sog. ‚Normalarbeitsverhältnis’ (Mückenberger)<br />

fixiert sind, werden nun die Rahmungen<br />

definiert, innerhalb derer die Akteure den<br />

Umgang mit den gesellschaftlichen Risiken<br />

der Lebensführung anhand von individuellen<br />

Kosten-Nutzen-Kalkülen eigenverantwortlich<br />

und rational ausgestalten. Das Subjekt wird<br />

hier zum Selbstunternehmer, das seine eigene<br />

Lebenstätigkeit zum Zweck des eigenen Überlebens<br />

instrumentalisieren muß. Dies ist insbesondere<br />

in theoretischen Ansätzen, die dies<br />

unter Rückgriff auf theoretische Ansätze von<br />

Foucault als gouvernementalité oder governmentality<br />

bezeichnen, wobei insbesondere auf<br />

die Verschmelzung mentaler Strukturen mit<br />

gesellschaftlichen Handlungsanforderungen<br />

verwiesen wird (Krasmann 1999; Lemke 2000).<br />

Der workfare state ist in seiner deutschen<br />

Variante als ‚aktivierender Sozialstaat’ und<br />

‚aktivierende Soziale Arbeit’ auch in den Personenbezogenen<br />

sozialen Dienstleistungen<br />

angekommen (vgl. Dettling 1995; Bandemer/<br />

Hilbert 1998; Olk 2000). Die Grundvorstellung<br />

des politischen Konzeptes des aktivierenden<br />

Staates ist, daß der als „pateranalistisch“<br />

attributierte klassische Wohlfahrtsstaat die<br />

Menschen zu passiven Objekten mache. Deshalb<br />

müßten die sozialen Leistungen so ausgestaltet<br />

werden, daß die Menschen, die zur<br />

Aufnahme jedweder Arbeit fähig sind, auch<br />

zur Aufnahme von Arbeit bewegt werden. Dies<br />

geschieht gemeinhin durch die Kürzung von<br />

Leistungen, oder aber eine punitive Ausgestaltung<br />

des Leistungsvollzuges indem etwa sog.<br />

„gemeinnützige Arbeit“ als Vorbedingung für<br />

den Bezug von Sozialhilfeleistungen auferlegt<br />

wird. Das Individuum – so die aktivierende Sozialpolitik<br />

– müsse durch die Sozialpolitik und<br />

insbesondere durch die personenbezogenen<br />

Dienste nun in die Lage versetzt werden, sein<br />

Leben in Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit<br />

zu führen.<br />

Die dem workfare state zugrundeliegende<br />

zentrale Idee, sowohl auf organisatorischer als<br />

auch auf ideologischer Ebene, ist die Idee des<br />

umfassenden Wettbewerbs. Wettbewerb und<br />

das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit gelten<br />

als das Movens der Gesellschaft. Nur durch<br />

selektiven Wettbewerb und durch Konkurrenzverhältnisse<br />

sei Innovation zu gewährleisten,<br />

die Steigerung von Produktivität, Effektivität<br />

und Effizienz möglich sowie ein hohes Ausmaß<br />

an Qualität zu erreichen. Wettbewerb und Konkurrenz<br />

findet sich daher nicht nur auf der Ebene<br />

von Nationalstaaten („nationaler Wettbewerbsstaat“),<br />

sondern auch auf der Ebene von<br />

Regionen und Kommunen, die miteinander im<br />

Rahmen der Standortsicherung konkurrieren.<br />

Wettbewerb findet sich insbesondere auch auf<br />

dem Arbeitsmarkt zwischen den Beschäftigten<br />

verschiedener Arbeitsmarktsegmente, insbesondere<br />

aber zwischen den (noch) Beschäftigten<br />

und den Arbeitslosen. Und wir finden<br />

ihn schließlich auf der Ebene der Individuen,<br />

auf dem die Subjekte als Nutzen optimierende<br />

„Selbstunternehmer“ unter Konkurrenzverhältnissen<br />

ihre Lebensführung gestalten müssen<br />

(Kessl/Otto 2002)<br />

Wettbewerbsstaat, workfare state und Soziale<br />

historische<br />

Arbeit<br />

Auf dem Feld der Sozialen Arbeit hat dies – zu-<br />

mindest - zweierlei Konsequenzen: zum einen<br />

die Implementation von Wettbewerbs- und<br />

Marktmechanismen in sozialen Dienstleis-<br />

tungsbereich und damit die Institutionalisie-<br />

rung von Konkurrenzverhältnissen zwischen<br />

den verschiedenen Anbietern von sozialen<br />

Dienstleistungen (Otto/Schnurr 2000). Zum<br />

zweiten findet sich der politisch motivierte<br />

Versuch, die Adressaten sozialer Arbeit als<br />

nutzenoptimierende Kunden zu definieren, die<br />

sich auf einem Markt diejenigen Dienstleistun-<br />

gen heraussuchen, die ihren Präferenzen ent-<br />

sprechen (Schaarschuch 1996; 2000)<br />

Vor diesem Hintergrund der Durchsetzung des<br />

workfare state bzw. des aktivierenden Sozi-<br />

alstaates ergeben sich tiefgreifende Konse-<br />

quenzen für die Profession. Personenbezogene<br />

soziale Dienstleistungen werden stärker als je<br />

zuvor zur Feststellung der ‚Aktivierungsfähig-<br />

keit’ der Adressaten herangezogen. Soziale Ar-<br />

beit wird, indem sie die Unterscheidungen von<br />

„würdigen“ und „unwürdigen“ Armen treffen<br />

muß, auf den Stand des 19. Jahrhunderts zu-<br />

rückverwiesen. In diesem Prozeß geraten his-<br />

torisch entwickelte professionelle Handlungs-<br />

prinzipien – wie etwa die Lebenswelt- und<br />

Subjektorientierung, diskursive Problemdefi-<br />

nitionen, Konzepte stellvertretender Deutung<br />

und advokatorischen Handelns – zunehmend<br />

unter Druck. An ihre Stelle treten neue Formen<br />

der Beaufsichtigung, des Paternalismus, der<br />

Koppelung von Leistung und Gegenleistung,<br />

der Überwachung und Kontrolle der Lebens-<br />

führung (Dahme/Wohlfahrt 2002)..<br />

Nicht nur aufgrund der neoliberalen Strategie<br />

der Durchsetzung von Wettbewerb auf allen<br />

Ebenen, sonder auch aufgrund des extrem re-<br />

duzierten Finanzaufkommens in den Kommu-<br />

nen als Folge von Massenarbeitslosigkeit und<br />

steuerpolitischen Entscheidungen kommt es zu<br />

einem erheblichen Rationalisierungsdruck auf<br />

die kommunalen Dienstleistungen. Dabei geht<br />

es um eine Steigerung von Effektivität und Ef-<br />

fizienz, ohne dabei das Finanzvolumen zu erhö-<br />

hen („doing more with less“). Ausdruck dieser<br />

Rationalisierungsstrategie ist das ‚new public<br />

management’ mit seiner spezifisch deutschen<br />

Variante des ‚neuen Steuerungsmodells’. Das<br />

64 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 65<br />

historische und aktuelle diskurse


diskurseLeitbild diskurse„Dienstleistungsunternehmen“ historische und aktuelle diskurse<br />

Leitbild des neuen Steuerungsmodells ist das<br />

„Dienstleistungsunternehmen“ Kommunalver-<br />

waltung (KGSt 1993). Die Intention des neuen<br />

Steuerungsmodells besteht darin, Steuerungs-<br />

mechanismen aus dem privatwirtschaftlichen<br />

Sektor in den bislang politisch-rechtlich ge-<br />

steuerten öffentlichen Sektor zu übertragen.<br />

Im Hinblick auf die Ebene der Einrichtungen<br />

bzw. der Organisationen soll dies erreicht wer-<br />

den durch<br />

- Kontraktmanagement (Steuerung durch<br />

Verträge)<br />

- Budgetierung (Zusammenfassung von<br />

Fach- und Ressourcenverantwortung)<br />

- durch Leistungs- d. h. durch Produktoder<br />

“Output-Orientierung”<br />

- durch Kontrolling und Qualitätssichrungsverfahren<br />

Im Hinblick auf die Ebene der Interaktionen<br />

der Verwaltungsmitarbeiter – und das heißt in<br />

unserem Fall: im Hinblick auf das Handeln der<br />

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter – wird<br />

entsprechend gefordert, dieses am Modell<br />

der Dienstleistung auszurichten. Damit ist ge-<br />

meint, daß sich das Handeln der Professionel-<br />

len weitgehend an den Wünschen der explizit<br />

als solchen bezeichneten „Kunden“ orientiert.<br />

Soziale Arbeit solle den Charakter eines Kun-<br />

dendienstes annehmen. Dabei wird angenom-<br />

men, daß über eine solchermaßen verstandene<br />

Form der Dienstleistung das Passungsverhält-<br />

nis von Angebot und Nachfrage optimiert wer-<br />

den kann und dies zu einer Effektivitäts- und<br />

Effizienzsteigerung der öffentlichen Dienste<br />

führen wird (Schaarschuch 1996).<br />

Von Seiten der Professionellen also von Seiten<br />

der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wird<br />

dieser Forderung nach einer Dienstleistungso-<br />

rientierung, nach einer Orientierung an den<br />

Wünschen der ‚Kunden’, keineswegs nur mit<br />

Ablehnung nur begegnet. Vielmehr wird ihr<br />

eine große „Attraktivität“ und „Faszination“<br />

(Merchel 1995) bescheinigt.<br />

Wie aber ist es zu erklären, daß Professionel-<br />

le des Öffentlichen Dienstes oft bereitwillig<br />

auf die betriebswirtschaftliche Rhetorik der<br />

neuen Steuerung einschwenken? Seit etwa<br />

15 - 20 Jahren werden in der Sozialen Arbeit<br />

Konzepte der Lebensweltorientierung, bzw.<br />

der Subjektorientierung diskutiert und zwar<br />

auf disziplinärer wie auch auf professioneller<br />

Ebene. Im Zentrum dieser Ansätze stehen<br />

die lebensweltlichen Bedingungs- und Deutungskontexte<br />

sowie die Respektierung bzw.<br />

Anerkennung der subjektiven Perspektiven der<br />

Adressaten. An diese weitverbreitete fachliche<br />

Orientierung an den lebensweltlichen Bezügen<br />

der Subjekte lagert sich nun diese neue im<br />

Rahmen der Modernisierung der öffentlichen<br />

Dienste gestellte Forderung nach einer Dienstleistungsorientierung,<br />

nach einer Orientierung<br />

an den Wünschen der sog. ‚Kunden’ an. Der<br />

Dienstleistungs- wie auch der Kundenbegriff<br />

– so scheint es – verheißt dabei eine neue Qualität<br />

im Verhältnis von Professionellen und Klienten.<br />

Und zwar eine neue Qualität<br />

- die sich in einem egalitäreren respektvollen<br />

Verhältnis der Sozialarbeiterinnen<br />

und Sozialarbeiter zu ihren Adressaten<br />

ausdrückt;<br />

- die die subjektiven Präferenzen der Klienten<br />

ernst nimmt und nicht länger paternalistisch<br />

überformt;<br />

- eine neue Qualität, die nicht zuletzt<br />

eine Gleichwertigkeit mit dem privaten<br />

Sektor also ein Bewußtsein der eigenen<br />

Modernität signalisiert<br />

Der Dienstleistungsbegriff, wie er im Rahmen<br />

des New-Public-Managements bzw. der Modernisierung<br />

der öffentlichen Verwaltung formuliert<br />

worden ist, erhält eine erhebliche theoretische<br />

wie auch professionspolitische Brisanz<br />

und stellt zudem eine erhebliche Provokation<br />

für professionelle Sichtweisen und Handeln<br />

dar, die darin besteht, daß in der Dienstleistungsfigur,<br />

die am Bild des ‚Kunden’ orientiert<br />

ist, dem Anspruch nach die Privilegierung der<br />

Nachfrageseite systematisch impliziert ist.<br />

Es ist verschiedentlich argumentiert worden,<br />

daß der Kundenbegriff in vielerlei Hinsicht<br />

inadäquat für die soziale Arbeit ist. Z. B.<br />

verfügen Klienten nicht über die materiellen<br />

Ressourcen sich Dienstleistungen auf einem<br />

Markt einzukaufen. Sie verfügen zudem nicht<br />

über die Informationen, die zum Agieren auf<br />

einem Markt notwendig sind; auch wenn die<br />

verschiedenen Anbieter sozialer Dienstleistungen<br />

miteinander konkurrieren existiert für<br />

die Adressaten sozialer Arbeit kein Markt auf<br />

dem sie unter verschiedenen Dienstleistungen<br />

wählen könnten; die Adressaten sozialer Arbeit<br />

sind zudem nicht immer voll handlungsfähig<br />

(Schaarschuch 1996).<br />

Dennoch ist davon auszugehen, daß soziale<br />

Arbeit die Herausforderung, die in dieser Privilegierung<br />

der Nachfrageseite im Kundenbegriff<br />

enthalten ist, aufnehmen muß. Die erste These<br />

in diesem Zusammenhang ist, daß soziale Arbeit<br />

als Dienstleistung theoretisch begründbar<br />

ist, und zwar sowohl als sozialstaatliche<br />

Dienstleitung jenseits der Markt- und Kundenlogik,<br />

als auch unter dem Aspekt der systematischen<br />

Privilegierung der Nachfrageseite. Die<br />

zweite These ist, daß die Dienstleistungskategorie<br />

der Profession die Möglichkeit bietet, den<br />

Herausforderungen und Gefahren, die sich für<br />

sie sowohl aus der aktivierenden Sozialpolitik<br />

als aus dem New Public Management ergeben,<br />

konzeptionell - politisch entgegenzutreten.<br />

Soziale Arbeit als Dienstleistung<br />

Wenn wir von der grundlegenden subjekttheoretischen<br />

Annahme ausgehen, daß die Subjekte<br />

selbst es sind, die ihre eigene Gesundheit,<br />

ihre eigene Sozialität, ihre eigene Bildung, ihr<br />

eigenes soziales Verhalten usw. hervorbringen,<br />

d. h. produzieren, dann ist in systematischer<br />

Perspektive professionelles sozialpädagogisches<br />

Handeln sekundär, nachrangig auf diese<br />

originäre Produktivität der Subjekte bezogen.<br />

Es liegt auf der Hand, daß professionelles<br />

soziales Handeln nicht selber Gesundheit,<br />

Bildung etc. produzieren kann, sondern den<br />

Produktionsprozeß der Subjekte ‚lediglich‘ zu<br />

unterstützen, begleiten, anregen, und motivieren<br />

vermag. Dies ist die Begründung dafür, daß<br />

den die soziale Dienstleistungen konsumierenden<br />

Subjekten, die die eigentlichen Produzenten<br />

– ihrer Bildung, sozialen Beziehungen etc.<br />

- sind, im Dienstleistungsprozeß der Primat<br />

zukommt. Die Selbstproduktivität der Subjekte<br />

ist der Ausgangspunkt einer dienstleistungstheoretisch<br />

begründeten sozialen Arbeit (Schaarschuch<br />

1999).<br />

Wenn wir dies nun auf sozialpädagogisches<br />

Handeln beziehen, wenn wir also danach<br />

fragen: wie kann professionelles sozialpädagogisches<br />

Handeln aus der Perspektive der<br />

Subjekte konzipiert werden, dann bietet sich<br />

der Dienstleistungsbegriff, die Dienstleistungskonzeption<br />

an. Ein erster Vorschlag zur<br />

theoretischen Bestimmung von Sozialer Arbeit<br />

als Dienstleistung soll daher lauten:<br />

Dienstleistung ist ein professioneller Hand-<br />

lungsmodus, der von der Perspektive des<br />

nachfragenden Subjekts als Konsument und<br />

Produzent zugleich ausgeht und von diesem<br />

gesteuert wird.<br />

Diese Figur der Dienstleitung, d. h. diese Rela-<br />

tion, dieses Spannungsverhältnis von professi-<br />

onellem Handeln und nachfragendem Subjekt<br />

kann als „Erbringungsverhältnis“ konzipiert<br />

werden. Ein solcher Begriff von Dienstleistung<br />

- nimmt die Herausforderung an, die im<br />

Dienstleistungsbegriff, der auf der Kun-<br />

denfigur aufbaut, enthalten ist – nämlich<br />

den Primat der Nachfrageseite<br />

- er begründet ihn aber jenseits der Markt-<br />

logik in der grundsätzlichen Selbstpro-<br />

duktivität der Subjekte<br />

- damit überschreitet und radikalisiert er<br />

zugleich sozialpädagogische Konzepte,<br />

die sich an den Subjekten lediglich “ori-<br />

entieren”.<br />

Ein solchermaßen konzipierter Dienstleis-<br />

tungsbegriff ist natürlich äußerst voraus-<br />

setzungsvoll: Zum einen im Hinblick auf die<br />

Subjekte: Vielfach müssen die Nutzer sozialer<br />

Arbeit erst mit Hilfe der Professionellen in<br />

die Lage versetzt werden, ihre Nachfrage zu<br />

aktualisieren und zu artikulieren, um schließ-<br />

lich steuernd auf den Prozeß der Dienstleis-<br />

tungserbringung einzuwirken. Zum anderen<br />

ist er auch anspruchsvoll im Hinblick auf die<br />

Rolle der Professionellen: Diese müssen das<br />

Subjekt als aktives, selbstproduktives Subjekt<br />

zunächst theoretisch unterstellen, dann aktiv<br />

mitproduzieren, um schließlich ihre Tätigkeit<br />

der Logik der Selbstproduktion der Subjekte<br />

nachzuordnen.<br />

Zugleich hat ein solcher Dienstleistungsbegriff<br />

auch eine normativ-kritische Dimension. Denn<br />

damit wird die reale Verfaßtheit sozialer Arbeit<br />

analytisch zugänglich: Also der sozialstaatli-<br />

che Regulierungsanspruch (in der Regel gibt<br />

es in den sozialen Diensten keine ‚Komm-Struk-<br />

tur‘ sondern diese sind eher kontrollierend-dis-<br />

ziplinierend ausgerichtet); die reale Verfaßtheit<br />

der Institutionen und Einrichtungen, die weit<br />

davon entfernt ist, der Logik der Selbstproduk-<br />

tivität der Subjekte zu folgen; die strukturellen<br />

Machtasymmetrien zwischen Professionellen,<br />

Nachfragern und Organisationen. D. h. mit Hilfe<br />

66 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 67<br />

historische und aktuelle diskurse


des Dienstleistungsbegriffes ist es möglich, die<br />

Realität sozialer Arbeit daraufhin zu befragen,<br />

inwieweit sie der Selbstproduktion der Subjek-<br />

te angemessen ist, d. h. im Wortsinne dienlich<br />

ist oder eben nicht angemessen ist und damit<br />

den tendenziell passiven Klientenstatus ledig-<br />

lich reproduziert.<br />

diskursedes Dienstleistungsbegriffes historische und aktuelle diskurse<br />

Organisationelle und institutionelle Kontexte<br />

der Dienstleistungserbringung<br />

Dieses hier nur skizzierte Erbringungsver-<br />

hältnis von sozialen Dienstleistungen – eines<br />

professionellen Handlungsmodus’, der vom<br />

nachfragenden Subjekt gesteuert wird – ist<br />

zunächst einmal eine sehr abstrakte Konzeptu-<br />

alisierung von Dienstleistung, die in konkrete<br />

Kontexte versetzt werden muß.<br />

Generell können zwei unterschiedliche Erbrin-<br />

gungskontexte von personenbezogenen sozia-<br />

len Dienstleistungen unterschieden werden:<br />

- Der kommerzielle, marktförmige Erbringungskontext,<br />

und der<br />

- Der (sozial-)staatliche Erbringungskontext<br />

von Dienstleistungen<br />

Zunächst zum marktförmigen Erbringungskon-<br />

text. Eingangs hatte ich darauf hingewiesen,<br />

daß die Forderung nach einer Dienstleistungs-<br />

orientierung, wie sie im Rahmen der Strategien<br />

zur Modernisierung der öffentlichen Verwal-<br />

tung gestellt wird, vor dem Hintergrund der<br />

Übertragung marktförmiger Steuerungsmittel<br />

in den Kontext der öffentlichen Dienste statt-<br />

findet und hierbei die Figur des ‚Kunden’ die<br />

zentrale Rolle spielt. Nach dieser Auffassung<br />

besteht der Vorteil einer Orientierung am<br />

‚Kunden’ darin, daß dieser mittels individu-<br />

eller Wahl- und Kaufakte auf der Basis seiner<br />

spezifischen Präferenzen Einfluß auf die Anbie-<br />

terseite ausüben kann – und zwar stets unter<br />

der Bedingung einer Mehrzahl von Anbietern,<br />

die zudem zueinander in einem Konkurrenz-<br />

verhältnis stehen müssen. Auf diese Weise<br />

– so wird dann angenommen – wird das Pas-<br />

sungsverhältnis von Angebot und Nachfrage<br />

optimiert, werden die Ressourcen effektiv und<br />

effizient eingesetzt und setzt sich qua Auslese<br />

das qualitativ bessere Angebot durch.<br />

Allerdings haben wir es in den konkreten so-<br />

zialstaatlichen<br />

Institutionalisierungsformen<br />

der sozialen Arbeit weder mit einem Markt<br />

konkurrierenden Anbieter zu tun noch können<br />

die Adressaten über die finanziellen Mittel<br />

zum Kauf von Dienstleistungen wie Kunden<br />

disponieren. Vielmehr – und damit kommen<br />

wir zum sozialstaatlichen Erbringungskontext<br />

– herrscht hier eine weitgehend alternativlose<br />

institutionelle Monostruktur. Besonders gut<br />

können die unterschiedlichen Dimensionen<br />

des marktförmigen und des sozialstaatlichen<br />

Erbringungskontextes mit ihren spezifischen<br />

Implikationen mittels der Begrifflichkeiten von<br />

Hirschman (1970) differenziert werden:<br />

Dem Modell nach kann der Kunde auf einem<br />

Markt konkurrierende Anbieter vor allem dadurch<br />

Einfluß ausüben, daß er den bisherigen<br />

Anbieter verläßt und zu einem neuen wechselt.<br />

Hirschman nennt dies die ‚Exit-Option‘.<br />

Natürlich will dies jeder Anbieter verhindern.<br />

Entsprechende Strategien der Kundenbindung<br />

sollen deshalb gewährleisten, daß die Kunden<br />

wiederkommen (Gross 1993). Durch die Migration<br />

der Kunden hin zu den Angeboten, die<br />

ihrer individuellen Nachfrage am weitesten<br />

entsprechen, bildet sich – so das Marktmodell -<br />

ein optimales Passungsverhältnis von Angebot<br />

und Nachfrage auf einem hohen Qualitätsniveau<br />

heraus.<br />

Anders im sozialstaatlichen Erbringungskontext<br />

sozialer Arbeit: Hier – wo es im Prinzip<br />

nur einen einzigen staatlichen Anbieter von<br />

Dienstleistungen gibt – ist ein steuernder Einfluß<br />

der Nachfragenden auf die Dienstleistungen<br />

der Anbieterseite prinzipiell nur dadurch<br />

möglich, daß diese ihre Interessen zur Artikulation<br />

bringen, um es mit Hirschman zu sagen,<br />

daß sie die ‚Voice-Option‘ zum Einsatz bringen.<br />

D. h. im sozialstaatlichen Kontext stellt ‚Voice‘<br />

das funktionale Äquivalent zu den je individuellen<br />

Wahlakten der Kunden auf dem Markt dar.<br />

Dies bedeutet zugleich, daß im Sozialstaat die<br />

Einflußnahme der Nutzer auf den Dienstleistungsprozeß<br />

politischer Natur sein muß.<br />

Was heißt dies für die Konzeptionalisierung<br />

von sozialen Dienstleistungen? Welche Konsequenzen<br />

ergeben sich aus der politischen<br />

Natur der Artikulation von Nachfrage im sozialstaatlichen<br />

Erbringungskontext? Es ist<br />

jedoch mit dieser Feststellung, daß die Einflußnahme<br />

der Nutzer auf personenbezogene soziale<br />

Dienstleistungen im Sozialstaat wesentlich<br />

politischer Natur sein muß, noch überhaupt<br />

nichts über die Chancen dieser Einflußnahme<br />

ausgesagt. Wenn man davon ausgeht, daß<br />

staatliche Institutionen – und damit auch die<br />

soziale Arbeit – Ausdruck, die materielle Gestalt<br />

gesellschaftlicher Machtverhältnisse und<br />

Machtrelationen sind, dann sind im Hinblick<br />

auf die erfolgreiche Einflußnahme der Nutzer<br />

auf den Dienstleistungsprozeß die Machtstrukturen<br />

das zentrale Moment, die entscheidende<br />

Bedingung, dem unsere Aufmerksamkeit zukommen<br />

muß. Ich will dies hinsichtlich zweier<br />

Ebenen kurz umreißen:<br />

Zunächst für die Ebene der direkten Interaktion<br />

von Nutzern und Professionellen. Diese Beziehung<br />

ist gekennzeichnet durch eine deutliche<br />

Macht-Asymmetrie zugunsten der Professionellen.<br />

Das Machtpotential der Professionellen<br />

speist sich wesentlich aus zwei Quellen. Erstens<br />

dem Wissen, insbesondere dem fachlichen<br />

Wissen. Zweitens der Tatsache, daß er/sie als<br />

Mitglied von Institutionen und Organisationen<br />

handelt. Um auf dieser Ebene den Einfluß der<br />

Nutzer geltend zu machen, bietet sich hier das<br />

Konzept des Empowerment, im Sinne von Be-<br />

Mächtigung an. Ich verwende hier einen engen,<br />

spezifischen Begriff von Empowerment, der im<br />

Wortsinne auf die Machtverhältnisse bezogen<br />

ist (Hasenfeld 1987). Der Ausgangspunkt dabei<br />

ist, daß die Machtverhältnisse in den Einrichtungen<br />

der sozialen Arbeit unhintergehbar<br />

sind. Professionelle aber müssen dennoch ein<br />

Interesse an der Veränderung der Machtasymmetrie<br />

im Hinblick auf eine größere Symmetrie<br />

des Erbringungsverhältnisses haben.<br />

Aber warum sollen sie dieses Interesse aufbringen?.<br />

Die Begründung hierfür liegt – wie<br />

vielleicht zu vermuten wäre - nicht auf der Ebene<br />

einer professionellen Ethik, die im Hinblick<br />

auf ihren normativen Gehalt voraussetzungsund<br />

anspruchsvoll ist. Vielmehr muß es dem<br />

Professionellen aus dem eigenen Interesse an<br />

der „Gebrauchswerthaltigkeit“, d. h. an der<br />

Adäquatheit bzw. Angemessenheit seiner Tätigkeit<br />

für die Subjekte heraus, aber auch zur<br />

Erfüllung seines gesellschaftlichen Auftrages,<br />

daran gelegen sein, diese Machtasymmetrien<br />

zu verändern – und zwar im Hinblick auf mehr<br />

Symmetrie, damit die Nutzerinnen und Nutzer<br />

Ein solchermaßen verfaßtes Konzept von Em-<br />

powerment ist ein höchst anspruchsvolles<br />

Konzept: Denn der Professionelle muß den Nut-<br />

zer in die Lage versetzen, seinen Einfluß ge-<br />

genüber der eigenen professionellen Tätigkeit<br />

auszuüben, mit anderen Worten ihn als Kon-<br />

fliktakteur aufbauen. Auf diese Weise können<br />

Bedürfnisse und Konflikte um die Angemes-<br />

senheit professioneller Tätigkeit im Kontext<br />

der jeweiligen Machtverhältnisse überhaupt<br />

erst thematisiert werden.<br />

Auf der Ebene der Institutionen und Einrich-<br />

tungen gibt es keine rechtlich garantierten<br />

Einflußmöglichkeiten für die Nutzer. Wenn wir<br />

den Einfluß der Nutzer nicht dem mehr oder<br />

weniger zufälligen good-will von Professio-<br />

nellen und Administratoren überlassen wollen<br />

– etwa im Rahmen organisationell unverbindli-<br />

cher Formen der „Beteiligung“ – dann geht es<br />

elementar darum, politisch-demokratische Ein-<br />

fluß- und Mitbestimmungsmöglichkeiten als<br />

Verfahrensrechte festzuschreiben. Einer Stra-<br />

tegie der Demokratisierung von Einrichtungen<br />

muß es zunächst einmal darum gehen, Orte<br />

der Auseinandersetzung, d. h. Möglichkeiten<br />

zur offenen Konfliktaustragung zwischen den<br />

Beteiligten: Nutzern, Professionellen, Admi-<br />

nistratoren, Öffentlichkeit – zu institutionali-<br />

sieren. Eine Strategie der Demokratisierung<br />

zum Zweck der Einflußnahme der Nutzer kann<br />

68 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 69<br />

ihre Interessen, Bedürfnisse, Deutungen usw. historische geltend machen können. Empowerment meint<br />

hier die Relativierung und damit die Bemächti-<br />

gung der Nutzer aus dem Interesse der Professi-<br />

onellen an der Qualität d. h. an der Gebrauchs-<br />

werthaltigkeit ihrer Arbeit für die Nutzerinnen<br />

und Nutzer - es bedeutet aber zugleich nicht<br />

die Außerkraftsetzung der in alle soziale Arbeit<br />

eingelassenen Macht-Asymmetrien. Den Pro-<br />

fessionellen in der sozialen Arbeit muß eben<br />

nicht aus ethischen oder philanthropischen<br />

Gründen, sondern an dem wohlverstandenen<br />

Interesse an der eigenen Professionalität daran<br />

gelegen sein, den Gebrauchswert ihrer Arbeit<br />

für die Nutzer durch die Einschränkung der<br />

strukturellen Machtasymmetrien zu erhöhen.<br />

Das aber heißt zugleich, daß es sich hier nicht<br />

um ein konfliktfreies Verhältnis handeln kann.<br />

Angesichts struktureller Machtasymmetrien<br />

sind Konflikte unvermeidlich.<br />

historische und aktuelle diskurse


aber nicht bei bloßer Artikulation stehen blei-<br />

ben – und es der Organisation überlassen, wie<br />

sie damit verfährt – sondern es geht um die<br />

rechtlich abgesicherte Möglichkeit der Mitbe-<br />

stimmung über Form und Inhalt des Dienst-<br />

leistungsprozesses. Es geht also um die quali-<br />

tative Differenz von ‚to have a voice’ und ‘to<br />

have a say’ (Beresford/Croft 1992). Hierzu gibt<br />

es eine Reihe von Konzepten, gerade aus dem<br />

angelsächsischen Kontext (vgl. Beresford/Croft<br />

1993).<br />

diskurseaber nicht historische und aktuelle diskurse<br />

- Konzepte, die auf die strukturelle Demokratisierung<br />

lokaler Politik durch repräsentative<br />

und direkt-demokratische<br />

Verfahren abzielen, etwa lokale Sozialarbeitspolitik<br />

- Konzepte des user-involvement, die auf<br />

eine Binnendemokratisierung der Institutionen<br />

gerichtet sind<br />

- Konzepte des citizen-involvement, die<br />

die Binnendemokratisierung mit der<br />

politischen Struktur des Gemeinwesens<br />

verbindet.<br />

Die Demokratisierung betrifft aber nicht le-<br />

diglich die Ebene der Nutzerinnen und Nut-<br />

zer, sondern zugleich auch das Verhältnis von<br />

Professionellen und Organisationen. Über das<br />

Arbeitsrecht hinaus geht es um die Mitbestim-<br />

mung über die Operationsweise der Organi-<br />

sationen, über Form und Inhalt der geleisteten<br />

Arbeit sowie über die sozialpädagogischen<br />

Konzeptionen. Dies ist strategisch für die Pro-<br />

fession von hoher Bedeutung gerade im Hin-<br />

blick auf die Polarisierung von Management<br />

und Ausführungsebene im Zuge neuer Steue-<br />

rungsmodelle.<br />

Durch eine solche Strategie der Demokratisie-<br />

rung der Institutionen und Einrichtungen kann<br />

nicht nur das Passungsverhältnis von Nachfra-<br />

ge und Leistungserbringung optimiert werden,<br />

sondern zugleich – als ‚Beiprodukt‘ – über die<br />

tagtägliche Ausübung demokratischer Praxis<br />

aller Beteiligten zur Demokratisierung auf ge-<br />

sellschaftlicher Ebene beigetragen werden.<br />

Möglicherweise ist dies sogar der bedeutsa-<br />

mere Effekt.<br />

Wie läßt sich nun die politische Einflußnahme<br />

der Nutzerinnen und Nutzer auf die Dienstleistungserbringung<br />

im Sozialstaat legitimieren?<br />

Im Prozeß der sozialen Dienstleistungserbringung<br />

haben wir es mit einer Doppelstruktur<br />

zu tun: ‚Klienten‘ sind – wie auch die Professionellen<br />

– immer auch Bürger; Bürger, die soziale<br />

Rechte in Anspruch nehmen (van der Laan<br />

1997). Um sich die Bedeutsamkeit des Status<br />

als Bürger vor Augen zu führen, ist das Konzept<br />

von citizenship von Th. Marshall (1977)<br />

aufschlußreich. Für ihn besteht der „volle Bürgerstatus“<br />

in der Trias von zivilen Schutzrechten,<br />

politischen Teilnahmerechten und sozialen<br />

Teilhaberechten. Diese verschiedenen Rechte<br />

haben sich historisch nacheinander ausgebildet<br />

und sind in den verschiedenen Ausprägungen<br />

der modernen Wohlfahrtsstaaten weitgehend<br />

realisiert worden. Zwar hat dieses Modell<br />

durchaus auch einige problematische Aspekte<br />

– so etwa die Widersprüche zwischen den<br />

verschiedenen Rechtstypen bzw. die unausgesprochene<br />

Annahme, daß Vollbeschäftigung<br />

herrsche (vgl. Giddens 1983) – gleichwohl kann<br />

es als kritische Folie zur Analyse der realen<br />

Verfaßtheit von Wohlfahrtsstaaten dienen. Es<br />

ist wichtig anzumerken, daß die verschiedenen<br />

Rechtssorten nicht gleichgewichtig sind,<br />

sondern eine unterschiedliche Qualität aufweisen.<br />

Habermas (1994) hat darauf hingewiesen,<br />

daß nur die politischen Rechte es ermöglichen,<br />

daß sich die Bürger aktiv und reflexiv auf die<br />

Veränderung ihrer Lebensumstände beziehen.<br />

Zivile Schutzrechte und soziale Rechte können<br />

tendenziell auch in autoritären, nichtdemokratischen<br />

Verfassungen realisiert werden.<br />

In dieser Orientierung auf die politischen Bürgerrechte<br />

wächst der Demokratisierung sozialer<br />

Arbeit auch eine offensive Dimension zu: Indem<br />

die demokratische Praxis in den Institutionen<br />

rückgebunden wird an die aktive Seite des<br />

Bürgerstatus und damit auch an die Möglichkeit<br />

(!) zur Transformation gesellschaftlicher<br />

Verhältnisse, kann ihr ein gesellschaftlicher<br />

Beitrag zur Verwirklichung der Freiheitsrechte<br />

aller Bürger gelingen.<br />

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Otto, H.-U.; Schnurr, S. 2000: „Playing the Mar-<br />

ket Game?“ - Zur kritik markt- und wettbewerb-<br />

sorientierter Strategien einer Modernisierung<br />

der Jugendhilfe in internationaler Perspektive,<br />

in: dies. (Hg.): Privatisierung und Wettbewerb<br />

in der Jugendhilfe. Marktorientierte Moderni-<br />

sierungsstrategien in der Jugendhilfe. Neu-<br />

wied, Kriftel: Luchterhand<br />

70 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 71<br />

Kessl, F.; Otto, H.-U. 2002: Entstaatlicht? Die<br />

neue Privatisierung personenbezogener sozi-<br />

aler Dienstleistungen, in: neue praxis 2, 122<br />

– 139<br />

historische und aktuelle diskurse


Schaarschuch, A. 1996: Der Staat, der Markt,<br />

der Kunde und das Geld? Öffnung und De-<br />

mokratisierung - Alternativen zur Ökonomi-<br />

sierung sozialer Dienste, in: Flösser, G.; Otto,<br />

H.-U. (Hg.): Neue Steuerungsmodelle für die<br />

Jugendhilfe. Biele feld, 8 – 28<br />

Schaarschuch, A. 1999: Theoretische Grunde-<br />

lemente Sozialer Ar beit als Dienstleistung. Ein<br />

analytischer Zugang zur Neuorien tierung Sozi-<br />

aler Arbeit, in: neue praxis 6 (1999), 543 - 560<br />

Schaarschuch, A. 2000: Kunden, Kontrakte,<br />

Karrieren. Die Kommerzialisierung der Sozialen<br />

Arbeit und die Konsequenzen für die Professi-<br />

on, in: Lindenberg, M. (Hg.): Von der Sorge zur<br />

Härte. Kritische Beiträ ge zur Ökonomisierung<br />

Sozialer Arbeit, Bielefeld: Kleine, 153 – 163<br />

diskurseSchaarschuch, historische und aktuelle diskurse<br />

Schaarschuch, A. 2003: Am langen Arm. Form-<br />

wandel des Staates, Staatstheorie und Soziale<br />

Arbeit im entwickelten Kapitalismus. In: Homfeld,<br />

H. G.; Schulze-Krüdener, J. (Hg.): Akteure<br />

und Settings Sozialer Arbeit. Hohengehren<br />

2003: Schneider, S. 36 - 65<br />

van der Laan, G. 1997: Client-Professional Interaction<br />

in Social Services and Social Citizenship,<br />

(Abstract), in: Hans-Uwe Otto; Andreas<br />

Schaarschuch (Hg.), Social Citizenship and<br />

Social Servi ce Work, International Symposium,<br />

Tagungsband, 20 - 23<br />

Prof. Dr. Andreas Schaarschuch<br />

Bergische Universität Wuppertal<br />

FB G – Bildungswissenschaft<br />

Gaußstr. 20<br />

D-42119 Wuppertal<br />

eMail: aschaar@uni-wuppertal.de<br />

1. Einleitung<br />

Josef Scheipl<br />

Jugendwohlfahrt in Österreich<br />

Historische Entwicklungslinien, aktuelle Zielsetzungen<br />

Aus aktuellen Gründen beginne ich mit gegenwärtigen<br />

Problemen und Zielstellungen<br />

der Jugendwohlfahrt in Österreich. Die Vorgangsweise<br />

bedingt, dass die Ausführungen<br />

nicht bei jedem Punkt ins Detail gehen können;<br />

manches wird provozierend angerissen, um die<br />

Diskussion dazu in Gang zu bringen, manches<br />

wird ausführlicher argumentiert werden.<br />

2. Analyse österreichischer Zeitschriften<br />

Aktuelle Trends und Probleme herauszufiltern,<br />

ist gar nicht leicht. Ich habe dazu<br />

drei heimische Zeitschriften hergenommen:<br />

„Sozialarbeit in Österreich“ (SIO), „Sozialpädagogische<br />

Impulse“ (SPI) und „Der österreichische<br />

Amtvormund“ (ÖA).<br />

Von diesen drei Zeitschriften nehme ich an,<br />

dass sie österreichweit verbreitet sind. Ich<br />

habe mich bemüht, die letzten drei Jahrgänge<br />

– 2000, 2001, 2002 – in Bezug auf aktuelle Probleme<br />

und Zielsetzungen zu analysieren, die<br />

auf Jugendwohlfahrt bezogen werden können.<br />

Ergebnisse:<br />

1a) Alle drei Zeitschriften haben sich mit<br />

dem Thema FAMILIE und damit aktuell zusammenhängenden<br />

Themen wie Besuchsbegleitung<br />

und Mediation befasst.<br />

1b) Auch ARMUT war im untersuchten<br />

Zeitraum bei allen dreien vertreten.<br />

JUGENDWOHLFAHRT (ÖA), KINDER-JUGEN-<br />

DANWALT (ÖA), aber auch wichtige RECHT-<br />

LICHE GRUNDLAGEN (JGG, KindRÄ) (ÖA)<br />

finden sich jeweils nur in einer Zeitschrift und<br />

hier bemerkenswerter Weise – nicht nur die<br />

rechtlichen Materien – vorwiegend im ÖA!<br />

Wenn die Anzahl der jeweiligen Artikel<br />

beachtet wird, dann dominiert die Thema-<br />

tik „Familie“, gefolgt von der Rechtsthe-<br />

matik. Das dürfte mit der Änderung des<br />

KindRÄ und des JGG zusammenhängen.<br />

Wenn ich davon ausgehe, dass die Redaktions-<br />

stäbe ihr Ohr an der Basis, an den Bedürfnissen<br />

der Basis haben, dann werden einerseits wich-<br />

tige Bereiche der JW zwar aufgegriffen – sie<br />

werden aber – ausgenommen Familie und Recht<br />

– lediglich in ein, zwei Beträgen thematisiert.<br />

Die einzelnen Beiträge bringen in der Regel<br />

praxisrelevant aufbereitete, lesenswerte Be-<br />

richte in meist recht knapper Form (im Durch-<br />

schnitt: 2 - 4 Seiten, maximal 7 bis 8 Seiten).<br />

Ich möchte im folgenden auf fünf Themenbe-<br />

reiche eingehen, die ich für wichtig erachte<br />

und die sich in der vorgestellten Erhebung z.T.<br />

nur marginal bis gar nicht finden.<br />

3. Wichtige fünf Themenstellungen für ak-<br />

tuelle Zielsetzungen<br />

2a) Unseren engeren Gegenstandsbereich<br />

3.1 Jugendwohlfahrtstatistik<br />

– die JUGENDWOHLFAHRT IM<br />

Mein erstes Thema ist von der Logik her kom-<br />

RAHMEN SOZIALER ARBEIT – themati-<br />

pliziert: Es betrifft ein ‚Nicht Thema’.<br />

sierten die beiden SIO und SPI je einmal.<br />

Ich möchte zunächst nachfragen, ob Ihnen in<br />

2b) In zwei Zeitschriften wurden auch die<br />

der öffentlichen Jugendwohlfahrt eigentlich<br />

Themen der GESCHLECHTSSENSIBLEN<br />

aufgefallen ist, dass Sie seit einiger Zeit, genau<br />

ARBEIT (SIO, SPI) sowie AUSLÄNDER<br />

seit drei Jahren – weniger Bleistifte mit der<br />

(FREMDE), FLÜCHTLINGE (ÖA, SIO) aufgegriffen<br />

Härte „zwei“ brauchen?<br />

und natürlich die QUALITÄTS-<br />

Es ist nämlich nicht mehr notwendig, die vie-<br />

SICHERUNG (eher allgemein; SIO, SPI).<br />

len Formblätter auszufüllen, welche zu Erstel-<br />

3a) So wichtige Bereiche wie DROGEN/SUCHT<br />

lung der Bundes-Jugendwohlfahrts-Statistik<br />

(SPI), GEWALT-SCHUTZ (ÖA), KINDES-MISS-<br />

nötig waren. Die Bundes-Jugendwohlfahrts-<br />

BRAUCH (ÖA), KINDERPSYCHIATRIE und<br />

Statistik wurde mit Ablauf des Jahres 1999<br />

72 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 73<br />

schwerpunkt österreich


3.2 Jugendwohlfahrtsplanung<br />

Man scheint in der Jugendwohlfahrt überhaupt<br />

ein bisschen Skepsis gegenüber dem zu haben,<br />

was mit Zahlen zusammenhängen könnte. Ich<br />

denke hier konkret an die Jugendwohlfahrts-<br />

planung. Diese ist den Ländern als forschungs-<br />

orientierte Jugendwohlfahrts-Planung im JWG<br />

1989 aufgetragen (§ 7). Bis vor zwei Jahren<br />

konnten lediglich Salzburg und die Steiermark<br />

Jugendwohlfahrts-Pläne vorlegen. Vorarlberg<br />

hatte wichtige und interessante Qualitätsent-<br />

wicklungsprozesse im Rahmen der Jugend-<br />

wohlfahrt eingeleitet. Wien wartet auf ein ak-<br />

kordiertes Vorgehen mit anderen Bundeslän-<br />

dern. In Oberösterreich und Kärnten gibt es<br />

erste Ansätze zu einem umfassenden Pla-<br />

nungsvorhaben. In Tirol meinte man allerdings<br />

sinngemäß: Planungsvorhaben zu erstellen<br />

würde die Entwicklung eher einengen denn<br />

vorantreiben (vgl. SCHEIPL 2001, S. 286).<br />

Ich würde eine diskursorientierte und partizi-<br />

pative Vorgehensweise, wie sie in Salzburg<br />

gewählt wurde, durchaus als anregend für alle<br />

Beteiligten verstehen. Aber auch in der Steier-<br />

mark fühlt man sich durch die Planungsvorgän-<br />

ge eher angeregt als eingeschränkt.<br />

Dabei ist natürlich auch klar zu sagen: Gesell-<br />

schaftspolitische Analysen und rechtliche<br />

Grundlagen, finanzielle Bedingungen und de-<br />

mographische Trends – wie sie im steirischen<br />

Jugendwohlfahrts-Plan aufgegriffen werden -<br />

bilden die unerlässlichen Rahmungen eines<br />

Planungsvorganges. Aber erst politischer Wille<br />

und facheinschlägige Kompetenzen ermögli-<br />

chen seine Umsetzung. Jedenfalls ist darauf zu<br />

österreichschäft waren schwerpunkt österreich<br />

eingestellt (vgl. ÖA 2000, S. 200). So sehr Sie<br />

die Arbeitserleichterung schätzen dürften, es<br />

bleibt die Frage: Sollte sich Österreich – hier<br />

wiederum besonders die Fachöffentlichkeit –<br />

nicht doch an der Entwicklung der Jugend-<br />

wohlfahrt interessiert zeigen? Auch wenn<br />

manche Zahlen in den Statistiken möglicher-<br />

weise nicht ganz eindeutig scheinen – wie z.B.<br />

aktuell beim Streit um die Anzahl der Unter-<br />

richtsstunden. Die Bedeutung der Schulstatistik<br />

jedenfalls steht außer Zweifel. Die Jugend-<br />

wohlfahrt hingegen nahm es gelassen und<br />

schwieg. Sie zeigte wahrscheinlich zu wenig<br />

Interesse, so dass die Berichte über die Jugendwohlfahrts-Statistik<br />

kein wirkliches Ge-<br />

schäft waren und daher eingestellt wurden.<br />

achten, dass das Planungsunternehmen nicht<br />

bei der Erstellung von Normkostenmodellen<br />

stecken bleibt: Solcherart würde man die<br />

Dienstleistungsdiskussion, wie sie in den 90er<br />

Jahren auch die Sozialarbeit wieder erreicht<br />

hat, allzu sehr einschränken auf die finanzielle<br />

Dimension. Dabei würde der Sozialstaat um die<br />

gestaltende – nämlich die sozialpolitische – Dimension<br />

reduziert bleiben. Der Sozialstaat<br />

muss aktivierend, d.h. die Mitglieder aktivierend<br />

(Klienten als Koproduzenten) und er muss<br />

gestaltend, d.h. die sozialpolitische Aufgabe<br />

wahrnehmend, - agieren (vgl. BÖHNISCH/<br />

SCHRÖER 2002). Darauf hat die Jugendwohlfahrt<br />

in ihren sozialpolitischen Diskursen hinzuweisen,<br />

das hat sie einzufordern. (vgl.<br />

SCHEIPL 2003).<br />

3.3 Sozialpädagogische Diagnose<br />

Im Rahmen einer umfassenden Sozialraumanalyse<br />

haben wir einen Bezirk in einer großen österreichischen<br />

Stadt zur dortigen Situation der<br />

Jugend näher untersucht (vgl. SCHEIPL, PFO-<br />

SER, LEODOLTER, KERN 2000). Neben der Befragung<br />

von Jugendlichen, von Eltern und Experten<br />

haben wir auch eine Analyse von Jugendwohlfahrts-Akten<br />

durchgeführt. Wir wollten<br />

Genaueres über das Klientel und die Arbeit<br />

der Jugendwohlfahrt in diesem Raum in Erfahrung<br />

bringen. Nach dem Zufallsprinzip haben<br />

wir von ca. 120 Akten 29 ausgewählt (25 %)<br />

und näher analysiert. Dabei ist u.a. besonders<br />

aufgefallen: In nicht wenigen Fällen sind mehrere<br />

Jugendwohlfahrts-Unterstützungen pro<br />

Familie parallel gelaufen. In anderen Fällen haben<br />

sich Hilfsangebote in schöner Regelmäßigkeit<br />

immer wieder abgelöst (Heilpädagogische<br />

Station, Nachbarin, Heilpädagogische Station,<br />

Tagesmutter, Erziehungshilfe, Heim, Erziehungshilfe<br />

etc.). Wusste man nicht mehr weiter,<br />

waren durchaus auch Reiten und Voltigieren<br />

angesagt.<br />

In manchen Familien dauerten die Interventionen<br />

deutlich mehr als fünf Jahre. Die Kosten<br />

beliefen sich in einem Extremfall auf ATS 60.000<br />

monatlich bei 9-jähriger Dauer. Monatliche<br />

Kosten zwischen ATS 20.000 bis ATS 40.000<br />

waren keine Seltenheit (vgl. ebd., S. 153ff).<br />

So weit, so wenig befriedigend. – Trotz der verpflichtend<br />

angesetzten Helferkonferenz bei<br />

Entscheidungen über Maßnahmen zur Unterstützung<br />

der Erziehung bzw. bei Gewährung<br />

der vollen Erziehung (vgl. STJWG § 40).<br />

Die Probleme, dass z.B. im Vorfeld bzw. zur Vermeidung<br />

der Heimunterbringung zahlreiche<br />

inadäquate Maßnahmen gesetzt werden, die<br />

letztlich Misserfolge produzieren und eine stationäre<br />

Unterbringung nicht wirklich verhindern,<br />

sind aus der Literatur bekannt (vgl. BÜR-<br />

GER 1998, ADER/SCHRAPPER 2002, S. 27). Es<br />

findet sozusagen ein Probehandeln im Vorfeld<br />

zu Lasten der späteren Heimerziehung statt.<br />

Hinter dieser Problematik steht m.E. wesentlich<br />

das leidige Problem der Diagnose in der<br />

Sozialpädagogik.<br />

Interessanterweise steht aber gerade die Diagnose<br />

bereits ziemlich am Beginn der Professionsgeschichte<br />

der Sozialen Arbeit. Mary RICH-<br />

MOND schrieb 1917 das Buch Social Diagnosis,<br />

um einen systematischen Raster zur Analyse<br />

des Einzelfalles zu geben. Ihr folgte in Deutschland<br />

Alice SALOMON mit dem selben Anliegen<br />

und dem Buch „Soziale Diagnose“ (1926). Doch<br />

die Studenten- und Sozialarbeiter-Bewegung<br />

der späten 60er und 70er Jahre des letzten<br />

Jahrhunderts lehnten die sich mittlerweile etablierende<br />

psychologisch orientierte Einzelfall-<br />

Diagnose ab. Heute lehnt man die Diagnostik<br />

vielfach ab aus einer kritischen Haltung der<br />

Sozialen Arbeit gegenüber. Man befürchtet,<br />

dass eine diagnostisch-kategoriale Zuschreibung<br />

eine Pathologisierung bzw. Stigmatisierung<br />

hervorbringen könnte.<br />

Doch die „in den Kontexten der jeweiligen Institutionen<br />

(Heim, Bewährungshilfe, Heimschule,<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie) eingelagerten<br />

Berufsvollzüge stützen sich, wenn es<br />

um die Diagnostik der jeweiligen Symptomatik<br />

geht, teils auf psychiatrische Gutachten (DSM-<br />

IV, ICD-10), teils auf medizinische Befunde oder<br />

psychologische Diagnostik – und hier in der<br />

Regel auf standardisierte Testverfahren“<br />

(SCHREIBER 2000, S. 581).<br />

Auffallend ist bei Befragungen von in der Sozialen<br />

Arbeit Tätigen, dass die Fähigkeit, eine<br />

präzise Diagnose zu stellen, eher anderen Berufsgruppen<br />

wie z.B. den Psychologen oder<br />

Ärzten zugeordnet wird als den Sozialpädagogen.<br />

Weist das nicht auch hin auf eine Idealisierung<br />

dieser Berufsgruppen bei gleichzeitiger<br />

Abwertung der eigenen?<br />

Jedenfalls ist durch das JWG gefordert, Helfer-<br />

konferenzen bei Maßnahmen zur Unterstüt-<br />

Helfer-schwerpunkt zung oder bei Gewährung der vollen Erziehung<br />

einzuberufen. In der BRD wird seit dem KJHG<br />

mit der Verpflichtung, einen Hilfeplan zu erstel-<br />

len, ein ähnlicher Weg beschritten. Bloß hat er<br />

dort zu einer regen und – wie ich meine – pro-<br />

duktiven Auseinandersetzung geführt (vgl.<br />

MOLLENHAUER/UHLENDORFF:<br />

Sozialpäda-<br />

gogische Diagnosen – 3 Bände; HARNACH-<br />

BECK: 1995, 1999; PETERS: Diagnosen, Gut-<br />

achten, hermeneutischen Fallverstehen 1999;<br />

SCHREIBER: Zum theoretischen Ort sozialpäd-<br />

agogische Dia-gnostik, 2000 etc.). Sogar com-<br />

putergestützte Fallanalysen werden eingesetzt<br />

(CACM: Com-puter Aided Case Management<br />

– (vgl. C.W. MÜLLER 2002, S. 44 – beschrieben<br />

in F. PETERS). PANTUCEK (vgl. 1999) meint be-<br />

züglich der Entwicklung sozialpädagogischer<br />

Diagnosen: Die Anerkennung des anderen als<br />

Subjekt fordert subjektorientierte Sozialarbeit<br />

und problematisiert die Diagnose als reine Ex-<br />

pertInnenleistung. Sie soll eine gemeinsame<br />

Leistung von KlientInnen und Sozial-arbeite-<br />

rInnen sein, ein prinzipiell unabschließ-barer<br />

Prozess, stets in Frage zu stellen, zu überprü-<br />

fen, zu modifizieren. Mit Hilfe der Sozialarbeite-<br />

rInnen lernen die KlientInnen ihre soziale Wege<br />

zu verstehen und erfolgreich zu begehen.<br />

Erst im modernen Case-Management wird der<br />

Diagnose (neu verstanden) wieder verstärkt<br />

Aufmerksamkeit zuteil. Die klare Strukturie-<br />

rung des Prozesses in Assessment – Planung<br />

– Implementierung – Monitoring – Evaluation<br />

(Reassessment) ermöglicht es, die Diagnose<br />

wieder als relativ selbständige Phase des Pro-<br />

zesses zu verstehen. Dabei muss auf die koo-<br />

perative Ausrichtung nicht verzichtet werden,<br />

ebenso wenig auf das Verständnis der Diagno-<br />

se allerdings in diesem Verständnis als bloß<br />

vorläufiger, veränderbarer Einschätzung.<br />

Gleichzeitig wird aber konkret helfendes Handeln<br />

ermöglicht. (...)<br />

Die Leistung der SozialarbeiterInnen wird da-<br />

bei nach Meinung von PANTUCEK (vgl. ebd.)<br />

in drei Phasen erbracht:<br />

1. Eine explorative Bestandsaufnahme der vor-<br />

handenen Daten und deren Einschätzung<br />

durch die Betroffenen.<br />

2. Sie wird gefolgt von gezieltem Komplexitätsgewinn.<br />

Einschätzungen müssen in Frage ge-<br />

stellt, andere Optionen in Erwägung gezogen<br />

74 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 75<br />

schwerpunkt österreich


Ich kann hier keine Lösungen anbieten – ich<br />

möchte auf wichtige Zielstellungen für die ös-<br />

terreichische Jugendwohlfahrt hinweisen. Es<br />

scheint mit wichtig hier zu erwähnen, dass<br />

„expertengestütztes Fremdverstehen“ nicht<br />

„durch selbstinterpretatives Eigenverstehen“<br />

(C.W. MÜLLER 2002, S. 44) ersetzt werden<br />

kann. Natürlich sind in der Helferkonferenz<br />

bzw. bei der Hilfeplanerstellung Aushand-<br />

lungsprozesse in Bezug auf die Handlungsfä-<br />

higkeit der KlientInnen sinnvoll und notwen-<br />

dig. Ohne die Betroffenen zumindest zu Kopro-<br />

duzentInnen zu machen, läuft „in unserem Ge-<br />

schäft“ gar nichts. Aber d.h. doch nicht, dass<br />

die Fachleute (des Jugendamtes) ohne diag-<br />

nostische Vorannahmen und ohne begründete<br />

sozialpädagogische Handlungsvorschläge in<br />

diese Gespräche gehen. Sozialpädagogen kön-<br />

nen doch nicht nur ModeratorInnen fremder<br />

Einschätzungen sein. Sie haben hoffentlich<br />

selbst auch eigene professionell gewonnene<br />

diagnostische Hypothesen (vgl. C.W. MÜLLER<br />

2002, S. 45).<br />

österreichmöchte auf schwerpunkt österreich<br />

österreichterreichische schwerpunkt<br />

werden, Quellen werden kritisch gewürdigt<br />

und Widersprüche thematisiert.<br />

3. Schließlich muss aber in einer dritten Phase,<br />

da alles vielleicht nicht mehr so eindeutig zu<br />

sein scheint, Handlungsfähigkeit erreicht wer-<br />

den, indem mit den Betroffenen eine vorläufige<br />

Problembeschreibung und ein Rahmenplan für<br />

das künftige Handeln entwickelt wird.<br />

In dieser Vermischung von Diagnose und<br />

Handlungsfähigkeit scheint mir aber ein für die<br />

Soziale Arbeit charakteristisches Problem vor-<br />

zuliegen.<br />

Ohne der Illusion zu verfallen, die soziale Diag-<br />

nose könnte in ähnlicher Form für die Allge-<br />

meinheit ein Ausweis des ExpertInnentums<br />

der sozialarbeiterischen Profession sein, wie<br />

dies die Diagnose für die medizinische Profes-<br />

sion ist, erscheint sie doch als wertvolles Hilfs-<br />

mittel für die Soziale Arbeit. Gerade in einem<br />

Kriseninterventionszentrum!<br />

Hier möchte ich eine grundsätzliche Bemer-<br />

kung anfügen:<br />

„Ohne die Betroffenen zu Koproduzenten zu<br />

machen, läuft in unserem Geschäft gar nichts“.<br />

Das ist die eine Seite.<br />

Die andere Seite ist, dass die Jugendwohlfahrt<br />

in einigen Bereichen, will sie ihre Aufgabe<br />

ernsthaft betreiben, sich mit der Frage des<br />

Zwanges bei Interventionen auseinandersetzen<br />

muss (vgl. dazu: HANSBAUER/SCHNURR<br />

2002, S. 90). Ich denke dabei z.B. an besondere<br />

Konstellationen in der SFH, an die Arbeit mit<br />

Straßenkids, an Fremd- oder Selbstgefährdung<br />

oder an die Maßnahme „Therapie statt Strafe“<br />

im Rahmen der Drogenarbeit. Wer dabei<br />

Zwang von vornherein verneint, verschließt<br />

die Augen vor möglichen Totalabstürzen.<br />

„Natürlich kollidiert die Frage nach Ausübung<br />

von Zwang, also die Verweigerung eines Veto-<br />

Rechtes der Betroffenen gegenüber pädagogischen<br />

Interventionen mit der Wahrung des<br />

Integritätspostulates, das die advokatorische<br />

Ethik pädagogischen Fachkräften auferlegt“<br />

(HANSBAUER/SCHNURR 2002, S. 90). Und es<br />

gibt keine Gewähr dafür, dass die gegen den<br />

Willen der Betroffenen gesetzten Maßnahmen<br />

tatsächlich ‚bedeutungsvoll’ für die KlientInnen<br />

geworden sind. Es gibt kaum befriedigende<br />

Antworten. Aber die Jugendwohlfahrt sollte<br />

vor diesen ethischen Fragen nicht die Augen<br />

verschließen. Diese Thematik muss auf der<br />

einen Seite stärker diskutiert werden. Auf der<br />

anderen Seite müssen die Jugendämter und<br />

die freien Träger für ihre MitarbeiterInnen aber<br />

auch die institutionellen und konzeptionellen<br />

Voraussetzungen schaffen, dass Entscheidungen<br />

angemessen vorbereitet, diskutiert<br />

und reflektiert werden können (vgl. ebd.).<br />

3.4 Kinderdelinquenz<br />

Man muss diesen Begriff nicht lieben. Aber<br />

man sollte sich auf Grund empirisch unterfütterter<br />

Aussagen mit dem Sachverhalt<br />

auseinandersetzen. Auch wenn er für<br />

manche zunächst bloß ein Produkt eines<br />

gegenwärtig für überdreht gehaltenen Sicherheits-<br />

und Anpassungsdiskurses ist.<br />

Natürlich unterliegen die Diskussionen über<br />

Delikte von strafunmündigen Kindern einer<br />

medialen Eigendynamik. Diese ergibt sich<br />

durch die Konzentration auf spektakuläre Einzelfälle.<br />

Einerseits hört man aus der Bundesrepublik<br />

von einer überproportionalen Zunahme<br />

von tatverdächtigen Kindern.<br />

Anderseits spricht die Jugendwohlfahrts-Praxis<br />

in vermehrtem Maße von „Problemkindern“<br />

aus hochgradig belasteten Wohn- und Lebensverhältnissen.<br />

Dabei berichtet man von der Er-<br />

fahrung, dass man mit sogenannten herkömmlichen<br />

Methoden nicht mehr weiter kommt. Es<br />

wird argumentiert, es könne nicht mehr die<br />

Fürsorge für diese Kids handlungsleitend sein,<br />

sondern es wird die Kontrolle des Bedrohungspotentials<br />

der Kids handlungsleitend: Also<br />

eine Ablösung des „Förderungsparadigmas“<br />

durch das „Störungs- und Präventionsparadigma“.<br />

Dabei wird allerdings Prävention häufig<br />

nicht mehr als sozialintegrierende Prävention<br />

verstanden sondern als Überwachungsmaßnahme<br />

im Vorfeld. Kommt also das „Big Brother<br />

Paradigma“ auf uns zu?<br />

Zunächst ist allerdings einmal ein Innehalten<br />

angesagt: Bei den kindlichen Delikten dominiert<br />

eindeutig der episodenhafte einfache Ladendiebstahl.<br />

Die erhöhte Rate der tatverdächtigen<br />

Kids hängt hier wohl zusammen mit einem<br />

im Vergleich zu früher rigoroserem Anzeigeverhalten.<br />

Und außerdem ist ziemlich gut<br />

belegt, dass diese Art von Kinderdelinquenz<br />

keine Einstiegsdelinquenz darstellt. Zu beachten<br />

ist aber doch, dass sich bis zu 60 % der<br />

kindlichen Delinquenz bei einer relativ kleinen<br />

Gruppe von Mehrfach- oder Intensiv-Tätern<br />

konzentriert (vgl. WOLFERSDORFF, 2002, S.<br />

516ff).<br />

Zwar finden sich auch hierbei überwiegend<br />

leichtere Deliktarten, welche schließlich nicht<br />

mehr als ein bloß vorrübergehendes Entwicklungsphänomen<br />

darstellen.<br />

Hier finden sich aber auch die schwierigen Fälle.<br />

Und das ist dann doch besorgniserregend:<br />

Die Gewaltdelikte scheinen in dieser Gruppe<br />

zuzunehmen. So wenig bei den leichten ubiquitären,<br />

episodenhaften Deliktarten, welche häufig<br />

mit dem Austesten von Grenzen, der Selbstwertbestätigung<br />

oder dem Statuserwerb in<br />

der Gruppe zu tun haben, eine institutionelle<br />

Intervention angebracht ist – sie ist nicht nur<br />

nicht angebracht, sondern kontraindiziert – so<br />

sehr ist klar, dass Gewaltdelikte wie Körperverletzung<br />

und Raub eine ernste sozialpädagogische<br />

Heraus-forderung darstellen.<br />

Das arbeitet auch ein Forschungsteam im Rahmen<br />

des DJI heraus, welches zwischen 1997<br />

und 2000 ein umfangreiches Projekt zur Delinquenz<br />

von Kindern und Jugendlichen durchgeführt<br />

hat (vgl. u.a. HOOPS/PERMIEN, 2002, S.<br />

66ff).<br />

Dabei wurde deutlich gemacht, dass die Jugendwohlfahrt<br />

in erster Linie zu prüfen hat, ob<br />

In der Tat: Die Einschätzung, was in einem<br />

konkreten Fall bzw. ob überhaupt etwas zu tun<br />

ist, bzw. ob überhaupt etwas getan werden<br />

sollte, ist nicht einfach (vgl. dazu auch die Aus-<br />

führungen am Ende von Abschnitt 3.3).<br />

Das diesbezügliche Fazit des Projektes war:<br />

„Wenn die Jugendwohlfahrt eine Chance ha-<br />

ben soll, festzustellen, ob eine polizeiliche Auf-<br />

fälligkeit mit Erziehungsschwierigkeiten im<br />

Zusammenhang steht und ob ein Hilfebedarf<br />

besteht, und wenn die Jugendwohlfahrt die<br />

Bereitschaft der Eltern und Kinder erhöhen<br />

will, dann müsste das möglichst bald nach<br />

dem Kontakt mit der Polizei geschehen. Denn<br />

auch wenn Kinderdelinquenz in der Mehrheit<br />

der Fälle von der Familie selbst bewältigt wer-<br />

den kann, legt der Blick auf ‚Delinquenzkarrie-<br />

ren’ den Schluss nahe, dass die Jugendwohl-<br />

fahrt den Polizeimeldungen anfangs manchmal<br />

zu wenig ‚Signalfunktion’ beigemessen und<br />

somit Präventions-maßnahmen verspielt hat“<br />

(HOOPS/PERMIEN 2002, S. 67).<br />

Das heißt aber auch, dass die Schnittstellen<br />

zwischen Polizei und Jugendwohlfahrt bear-<br />

beitet werden müssen – sowohl von Seiten der<br />

Polizei als auch von Seiten der Jugend-wohl-<br />

fahrt. Eine konstruktive Zusam-menarbeit von<br />

sachkundigen MitarbeiterInnen auf beiden Sei-<br />

ten dürfte den gefährdeten Kids langfristig<br />

zum Vorteil gereichen und kann m. E. nicht von<br />

vornherein ausschließlich als staatliche Re-<br />

pression gedeutet werden. Zumindest geben<br />

Modellprojekte in Deutsch-land zu optimist-<br />

ischen Sichtweisen in Bezug auf die Förderung<br />

der Kids Anlass (vgl. ebd.).<br />

Auf ein Ergebnis aus diesem Projekt sei aber<br />

noch besonders hingewiesen: „Trotz der ein-<br />

deutigen Zuständigkeitspriorität der Eltern<br />

beim Thema Kinderdelinquenz stießen die<br />

Projektmitarbeiter/innen zu Beginn des Pro-<br />

jektes eher auf Unkenntnis und Unsicherheit in<br />

den Handlungsstrategien bei den Fachkräften<br />

76 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 77<br />

das Wohl des straffällig gewordenen Kindes<br />

gefährdet sei. Prüfen heißt – entsprechend der<br />

Kenntnis der Ubiquität und Episodenhaftigkeit<br />

der Kinderdelinquenz – dass die Jugend-wohl-<br />

fahrt nicht automatisch reagiert. In 20 % der<br />

Fälle reagiert sie tatsächlich nicht (das scheint<br />

mir angesichts der Ubiquität relativ wenig zu<br />

sein). In anderen Fällen sind Hausbesuche etc.<br />

angekündigt.<br />

schwerpunkt österreich


österreichder Probleme österreichauch wenn schwerpunkt österreich<br />

der Jugendwohlfahrt, was die Ressourcen,<br />

aber auch die Defizite und den Unterstützungsbedarf<br />

von Familien im Hinblick auf die Kinder-<br />

delinquenz angeht“ (ebd., S 68).<br />

Wichtig wäre vor allem die Rolle der Eltern in<br />

Bezug auf Normsetzung, Normverdeutlichung<br />

zu stärken und sie zu einem dialogischen Um-<br />

gang mit ihren Kindern zu befähigen, um deren<br />

Taten zu reflektieren und sie auf solche Weise<br />

gemeinsam besser zu bewältigen.<br />

Auch der Aufbau prosozialer Netze wäre eine<br />

wichtige sozialpädagogische Unterstützung.<br />

Die professionelle Jugendwohlfahrt wird über-<br />

dies Bemühungen der Familie um eine Lösung<br />

der Probleme zunächst immer aner-kennen,<br />

auch wenn sie auf den ersten Blick nicht funk-<br />

tional sein mögen. Sie können aber die Basis<br />

abgeben für weitere Hilfe-prozesse. Überhaupt<br />

dürfte es sich in der Mehrzahl der Fälle als<br />

sinnvoll heraus stellen, nicht nur Angebote an<br />

die Kinder zu richten, sondern immer auch die<br />

Eltern und die Stärkung ihrer Ressourcen in<br />

den Blick zu nehmen.<br />

3.5 Drogenproblematik<br />

Von der Kinderdelinquenz ist es oft nur<br />

ein kleiner Schritt zur Jugenddelinquenz.<br />

Diese ist in den letzten Jahren um 66 % ange-<br />

stiegen (vgl. Die Presse, 15.03.2003). Das war<br />

eine<br />

der schlimmen Meldungen der letzten Wo-<br />

chen. Vor allem die Drogendelikte sind massiv<br />

angestiegen (60 %). Hinter diesen „nackten“<br />

Zahlen kann sich eine breite Palette von Grün-<br />

den verbergen – neue Fahndung-smethoden<br />

der Polizei, eine strengere Hand-habung der<br />

Untersuchungshaft, neue Sucht-mittelbestim-<br />

mungen etc. Es steht jedenfalls nicht von vorn-<br />

herein fest, dass die gestiegene Einsperrpraxis<br />

auch gleich ein verändertes Jugendlichen-Ver-<br />

halten abbildet. Soviel zu Problematisierung<br />

der „reinen“ Zahlen.<br />

Und doch ist das Thema „Konsum illegaler<br />

Drogen“ eines, welches uns nicht erst seit<br />

dem 14. März bewegt. Zahlreiche Gespräche<br />

mit MitarbeiterInnen einschlägiger Einrich-<br />

tungen (Streetwork, Notschlafstellen, Dro-<br />

genberatung) vermitteln diesen Eindruck<br />

überdeutlich. Überraschenderweise ist in den<br />

drei Jahren von 2000 bis 2002 nur ein Artikel<br />

dazu in den besagten Zeitschriften (SPI) zu<br />

finden. Doch das letzte Heft von März 2003<br />

von SIO hat dieses Thema zum Leitthema<br />

gewählt und sehr vielfältig andiskutiert.<br />

Jedenfalls ist für das Verhältnis von Jugendwohlfahrt<br />

und Drogen gegenwärtig konstitutiv:<br />

Wo bei einer Einrichtung „Jugendwohlfahrt“<br />

drauf steht, dürfen keine Drogen „drin“<br />

sein.<br />

Schon viel zu lange versucht die Jugend-wohlfahrt<br />

das Problem der Suchtprävention und die<br />

Drogenarbeit an ExpertInnen außerhalb des<br />

eigenen Hilfesystems zu delegieren. Man bemüht<br />

sich krampfhaft, das Drogenproblem aus<br />

den Einrichtungen der Jugendwohlfahrt im<br />

wahrsten Sinne des Wortes auszusperren. Das<br />

führt dann zu solch kreativen Lösungen wie im<br />

Schlupfhaus in Graz, dass Schließfächer vor der<br />

Haustür angebracht werden. Die KlientInnen<br />

überschreiten die Schwelle also „drogenfrei“.<br />

Das kann wohl nicht der „Jugendwohlfahrts-<br />

Weisheit“ letzter Schluss sein.<br />

Wir reden immer davon, dass wir im Rahmen<br />

der Jugendwohlfahrt „Lebenskompetenz“ vermitteln<br />

wollen. Das darf aber keine Beschwörungsformel<br />

bleiben. Es müssen Mittel und<br />

Wege gefunden werden, Lebens-kompetenz in<br />

die Erziehung und Bertreuung von gefährdeten<br />

Jugendlichen zu bringen; sie müssen lernen zu<br />

leben, ohne sich selbst dabei nachhaltig zu<br />

schädigen.<br />

„Suchtvermeidung“ wird sich im Rahmen<br />

unserer Gesellschaft wohl nicht realisieren<br />

lassen. Sobald man allerdings zugesteht, dass<br />

Drogenkonsum integraler Bestandteil unserer<br />

Gesellschaft ist, muss man die ausschließliche<br />

Defizitperspektive verlassen. Suchtprävention<br />

kann dann, wie gesagt, nicht mehr auf<br />

bloße Suchtvermeidung reduziert werden. Es<br />

geht um den Aufbau von Risikokompetenz,<br />

um die Förderung von Resilienzfaktoren.<br />

Im Rahmen der akzeptierenden Drogenarbeit<br />

wird darüber in der Gesellschaft bereits erheblich<br />

offener gesprochen als noch vor wenigen<br />

Jahren. Auch die internationalen Entwicklungen<br />

und Erfahrungen wirken hier unterstützend.<br />

Wenn z.B. in der benachbarten Schweiz<br />

(mit ihrer massiv belasteten Vergangenheit<br />

in punkto Drogen) bald darüber abgestimmt<br />

werden soll, ob die „4-Säulen-Drogenpolitik“<br />

(Repression, Prävention, Reha-bilitation, Schadensminderung)<br />

ebenso gesetz-lich verankert<br />

werden soll, wie die heroingestützte Behandlung<br />

und der Cannabiskonsum (inkl. Anbau für<br />

den eigenen Verbrauch) legalisiert werden soll,<br />

dann bewirkt das doch einen Nachdenkprozess<br />

auch bei uns – so ist zumindest zu hoffen.<br />

(vgl. HAFEN 2003, S. 28). Damit würden weite<br />

Bereiche in diesem Feld endlich entkriminalisiert<br />

werden mit all den erwartbaren positiven<br />

Nebeneffekten und Folgen.<br />

Doch insgesamt möchte man sich in der Literatur<br />

nach wie vor nicht festlegen. Man scheut die<br />

Verantwortung klarer Aussagen. Hier verlässt<br />

uns der Mut. Wir versuchen darum herumzureden,<br />

wie z.B.: „Eine drogenfreie Gesellschaft<br />

gibt es nicht“. Oder: „Die Steigerung der Risikokompetenz<br />

lässt hoffen, dass die populistische<br />

Fixierung auf den letztlich siegreichen ‚Kampf<br />

gegen die Drogen’ sich nach einer überlangen<br />

Periode drogenpolitischer Stagnation von selbst<br />

erledigt“ (WOLFFERSDORFF 2002, S. 519).<br />

Mit solchen Aussagen verbaut man sich jedenfalls<br />

nichts. Klar ist aber wohl auch, dass<br />

Drogenersatzprogramme (Methadon) oder<br />

eine heroingestützte Be-handlung (was ist<br />

die Einstiegsschwelle für die ärztliche Verschreibung?)<br />

notwendig eine sozialpädagogische<br />

Begleitung und Strukturierungshilfe<br />

für die Alltagsbewältigung brauchen.<br />

Ernst genommen werden sollte u.a. auch<br />

der Wunsch der Jugendlichen, möglichst<br />

niedrigschwellige unspezifische Beratungsangebote<br />

zur Verfügung zu haben. Und<br />

schließlich ist neben entsprechenden Verbesserungen<br />

des Freizeitangebotes auch<br />

eine längerfristige Wohnversorgung für<br />

konsumierende Jugendliche sicher zu stellen<br />

(vgl. AUFERBAUER u.a. 2002, S. 105f).<br />

Jedenfalls sollte die Jugendwohlfahrt sich<br />

nicht ausklinken sondern aktuell hier ansetzen<br />

und dabei auch professionsübergreifend<br />

mit Ärzten, Psychiatern und Apothekern<br />

eine Zusammenarbeit anstreben. Eine Weiterführung<br />

der Präventions- bzw. Interventionsmaßnahmen<br />

in die Lebenswelt der<br />

Jugendlichen könnte über sozialraumorientierte<br />

bzw. gemeindenahe Suchtprävention<br />

erfolgen (vgl. FAZEKAS 2002, S. 55ff).<br />

Und vor allem sind die MitarbeiterInnen der<br />

Jugendwohlfahrtseinrichtungen entsprechend<br />

aus- und weiter zu bilden. So heißt es z.B.<br />

neuen Konsumgewohnheiten auf den Fersen<br />

Neben diesen fünf behandelten Berei-<br />

chen wären für die Diskussion der aktu-<br />

ellen Jugendwohlfahrtsprobleme zwei<br />

Themen noch von besonderem Interesse:<br />

a) Die Verbindung von Jugendwohlfahrt und<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie: Hier würde<br />

zu diskutieren sein, wie man mit dem The-<br />

ma geschlossen Unterbringung umgeht. Im<br />

steirischen Jugendwohlfahrtsplan (vgl. 1999<br />

S. 117) ist die Entwicklung einer langfristi-<br />

gen Zusammenarbeit als Projekt angeregt.<br />

Bisher wird daran m. W. nicht gearbeitet.<br />

b) Eine ausführliche Diskussion soll-<br />

te der Sozialraumorientierung in der<br />

Jugendwohlfahrt gewidmet werden<br />

– in dem Sinne: „Vom Fall zum Feld“ – zur Vernetzung<br />

– zum Sozialraumbudget.<br />

4. Einige Augenblicke – Geschichte<br />

Ich habe fünf Bereiche näher herausgearbeitet,<br />

bei denen ich mir für die Jugendwohlfahrt in<br />

Österreich in naher Zukunft vermehrte Diskussionen<br />

und Entwicklungen wünsche.<br />

Abschließend möchte ich noch einige wenige<br />

Blicke – dem Referatsthema entsprechend<br />

- in die Geschichte werfen.<br />

78 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 79<br />

zu bleiben. Ein mäßiger Cannabis-Konsum ist<br />

schließlich etwas völlig anderes als ein Can-<br />

nabis-Flash in der Früh – vor der Schule oder<br />

der Lehre. Solche neuen Konsumgewohnheiten<br />

gefährden nämlich die Leistungen in der Schu-<br />

le und im Beruf und führen zu sozialen Kolla-<br />

teralschäden – mit all den negativen Folge-<br />

wirkungen. Dies sollte bei einer Freigabe von<br />

Cannabis-Konsum verantwortungsbewusst<br />

mitüberlegt werden. (Vielleicht bewirkt die<br />

Freigabe ohnedies, dass gefährdende „kicks“<br />

gar nicht mehr so gefragt sein werden.) Je-<br />

denfalls hat das Bild des existenziellen Elends,<br />

welches ich vor einigen Jahren am Limmat-Kai<br />

in Zürich gewonnen habe, in mir den Eindruck<br />

verstärkt, dass eine lediglich abolitionistische<br />

Argumentation im praktischen Diskurs nicht<br />

verantwortbar ist. Aus diesen Gründen würde<br />

ich einen Weg, den die Schweiz in der Drogen-<br />

politik zu gehen beabsichtigt, unter der Vor-<br />

aussetzung einer sorgfältigen und kritischen<br />

Begleitung auch für Österreich begrüßen.<br />

schwerpunkt österreich


österreich(1878 – schwerpunkt österreich<br />

4.1 Die klassische Heroengeschichte<br />

Ihre Rekonstruktion scheint mir um so wich-<br />

tiger, als die Kenntnis anscheinend immer<br />

mehr verloren zu gehen droht, dass Österreich<br />

einen beachtenswerten Beitrag zur Geschich-<br />

te der Sozialpädagogik aufzuweisen hat. Ich<br />

kann diese Befürchtung des Geschichtsverlustes<br />

damit belegen, dass im äußerst infor-<br />

mativen und bemerkenswerten Handbuch<br />

Sozialarbeit/Sozialpädagogik von OTTO und<br />

THIERSCH (vgl. 2001) von den Klassikern der<br />

Sozialarbeit bzw. der Sozialpädagogik, wel-<br />

che Österreich hervorgebracht hat, lediglich<br />

Ilse ARLT eine Würdigung erfährt. Es fehlen<br />

so berühmte Namen wie August AICHHORN<br />

(1878 – 1949), Siegfried BERNFELD (1892<br />

– 1953), Hildegard HETZER, Paul LAZARS-<br />

FELD, Fritz REDL (1902 – 1988) und Bruno BET-<br />

TELHEIM (1903 – 1990). Wahrscheinlich sollte<br />

auch Julius TANDLER genannt werden.<br />

4.2 Die Geschichte der Opfer<br />

Natürlich kann man eine Geschichte der So-<br />

zialen Arbeit in Österreich auch ganz anders<br />

anlegen – weniger klassisch, weniger hero-<br />

isch. Man könnte einfach damit beginnen, dass<br />

mindestens 493.670 tote Kinder den Beginn<br />

des Weges der Profession der Sozialen Arbeit<br />

in Österreich säumen. Das sind 68 % der über<br />

730.230 Kinder, welche im Zeitraum von 1784<br />

bis 1910 im Wiener Findelhaus aufgenommen<br />

wurden (vgl. PAWLOWSKY 2001, S. 200).<br />

Bevölkerungsvermehrung sowie der pro-<br />

duktive Einsatz der Untertanen zum Nut-<br />

zen des Staates waren wichtige Ziele des<br />

aufgeklärten Absolutismus in Österreich.<br />

Somit wurde die Säuglings- und Kinderfür-<br />

sorge zu einem seiner deklarierten Ziele.<br />

Prinzipielles:<br />

Die Einrichtung von Gebär- und Findelhäuser<br />

als Organisationen, in welchen unverheira-<br />

tete Frauen Schutz finden und ihre Kinder<br />

zurück lassen konnten, war die zeitgemä-<br />

ße Antwort auf die seit dem Ende des 18.<br />

Jhs. steigende Zahl unehelicher Geburten<br />

und auf den von aufgeklärten Zeitgenos-<br />

sen diskutierten Kindsmord (vgl. z.B. J.H.<br />

PESTALOZZI: Über Gesetzgebung und Kin-<br />

dermord 1783; Goethes Gretchen in FAUST<br />

– Aufarbeitung eines Prozesses in Frankfurt/M.<br />

aus den 70er Jahren des 18. Jhs.).<br />

Das Personal des Findelhauses hatte neben der<br />

Erstversorgung der hier geborenen bzw. abgegebenen<br />

Säuglinge v.a. die Aufgabe, diese an<br />

Pflegestellen (Pflegeeltern) zu vermitteln und<br />

die in Außenpflege befindlichen Kinder zentral<br />

zu verwalten. So mussten etwa im Jahr 1894<br />

27.500 Kinder durch die Anstalt versorgt werden.<br />

Dazu waren 29 Männer angestellt (vgl.<br />

PAWLOWSKY 2001, S. 109ff). Daneben gab es<br />

Ärzte, Hebammen, Pflichtammen, Wärterinnen<br />

etc.). Diese Vermittlungs-, Verwaltungs- und<br />

Betreuungstätigkeit führte neben der Kontrolltätigkeit<br />

des friendly visiting im Bereich<br />

der Armenfürsorge (vgl. MÜLLER 1988²) zu<br />

den Wurzeln des Berufs der Sozialen Arbeit.<br />

4.3 Ein skizzenhafter Streifzug durch das 20.<br />

Jh.<br />

Hier kann lediglich ein skizzenhafter Überblick<br />

über weitere Entwicklungen in der Jugendwohlfahrt<br />

gegeben werden. In Weiterführung<br />

des Phänomens Findelhaus soll die Einführung<br />

der Berufsvormünder als obligatorische Vertretung<br />

der unehelichen Kinder genannt werden.<br />

(1914) (vgl. PAWLOVSKY 2001, S. 198);<br />

Mit der Einführung des 1. JUGENDGERICHTS-<br />

GESTZES im Jahr 1928 wurde erstmals in<br />

Österreich „eine eigene Jugendgerichtsbarkeit“<br />

geschaffen. Es erkannte dieses JGG<br />

die Priorität der Erziehung des straffälligen<br />

Jugendlichen vor dessen Bestrafung an<br />

(vgl. BOGENSBERGER 1992, bes. S. 31f).<br />

„Heilen statt Bessern“ war das Motto, welches<br />

A. AICHHORN im Zusammenhang mit dem Jugendgerichtsgesetz<br />

von 1928 in die Diskussion<br />

gebracht hat (vgl. MAIERHOFER 1996, S. 64). Das<br />

war eine noch weiter reichende Zielstellung.<br />

Daher konnte die Jugendfürsorge allein mit<br />

dem JGG nicht zufrieden sein. Sie wollte<br />

vorbeugende Maßnahmen bei einem festgestellten<br />

dissozialen Verhalten gesetzlich verankert<br />

sehen und nachsorgende Maßnahmen<br />

ermöglichen: eben „Heilen“ und nicht nur<br />

„Bessern“. Deshalb wurden die Stimmen für<br />

ein Jugendwohlfahrtsgesetz damals besonders<br />

lauter. Die Bemühungen um ein solches<br />

waren zwar in der Ersten Republik – vor allem<br />

im Jahr 1928 – gegeben, aber letztlich nicht<br />

erfolgreich (vgl. MAIERHOFER 1996, S. 202).<br />

Im Jahr 1934 gab es durch die sogenannte<br />

Ständeverfassung sogar einen Rückschritt<br />

insofern, weil in dieser die Kompetenz der<br />

einschlägigen Grundsatzgesetzgebung<br />

nicht mehr enthalten war (vgl. ebd. S. 203).<br />

Damals wurde auch die weltweit gerühmte Fürsorgekompetenz<br />

des Roten Wien unter J. TAND-<br />

LER (1922 – 1933) beendet. Dabei war auch A.<br />

AICHHORN mit seiner Erziehungsberatungsstellen<br />

maßgeblich eingebunden gewesen.<br />

Die Jugendwohlfahrtspraxis in der NS-Zeit<br />

lässt sich sehr gut durch ein Zeitzeugnis<br />

veranschaulichen (vgl. GROSS 2000).<br />

Das erste Jugendwohlfahrtsgesetz konnte<br />

– wie Sie wissen – erst in der Zweiten Republik<br />

(1954) verabschiedet werden. Diese wurde<br />

schlussendlich 1989 durch das zweite JWG<br />

angelöst. Es bildet in mehrfach novellierter<br />

Form gemeinsam mit dem KINDSCHAFTS-<br />

RECHTSÄNDERUNGSGESETZ 2000, den<br />

neuen JUGENDSCHUTZGESETZEN und dem<br />

JUGENDGERICHTSGESETZ 1988 die wesentliche<br />

leitende Rechtsmaterie für die Soziale<br />

Arbeit. Aber nur das Jugendförderungsgesetz<br />

und das Jugendvertretungsgesetz sollte<br />

hier nicht ganz unberücksichtigt bleiben.<br />

Für das JGG 1988 sind v.a. die vier Maßnahmen<br />

der Diversion (BUSSGELD,<br />

ATA, Gemeinnützige Arbeit, Probezeit<br />

von einem bis zu zwei Jahren) als wichtig<br />

für die Jugendwohlfahrt zu nennen.<br />

Einige Anläufe zu einer Reform der Heimerziehung<br />

im Laufe der 60er und 70er Jahre des<br />

vorigen Jahrhunderts (Spartakus Bewegung:<br />

„Öffnet die Heime“; Ende der 60er Jahre;<br />

„Wiener Weg der Heimerziehung“ und Heimenqueten<br />

des Jugendamtes Wien Anfang<br />

der 70 und 80er Jahre (vgl. SCHEIPL 2001, S.<br />

210ff)) rüttelten die Jugendwohlfahrt wach.<br />

Wichtige Impulse zu Alternativen in der Heimerziehung<br />

wurden ebenfalls Anfang der 80er<br />

Jahre gesetzt. Auf diese Weise wurde das Feld<br />

für die Umsetzung des JWG 1989 aufbereitet.<br />

Dieses ist nach mehr als zehnjähriger Beratung<br />

endlich 1989 verabschiedet worden.<br />

Der darin enthaltene moderne Dienstleistungsaspekt<br />

sowie das Subsidiaritätsprinzip<br />

ermöglichten in den 90er Jahren meines<br />

Erachtens durchaus eine progressive Ent-<br />

5. Schlussbemerkung<br />

Eine ehemals progressive Entwicklung<br />

in der österreichischen Jugendwohlfahrt<br />

scheint momentan in eine Abschwung-<br />

phase eingetreten zu sein.<br />

Daher sind Veranstaltungen wie diese wichtig,<br />

damit die Idee das Aufbruchs, welche mit dem<br />

Begriff „Sozialpädagogisches Jahrhundert“ in<br />

Verbindung zu bringen ist, nicht verloren geht.<br />

Ich meine, die Jugendwohlfahrt braucht am<br />

Beginn eines neuen Jahrhunderts wieder star-<br />

ke Impulse. Und diese kommen aus solchen<br />

Veranstaltungen, wie diese eine ist.<br />

80 . Nr.63 . SIT<br />

SIT . Nr.63 . 81<br />

Literatur:<br />

ADER, S./SCHRAPPER, Chr.: Wie aus Kindern<br />

in Schwierigkeiten „schwierige Fälle“ werden.<br />

In: Forum Erziehungshilfen. 1/2002, S. 27 – 34.<br />

AMT der STEIERMÄRKISCHEN LANDESRE-<br />

GIERUNG (Hg.): Steirischer Jugendwohlfahrts-<br />

plan 1999. Graz 1999.<br />

Aus für die Bundes-Jugendwohlfahrts-Sta-<br />

tistik? In: Der österreichische Amtsvormund<br />

2000, S. 200.<br />

AUFERBAUER, M./EPPICH, Chr./ Bedarfsana-<br />

lyse psychosozialer Begleitmaßnahmen für<br />

HUTSTEINER, Th./SEEBAUER, S.: Jugendliche<br />

mit problematischem Drogenkonsum in Graz.<br />

Graz 2002 (http://www.suchthilfe-graz.at/<br />

SHG_welcome.htm)<br />

BAVING, L.: Im Spannungsfeld zwischen Ju-<br />

gendpsychiatrie und Jugendhilfe. In: Forum<br />

Erziehungshilfen 5/2002, S. 280 – 286.<br />

BOGENSBERGER, W.: Jugendstrafrecht und<br />

Rechtspolitik. Wien 1992.<br />

BÖHNISCH, L./SCHRÖER, W.: Die soziale Bür-<br />

wicklung z.B. das Reformkonzept der Stadt<br />

Wien: „Heim 2000“ und andere Reformen in<br />

den einzelnen Bundesländern, welche die<br />

private Trägerschaft in der Jugendwohlfahrt<br />

entsprechend betont und dabei Alternativen<br />

und neue Ansätze – wie z.B. Kriseninterventi-<br />

onszentren etc. – hervorgebracht haben.<br />

schwerpunkt österreich


österreichner Zeitschrift österreich– 60.<br />

schwerpunkt österreich<br />

Hermann Putzhuber<br />

gergesellschaft. Weinheim, München, 2002. Bd. 1. Weinheim, Basel 1988².<br />

BUNDES-JUGENDWOHLFAHRTSGESETZ, MÜLLER, C.W.: Helfen und Erziehen. Beltz.<br />

JU-Quest: ExpertInnenbefragungen zu Entwicklungen in der Jugendwohlfahrt<br />

BGBl I 161/1989; Novelle von 1989 (BGBl I. 53/ Weinheim. 2002.<br />

1999 vom 9.4.1999).<br />

PANTUCEK, P.: Möglichkeiten und Grenzen<br />

Projektpräsentation<br />

eines relativ selbstständigen Abschnitts „Dia-<br />

BRANDAU, H.: Das ADHS-Puzzle, systemischgnose“<br />

im Family Casework. Kurzfassung eines<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

relevanten und für alle Interessierten über das<br />

evolutionäre Aspekte und klinisch-sozialpäd-<br />

Referates, gehalten auf der Jahrestagung des<br />

Ich freue mich, Ihnen hier und heute ein spannendes,<br />

neues Projekt präsentieren zu können<br />

Graz 2003.<br />

in Werfenweng, Salzburg am 19.05.1999.<br />

und möchte mich als erstes bei den Veranstal-<br />

Auf welchem Weg sollen diese Ziele erreicht<br />

BÜRGER, U.: Ambulante Erziehungshilfen und<br />

terInnen bedanken, dass sie uns die Gelegen-<br />

werden?<br />

Heimerziehung, Frankfurt/M. 1998.<br />

PAWLOWSKY, V.: Mutter ledig – Vater Staat.<br />

heit gegeben haben, JU-Quest im Rahmen die-<br />

Wie bereits erwähnt führen wir Befragungen<br />

Internet nutzbaren Wissens-Pool führen.<br />

agogische Konsequenzen. Habilitationsschrift Bundessozialamtes/Mobile Beratungsdienste<br />

Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784<br />

ser Tagung vorzustellen.<br />

von ExpertInnen zu Entwicklungen in der ös-<br />

FAZEKAS, Chr.: Zur Methodik gemeindenaher – 1910. Innsbruck 2001.<br />

Mein Name ist Hermann Putzhuber, ich bin terreichischen Jugendwohlfahrt durch.<br />

Suchtprävention am Modell Trofaiach. In: Wie-<br />

Die PRESSE: Unabhängige österreichische Tageszeitung<br />

für Österreich vom 15.3.2003. Mandorf<br />

und Projektleiter von JU-Quest, einem in-<br />

Anfang an auf das Schneeball-System gesetzt.<br />

– 60.<br />

fred SEEH: Kampf gegen die Hinterräume.<br />

stitutionsübergreifenden und österreichweiten<br />

Die Initiative für das Projekt ging vom Leiter<br />

GROSS, J.: Spiegelgrund. Leben in NS-Erzie-<br />

OLK, T.: Versäulung der Hilfen. Paper auf dem<br />

Projekt.<br />

des Fachbereiches Pädagogik von SOS-Kinder-<br />

hungsanstalten. Wien 2002.<br />

internationalen Kongress der IGfH am 19.9.2002<br />

Wenn ich Sie begrüße mit „Herzlich Willkom-<br />

dorf, Dr. Christian Posch, aus. Er konnte Fach-<br />

HAFEN, M.: Suchtpolitik in der Schweiz. In:<br />

in Berlin.<br />

men bei http://www.ju-quest.at“ dann finden<br />

leute aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern<br />

SIO 1/2003, S. 28 – 29.<br />

OTTO, H.U./THIERSCH, H.: Handbuch<br />

sich hier bereits einige Anhaltspunkte dafür,<br />

und Bundesländern dafür gewinnen, sich als<br />

HANSBAUER, P./ SCHNURR, St.: Riskante Ent-<br />

Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied/Kriftel<br />

was JU-Quest ist bzw. sein soll.<br />

Steuerungsgruppenmitglieder für das Projekt<br />

scheidungen in der Sozialpädagogik. In: Zeit-<br />

2001.<br />

„ju“ steht für Jugendwohlfahrt – und zwar die<br />

zu engagieren. Diese Steuerungsgruppe entwi-<br />

schrift für Erziehungswissenschaft 1/2002, S.<br />

SCHEIPL, J.: Jugendwohlfahrtsplanung in<br />

österreichische. „quest“ kommt von „question“<br />

ckelte das Projekt inhaltlich und jedes Mitglied<br />

73 – 94.<br />

Österreich. In: KNAPP, G./SCHEIPL, J (Hg.):<br />

aber auch von „questionnaire“, hat also etwas<br />

der Steuerungsgruppe kontaktierte mehrere<br />

HINTE, W.: Fall im Feld. In: Sozialmanagement Jugendwohlfahrt in Bewegung. Reforman-<br />

mit Fragen, Befragungen, Fragebögen zu tun<br />

ExpertInnen um sie für die Teilnahme an den<br />

6/2001, S. 10 – 13 (2001a).<br />

sätze in Österreich. Klagenfurt u.a. 2001,<br />

oder bedeutet auch schlicht „Suche“. „http:<br />

Befragungen zu gewinnen. Auf diese Weise<br />

HINTE, W.: Sozialraumorientierung und das<br />

S. 283 – 303.<br />

//www“ deutet darauf hin, dass das Ganze<br />

wurde für die erste Befragung eine Gruppe<br />

Kinder- und Jugendhilferecht – ein Kommentar<br />

SCHEIPL, J.: Soziale Arbeit. Sozialpolitik. In: G.<br />

etwas mit dem Internet zu tun hat. Wenn Sie<br />

von 60 ExpertInnen aus unterschiedlichsten<br />

aus sozialpädagogischer Sicht. In: Sozialpäd. KNAPP/K. LAUERMANN (Hg.) 2003. Im Druck.<br />

den Untertitel aus dem Logo hinzunehmen,<br />

Arbeitsfelder gefunden, wobei darauf geachtet<br />

Institut im SOS-Kinderdorf e.V. (Hg.): Sozialrau-<br />

dann könnte man das Projekt JU-Quest in ei-<br />

wurde, dass alle Bundesländer vertreten sind.<br />

morientierung auf dem Prüfstand. Frankfurt/M. SCHEIPL, J.: Heimreform in der Steiermark<br />

nem Satz beschreiben mit: JU-Quest ist auf<br />

Den Begriff „ExpertIn“ haben wir dabei weit<br />

2001, S. 125 – 156 (2001b).<br />

1980 – 2000. In: KNAPP, G./SCHEIPL, J. (Hg.):<br />

der Suche nach Trends in der österreichischen<br />

gefasst, gleichzeitig aber auch spezifisch fo-<br />

Jugendwohlfahrt in Bewegung. Klagenfurt<br />

Jugendwohlfahrt und nutzt dabei die Möglich-<br />

kussiert. Die Steuerungsgruppe von JU-Quest<br />

HOOPS, S./PERMIEN, A.: Straffälliges Verhalten 2001, S. 208 – 219.<br />

keiten des Internets. Da damit aber noch nicht<br />

hat sich entschieden, als ExpertInnen die<br />

von Kindern. In: Neue Kriminalpolitik 2/2002, SCHEIPL, J./PFOSER, B./ Jugend Eggenberg<br />

viel gesagt ist, möchte ich doch etwas weiter<br />

Menschen anzusprechen, die in verschiedenen<br />

S. 66 – 70.<br />

2000. Eine kleinräumliche Sozialraumanalyse.<br />

ausholen.<br />

Feldern der Jugendwohlfahrt arbeiten bzw. in<br />

JUGENDGERICHTSGESETZ 1988 in der Novel-<br />

LEODOLTER, M./KERN, S.: Graz 2000.<br />

Arbeitsbereichen tätig sind, in denen sie im-<br />

le gem. BGBl I 19/2001. Kommentierte Texte in:<br />

Welche Ziele verfolgt JU-Quest?<br />

mer wieder mit der Jugendwohlfahrt zusam-<br />

Der österreichische Amtsvormund 160/2001, S.<br />

SCHREIBER, W.: Zum theoretischen Ort sozialpä-<br />

JU-Quest verfolgt im Wesentlichen drei Ziele:<br />

menarbeiten oder mit Jugendwohlfahrtsfragen<br />

97 – 108.<br />

dagogischer Diagnostik. In: Neue Praxis 6/2000,<br />

Diskussion, Vernetzung und Wissen.<br />

beschäftigt sind (z.B. in der Ausbildung von<br />

KINDSCHAFTSRECHTS-ÄNDERUNGSGE-<br />

S. 580 – 586.<br />

Wir wollen eine Plattform für die Diskussion zu SozialpädagogInnen).<br />

SETZ, BGBl I 135/2000. Kommentierte Volltext<br />

WOLFFERSDORFF, Chr. v.: Kinder- und Ju-<br />

Jugendwohlfahrtsfragen zur Verfügung stellen<br />

Diese ExpertInnen befragen wir nach ihren<br />

in: Der österreichische Amtsvormund. 159/<br />

genddelinquenz. In: SCHRÖER, u.a. (Hg.):<br />

und die österreichweite Diskussion fördern. Zu<br />

Einschätzungen, wohin die Jugendwohlfahrt<br />

2001, S. 1 – 53.<br />

Handbuch der Kinder- und Jugendhilfe. Mün-<br />

diesem Zweck führen wir Befragungen von Ex-<br />

sich entwickeln wird. Dabei benutzen wir das<br />

KRAUSKOPF, S.: Sozialraumorientierung in der chen, Weinheim 2002, S. 495 – 525.<br />

pertInnen aus dem Jugendwohlfahrtsbereich<br />

Internet als Medium. Zum einen, weil in Öster-<br />

Jugendhilfe und ihre Planung (Teil 1). In: Unse-<br />

durch, deren Ergebnisse auf unserer Web-Seite<br />

reich relativ viele Menschen privat oder dienst-<br />

re Jugend 10/1999, S. 434 – 438.<br />

veröffentlicht und zu Diskussion gestellt wer-<br />

lich über einen Zugang zum Internet verfügen<br />

MAIERHOFER, A.: Jugendfürsorgepolitik und Univ. Prof. Dr. Josef Scheipl<br />

den. Über diese Diskussion und regelmäßige<br />

und per E-Mail erreichbar sind . Zum anderen<br />

Sozialpädagogik Österreichs in der Ersten Re-<br />

Universität Graz<br />

Tagungen der ExpertInnen soll die österreich-<br />

weil es ein schnelles und kostengünstiges<br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter bei SOS-Kinder-<br />

Bei der Entwicklung des Projektes wurde von<br />

ner Zeitschrift für Suchtforschung 4/2002, S. 55<br />

Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften<br />

publik. (Phil. Diss.). Graz 1996.<br />

weite Vernetzung von mit Jugendwohlfahrts-<br />

Medium ist um österreichweite Verbindungen<br />

Merangasse 70<br />

themen befassten Menschen unterstützt und herzustellen.<br />

A-8010 Graz<br />

MÜLLER, C.W.: Wie Helfen zum Beruf wurde. e-mail: josef.scheipl@glossa.uni-graz.at<br />

gefördert werden. Befragungen, Diskussion<br />

So wie das Projekt nach dem Schneeballsystem<br />

82 . Nr.63 . und Vernetzung sollen längerfristig zu einem<br />

entstanden ist, so soll es auch weiterwachsen.<br />

SIT<br />

SIT . Nr.63 . 83<br />

schwerpunkt österreich


österreichÜberblick zu schwerpunkt österreich<br />

Zum einen indem TeilnehmerInnen an JU-<br />

Quest weitere ExpertInnen ansprechen, zum<br />

anderen gehen wir davon aus, dass sich im<br />

Laufe der Zeit auch ExpertInnen von sich aus<br />

melden werden, die Interesse an einer Mitar-<br />

beit haben.<br />

Was macht JU-Quest nun konkret?<br />

Wir beabsichtigen zwei Mal pro Jahr eine On-<br />

line-Befragung durchzuführen, wobei wir uns<br />

in einem ersten Schritt an der in der Trendforschung<br />

etablierten Delphi-Methode orientie-<br />

ren.<br />

Im Oktober 2002 wurde eine erste Befragung<br />

mit fünf offenen Fragen durchgeführt, um einen<br />

Überblick zu bekommen, was denn die Themen<br />

sind, mit denen die befragten ExpertInnen kon-<br />

frontiert sind. Die Ergebnisse dieser Befragung<br />

wurden in einem Bericht zusammengefasst<br />

und auf der Web-Seite von JU-Quest veröffent-<br />

licht.<br />

Für die Diskussion wird auf der Web-Seite ein<br />

Diskussionsforum eingerichtet. Und letztend-<br />

lich ist geplant, einmal im Jahr eine Tagung<br />

zu veranstalten, auf der die Befragungsergeb-<br />

nisse auch live diskutiert und neue Kontakte<br />

geknüpft werden können.<br />

Welche Ergebnisse hat die erste Befragung<br />

gebracht?<br />

Die bei der ersten Befragung kontaktierten<br />

ExpertInnen sind österreichweit in verschie-<br />

densten Arbeitsfeldern tätig, u.a. in Jugend-<br />

wohlfahrtsbehörden, in Fremdunterbringungs-<br />

einrichtungen, in der ambulanten Familienbe-<br />

treuung, im Pflegekinderwesen, in Collegs,<br />

Fachhochschulen und Universitäten, im Be-<br />

reich Kinder- und Jugendneuropsychiatrie, bei<br />

der Kinder- und Jugendanwaltschaft oder in<br />

der Sonderschule. Vertreten waren letztendlich<br />

auch Menschen, die selbst fremduntergebracht<br />

waren und sich jetzt beruflich mit Jugendwohl-<br />

fahrtsfragen beschäftigen. Sie wurden zum<br />

größten Teil persönlich kontaktiert, bevor sie<br />

den Fragebogen erhielten. Insgesamt 34 Perso-<br />

nen haben den Fragebogen dann beantwortet.<br />

Zielsetzung dieser Befragung war es, einen<br />

ersten Überblick über die wichtigen Themen<br />

in der österreichischen Jugendwohlfahrtsland-<br />

schaft zu bekommen. Die Antworten haben<br />

ein dementsprechend breites, buntes und zum<br />

Teil auch widersprüchliches Bild der aktuellen<br />

84<br />

. Nr.63 . SIT<br />

Themen, der wahrgenommenen Trends bzw.<br />

der Interpretationen verschiedener Entwicklungen<br />

geliefert. Generalisierende Aussagen<br />

zu einzelnen Entwicklungen sind auf dieser<br />

Basis zwar nicht möglich, sichtbar wird aber,<br />

dass in der österreichischen Jugendwohlfahrt<br />

vieles in Bewegung ist und in den nächsten<br />

Jahren auch noch viele interessante Debatten<br />

und Entwicklungen zu erwarten sind.<br />

Spannungsfelder zeigen sich in bezug auf verschiedenste<br />

Fragen. Wenn es beispielsweise<br />

um Ausbau oder Reduktion von Aufgabenbereichen<br />

geht oder um die Rolle und Finanzierung<br />

präventiver Maßnahmen. Unterschiedlich<br />

sind die Einschätzungen über die Auswirkungen<br />

demographischer Veränderungen und die<br />

Erwartungen in Bezug auf Professionalisierung<br />

und Qualitätssicherung. Die Frage der<br />

Finanzierung von Jugendwohlfahrtleistungen<br />

nimmt einen großen Raum ein. Die Spannung<br />

zwischen Gewünschtem und Befürchtetem,<br />

zwischen Sein und Sollen, zwischen Ausbau<br />

und Abbau oder zwischen Optimismus und<br />

Pessimismus zieht sich mehr oder weniger<br />

durch. Sowohl bei den Einschätzungen der<br />

gesellschaftlichen und (sozial-)politischen Entwicklungen<br />

wie auch bei den Veränderungen<br />

von Aufgaben und Angeboten der Jugendwohlfahrt.<br />

Die nächste Befragung wird auf den vorliegenden<br />

Ergebnissen aufbauen. Dabei wird es darum<br />

gehen, einzelne Tendenzen herauszugreifen<br />

um sie genauer zu beleuchten und auch quantitativ<br />

festzumachen. Die Herausforderung<br />

wird dabei sein, die Fragen so zu formulieren,<br />

dass die Antworten eine vergleichende und<br />

auch quantifizierende Auswertung zulassen.<br />

Auch soll der Kreis der befragten ExpertInnen<br />

im Schneeballsystem erweitert werden.<br />

Mehr Informationen zum Projekt, zu den<br />

Befragungen, das Diskussionsforum und<br />

aktuelle Entwicklungen finden sie auf unserer<br />

Web-Seite unter http://www.ju-quest.at.<br />

Damit bleibt mir nur noch, mich herzlich für<br />

Ihre Aufmerksamkeit zu bedanken.<br />

Schau’n Sie mal rein!<br />

Dr. Hermann Putzhuber<br />

SOS Kinderdorf / Sozialpädagogisches Institut<br />

Staffler Strasse 10a A-6020 Innsbruck<br />

e-mail: hermann.putzhuber@sos-kd.org<br />

<strong>KIZ</strong><br />

Kriseninterventionszentrum<br />

Pradlerstraße 75<br />

6020 Innsbruck<br />

Tel.: 0512/58 00 59<br />

FAX: 0512/58 00 59-9<br />

e-mail: info@kiz-tirol.at<br />

www.kiz-tirol.at<br />

Erreichbarkeit: in Krisenfällen rund um die Uhr<br />

Das <strong>KIZ</strong> stellt Hilfen für Kinder und Jugendliche<br />

und deren Familien in Krisensituationen<br />

bereit.<br />

In den Aufgabenbereich des <strong>KIZ</strong> fallen persönliche,<br />

familiäre und soziale Krisensituationen,<br />

welche Betroffene in ihrem seelischen, geistigen<br />

oder körperlichen Wohl gefährden. Krisen<br />

sind gekennzeichnet durch das Versagen von<br />

bisherigen Problemlösungsmustern.<br />

Gründe für solche Krisen können sein:<br />

• persönliche und/oder familiäre Überforderung<br />

• eskalierende Adoleszenz- und Ablösungskonflikte<br />

• Ausreißerproblematik<br />

• Gewalt in der Familie (physische und psychische<br />

Mißhandlung)<br />

• sexuelle Gewalt<br />

• Vernachlässigung<br />

• gravierende Konflikte im Lebensumfeld<br />

(Schule, Arbeitsplatz, Freunde)<br />

• Suicidgefährdung<br />

Die Arbeit des <strong>KIZ</strong> ist auf kurzfristige, intensive<br />

Hilfe zur Überwindung einer momentanen<br />

Notlage ausgelegt.<br />

Für darüber hinausgehende, längerfristige,<br />

begleitende, beratende oder therapeutische<br />

Hilfen vermittelt das <strong>KIZ</strong> an bestehende Einrichtungen<br />

der Jugendwohlfahrt oder Gesundheitshilfe.<br />

Große Bedeutung bei der Hilfestellung durch<br />

das <strong>KIZ</strong> kommt der Kooperation mit anderen<br />

psychosozialen Einrichtungen bei. Das <strong>KIZ</strong> ist<br />

hier um enge Zusammenarbeit mit - und Unterstützung<br />

von KollegInnen anderer Institutionen<br />

bemüht.<br />

Das Hilfsangebot des <strong>KIZ</strong> umfaßt:<br />

• persönliche oder telefonische Beratung für<br />

Kinder, Jugendliche, Eltern, Angehörige,<br />

HelferInnen und Multiplikator(Inn)en<br />

• kurzfristige und kostenlose Unterbringung<br />

von Jugendlichen in der Zufluchtsstelle<br />

• mobiler Krisendienst<br />

Die Zufluchtsstelle des <strong>KIZ</strong>:<br />

Zur kurzfristigen bzw. mittelfristigen Entlas-<br />

tung der Betroffenen bzw. zur Deeskalation<br />

und Klärung von Krisensituationen stellt das<br />

<strong>KIZ</strong> in seiner Zufluchtsstelle Übernachtungs-<br />

möglichkeiten für max. 7 Jugendliche im Alter<br />

von 12 bis 18 Jahren zur Verfügung.<br />

Nicht aufgenommen werden Jugendliche:<br />

- die pflegebedürftig sind<br />

- mit akuter Alkohol- und Drogenproblematik<br />

- mit psychiatrischer Indikation<br />

Obdachlosigkeit ist kein Aufnahmekriterium<br />

für das <strong>KIZ</strong>.<br />

Die Aufnahme in der Zufluchtsstelle erfolgt gemäß<br />

den gesetzlichen Bestimmungen und un-<br />

ter Berücksichtigung der besonderen Situation<br />

des/der Jugendlichen auf freiwilliger Basis.<br />

Das <strong>KIZ</strong> ist ein Verein der freien Jugendwohlfahrt.<br />

Die Hilfsangebote sind unentgeltlich; finanziert<br />

wird das <strong>KIZ</strong> durch das Land Tirol.<br />

SIT . Nr.63 .<br />

kiz<br />

85

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