2. Die Historische Entwicklung Bosnien-Herzegowinas und des ...
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<strong>2.</strong> <strong>Die</strong> <strong>Historische</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> <strong>und</strong> <strong>des</strong><br />
Libanons<br />
Im Zentrum dieser Arbeit stehen zwei Länder, die nur auf eine kurze staatliche Tradition<br />
zurückgreifen können. Der Libanon entstand nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg als unabhängiger<br />
Staat, während <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina erst mit dem Kriegsausbruch im April 1992<br />
international anerkannt wurden. Trotzdem basieren beide auf historischen Provinzen. Es<br />
handelt sich also nicht um künstliche Konstruktionen <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, sondern um<br />
gewachsene Einheiten. Da es jedoch den Umfang der Arbeit sprengen würde, die<br />
Geschichte <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong>s vor dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert darzustellen <strong>und</strong> zu<br />
vergleichen, setzt dieses Kapitel in der Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ein. Zu diesem<br />
Zeitpunkt bildeten sich die Besonderheiten <strong>des</strong> Libanons <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong>s hervor, zudem<br />
leitete der Beginn der Nationalbewegungen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert ein neues Kapitel in der<br />
<strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Osmanischen Reiches <strong>und</strong> der Habsburger Monarchie ein.<br />
Da die Geschichte <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> enger als der Libanon mit den <strong>Entwicklung</strong>en<br />
in der umliegenden Region (insbesondere Kroatien <strong>und</strong> Serbien, später Jugoslawien)<br />
verknüpft ist, fällt die Darstellung für <strong>Bosnien</strong> umfangreicher aus.<br />
<strong>2.</strong>1. <strong>Die</strong> Gemeinsame Geschichte im Rahmen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />
<strong>2.</strong>1.1. Das Osmanische Reich im 19. <strong>und</strong> am Anfang <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
Unter Sultan Mehmet II. kam <strong>Bosnien</strong> 1463 <strong>und</strong> die Herzegowina zwei Jahre später<br />
unter die Herrschaft <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. Etwas mehr als fünfzig Jahre später,<br />
1516, eroberte das Osmanische Reich den Libanon von den Mameluken. 1 In dieser Zeit<br />
der raschen Expansion <strong>des</strong> jungen Osmanischen Reiches beginnen 400 Jahre türkische<br />
Herrschaft über <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> den Libanon. <strong>Die</strong>se lange Zeit hat beide Staaten stark<br />
geprägt, so daß sich Elemente der osmanischen Herrschaft in den verschiedensten<br />
Bereichen <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> auch <strong>Bosnien</strong>s wiederfinden.<br />
<strong>Die</strong> Struktur <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />
Das Osmanischen Reich wurde durch drei Traditionen geprägt:<br />
- ein traditionelles muslimisches Staatswesen,<br />
- byzantinische Elemente <strong>und</strong><br />
- die türkische Herkunft der Dynastie der Osmanen.<br />
<strong>Die</strong> islamische Ausrichtung <strong>des</strong> Reiches bedeutet eine strikte Trennung zwischen<br />
Muslimen <strong>und</strong> Nicht-Muslimen. Trotz gelegentlicher Gleichbehandlung besaßen die<br />
Angehörigen anderer Religionen nie die gleichen Rechte wie Muslime. <strong>Die</strong> osmanische<br />
Gesellschaft gliederte sich entlang vertikaler <strong>und</strong> horizontaler Achsen. <strong>Die</strong> vertikale<br />
Achse trennte die Muslime <strong>und</strong> die anderen Konfessionen von einander. <strong>Die</strong> horizontale<br />
Achse entspricht den sozialen Abstufungen.<br />
<strong>Die</strong>se Gesellschaftspyramide war streng hierarchisch in verschiedene Gruppen<br />
aufgeteilt. An der Spitze stand der Sultan mit unbeschränkten Machtbefügnissen. Erst ab<br />
1909 wurden die Kompetenzen <strong>des</strong> Sultans im Rahmen einer konstitutionellen<br />
1<br />
Hierzu siehe Peter Sugar, Southeastern Europe <strong>und</strong>er Ottoman Rule, 1354-1804 (=A History of East<br />
Central Europe V, Seattle/London 1977) 65 f.; Jean-Louis Bacqué-Grammont, L'apogée de l'Empire<br />
ottoman: les événements (1512-1606), in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris<br />
1989) 143-145.<br />
5
Monarchie eingeschränkt. Zwei streng getrennte Gruppen gliedern die Hierarchie. <strong>Die</strong><br />
erste Gruppe stand im <strong>Die</strong>nst <strong>des</strong> Staates, Peter Sugar bezeichnet sie als „professional<br />
Ottomans“. Sie waren entweder Beamte der Hohen Pforte (Mülkiye), Schriftgelehrte mit<br />
ähnlichen Aufgaben wie Beamte (Kalemiye), Angehörige <strong>des</strong> Militärs (Seyfiye) oder<br />
Geistliche (Ilimiye). Jede dieser Gruppen besaß ihre eigene Hierarchie. Sie besaßen<br />
jedoch keine Rechte gegenüber dem Sultan. Traditionell konnten sie jedoch die<br />
Herrschaft beeinflussen <strong>und</strong> zu manchen Zeiten sogar den Sultan absetzen. Ihre zentrale<br />
Aufgabe war die Verwaltung <strong>des</strong> Reiches. Angehören konnten diesen „professionellen<br />
Osmanen“alle anerkannte Konfessionen. Sie sprachen als einzige Gruppe auch die<br />
Verwaltungssprache Osmanlica.<br />
<strong>Die</strong> zweite Gruppe war die restliche Bevölkerung (Raya), die sowohl Muslime, wie<br />
auch die Bevölkerung mit anderer Religionszugehörigkeit, umfaßte. <strong>Die</strong> Gläubigen<br />
monotheistischen Religionen (Judentum <strong>und</strong> Christentum) standen unter dem Schutz<br />
<strong>des</strong> Islam <strong>und</strong> wurden als Zimmi bezeichnet. Obwohl die Abstufungen in der<br />
gesellschaftlichen Hierarchie in erster Linie durch soziale <strong>und</strong> funktionale Unterschiede<br />
der jeweiligen Gruppen geprägt wurden, spielte die Konfession immer eine Rolle. So<br />
spezialisierten sich oftmals einzelne Konfessionen auf bestimmte Berufe. Insgesamt<br />
besaßen die Zimmi stets weniger Rechte als die muslimische Bevölkerung <strong>und</strong><br />
unterstanden anderen Gesetzen. So mußten nur Muslime in der Armee dienen. <strong>Die</strong><br />
Zimmi mußten hingegen einen Kopfsteuer bezahlen. 2 Bis ins 16. Jahrh<strong>und</strong>ert bestand<br />
der Knabenzins (Devşirme), der je<strong>des</strong> 5. nicht-muslimische Kind zur Armee<br />
verpflichtete. 3<br />
Das Millet-System<br />
Im Zentrum der gesellschaftlichen Gliederung der Zimmi standen religiöse<br />
Selbstverwaltungseinheiten, die Millets. <strong>Die</strong> Millets gliederten sich nach Konfessionen.<br />
Am Anfang <strong>des</strong> Osmanischen Reiches bestand auch ein muslimisches Millet, in der<br />
späteren <strong>Entwicklung</strong> bezog sich jedoch der Begriff Millet ausschließlich auf die Nicht-<br />
Muslime. <strong>Die</strong> drei ursprünglichen Millets waren das orthodoxe, das armenische<br />
(armenisch-orthodox) <strong>und</strong> das jüdische Millet, im Lauf der Zeit kamen weitere Millets<br />
hinzu, die im Lauf <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zunehmend nach nationalen <strong>und</strong> weniger<br />
religiösen Kriterien eingerichtet wurden. 4<br />
Das Millet gliederte die osmanische Gesellschaftspyramide vertikal. <strong>Die</strong> jeweiligen<br />
Millets besaßen ihre eigene Hierarchie <strong>und</strong> Verwaltung. Mit Hilfe der Millets sicherte<br />
das Osmanische Reich die Kontrolle über die nicht-muslimische Bevölkerung. Zugleich<br />
stellten die Millets ein Rechtssystem dar, das das Leben der nicht-muslimischen<br />
Untertanen <strong>des</strong> Reiches regelt. Nicht-Muslime hatten, im Gegensatz zu Muslimen, auch<br />
die Möglichkeit, sich in der Gesellschaft „horizontal“ zu bewegen, da sie zum Islam<br />
übertreten können. In der Frühphase der Millets waren die religiösen Grenzen noch<br />
fließend, so konvertierten große Teile der christlichen Bevölkerung auf dem Balkan zum<br />
Islam. Jedoch im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erstarrten die Millets, unter anderem bestärkt<br />
durch ein Heiratsverbot zwischen Christen <strong>und</strong> Muslimen. Zwischen den Millets gab es<br />
auch kaum gemischte Ehen, da die Einheiten, trotz ihres Nebeneinanders oftmals<br />
parallel lebten <strong>und</strong> kaum persönliche Kontakte besaßen.<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Sugar, Southeastern Europe <strong>und</strong>er Ottoman Rule, 31-44, 271-273<br />
Ebd., 55 f..<br />
Ebd., 44 f.<br />
6
Dem Osmanischen Reich war das Konzept der Nation fremd. Obwohl es Übertritte zum<br />
Islam gab, hat das Osmanische Reich nicht versucht, die Bevölkerung zu assimilieren<br />
oder eine „osmanische Identität“ zu propagieren. Das politische System <strong>des</strong> Reiches zog<br />
Nutzen aus dem Fortbestand anderer Religionen, da die Steuerzahlungen der Nicht-<br />
Muslime nicht unerheblich zur Finanzierung der Hohe Pforte beitrug. Da jedoch kein<br />
einheitliches osmanisches Staatsvolk entstand, wurde die osmanische Herrschaft<br />
zunehmend im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert als Besatzung empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die jeweiligen<br />
Millets bildeten geschlossene sub-Gesellschaften. Schließlich setzten sich die religiösen<br />
Führer zunehmend auch für die säkularen Belange ihrer Bevölkerungsgruppe ein. <strong>Die</strong><br />
Millets sicherten den Fortbestand von verschiedenen christlichen Gruppen <strong>und</strong> Juden<br />
<strong>und</strong> erhielten somit den „Flickenteppich“ verschiedener, teils kleiner, Konfession im<br />
Osmanischen Reich.<br />
<strong>Die</strong> Millets hatten als religiöse Strukturen keine territorialen Grenzen, sondern umfaßten<br />
eine Religion auf dem gesamten Gebiet <strong>des</strong> osmanischen Reiches. Nur selten, wie bei<br />
den Maroniten im Libanon, war die Religionsgemeinschaft auf einen kleinen Raum<br />
konzentriert. <strong>Die</strong> Zentren der Millets war meist in Istanbul.<br />
Obwohl sich die Millets durch ihre Konfession definierten, besaßen sie umfangreiche<br />
säkulare Aufgaben. Sie besaßen ein eigenes Zivilrecht <strong>und</strong> durften eigene Schulsysteme<br />
aufbauen. 5 In manchen Gebieten führte dies zu einem verhältnismäßig modernen<br />
Schulsystemen, während in anderen Teilen <strong>des</strong> Reiches, so in <strong>Bosnien</strong>, die Ausbildung<br />
rückständig blieb. Erst die österreichisch-ungarische Verwaltung führte in <strong>Bosnien</strong> zu<br />
dem Aufbau eines modernen Schulsystems (vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong>1.). Im Libanon hingegen<br />
ermöglichte diese Autonomie den Aufbau eines eigenständigen <strong>und</strong> verhältnismäßige<br />
modernen Schulsystems durch die europäischen Großmächte <strong>und</strong> die Vereinigten<br />
Staaten. Schon bald besaßen die christlichen Millets <strong>des</strong> Libanon ein besseres<br />
Ausbildungssystem als die muslimische Bevölkerung. <strong>Die</strong>ser Vorsprung blieb bis heute<br />
weitgehend erhalten. Das Millet-System hat bis heute beide Länder beeinflußt. So<br />
besteht im Libanon nach wie vor ein unterschiedliches Zivilrecht für alle Konfessionen.<br />
In <strong>Bosnien</strong> hat das Millet-System hingegen die Bildung von Nationalitäten nach<br />
religiösen Kriterien begünstigt. 6<br />
<strong>Die</strong> Tanzimat Reformen<br />
Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde der Führung <strong>des</strong> Osmanischen Reiches klar, daß nur<br />
eine Reform den weiteren Abstieg <strong>des</strong> Reiches verhindern konnte. Insbesondere die<br />
beiden Sultane Selim III. (1789-1807) <strong>und</strong> Mahmud II. (1808-1839) reformierte das<br />
Militär, die Landwirtschaft <strong>und</strong> das Wirtschaftssystem. Durch die Reformen wurde die<br />
Verwaltung modernisiert <strong>und</strong> die Kompetenzen der islamischen Gerichtshöfe auf Ehe-,<br />
Erb- <strong>und</strong> Scheidungsrecht begrenzt. Im Rahmen der Reformen wurden erstmals<br />
Ministerien geschaffen. Insgesamt sollte die Verwaltung nach europäischem Vorbild<br />
umgestaltet werden. <strong>Die</strong> alte Elite wurde zunehmend durch besonders ausgebildete<br />
Bürokraten ersetzt. <strong>Die</strong> Tanzimat Reformen sollten die Zentralverwaltung der Hohen<br />
5<br />
6<br />
Ebd., 273 f.<br />
Zu den Auswirkung <strong>des</strong> Millet-Systems auf die <strong>Entwicklung</strong> von Nationalbewegungen im<br />
osmanischen Teil Südosteuropas s. Hugh Seton-Watson, Nation and States. An Enquiry into the<br />
Origin of Nations and the Politics of Nationalism (London 1977) 143-146. Für das gesamte<br />
Osmanische Reich s. Georges Corm, L'europe et l'orient. De la balkanisation à la libanisation:<br />
Histoire d'une modernité inaccomplie (Paris 1991) 28-36, 44-59.<br />
7
Pforte stärken, ein einheitliches <strong>und</strong> modernes Steuersystem einzuführen <strong>und</strong> das<br />
islamische Recht durch europäische Gesetze zu ersetzen. 7<br />
In der <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert entstand unter der nicht-muslimischen Bevölkerung<br />
ein wirtschaftlich erfolgreicher Mittelstand. <strong>Die</strong>ser stellte das Millet-System in Frage, in<br />
dem Geistliche die politische <strong>und</strong> rechtliche Vorherrschaft genossen. Mit einem<br />
Reform-Dekret wurden die Millets 1856 weitgehend säkularisiert. Der Sultan ersuchte<br />
die Millets um eigene Reformvorschläge <strong>und</strong> regelte die Einkommen der Geistlichkeit.<br />
<strong>Die</strong> Millets erhielten eine neue Verfassung <strong>und</strong> den jeweiligen Führern wurde eine<br />
gewählte Ratsversammlung zur Seite gestellt. In diesen Versammlungen wurden<br />
erstmals der nicht-religiösen Elite <strong>des</strong> Millets eine Repräsentation zugesichert. <strong>Die</strong>s<br />
führte zu dem Widerstand der jeweiligen Patriarchen, Rabbiner <strong>und</strong> anderer religiöser<br />
Führer, die zu Recht einen Machtverlust befürchteten. 8<br />
Im Rahmen der Reformen wurde Versuche von der osmanischen Verwaltung<br />
unternommen, die Nicht-Muslime mit den Muslimen gleichzustellen. <strong>Die</strong>s hätte die<br />
Einführung der Wehrpflicht für Nicht-Muslime <strong>und</strong> die Abschaffung der Kopfsteuer<br />
bedeutet. Zudem hätten Nicht-Muslime ohne Einschränkungen in allen Bereichen der<br />
Verwaltung arbeiten dürfen. <strong>Die</strong>se Reformansätze stießen jedoch auf Widerstand von<br />
allen Seiten. <strong>Die</strong> religiösen Führer der Millets widersetzten sich der Säkularisierung <strong>und</strong><br />
der Entmachtung ihrer Position. Auch die Mehrheit der nicht-muslimischen<br />
Bevölkerung zog die Zahlung der Kopfsteuer einer Wehrpflicht vor. <strong>Die</strong> Millets waren<br />
in dem Widerspruch gefangen, einerseits eine Sonderrolle zu beanspruchen <strong>und</strong> sie mit<br />
europäischer Hilfe durchzusetzen <strong>und</strong> andererseits eine Gleichberechtigung zu<br />
verlangen. <strong>Die</strong> Reformpläne wurden aufgegeben. 9<br />
<strong>Die</strong> Millets hatten zwei unterschiedliche Auswirkungen auf das Osmanische Reich:<br />
Einerseits wirkten zentrifugal <strong>und</strong> zugleich hielten sie das Reich zusammen. <strong>Die</strong><br />
Nationalbewegungen, die aus <strong>und</strong> zugleich auch gegen die Millets auf dem Balkan, aber<br />
auch ansatzweise in der arabischen Welt, entstanden, trugen zum Zerfall <strong>des</strong> Reiches<br />
bei. Weiterhin bildeten Millets Allianzen mit europäischen Großmächten, die hierdurch<br />
die Macht der Hohen Pforte aushöhlten. So genossen viele Christen im osmanischen<br />
Reich Exterritorialität durch die von der Schutzmacht verliehene Staatsbürgerschaft.<br />
Allein in Istanbul lebten 1886 130.000 (15,3 %) Ausländer, von denen ein Großteil<br />
gebürtige Osmanen mit ausländischem Rechtsstatus waren. Neben Einfluß verlor das<br />
Osmanische Reich hierdurch auch Steuern. 10<br />
Zugleich hielten jedoch die Millets das Reich zusammen. <strong>Die</strong> Netzwerke weit<br />
verstreuter Millets, für die das Osmanische Reich einen gemeinsamen Rahmen schuf,<br />
waren oftmals an einem Fortbestehen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> interessiert. Insbesondere die in unter<br />
den religiösen Minderheiten stark vertretenen Händler <strong>und</strong> Geschäftsleute, trugen zur<br />
Einheit <strong>des</strong> osmanischen Reiches bei.<br />
<strong>Die</strong> Reformen gingen mit einem zunehmenden europäischen Einfluß auf das<br />
Osmanische Reich einher, doch erst deren partielles Scheitern ermöglichte es den<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
Stanford J. Shaw, Ezel Kural Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II:<br />
Reform, Revolution, and Republic: The Rise of Modern Turkey, 1808-1975<br />
(Cambridge/London/New York/Melbourne 1977), 55, 71, 105.<br />
Ebd., 123-125.<br />
Ebd., 127 f.<br />
François Georgeon, Le dernier sursaut (1878-1908) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire<br />
Ottoman (Paris 1989) 540 f., 554.<br />
8
europäischen Großmächten ihren Einflußbereicht auszudehnen: Ende 1875 kam es zum<br />
osmanischen Staatsbankrott. Im folgenden Jahr gelangte die Finanzverwaltung unter<br />
weitgehende europäische Kontrolle (Dette Publique Ottomane). 11 In Folge dieser Krise,<br />
die durch Aufstände in der Herzegowina verstärkt wurde, mußte der Sultan Murad V.<br />
(1876) abtreten. Sein Nachfolger Abdulhamit II. (1876-1909) war nicht nur mit der<br />
Finanzkrise, sondern auch mit serbischen <strong>und</strong> montenegrinischen Gebietsansprüchen<br />
auf Bosnian <strong>und</strong> Mazedonien konfrontiert. Zudem droht ein Krieg mit Rußland um<br />
Bulgarien. <strong>Die</strong>se Krise der Hohen Pforte ebnete den Weg zum Verlust <strong>Bosnien</strong>-<br />
<strong>Herzegowinas</strong> 1878.<br />
Unter dem neuen Sultan erreichten die Reformen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches ihren<br />
Höhepunkt. Bereits im ersten Jahr seiner Herrschaft wurde eine Verfassung<br />
verabschiedete <strong>und</strong> die ersten Parlamentswahlen durchgeführt. Der Sultans verlor<br />
dadurch jedoch kaum an Macht. Er konnte die Verfassung in Krisensituationen<br />
aufheben <strong>und</strong> den Ausnahmezustand ausrufen. Der Sultan mußte sich nicht für sein<br />
Handeln rechtfertigen <strong>und</strong> konnte weiterhin Gesetze per Dekret verabschieden. Somit<br />
wurde das Osmanische Reich trotz Verfassung nicht in eine konstitutionelle Monarchie<br />
umgewandelt.<br />
In der Verfassung wurden alle Bürger <strong>des</strong> Reiches unabhängig von ihrer Religion<br />
gleichgestellt. Somit beendete die Verfassung die formale Benachteiligung von Nicht-<br />
Muslimen. Der Islam blieb jedoch Staatsreligion <strong>und</strong> der Sultan war nach wie vor Kalif<br />
<strong>und</strong> somit das Oberhaupt <strong>des</strong> Islam. <strong>Die</strong> Millets blieben auch erhalten, ihnen wurde<br />
lediglich eine interne Säkularisierung vorgeschrieben. 12<br />
Der russisch-türkische Krieg 1877 zeigte die militärische Schwäche <strong>des</strong> Osmanischen<br />
Reiches. <strong>Die</strong> russische Armee konnte trotz schwerer Verlust bis in die unmittelbare<br />
Nähe von Istanbul ziehen. Erst dort kam es zu einem Waffenstillstand zwischen der<br />
Hohen Pforte <strong>und</strong> Rußland. Der russische Plan zur Errichtung eines großbulgarischen<br />
Staates schien sich im ersten Friedensvertrag von San Stefano 1878 zu erfüllen. Den<br />
anderen europäischen Großmächte gelang es jedoch diesen Plan im Rahmen eines<br />
eigens einberufenen Kongresses in Berlin zu vereiteln. Bulgarien erhielt ein deutlich<br />
kleineres Territorium <strong>und</strong> unterstand formal weiterhin dem Osmanischen Reich.<br />
Gleichzeitig verlor das Osmanische Reich den Einfluß über weite Teile Südosteuropas:<br />
<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> das Sandžak Novi Pazar (südlich von <strong>Bosnien</strong>, zwischen<br />
Montenegro <strong>und</strong> Serbien) kamen unter die Verwaltung Österreich-Ungarns (vgl. Kapitel<br />
<strong>2.</strong><strong>2.</strong>1.), Serbien, Montenegro <strong>und</strong> Rumänien erhielten ihre formale Unabhängigkeit.<br />
Ostrumelien erhielt innere Autonomie <strong>und</strong> schloß sich nur 7 Jahre später Bulgarien an.<br />
<strong>Die</strong> europäische Territorien unter osmanischer Herrschaft reduzierten sich<br />
dementsprechend auf Thrakien, Mazedonien <strong>und</strong> die albanischen Provinzen. Bald<br />
darauf verlor das Reich ein Teil Armeniens an Rußland, Tunesien an Frankreich,<br />
Ägypten <strong>und</strong> Zypern an Großbritannien. <strong>Die</strong> Niederlage im russisch-türkischen Krieg<br />
hatte auch Folgen für die Reformen. So löste der Sultan das Parlament auf, da es die<br />
Kriegsführung in Folge der Niederlage kritisiert hatte. Der Sultan führte die Reformen<br />
11<br />
12<br />
Zum Staatsbankrott s. Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Gr<strong>und</strong>linien seiner Geschichte<br />
(Darmstadt 1985) 244-248.<br />
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 166-178; Matuz, Das<br />
Osmanische Reich, 232-238.<br />
9
jedoch fort <strong>und</strong> baute die Verwaltung nun vollständig nach europäischem Vorbild um<br />
<strong>und</strong> ersetzt die alten Institutionen durch Ministerien. 13<br />
<strong>Die</strong> Jungtürken<br />
<strong>Die</strong> Tanzimat Reformen bildeten die Vorläufer für die Jungtürken-Bewegung, die mit<br />
Ende <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand. <strong>Die</strong> Jungtürken entstammten meist dem Militär.<br />
1889 gründeten Studenten Militärakademie ein Geheimkomitee mit dem Namen<br />
„Einheit oder Fortschritt“, der offizielle Name der Jungtürken. Zentrum der Jungtürken<br />
war Saloniki <strong>und</strong> die osmanischen Gebiete auf dem Balkan. Sie setzten sich für eine<br />
türkische Identität ein <strong>und</strong> versucht das Osmanische Reich in einen zentralistischen<br />
Staat zu verwandeln. Ihnen gingen die Tanzimat-Reformen nicht weit genug. Deshalb<br />
standen sie in Opposition zum Sultan. <strong>Die</strong> Ziele der Jungtürken stießen bei den übrigen<br />
Religionsgruppen auf Widerstand. 14 <strong>Die</strong> Bedeutung dieses Widerstan<strong>des</strong> wird deutlich,<br />
wenn man sich den Anteil der nicht-türkischen Bevölkerung vergegenwärtigt. 1884<br />
lebten nur 9,8 Millionen Einwohner <strong>des</strong> Osmanischen Reiches in Anatolien. 4,8 Million<br />
waren auf dem Balkan Zuhause, in den arabischen Provinzen lebten weitere 4,4<br />
Millionen Einwohner. <strong>Die</strong> Bevölkerung <strong>des</strong> Reiches bestand zwischen 1881 <strong>und</strong> 1893<br />
aus ca. 73 % Muslimen <strong>und</strong> 23 % Christen. 15 Zu Anfang arbeiteten sie mit den Christen<br />
gegen die absolutistische Herrschaft Abdulhamit II. zusammen, die Christen konnten<br />
jedoch der zentralistischen Linie der Jungtürken nicht folgen. Der Versuch eine<br />
einheitliche türkisch-osmanische Identität zu schaffen stieß nicht nur bei den Christen<br />
auf Widerstand. Viele Araber lehnten diesen Versuch der Assimilierung ab. 16<br />
1908 kam es zu der Revolution der Jungtürken, die Stanford Shaw als eines der<br />
merkwürdigsten Ereignisse der Geschichte bezeichnet. <strong>Die</strong> Jungtürken strebten zwar<br />
eine Machtübernahme durch eine Revolution an, die 1908 stattfindende Revolution war<br />
jedoch nicht geplant sondern eher ein spontaner Aufstand. Gr<strong>und</strong> für die Revolution war<br />
die schlechte wirtschaftliche Lage, insbesondere im europäischen Teil <strong>des</strong> Osmanischen<br />
Reiches. Während die europäischen Großmächte eine Stärkung <strong>des</strong> Osmanischen<br />
Reiches durch die Machtübernahme der Jungtürken ab 1908 vermuteten, bewirkte die<br />
Revolution das Gegenteil. <strong>Die</strong>se Sorge der Großmächte führte unter anderem zur<br />
Annexion <strong>Bosnien</strong>s 1908, da Österreich-Ungarn einen erneuten Anspruch <strong>des</strong><br />
Osmanischen Reiches auf die Provinz befürchtete. <strong>Die</strong> türkische Orientierung der<br />
Jungtürken stärkte jedoch in der arabischen Welt die Abkehr vom Osmanischen Reich,<br />
hin zu panislamischen oder panarabischen Bewegungen. Den bosnischen Muslime<br />
wurde hingegen deutlich, daß eine Protektion durch die Hohe Pforte ausgeschlossen<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
Ebd., 182-195, 212 f.; Georges Castellan, Histoire <strong>des</strong> Balkans. XIVe-XXe siècle (Paris 1991) 315-<br />
321.<br />
Der Name stammt von einem Maroniten, Hali Ganim, der im französischen Exil ein Zeitung namens<br />
„La Jeune Turquie“ publizierte. Matuz, Das Osmanische Reich, 249-251.<br />
Da die Volkszählungen <strong>und</strong> anderen Erfassungen der Bevölkerung sehr ungenau waren <strong>und</strong> stets<br />
nach Religionszugehörigkeit, nicht nach Nation, klassifiziert wurden, läßt sich nur schwer<br />
bestimmen, wieviele Einwohner <strong>des</strong> Osmanischen Reches keine Türken waren. s. Donald Quataert,<br />
The Age of Reforms, 1812-1914, in: Hadil Inalcik, Donald Quataert (Hg.) An Economic and Social<br />
History of the Ottomon Empire, 1300-1914 (Cambridge 1994) 779-78<strong>2.</strong><br />
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 255.<br />
10
lieb. 17 <strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon, insbesondere während <strong>des</strong> 1. Weltkrieges, wurde<br />
direkt von den Jungtüren betroffen.<br />
<strong>Die</strong> Jungtürken setzten mit ihrer Machtübernahme die Verfassung von 1876 wieder in<br />
Kraft. Sultan Abdulhamit nützte die Annexion <strong>Bosnien</strong>s durch Österreich-Ungarn als<br />
Vorwand um einen Versuch zu unternehmen die Jungtürken zu entmachten. <strong>Die</strong><br />
militärische Stärke der Jungtürken führte jedoch zur Absetzung <strong>des</strong> Sultan. Sein Bruder<br />
Mehmet V. (1909-1918) wurde sein Nachfolger. Obwohl „Einheit oder Fortschritt“<br />
zwar die Machtbefugnisse <strong>des</strong> Sultans beschneiden konnte, gelang es nicht, den Staat<br />
gr<strong>und</strong>legend zu reformieren. <strong>Die</strong> Aufstände in Albanien 1910-1911 <strong>und</strong> der erste<br />
Balkankrieg 1912 schwächte die Macht der Jungtürken <strong>und</strong> <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />
weiter. 18<br />
<strong>2.</strong>1.2 <strong>Die</strong> Geschichte <strong>Bosnien</strong>s im Osmanischen Reich<br />
In den ca. 400 Jahren osmanischer Herrschaft bildeten sich die bis in die Gegenwart<br />
sichtbaren Eigenarten <strong>Bosnien</strong>s hervor. <strong>Bosnien</strong> war, wie auch der restliche Balkan, eine<br />
stark landwirtschaftlich geprägte Gegend, der durch die osmanische Herrschaft eine<br />
urbane Struktur aufgelegt wurde. Eine Neuerung bildet die klare Hierarchie, die allen<br />
ihren Platz zuweist <strong>und</strong> auch den untersten Schichten Schutz gewährt. Darin besteht ein<br />
Fortschritt zur teils willkürlichen Herrschaft der mittelalterlichen Reiche Südosteuropas.<br />
Allerdings stellt das Osmanische Reich auf dem Balkan nicht eine völlig neue<br />
Herrschaftsform dar, da es in vielen Bereichen auf byzantinistische Traditionen<br />
zurückgreift. 19<br />
Bei dem Niedergang der osmanischen Herrschaft in <strong>Bosnien</strong> seit dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
spielten zwei Faktoren eine Rolle. Erstens identifizierte sich die christliche Bevölkerung<br />
identifizierte immer weniger mit dem Reich. In der 1. Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
entstehen die ersten Nationalbewegung in Südosteuropa, die sich gegen die Hohe Pforte<br />
richteten. Für <strong>Bosnien</strong> ist hierbei der serbische Nationalismus von Bedeutung. <strong>Die</strong><br />
bosnische Bevölkerung wurde jedoch erst spät von der kroatischen <strong>und</strong> serbischen<br />
Nationalbewegung erfaßt. Weiterhin riefen die Reformversuchen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
zunehmend den Widerstand muslimischer Großgr<strong>und</strong>besitzern hervor. Schließlich<br />
beeinflußte das zunehmende Interesse der europäischen Großmächte an Gebieten der<br />
Hohen Pforte die <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Staates nachteilig. 20<br />
Reformversuche<br />
<strong>Die</strong> Tanzimat Reformen hatten in <strong>Bosnien</strong> besondere Auswirkungen. Im Zentrum der<br />
Reformen stand die Abschaffung der Janitscharen, <strong>des</strong> Elitekorps <strong>des</strong> Osmanischen<br />
Reiches. <strong>Die</strong>ses Heer entsprach nicht mehr der modernen Kriegsführung <strong>und</strong> hatte sich<br />
zu einem korrupten Apparat außerhalb der direkten Kontrolle der Hohen Pforte<br />
entwickelt. Viele Janitscharen gehörten den bosnischen Großgr<strong>und</strong>besitzern (Begs) an.<br />
<strong>Die</strong> Abschaffung der Janitscharen 1826 führte zu einer Revolte der Janitscharen in<br />
Istanbul, die nur aufgr<strong>und</strong> der guten Vorbereitung <strong>des</strong> Sultans niedergeschlagen werden<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
Ebd., 266 f., 273-277; François Georgeon, Le dernier sursaut (1878-1908) in: Robert Mantran (Hg.)<br />
Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 569-576.<br />
Matuz, Das Osmanische Reich, 251-256.<br />
Hierzu s. Nicoară Beldiceanu, L'organisation de l'Empire ottoman (XIVe-XVe siècles) in: Robert<br />
Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 117-138.<br />
Francine Friedman, The Bosnian Muslims. Denial of a Nation (Boulder, Col. 1996) 32 f.<br />
11
konnte. 21 Der Widerstand der bosnischen Janitscharen konnte erst durch eine<br />
Strafexpedition 1827 gebrochen werden. 22<br />
In <strong>Bosnien</strong> standen die muslimischen Begs an der Spitze der lokalen Hierarchie. Sie<br />
besaßen die Ländereien (Chiftliks) auf denen christliche Leibeigene (Kmeten) arbeiteten<br />
(zur Struktur der Landwirtschaft vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong>1.). Als Reaktion auf die Entfremdung<br />
von der Zentralverwaltung stellten die Begs zunehmend Privatarmeen auf, die nicht nur<br />
gegen die Kmeten sondern auch gegen die Hohe Pforte eingesetzt wurden. So kam es<br />
zwischen 1820 <strong>und</strong> 1840 zu insgesamt vier Aufständen der bosnischen Begs. Auch viele<br />
christliche Geistliche lehnten die Reformen ab, da sie um ihre privilegierten Positionen<br />
innerhalb <strong>des</strong> orthodoxen Millets fürchteten. 23<br />
<strong>Die</strong> osmanischen Reformen konnten erst sehr spät in <strong>Bosnien</strong> umgesetzt werden. Erst<br />
dem Gouverneur Ömer Lüfti Paşa (1860-61, ein ehemaliger österreichischer Offizier aus<br />
Kroatien) gelang es, die feudalen Strukturen zu überwinden <strong>und</strong> die Reformen<br />
umzusetzen. Unter ihm wurde auch die Hauptstadt von Travnik nach Sarajevo verlegt.<br />
Sein Nachfolger Topal Osman Paşa (1861-1869) führte eine Verwaltungsreform durch<br />
<strong>und</strong> schuf einen Rat aus den Vertretern der größten Konfessionen <strong>Bosnien</strong>s. Er richtete<br />
säkulare Schulen ein <strong>und</strong> verbesserte die Infrastruktur. 24<br />
Frühe ationalbewegungen<br />
<strong>Die</strong> kroatischen Franziskaner in <strong>Bosnien</strong> spielten eine große Rolle bei der Erziehung<br />
<strong>und</strong> wurden zu einem der frühen Träger der kroatischen Nationalbewegung in <strong>Bosnien</strong>.<br />
Unter der Serben <strong>Bosnien</strong>s nahm die serbisch-orthodoxe Kirche eine ähnliche Rolle ein.<br />
So gab es um 1860 380 katholische <strong>und</strong> über 400 orthodoxe Priester in <strong>Bosnien</strong>. Das<br />
Schulwesen der Christen, ein Schlüssel zur nationalen <strong>Entwicklung</strong>, lag ebenfalls unter<br />
der Kontrolle der beiden Kirchen. So unterstanden der katholischen Kirche um 1860 27<br />
Gr<strong>und</strong>schulen <strong>und</strong> Gymnasien in den größeren Städten, während die orthodoxe Kirche<br />
zehn Jahre später zwischen 28 <strong>und</strong> 57 Gr<strong>und</strong>schulen in <strong>Bosnien</strong> betrieb. 25<br />
<strong>Die</strong> Muslime <strong>Bosnien</strong>s waren von zwei gegensätzlichen Identitäten geprägt: Einerseits<br />
teilten sie den Glauben mit der osmanischen Staatsreligion, andererseits vereinte sie die<br />
slawische Herkunft mit Kroaten <strong>und</strong> Serben. So wurden die Muslime selbst in Istanbul<br />
als Bošnjaci (Bosniaken) oder als Potur (islamisierte lokale Bevölkerung) bezeichnet.<br />
Lediglich die christliche Bevölkerung <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> gelegentlich auch die Muslime<br />
selber bezeichneten sich als Turci, um von der christlichen Bevölkerung unterschieden<br />
zu werden. Während Serben <strong>und</strong> Kroaten im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in <strong>Bosnien</strong> bereits eine<br />
rudimentäre nationale Identifikation entwickelten, gab es unter der muslimischen<br />
Bevölkerung noch kaum eine ethnischer oder nationale Identität. 26<br />
Das Ende osmanischer Herrschaft<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 19-21.<br />
Noel Malcolm, Bosnia: A Short History (London 1994) 120 f.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 34-37.<br />
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 149 f. Zur administrativen<br />
Gliederung <strong>Bosnien</strong>s im Osmanischen Reich s. Andereas Birke, <strong>Die</strong> Provinzen <strong>des</strong> Osmanischen<br />
Reiches (=Beihefte zum Tübinger Atlas <strong>des</strong> Vorderen Orients Reihe B 13, Wiesbaden 1976) 44-47.<br />
Malcolm, Bosnia, 126.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 43, 46; Smail Balić, Das Unbekannte <strong>Bosnien</strong>. Europas Brücke<br />
zur islamischen Welt (=Kölner Veröffentlichung zur Religionsgeschichte 23, Köln/Weimar/Wien<br />
1992) 4, 36-38.<br />
12
Das Ende osmanischer Herrschaft über <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina läßt sich auf interne <strong>und</strong><br />
externe Faktoren zurückführen. So entstand durch die zaghafte Ausbreitung der<br />
Marktwirtschaft im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert eine neue soziale Schicht unter der nichtmuslimischen<br />
Bevölkerung, die die Bauern zu Revolten gegen die Hohe Pforte anführte.<br />
<strong>Die</strong> Reformversuche <strong>des</strong> Osmanischen Reiches bestärkten lediglich diese rudimentären<br />
Nationalbewegungen. Der Bau einer orthodoxen Kirche in Sarajevo wurde ein<br />
Kristallisationspunkt <strong>des</strong> Konflikts zwischen Muslimen <strong>und</strong> Christen. So herrschte<br />
Streit darüber, ob der Kirchturm höher als die Minarette der Begova Moschee sein<br />
dürften <strong>und</strong> über die Glocken der Kirche, die in den meisten osmanischen Städten<br />
verboten waren. Der osmanische Gouverneur mußte oft in Auseinandersetzungen wie<br />
dieser schlichten. 27 Nach einer schlechten Ernte 1874 kam es in der Herzegowina zu<br />
einem Aufstand der Bauern gegen die Steuereintreiber. Auch wenn die Mehrheit der<br />
rebellierenden Bauern Christen waren, stand die wirtschaftliche Not <strong>und</strong> nicht religiösen<br />
Forderungen im Zentrum <strong>des</strong> Aufstan<strong>des</strong>. Der Aufstand breitete sich schnell in andere<br />
Teile <strong>Bosnien</strong>s aus.<br />
Auf der anderen Seite spielten externe Faktoren eine nicht zu vernachlässigende Rolle.<br />
So gelangten Waffenlieferungen durch Montenegro, Serbian <strong>und</strong> Ungarn an die<br />
Aufständischen. 28 <strong>Bosnien</strong> stellte wegen seiner militärischen Instabilität im Hinterland<br />
der dalmatinischen Küste für Österreich-Ungarn eine Gefahr dar. So weißt Donia darauf<br />
hin, daß es bereits seit 1856 österreichische Pläne gab, <strong>Bosnien</strong> zu annektieren. <strong>Die</strong><br />
Vereinigung Deutschlands 1870 verschloß der k.u.k Monarchie eine weitere Expansion<br />
gen Westen, so daß der Balkan als einziges Gebiet zur weiteren Ausbreitung verblieb. 29<br />
Zugleich richtete der autonome serbische Staat sein Interesse auf Gebiete mit serbischer<br />
Bevölkerung. So formulierte der serbische Innenminister Ilija Grašanin 1844 das<br />
Expansionsprojekt „ačertanije“ (Plan, Entwurf). In diesem beschrieb er unter anderem<br />
einen Plan zur Mobilisierung der serbischen Bevölkerung <strong>und</strong> zur Vereinnahmung<br />
<strong>Bosnien</strong>s. Im Juli 1877 versuchten Serbien <strong>und</strong> Montenegro diesen Plan umzusetzen.<br />
Der Angriff schlug jedoch weitgehend fehl <strong>und</strong> Serbien konnte nur durch russische<br />
Intervention von einer osmanischen Besetzung bewahrt werden. 30 Der direkte Auslöser<br />
für das Ende der osmanischen Herrschaft über <strong>Bosnien</strong> war der Krieg zwischen Rußland<br />
<strong>und</strong> der Türkei <strong>und</strong> der folgende Vertrag von San Stefano (vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong>1).<br />
<strong>2.</strong>1.3. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>des</strong> Libanon im Osmanischen Reich<br />
Im Zentrum der historischen <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon steht der Mont Liban. Mont<br />
Liban oder der kleine Libanon entsprach einer Bergkette, die entlang <strong>des</strong> Mittelmeeres<br />
liegt. <strong>Die</strong>ses Kerngebiet <strong>des</strong> Libanon beginnt hinter Tripoli im Norden <strong>und</strong> zieht sich<br />
entlang der Küste bis Sidon. In diesem Gebiet dominierten zwei Konfessionen:<br />
Maroniten <strong>und</strong> Drusen (vgl. Tabelle 1). Beide Religion umfaßten nur wenige Mitglieder<br />
<strong>und</strong> siedelten sich in der Bergregion <strong>des</strong> Mont Liban an, um Verfolgungen zu entgehen.<br />
<strong>Die</strong> maronitische Kirche geht auf den Mönch Maron zurück, der die Maroniten am<br />
Orontes gründete. Um der schnellen Ausbreitung <strong>des</strong> Islam zu entgehen, flohen die<br />
Maroniten im 7. Jahrh<strong>und</strong>ert von Nordsyrien in das Libanongebirge. Durch die<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
Malcolm, Bosnia, 131.<br />
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 158 f.<br />
Robert J. Donia, Islam <strong>und</strong>er the Double Eagle: The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 1878-<br />
1914 (New York 1981) 8 f.<br />
Malcolm, Bosnia, 127, 133.<br />
13
Kreuzzüge kamen sie in Kontakt mit Europa. <strong>Die</strong>s führte im 11. Jahrh<strong>und</strong>ert zu einer<br />
Unierung mit der katholischen Kirche <strong>und</strong> zu engen Beziehungen mit Frankreich. 31<br />
<strong>Die</strong> Religion der Drusen entstand 1015 durch Muhammed ibn Ismail Daraze als<br />
Abspaltung der Ismailiten, ein Zweig <strong>des</strong> schiitischen Islam. <strong>Die</strong> Selbstbezeichnung ist<br />
Muwahhidun (Unitaristen). In einigen Glaubenselementen geht die Religion jedoch auf<br />
vorislamische Sekten im Mittelmeerraum zurück. Kurz nach der Gründung wurde ein<br />
weiterer Übertritt zur Religion untersagt. Seitdem kann niemand mehr der Religion<br />
beitreten. <strong>Die</strong> Drusen trennen sich auf religiöser Ebene in eine Gruppe der Elite ('uqqal),<br />
die als einzige in den Glauben völlig eingeweiht sind <strong>und</strong> jene Gläubigen (juhhal), die<br />
nur teilweise über das Drusentum unterrichtet sind. Von den anderen islamischen<br />
Glaubensrichtungen wurden die Drusen lange Zeit als Ketzer behandelt. Heute werden<br />
sie von diesen nicht als Muslime anerkannt. Gr<strong>und</strong> dafür ist die Ablehnung der „fünf<br />
Säulen“ <strong>des</strong> Islam 32 durch die Drusen. Im Drusentum finden auch christliche Propheten,<br />
sowie griechische Philosophen, wie Plato, Anerkennung. 33 <strong>Die</strong> anderen Konfessionen,<br />
sowie Sunniten, Schiiten <strong>und</strong> christliche Gruppen, spielten erst in der späteren<br />
<strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon eine größere Rolle.<br />
<strong>Die</strong> osmanische Herrschaft beließ den Libanon weitgehende Autonomie. Der lokale<br />
Herrscher war ein Emir, <strong>des</strong>sen bekanntester, Fakhraddine II., am Anfang <strong>des</strong> 17.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert über ein Gebiet in den Grenzen <strong>des</strong> heutigen Libanon regierte. Ab 1778 war<br />
der Emir stets ein Maronit. <strong>Die</strong> Autonomie führte zu einer religiösen Toleranz, die im<br />
Nahen Osten unbekannt war. 34<br />
<strong>Die</strong> osmanische Herrschaft über das Gebiet <strong>des</strong> heutigen Libanon war von Brüchen <strong>und</strong><br />
Intermezzos durch andere Machthaber geprägt. Während eine kleine griechische Flotte<br />
1826 erfolglos versuchte Beirut einzunehmen, gelang es dem Sohn <strong>des</strong> ägyptischen<br />
Herrschers Muhammad Ali zwischen 1831 <strong>und</strong> 1839 den Libanon zum dominieren. <strong>Die</strong><br />
Kontrolle über Syrien, Libanon <strong>und</strong> Palästina wurde vom Sultan anerkannt. Aufstände<br />
<strong>und</strong> die Opposition der europäischen Großmächte, abgesehen von Frankreich bereiteten<br />
jedoch der ägyptischen Herrschaft über den Libanon ein Ende. 35 <strong>Die</strong> kurze ägyptische<br />
Herrschaft brachte dem Libanon einen Modernisierungsschub: Kleidervorschriften für<br />
Christen <strong>und</strong> Juden wurden aufgehoben, konsultative Räte wurden eingerichtet <strong>und</strong> in<br />
Damaskus <strong>und</strong> Aleppo eröffnete Großbritannien ein Konsulat. 36 Erstmals wurden die<br />
Christen Muslimen weitgehend gleichgestellt. So wurden die Steuern angeglichen <strong>und</strong><br />
Christen in die Armee eingezogen. <strong>Die</strong>se soziale <strong>und</strong> politische Aufwertung brachte<br />
Konvertierungen zum maronitischen Christentum mit sich. <strong>Die</strong> Christen verbündeten<br />
sich trotzdem mit den Drusen gegen die ägyptische Fremdherrschaft. Nur dank<br />
31<br />
32<br />
33<br />
34<br />
35<br />
36<br />
Helga Anschütz, Paul Harb, Christen im Vorderen Orient, Kirchen, Ursprünge, Verbreitung. Eine<br />
Dokumentation (=Aktueller Informationsdienst Moderner Orient Sondernr. 10, Hamburg 1985) 61-<br />
65.<br />
Fasten während Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka, fünf Gebete pro Tag, Almosen,<br />
Glaubensbekenntnis.<br />
Zum Glauben der Drusen s. Cyril Glassé, The Concise Encyclopedia of Islam (San Francisco 1989)<br />
103 f.; Najla M. Abu-Izzedine, The Druzes (Leiden 1984).<br />
Charles Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 1800-1914, in: Albert Hourani,<br />
The Lebanese on the World: A Century of Emigration (London 1992) 15 f.<br />
Robert Mantran, Les débuts de la Question d'Orient (1777-1839) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire<br />
de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 447 f.<br />
Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 14, 18.<br />
14
europäischer Unterstützung konnten sich die Aufständischen durchsetzen <strong>und</strong> der Mont<br />
Liban wurde erneut zu einem autonomen Teil <strong>des</strong> osmanischen Reiches. 37<br />
Zwischen 1840 <strong>und</strong> 1867 war der Libanon zwischen drei osmanischen Vilayets<br />
(Provinzen) aufgeteilt. So gehörte der Norden zum Vilayet Tripoli, die Bekaa-Ebene<br />
stand unter der Administration von Damaskus <strong>und</strong> der Süden wurde von Sidon aus<br />
verwaltet. In der Realität entzog sich ein Großteil <strong>des</strong> heutigen Libanon den Vilayets<br />
<strong>und</strong> wurde lokal verwaltet. 38<br />
Unruhen im Mont Liban<br />
Im Mont Liban kam es in dieser Zeit zu mehreren Kämpfen (1841, 1845, 1860)<br />
zwischen Drusen <strong>und</strong> Christen. Gründe für die Auseinandersetzungen war das<br />
Bevölkerungswachstum der Christen, verb<strong>und</strong>en mit einem Prestigezuwachs, einer<br />
zunehmenden Einmischung <strong>und</strong> Instrumentalisierung der Bevölkerungsgruppen durch<br />
Großbritannien <strong>und</strong> Frankreich <strong>und</strong> die direkte Verwaltung <strong>und</strong> Zentralisierung durch<br />
Sultan Mahmud II.. Malcolm Kerr weist darauf hin, daß bis in die vierziger Jahre <strong>des</strong><br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts die Auseinandersetzungen im Libanon feudaler 39 Natur waren <strong>und</strong><br />
durch die Großfamilien geprägt wurden, während in den folgenden Jahren religiöse <strong>und</strong><br />
konfessionelle Spannungen zunahmen. <strong>Die</strong>se Konflikten besaßen jedoch oftmals<br />
ökonomische Ursachen. So führten Spannungen zwischen den überwiegend christlichen<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzern <strong>und</strong> den meist drusischen Bauern zu etlichen Aufständen. 40<br />
1833 1860<br />
Mont Liban Mont Liban Grand Liban<br />
Maroniten 130.000 60,5 % 17<strong>2.</strong>500 63,9 % 208.108 42,7 %<br />
Orthodoxe 10.000 4,7 % 27.100 10,0 % 33.475 6,9 %<br />
Katholiken 3.000 1,4 % 20.400 7,6 % 68.040 13,4 %<br />
Drusen 65.000 30,2 % 28.560 10,6 % 44.160 9,1 %<br />
Sunniten <strong>2.</strong>500 1,2 % 7.795 2,9 % 76.565 15,7 %<br />
Schiiten 3.000 1,4 % 13.200 4,9 % 55.100 11,3 %<br />
Gesamt 215.000 269.980 487.600<br />
Tabelle 1: Bevölkerungschätzungen <strong>des</strong> Mont Liban <strong>und</strong> <strong>des</strong> Grand Liban 41<br />
<strong>Die</strong> Beziehungen zwischen Maroniten <strong>und</strong> Drusen galten bis etwa 1840 als friedlich.<br />
Beide Konfessionen besaßen eine gemeinsame Politik gegenüber der Hohen Pforte.<br />
Unter der Verwaltung vom letzten Shihabib (Verwalter <strong>des</strong> Mont Liban) Bashir III.<br />
kommt es zu ersten Kämpfen zwischen Christen <strong>und</strong> Drusen, infolge<strong>des</strong>sen fliehen<br />
etliche Maroniten nach Beirut, wo sie von den osmanischen Truppen, die die Ruhe<br />
wiederherstellen sollten, angegriffen <strong>und</strong> ausgeraubt wurden. Ein Protestnote<br />
37<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
Malcolm Kerr, Lebanon in the last years of feudalism, 1840-1860 (Beirut 1959) <strong>2.</strong><br />
Zur administrativen Gliederung <strong>des</strong> Libanon im Osmanischen Reich s. Birke, <strong>Die</strong> Provinzen <strong>des</strong><br />
Osmanischischen Reiches, 242-251.<br />
Nur manche historische Kategorien europäischer Prägung lassen sich auch auf den Nahen Osten<br />
übertragen, so gab es nur im Libanon eine soziale Stuktur im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, die sich als feudal<br />
beschreiben ließe. hierzu siehe Kerr, Lebanon in the last years of feudalism.<br />
Ebd., 3.<br />
<strong>Die</strong> Schätzung 1860 stammt von der französischen Armee, Youssef Courbage, Philippe Fargues, La<br />
Situation Démographique au Liban. Analyse <strong>des</strong> Données (Beirut 1974) 11.<br />
15
Frankreich, Großbritanniens <strong>und</strong> Rußlands an den Paşa beschuldigte die osmanische<br />
Verwaltung der Komplizenschaft mit den Drusen. Der Konflikt war jedoch sehr viel<br />
harmloser als spätere Auseinandersetzungen <strong>und</strong> forderte nur etwa 300 Opfer, meist<br />
Drusen. Als Folge der Auseinandersetzung wurde der Libanon direkter osmanischer<br />
Kontrolle unterstellt <strong>und</strong> erstmals wurde ein Nichtaraber 42 Gouverneur <strong>des</strong> Gebiets. Der<br />
Libanon wurde daraufhin in zwei Gebiete aufgeteilt. Der Norden fiel der Verwaltung<br />
eines christlichen Untergouverneurs zu, während der Süden von einem Drusen verwaltet<br />
wurde, die Grenze bildete die Straße von Beirut nach Damaskus. Im Norden lebten etwa<br />
74.000 Maroniten, 25.000 griechisch-katholische Einwohner, 23.000 Orthodoxe <strong>und</strong><br />
10.150 Drusen, während im Süden 25.450 Drusen, 17.350 Maroniten, 5.200 Orthodoxe<br />
<strong>und</strong> 15.590 unierte Christen lebten.<br />
Somit war die Bevölkerung nach wie vor gemischt, wenn es auch zu einer gewissen<br />
Konzentration auf beiden Seiten gekommen war. Im Süden bildeten jedoch alle<br />
christlichen Gruppen zusammen eine Mehrheit gegenüber den Drusen. <strong>Die</strong> französische<br />
Regierung protestierte gegen die Aufteilung <strong>und</strong> forderte eine gemeinsame Verwaltung.<br />
Auch der osmanische Außenminister lehnte die Aufteilung ab. Er sah sie als<br />
Provokation für einen Bürgerkrieg. 43 Tatsächlich kam es 1845 zu ersten<br />
Auseinandersetzungen, nachdem Christen 14 drusische Dörfer niedergebrannt hatten,<br />
stießen sie mit osmanischen Einheiten zusammen.<br />
Während die Drusen als Bevölkerungsgruppe relativ geschlossen blieb, fand unter der<br />
maronitischen Bevölkerung aufgr<strong>und</strong> ihres wirtschaftlichen Aufschwungs eine soziale<br />
Differenzierung statt. In Folge kam es zu sozialen Konflikten. So kam es 1858 zu eine<br />
Bauernrevolte, in <strong>des</strong>sen Folge sich der Anführer Shahin zum Diktator über ein<br />
Bauernland erklärte. Der Aufstand wurde von der Kirche unterstützt, die durch die<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzer zuvor unterdrückt worden war.<br />
Der Krieg 1860<br />
Schließlich eskalierten die Spannungen zwischen Drusen <strong>und</strong> Christen zu den<br />
Massakern von 1860. <strong>Die</strong> größten Kämpfe fanden im Süden statt, wo Maroniten <strong>und</strong><br />
Drusen am engsten nebeneinander wohnten, zuerst griff die osmanische Armee nicht<br />
ein. Später ermordeten Armee-Einheiten jedoch Christen, die sich unter deren Schutz<br />
gestellt hatten. Insgesamt starben etwa 1<strong>2.</strong>000 Menschen, die Ausbreitung <strong>des</strong> Konflikts<br />
nach Damaskus forderte dort weitere 10.000 Opfer unter der christlichen Bevölkerung. 44<br />
<strong>Die</strong> Eskalation der Kämpfe führte zu einem Beschluß der europäischen Großmächte<br />
(Frankreich, Großbritannien, Preußen, Rußland <strong>und</strong> Österreich), mit Truppen zu<br />
intervenieren. Bevor Frankreich als einziges der fünf Länder 7.000 Soldaten nach Beirut<br />
schicken konnte, sorgte die osmanische Verwaltung unter Außenminister Fu‘ad für<br />
Ruhe <strong>und</strong> bestrafte die osmanischen Beamten <strong>und</strong> Einheiten, die mit den Drusen<br />
kollaboriert hatten oder inaktiv geblieben waren. Eine internationale Kommission sollte<br />
die Schuldigen finden <strong>und</strong> eine Lösung für das Gebiet erarbeiten. Während Österreich<br />
42<br />
43<br />
44<br />
Ein Ungar mit dem Namen ‘Umar Pasha al-amsawi (Der Österreicher).<br />
Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 20.<br />
Bis heute ist Hauptschuld an dem Konflikt zwischen Maroniten <strong>und</strong> Drusen umstritten, vgl. die<br />
Position der Drusen in Najib Alamuddin, Turmoil. The Druzes, Lebanon and the Arab-Israeli<br />
Conflict (London 1993) 128-134 <strong>und</strong> die Position der Maroniten in Jad Hatem, The critical role of<br />
the Maronites, International Maronite Congress (Los Angeles, Ca. 23-26.6.1994)<br />
http://www.primenet.com/ ~maronet/ga_papers/hatem.html.<br />
16
<strong>und</strong> Preußen die osmanische Verteidigung der Drusen unterstützten, trat neben<br />
Frankreich auch Rußland für die Christen ein. 45<br />
<strong>Die</strong> Autonomie <strong>des</strong> Libanon in Folge dieser Unruhen leitet eine neue Phase in der<br />
<strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Gebiets ein. Der Mont Liban unterstand weiterhin dem Osmanischen<br />
Reich, genoß jedoch eine Autonomie, die ihm eine unabhängige <strong>und</strong> relativ ruhige<br />
<strong>Entwicklung</strong> bis zum 1. Weltkrieg ermöglichte (vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong><strong>2.</strong>).<br />
<strong>2.</strong>1.3 Zusammenfassung<br />
Das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert war von Krisen <strong>und</strong> Reformversuchen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />
geprägt. <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> der Libanon bereiteten dem Reich größere Krisen. Sie führten<br />
dazu, daß <strong>Bosnien</strong> am Ende <strong>des</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts zwar noch unter osmanischer Souveränität<br />
stand, jedoch de facto bereits Bestandteil Österreich-Ungarn war. Der Libanon blieb<br />
zwar stärker im Einflußbereich <strong>des</strong> Osmanischen Reiches, wurde jedoch zum Zentrum<br />
europäischen Einflusses im Nahen Osten.<br />
<strong>Die</strong> erwähnten Krisen waren zum Teil interner Natur <strong>und</strong> wurden unter der Bevölkerung<br />
<strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong>s ausgetragen. Bereits Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts kam es<br />
zwischen den Drusen <strong>und</strong> Christen, insbesondere Maroniten, <strong>des</strong> Libanons zu<br />
kriegerischen Auseinandersetzungen. In <strong>Bosnien</strong> bestanden im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zwar<br />
durchaus Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften, doch führten diese nicht<br />
zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. <strong>Die</strong> Ursachen für den Aufstand in der<br />
Herzegowina 1874 war stärker als im Libanon wirtschaftlicher Natur.<br />
Der Libanon war stärker ausländischem Einfluß ausgesetzt. Auch wenn es ein<br />
Engagement für <strong>Bosnien</strong> auf serbischer <strong>und</strong> österreichischer Seite vor 1878 gab, war das<br />
Ausmaß sehr viel geringer als der vergleichbare französische Einfluß im Libanon. Im<br />
Libanon fand eine rege missionarische Aktivität statt (vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong><strong>2.</strong>). <strong>Die</strong><br />
Missionen kontrollierten das Schul- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen. Weiterhin erfuhren die<br />
Konfessionen <strong>des</strong> Libanon Unterstützung von den verschiedenen Großmächten.<br />
Frankreich hatte bereits seit der frühen Neuzeit enge Beziehungen zu den katholischen<br />
Christen in der Levante. 1648 gab Ludwig XIV. den Maroniten ein Schutzversprechen.<br />
<strong>Die</strong>ser Anspruch wurde in einer „Kapitulation“ (Vertrag) zwischen dem Osmanischen<br />
Reich <strong>und</strong> Frankreich von 1673 festgeschrieben. <strong>Die</strong>ser Schutz Frankreichs erstreckte<br />
sich auf alle Katholiken in der Levante. 46 Frankreich nahm Das Recht jedoch erst seit<br />
dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, mit zunehmendem kolonialem Interesse, in vollem Umfang wahr.<br />
Großbritannien setzte sich hingegen für die Drusen ein. Durch die unterschiedlichen<br />
Engagements der europäischen Großmächte wurden die konfessionellen Differenzen<br />
weiter zugespitzt.<br />
Rußland erhob den Anspruch alle orthodoxen Christen <strong>des</strong> osmanischen Reiches zu<br />
schützen. Nach einem verlorenen Krieg gegen Rußland stimmte das Osmanische Reich<br />
1774 der Errichtung einer orthodoxen Kirche in Istanbul zu. Katharina II. interpretierte<br />
dieses Zugeständnis als Anerkennung der russischen Schutzmacht über alle orthodoxen<br />
Christen. <strong>Die</strong>ser Anspruch Rußland besaß jedoch kaum Einfluß auf die Orthodoxen im<br />
45<br />
46<br />
<strong>Die</strong>s entsprach dem Schutzmachtsanspruch Rußlands über die orthodoxe Bevölkerung <strong>und</strong><br />
Frankreichs über die katholischen Christen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches, vgl. Kapitel <strong>2.</strong>1.3, Phillip K.<br />
Hitti, Lebanon in History (London 1962) 433-440.<br />
Gilles Veinstein, Les provinces balkaniques (1606-1774) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de<br />
l'Empire Ottoman (Paris 1989) 319.<br />
17
Libanon. Rußland versuchte mit diesem Recht die Expansion auf dem Balkan zu<br />
legitimieren. 47<br />
Auf die Frage, weshalb sich außer Österreich-Ungarn keine andere europäische<br />
Großmacht in gleicher Weise in <strong>Bosnien</strong> engagiert hat, gibt es eine naheliegende<br />
Antwort: Im Gegensatz zum Libanon mit seiner Küste <strong>und</strong> dem Zugang zur restlichen<br />
arabischen Welt besaß <strong>Bosnien</strong> nie eine derart wichtige strategische Lage. Das Fehlen<br />
einer eigenen Küste (bis auf ca. 20 Kilometer bei Neum) <strong>und</strong> die geographische<br />
Umklammerung durch Kroatien beziehungsweise Österreich-Ungarn, gab <strong>und</strong> gibt<br />
<strong>Bosnien</strong> keine unter strategischen Gesichtspunkten wichtige Lage. <strong>Die</strong> gebirgige<br />
Topographie <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> erschwerte zudem den Transport auf dem Landweg. So führen<br />
auch die wichtigsten Verkehrswege <strong>des</strong> Balkans an <strong>Bosnien</strong> vorbei. 48<br />
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Ende osmanischer Herrschaft in <strong>Bosnien</strong><br />
<strong>und</strong> die Autonomie für den Libanon durch das Zusammenwirken der erwähnten internen<br />
<strong>und</strong> externen Faktoren bedingt wurde. Der Aufstand in der Herzegowina 1875 <strong>und</strong> die<br />
Kämpfe zwischen Drusen <strong>und</strong> Maroniten erleichterten bzw. begründeten eine<br />
Einmischung der europäischen Großmächte. In der Folgezeit kam es in beiden Gebieten<br />
erstmals zu einer größeren Modernisierung auf wirtschaftlicher <strong>und</strong> sozialer Ebene.<br />
Weiterhin entstanden zwischen der <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> dem Ende <strong>des</strong> 1.<br />
Weltkrieges erste politische Bewegungen <strong>und</strong> Parteien im Libanon <strong>und</strong> in <strong>Bosnien</strong>.<br />
<strong>2.</strong><strong>2.</strong> <strong>Bosnien</strong> unter der Verwaltung Österreich-Ungarn, der autonome Libanon<br />
<strong>2.</strong><strong>2.</strong>1. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina als Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie<br />
<strong>Die</strong> Angliederung <strong>Bosnien</strong>s an die österreichisch-ungarische Monarchie bildet eine<br />
Zäsur in der Geschichte der Provinz. Einerseits vollzog sich hierdurch ein Wechsel von<br />
der Herrschaft eines mittelalterlich geprägten Großreiches zu einem Vielvölkerstaat.<br />
Während erstmals alle Kroaten in einem Staat lebten, wenn auch durch<br />
Verwaltungsgrenzen getrennt, fand sich die muslimische Bevölkerung <strong>Bosnien</strong>s<br />
erstmals in einem nicht-muslimischen Staat wieder. <strong>Die</strong> serbischen Einwohner <strong>Bosnien</strong>s<br />
gelangten nicht, wie erhofft, zu Serbien, sondern zur Donaumonarchie. Damit entstand<br />
ein Auslöser für die zunehmenden Spannungen zwischen Serbien <strong>und</strong> Österreich-<br />
Ungarn.<br />
<strong>Die</strong> Besetzung <strong>und</strong> Verwaltung <strong>Bosnien</strong>s<br />
<strong>Die</strong> Verwaltung <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> durch Österreich-Ungarn war ein Ergebnis <strong>des</strong><br />
Berliner Kongresses von 1878 (vgl. Kapitel <strong>2.</strong>1.1.). Ziel Österreich-Ungarns war es, den<br />
russischen Einfluß auf dem Balkan zurückzudrängen <strong>und</strong> den Status-Quo mit dem<br />
Osmanischen Reich zu erhalten. Somit dürfte die Verwaltung <strong>Bosnien</strong>s in erster Linie<br />
eine Versuch gewesen sein, zu verhindern, daß Serbien <strong>und</strong> dadurch Rußland die<br />
Einflußsphäre nach <strong>Bosnien</strong> ausdehnt. 49<br />
Noch vor Abschluß <strong>des</strong> Berliner Kongresses wurde die bevorstehende Okkupation<br />
<strong>Bosnien</strong>s durch Österreich-Ungarn bekanntgegeben. <strong>Die</strong>se Ankündigung führte zur<br />
Bewaffnung der muslimischen Bevölkerung <strong>und</strong> der Vorbereitung <strong>des</strong> Widerstan<strong>des</strong>.<br />
47<br />
48<br />
49<br />
Castellan, Histoire <strong>des</strong> Balkans, 201-203.<br />
Karl Kaser, Südosteuropäische Geschichte <strong>und</strong> Geschichtswissenschaft (Wien/Köln 1990) 28-31.<br />
Castellan, Histoire <strong>des</strong> Balkans, 347-350 <strong>und</strong> Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and<br />
Modern Turkey, Bd. II, 187-191.<br />
18
Ende Juli 1878 proklamierte der Kaiser den österreichisch-ungarischen Einmarsch <strong>und</strong><br />
unterstrich die Einwilligung <strong>des</strong> Sultan. 50 Auch wenn die Zustimmung der Hohen Pforte<br />
widerwillig erfolgte, ging der größte Widerstand von der lokalen Bevölkerung <strong>und</strong> nicht<br />
vom Osmanischen Reich aus. Dementsprechend verlief die Besetzung, entgegen den<br />
Erwartungen der neuen Herrscher <strong>Bosnien</strong>s, nicht konfliktfrei. So mußte die Monarchie<br />
ein Drittel ihrer mobilisierten Truppen in <strong>Bosnien</strong> einsetzen. Insgesamt standen 200.000<br />
Soldaten Österreich-Ungarns 79.200 Aufständischen <strong>und</strong> 13.800 osmanischen Truppen<br />
gegenüber. Erst nach drei monatigen Kämpfen konnte Österreich-Ungarn die<br />
vollständige Kontrolle über <strong>Bosnien</strong> herstellen. 51<br />
In der Monarchie wurde der Anschluß <strong>Bosnien</strong>s nicht nur begrüßt; so befürchteten<br />
insbesondere Ungarn <strong>und</strong> die Deutsch-Österreicher der Monarchie einen Machtverlust<br />
zugunsten der slawischen Bevölkerung. Weiterhin herrschte keine Einigkeit darüber, zu<br />
welcher Reichshälfte <strong>Bosnien</strong> gehören solle. Für <strong>Bosnien</strong> wurde schließlich eine<br />
Sonderregelung beschlossen, die eine Entscheidung zugunsten einer Reichshälfte<br />
vermied. <strong>Bosnien</strong> wurde somit vom Gemeinsamen Finanzministerium verwaltet. Da der<br />
Reichsrat eine finanzielle Unterstützung für den Aufbau <strong>Bosnien</strong>s ablehnte, fehlten<br />
Geldmittel für die Verwaltung <strong>und</strong> zugleich entzog sich die Verwaltung der Provinz<br />
parlamentarischer Kontrolle. Donia zieht den Schluß, daß die Architekten der<br />
österreichisch-ungarischen <strong>Bosnien</strong>politik Beamte <strong>und</strong> nicht Politiker waren. Da das<br />
Budget, über das das k.u.k. Finanzministerium zu verwalten hatte, war verhältnismäßig<br />
gering, so daß sich schon balb das Ministerium vorrangig mit der Verwaltung <strong>Bosnien</strong>s<br />
beschäftigte. 52<br />
Nach der Verwaltungsübernahme erkannte Österreich-Ungarn die religiöse<br />
Oberherrschaft <strong>des</strong> Sultans über die Muslime an, gestattete weiterhin die Benützung der<br />
osmanischen Währung <strong>und</strong> übernahm die wenigen osmanischen Verwaltungsbeamten. 53<br />
Der Einfluß <strong>des</strong> Osmanischen Reiches reduzierte sich jedoch drastisch in den Jahren der<br />
österreichisch-ungarischen Verwaltung.<br />
Auch die Verwaltungseinteilung blieb gleich, nur die Namen änderten sich. So wurden<br />
aus den Sandžaks Kreise <strong>und</strong> Kazas, aus Kadiluks wurden Bezirke. <strong>Die</strong> Zahl der<br />
Beamten <strong>und</strong> Soldaten erhöhte sich jedoch dramatisch mit der österreichischungarischen<br />
Machtübernahme. Während nur 120 osmanische Beamte <strong>Bosnien</strong><br />
verwalteten, erhöhte sich die Zahl auf 9.533 im Jahr 1908. Im November 1881, zur Zeit<br />
von größeren Aufständen in der Herzegowina, standen zusätzlich 1<strong>2.</strong>840 Soldaten in<br />
<strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> 4000 in der Herzegowina.<br />
Offiziell galt in <strong>Bosnien</strong> Militärrecht, die osmanischen Gesetze galten jedoch fort, bis<br />
sie mit der Zeit durch neue österreichische Gesetze ersetzt wurden. Insbesondere die<br />
Sharia wurde weiter angewandt, in der religiöse Belange der Muslime geregelt<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
Austrian Proclamation on the Entrance of Austro-Hungarian Troops into Bosnia and the<br />
Herzegovina, 28.7.1878, in: Snežana Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents. From its<br />
creation to its dissolution (Dordrecht/Boston/London 1994) 96-98<br />
Martha M. Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in<br />
<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina (1878-1914) (Bern/Frankfurt/New York/Paris 1987) 25-28.<br />
Da die Finanzminister, die <strong>Bosnien</strong> verwalteten, Politiker waren <strong>und</strong> auch ihre Handeln veranworten<br />
mußten, ist die These Donia's zur fehlenden Demokratie nur teils glaubhaft, insbesondere nach 1908.<br />
Donia, Islam <strong>und</strong>er the Double Eagle, 11.<br />
Siehe Convention between Austria-Hungary and Turkey Respecting the Occupation and<br />
Administration by Austira-Hungary of the Provinces of Bosnia and Herzegowina, with Annex,<br />
Constantinople, 21.4.1879, in: Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 101-103.<br />
19
wurden. 54 Ziel der österreichischen Politik war jedoch die Einführung <strong>des</strong> Rechtsstaats<br />
<strong>und</strong> einer geordneten Verwaltung.<br />
<strong>Die</strong> zentrale Persönlichkeit der österreichisch-ungarischen Verwaltung war Kállay, der<br />
k.u.k. Finanzminister von 1882 bis 1903. Als Autor einer Geschichte Serbiens<br />
übernahm ein Experte <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> der Region die Aufgabe der Verwaltung der<br />
Provinz. Kállay hoffte, mit einer effizienten Administration wirtschaftlichen<br />
Aufschwung <strong>und</strong> infolge<strong>des</strong>sen auch größere Unterstützung durch die lokale<br />
Bevölkerung zu sichern. Zugleich förderte Kállay das Bosniakentum (Bošnjaštvo) unter<br />
allen Einwohnern <strong>Bosnien</strong>s, um irridentistischen Bestrebungen der Serben, aber auch<br />
der kroatischen Bevölkerung entgegenzuwirken. Ziel der Politik war es, ein Loyalität<br />
aller Nationen zu <strong>Bosnien</strong> zu schaffen <strong>und</strong> hierdurch <strong>Bosnien</strong> aus dem von<br />
Nationalbewegungen geprägten Umfeld herauszuhalten. Kállay führte auch die<br />
Bezeichnung Bosnaklar ein, um von dem bisherigen Begriff für die Muslime Bošnjaci<br />
zu unterscheiden. Unter der kroatischen <strong>und</strong> serbischen Bevölkerung jedoch stießen<br />
diese Maßnahmen auf wenig Erfolg. Teile der muslimischen Bevölkerung akzeptierten<br />
das Konzept. <strong>Die</strong> Bemühungen waren möglicherweise kontraproduktiv, da sich<br />
Moslems dem konservativen Islam zuwandten <strong>und</strong> sich durch diese Identitätsfindung<br />
stärker von den anderen beiden Nationen abgrenzen konnten. Mit dem Konzept <strong>des</strong><br />
Bosniakentum war die Hoffnung verb<strong>und</strong>en, daß die Muslime zum Christentum<br />
konvertieren. <strong>Die</strong>ser Glaube basierte auf der Annahme, daß die Muslime nur aus<br />
Gründen materiellen Vorteils im 15. <strong>und</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>ert zum Islam übergetreten seien.<br />
Dementsprechend müßte eine Umkehrung der Vorzeichen eine Rückkonvertierung<br />
bewirken. <strong>Die</strong>se Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, unter österreichisch-ungarischer<br />
Herrschaft kam es kaum zu Konvertierungen. Man kann davon ausgehen, daß die<br />
Identität der drei Religionsgemeinschaften zu diesem Zeitpunkt bereits gefestigt war.<br />
Auf Kállay‘s Tod 1903 folgte István Freiherr Burián von Rajecz, der zwischen 1903 <strong>und</strong><br />
1912 <strong>und</strong> gegen Ende <strong>des</strong> 1. Weltkrieges amtierte. Anders als Kállay bemühte er sich<br />
nicht um die Etablierung <strong>des</strong> Bošnjaštvo, sondern gestattete Kroaten <strong>und</strong> Serben ein<br />
stärkeres Besinnen auf die eigenen Nationszugehörigkeit. Als Ergebnis entstanden<br />
Nationalparteien. 55<br />
<strong>Die</strong> Agrarfrage <strong>und</strong> die wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Modernisierung<br />
<strong>Die</strong> Landwirtschaft bestimmte die wirtschaftliche Struktur <strong>Bosnien</strong>s. <strong>Bosnien</strong> war 1878<br />
ein bäuerliches Gebiet, 87 % der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. <strong>Die</strong><br />
Besitzverhältnisse führten zur sogenannten „Agrarfrage“, die das politische Geschehen<br />
der österreichisch-ungarischen Verwaltung prägte. In der Blütezeit <strong>des</strong> Osmanischen<br />
Reiches bekamen die Soldaten <strong>und</strong> Beamten <strong>des</strong> Sultans Militärlehen zugewiesen. <strong>Die</strong><br />
auf diesem Land ansässigen, in der Regel christlichen Bauern (Kmeten), hatten den<br />
Lehensinhaber durch Abgaben zu unterhalten. Im 16. <strong>und</strong> 17 Jahrh<strong>und</strong>ert wurde diese<br />
54<br />
55<br />
<strong>Die</strong> Sharia ist die Gesetzesammlung nach dem Koran <strong>und</strong> der Überlieferung (Sunna) <strong>und</strong> lokalen<br />
Tradition. <strong>Die</strong> Sharia <strong>Bosnien</strong>s folgte der Rechtsschule Hanafi, die im Osmanischen Reich<br />
angewandt wurde. hierzu s. John Alden William, Der Islam (Genf 1973) 115-119, 231-238.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der verschiedenen in Kraft befindlichen Gesetze kam es öfters zu größerer<br />
Rechtsverwirrung, Malcolm, Bosnia, 138 f.<br />
Zur Bošnjaštvo-Politik Kállays s. Smail Balić, Das Bosniakentum als nationales Bekenntnis, in:<br />
Österreichische Osthefte, Nr. 2/91, Jhrg. 33, 157; Aydin Babuna, <strong>Die</strong> Elite <strong>und</strong> die nationale<br />
<strong>Entwicklung</strong> der bosnischen Muslime. Mit besonderer Berücksichtigung der österreichischungarischen<br />
Periode (Dissertation Wien 1994) 181-20<strong>2.</strong><br />
20
Lehen erblich. <strong>Die</strong> Güter (Ciftluk oder Agaluk) gehörten meist muslimischen<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzern (Begs oder Agas). <strong>Die</strong> Mehrheit der Kmeten waren orthodox, es gab<br />
jedoch auch katholische <strong>und</strong> muslimische Kmeten. <strong>Die</strong> Kmeten erhofften von der neuen<br />
Verwaltung die Abschaffung <strong>des</strong> Kmetentums <strong>und</strong> die Verteilung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Erst nach<br />
der Annexion widmet sich Österreich-Ungarn einer Reform der Landwirtschaft. Das<br />
lange Zögern läßt sich durch fehlen<strong>des</strong> Geld für Entschädigungen der Begs <strong>und</strong> Agas<br />
zurückführen. Weiterhin wollte die Monarchie nicht die muslimische Elite gegen sich<br />
aufbringen. 56 <strong>Die</strong> Agrarfrage nahm zunehmend einen nationalen Charakter an. Da die<br />
Mehrheit der Begs Muslime <strong>und</strong> die Kmeten Großteils Serben waren, kam es zu<br />
Spannungen zwischen beiden Nationen. <strong>Die</strong> Mehrheit der Muslime waren jedoch<br />
Kleinbauern mit weniger als 50 Hektar Boden. (s. unten).<br />
Während die Agrarfrage lange Zeit ungelöst blieb, kam es zu einer wirtschaftlichen <strong>und</strong><br />
sozialen Modernisierung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in anderen Bereichen. In der osmanischen Zeit war<br />
ein öffentliches Schulwesen fast inexistent. <strong>Die</strong> Unterrichtssprache war türkisch <strong>und</strong><br />
richtete sich fast ausschließlich an die muslimische Bevölkerung. <strong>Die</strong> Fortschritte unter<br />
österreichisch-ungarischer Herrschaft waren groß. Im Vergleich zur restlichen<br />
Monarchie <strong>und</strong> anderen Balkanstaaten blieb das Schulwesen jedoch sehr rückständig. In<br />
<strong>Bosnien</strong> besuchten 1908 nur 15 Prozent der Kinder Alter eine Gr<strong>und</strong>schule. Weiterhin<br />
gab es nur 12 höhere Schulen <strong>und</strong> keine Universität. Aus politischen Gründen war es<br />
Schülern verboten, eine Universität in slawischer Sprache zu besuchen. <strong>Die</strong> Zahl der<br />
Studenten aus <strong>Bosnien</strong> blieb somit klein. Erst nach der Annexion erhöhte sich die Zahl<br />
der Schulen, blieb jedoch weit hinter dem Durchschnitt der Monarchie <strong>und</strong> sogar<br />
Serbiens zurück. Am höchsten war die Zahl der katholischen Kinder in den<br />
Primärschulen. Doch auch unter den Katholiken stieg der Prozentsatz an Schulgängern<br />
in der entsprechenden Altersgruppe in der gesamten Zeit der Herrschaft Österreich-<br />
Ungarn nicht über 50 Prozent.<br />
Das schlechte Ausbildungssystem hatte eine konstant hohe Analphabetenrate zur Folge.<br />
So konnten 1910 87,8 Prozent der bosnischen Bevölkerung weder lesen noch schreiben<br />
(Dalmatien: 62,7 %, Istrien 40,2 %). Der höchste Anteil lag bei den Muslimen mit über<br />
90 Prozent. 57<br />
Der wirtschaftliche Aufbau <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, ein vorrangiges Ziel der Verwaltung Österreich-<br />
Ungarns, wurde nur teilweise erreicht. <strong>Die</strong> dafür notwendige Verbesserung der<br />
Infrastruktur scheiterte Großteils an dem Widerstand Ungarns. Weiterhin fehlte es an<br />
Kapitel zum Aufbau von Industrien <strong>und</strong> Infrastruktur. Lediglich der Abbau von<br />
Rohstoffen wurde in <strong>Bosnien</strong> recht erfolgreich betrieben. Am bedeutendsten war die<br />
Holzindustrie. Da es in der Provinz große Holzvorräte <strong>und</strong> billige Arbeitskräfte gab,<br />
konnte dieser Wirtschaftszweig eine zentrale Rolle in der bosnischen Wirtschaft<br />
einnehmen. <strong>Die</strong> inneren Unruhen trugen nicht zu einem günstigen wirtschaftlichen<br />
56<br />
57<br />
Kurt Wessely, <strong>Die</strong> Wirtschaftliche <strong>Entwicklung</strong> von <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina, in: Adam Wandruszka,<br />
Peter Urbanitsch (Hg.), <strong>Die</strong> Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. I: Alois Brusatti (Hg.) <strong>Die</strong><br />
wirtschaftliche <strong>Entwicklung</strong> (Wien 1973) 562-565 <strong>und</strong> Ferdinand Hauptmann, <strong>Die</strong> Mohammedaner<br />
in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch, <strong>Die</strong> Habsburgermonarchie 1848-<br />
1918, Bd. IV: <strong>Die</strong> Konfessionen (Wien 1985) 677 f.<br />
Hierbei ist nicht zu vergessen, daß in religiösen Schulen meist Arabisch Unterrichtssprache war, so<br />
daß viele Kinder im Serbokroatischen Analphabeten waren, aber zumin<strong>des</strong>t Arabisch lesen <strong>und</strong><br />
schreiben konnten. Hauptmann, <strong>Die</strong> Mohammedaner in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, 699 <strong>und</strong> Čupić-<br />
Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina,<br />
314-319.<br />
21
Klima bei <strong>und</strong> schreckten potentielle Investoren ab. Peter Sugar betont, daß der späte<br />
Zeitpunkt der politischen <strong>und</strong> sozialen Reformen, erst nach der Annexion, einen<br />
wirtschaftlichen Aufschwung verzögert hat. Peter Sugar kommt zum Schluß, daß<br />
<strong>Bosnien</strong> zu größeren sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen <strong>Entwicklung</strong>en in der Lage gewesen<br />
wäre, als dies in dieser Zeit der Fall war. Er führt dies auf mangeln<strong>des</strong> Engagement <strong>und</strong><br />
Fehler Österreich-Ungarns zurück. Zugleich gesteht er der österreichisch-ungarischen<br />
Zeit Fortschritte zu. 58<br />
<strong>Die</strong> ationen <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> die österreichisch-ungarische Verwaltung<br />
In <strong>Bosnien</strong> entwickelten sich die Voraussetzungen für die Ausbreitung von<br />
Nationalbewegungen erst spät. So weist Mark Pinson darauf hin, daß 1866 die erste<br />
Druckerei öffnete <strong>und</strong> es um 1875 noch keinen Buchladen in Sarajevo gab. 59 Auch<br />
waren die meisten Zeitungen aus den Nachbarländern, also nicht nur aus Serbien,<br />
sondern auch aus Kroatien, Slawonien <strong>und</strong> Dalmatien verboten. Selbst das von Kállay<br />
verfaßte Buch zur serbischen Geschichte war in <strong>Bosnien</strong> nicht zu erhalten. <strong>Die</strong>se<br />
Verbote sind als Versuch zu werten, die Nationalbewegungen der Umländer von<br />
<strong>Bosnien</strong> fernzuhalten. 60<br />
Lediglich die kroatische Bevölkerung hieß die österreichische Verwaltung willkommen,<br />
auch wenn sich ihre Hoffnung, mit Kroatien vereint zu werden, nicht erfüllte. <strong>Die</strong><br />
politischen Aktivitäten der Kroaten in <strong>Bosnien</strong> wurden zu Anfang von<br />
Franziskanermönchen dominiert. Zunächst deckt sich ihre Position mit der liberalen<br />
Politik Strossmayers. Der Bischof von Djakovo, zu <strong>des</strong>sen Bistum bis 1878 auch<br />
<strong>Bosnien</strong> gehörte, strebte einen Ausgleich mit der Orthodoxie <strong>und</strong> der serbischen<br />
Bevölkerung innerhalb Österreich-Ungarns an. Er war ein Verfechter <strong>des</strong><br />
Jugoslawismus <strong>und</strong> gründete die Jugoslawische Akademie. Bereits kurze Zeit nach dem<br />
Beginn österreichisch-ungarischer Verwaltung wandten sich die Franziskaner der Politik<br />
der Partei <strong>des</strong> Rechts zu. <strong>Die</strong>se war weniger an einem Ausgleich mit der serbischen<br />
Bevölkerung interessiert, als an einer Autonomie Kroatiens innerhalb Österreich-<br />
Ungarns. <strong>Die</strong> Loyalität zu Österreich-Ungarn <strong>und</strong> der Versuch der Partei <strong>des</strong> Rechts<br />
<strong>Bosnien</strong> an Kroatien anzunähern schreckte die anderen ethnischen Gruppen <strong>Bosnien</strong>s<br />
ab. <strong>Die</strong>s führte zu einem politischen Bündnis zwischen Serben <strong>und</strong> Muslimen in<br />
<strong>Bosnien</strong>. 1<br />
<strong>Die</strong> Forderung kroatischer Politiker, <strong>Bosnien</strong> mit Kroatien zu vereinen, dominiert die<br />
gesamte Zeit österreischisch-ungarischer Herrschaft. So baten kroatischer Politiker<br />
1906 bei Travnik in einer Petition an Kaiser Franz Joseph <strong>Bosnien</strong> an Kroatien<br />
anzuschließen. Nikola Mandić bildete 1907 die Hrvatska arodna Zajednica (National-<br />
Kroatischer Verein, CNU), die sich bald zu einer Partei entwickelt. Neben ihr entstand<br />
die Hrvatska katolička udruga (Kroatisch-Katholische Gesellschaft, CCA). Beide<br />
strebten eine Union mit Kroatien an <strong>und</strong> erklärten die Muslime zu Kroaten islamischen<br />
Glaubens. 61<br />
58<br />
59<br />
60<br />
61<br />
Peter Sugar, Industrialization of Bosnia-Hercegovina, 1878-1918 (Seattle 1963) 193-220.<br />
Marc Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, in:<br />
Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Development from the Middle Ages<br />
to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993) 90.<br />
Dušan T. Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina. History & Politics (Paris 1996) 66.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 61, 70-7<strong>2.</strong><br />
22
<strong>Die</strong> Serben in <strong>Bosnien</strong> forderten in erster Linie das Recht, die Führung der serbischorthodoxen<br />
Kirche unabhängig vom Kaiser zu bestimmen, die Eröffnung von serbischen<br />
Schulen <strong>und</strong> die Zulassung <strong>des</strong> kyrillischen Schrift. Der Versuch der Monarchie, die<br />
serbisch-orthodoxen Kirchen <strong>Bosnien</strong>s dem Patriachat von Karlowitz zuzuordnen, stieß<br />
auf serbischen Widerstand. Somit blieb die serbisch-orthodoxe Kirche dem Patriachat in<br />
Istanbul unterstellt. 62 Gerade die katholische Ausrichtung der Habsburgermonarchie<br />
wurde von der serbischen Bevölkerung mit Argwohn betrachtet. So fürchtete die<br />
serbische Nationalbewegung zunehmende Missionstätigkeit der katholischen Kirche zu<br />
Lasten der serbisch-orthodoxen Kirche. Der politischen Führung der bosnischen Serben<br />
gelang es jedoch nicht, von den Moslems in diesen Forderung unterstützt zu werden.<br />
Der Aufstand 1881-82 gegen die Einführung der Wehrpflicht in der Herzegowina wurde<br />
zu einem Großteil von Serben angeführt. <strong>Die</strong> folgende Repression der Kirche <strong>und</strong><br />
Schulen konnte den serbischen Widerstand nur zeitweise brechen. 63 1896 reiste eine<br />
serbische Delegation nach Wien <strong>und</strong> beklagte sich in einer Petition an den Kaiser über<br />
die Einschränkung der inneren Autonomie. Sowohl der k.u.k. Finanzminister Benjamin<br />
Kállay, als auch der Patriarch in Konstantinopel lehnten eine Änderung der orthodoxen<br />
Kirchenorganisation ab, weil sie darin eine Serbisierung befürchteten. In den folgenden<br />
Jahren herrschte Konfrontation zwischen den Behörden <strong>und</strong> den Metropoliten auf der<br />
einen sowie den gewählten Gemeindevorstehern auf der anderen Seite. 1901 legte die<br />
serbische Opposition dem Kaiser ein Memorandum vor, in dem sie die Lan<strong>des</strong>regierung<br />
für die Zwietracht in der bosnischen Orthodoxie verantwortlich machte. <strong>Die</strong><br />
Lan<strong>des</strong>regierung wies das zurück <strong>und</strong> alles blieb beim Alten. Erst unter dem<br />
Finanzminister Stefan Burian von Rajecz kam es 1903 zu einer Einigung, <strong>und</strong> 1905<br />
konnte ein neues Statut für die orthodoxen Gemeinden verkündet werden, dasden<br />
Gemeinden aber nur wenig mehr Mitspracherecht einräumte. <strong>Die</strong> Autonomiebewegung<br />
hat das nationale Bewußtsein unter den bosnischen Serben stark gefördert. Eine ähnlich<br />
Bewegung gab es 1899-1907 auch bei den Muslimen. 64<br />
In der Zeit österreich-ungarischer Verwaltung konnten sich serbische Zeitungen <strong>und</strong><br />
Vereine gut entwickeln. So bestanden 1906 acht Zeitungen <strong>und</strong> Zeitschriften in<br />
kyrillischer Schrift. <strong>Die</strong> größte Zeitung war Srpska Rječ mit einer Auflage von 3.000<br />
Exemplaren.<br />
Vor der Annexion 1908 entwickelten sich Vereine aller Nationen, aus denen nationale<br />
Organisationen hervorgingen. So stieg die Zahl der serbischen Vereine von 43 1904 bis<br />
1912 auf 337. Neben den nationalistischen Turnvereinen (u.a. Sokol), nahm Prosveta<br />
eine zentrale Rolle unter diesen Vereinen ein. Sie verteilte Stipendien an serbische<br />
Studenten <strong>und</strong> Schüler, veröffentlichte eine Zeitung <strong>und</strong> erhielt den Kontakt zu Serben<br />
außerhalb <strong>Bosnien</strong>s. Aus dieser regen Vereinsbildung heraus entstand im Jahr 1907 die<br />
Serbisch-Nationale Organisation (Srpska narodna organizacija, SNO). Sie forderte<br />
Autonomie für <strong>Bosnien</strong>, strebte jedoch langfristig einen Anschluß an Serbien an. Wie<br />
die meisten kroatischen Parteien bezeichnete die SNO die Muslime als „konvertierte<br />
62<br />
63<br />
64<br />
Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />
Herzegowina, 60.<br />
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 68, 70 f.; Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die<br />
österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina, 65.<br />
Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />
Herzegowina, 66-82; Dimitrije Djordjević, <strong>Die</strong> Serben, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch,<br />
<strong>Die</strong> Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. III, Teilbd. 1: <strong>Die</strong> Völker <strong>des</strong> Reiches (Wien 1980) 768-<br />
771.<br />
23
Serben“. Um nicht die Unterstützung der muslimischen Bevölkerung zu verlieren,<br />
vermieden die serbischen Parteien <strong>und</strong> Vereine, eine Landwirtschaftsreform zu fordern.<br />
Trotzdem mußten auch sie eine Verbesserung der Stellung der Bauern verlangen. <strong>Die</strong>s<br />
stellte eine schwierige Gradwanderung für die Partei dar. <strong>Die</strong> politischen Strömungen in<br />
der Herzegowina waren damals nationaler, als im restlichen <strong>Bosnien</strong>, so daß dort die<br />
nationale Komponente im Forderungskatalog der serbischen Parteien einen<br />
dominanteren Platz einnahm.<br />
Anders als bei Kroaten <strong>und</strong> Serben in <strong>Bosnien</strong> fehlte den Muslimen eine regionale<br />
religiös-kulturelle Autorität. <strong>Die</strong> Orientierung nach <strong>und</strong> Protektion von Istanbul ließ<br />
eine derartige Struktur während der osmanischen Herrschaft nicht entstehen. Somit<br />
ergab sich die Schwierigkeit für die Muslime, sich selber zu definieren. <strong>Die</strong> Muslime in<br />
<strong>Bosnien</strong>, anders als im arabischen Teil <strong>des</strong> Osmanischen Reiches, waren mit der Millet-<br />
Struktur zufrieden waren.<br />
Auf Betreiben der muslimischen Bevölkerung trennte der Kaiser 1882 die islamische<br />
Hierarchie von der osmanischen <strong>und</strong> führte den Reis-ul-Ulema als geistliches Oberhaupt<br />
der bosnischen Muslime ein. Ihm stand ein vierköpfiges Gremium, die Medžlissi-<br />
Ulemas zur Seite, die den Religionsunterricht überwachten. Im folgenden Jahr wurde<br />
die Lan<strong>des</strong>-Vakuf-Kommission geschaffen, die die Vakufs verwaltete. Da die<br />
Mitglieder der Kommission von der Regierung ernannt wurden, genossen sie nicht die<br />
Akzeptanz der muslimischen Bevölkerung. <strong>Die</strong> Vakufs, islamisch-kulturelle Stiftungen<br />
zum Erhalt von Moscheen, Brücken, Herbergen, Schulen <strong>und</strong> religiösen Einrichtungen,<br />
blieben trotzdem von der österreichisch-ungarischen Verwaltung weitgehend unberührt.<br />
<strong>Die</strong>se Stiftungen stellten jedoch einen bedeutsamen wirtschaftlichen Faktor dar. So<br />
konnte ein Spender seine Erben zu den Verwaltern <strong>des</strong> Vakufs ernennen, die dann eine<br />
fast steuerfreie Stiftung leiten konnten. 1878 befand sich ein Drittel <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in<br />
<strong>Bosnien</strong> in dem Besitz von Vakufs, nach islamischen Recht konnten sie auch nicht in<br />
Privatgr<strong>und</strong> zurück verwandelt werden. 65<br />
1870 1879 1910<br />
Orthodoxe 534.000 37,2 % 496.485 43,0 % 825.418 43,5 %<br />
Muslime 694.000 48,3 % 449.000 38,9 % 61<strong>2.</strong>137 32,2 %<br />
Katholiken 208.000 14,5 % 209.000 18,1 % 434.061 22,9 %<br />
Andere unbekannt - unbekannt - 26.428 1,4 %<br />
Gesamt 1.436.000 100 % 1.154.485 100 % 1.898.044 100 %<br />
Tabelle 2: Ergebnis der Volkszählungen von 1870, 1879 <strong>und</strong> 1910 66<br />
<strong>Die</strong> großen Unterschiede in den Forderungen <strong>und</strong> Zielen der muslimischen<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong> der Bauern machte eine einheitliche Politik noch lange Zeit<br />
unmöglich. So forderte die muslimische Bewegung eine Reform <strong>des</strong> Landbesitzes. <strong>Die</strong><br />
muslimischen Großgr<strong>und</strong>besitzer dämpften allerdings diese Bemühungen. Auch<br />
formierte sich erst am Ende <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts eine Schicht muslimischer<br />
Intellektueller, die sich zu einer Trägerschicht der muslimischen Nation hätten<br />
entwickeln können. <strong>Die</strong> Probleme der Identitätsfindung der Muslime zeigt sich auch an<br />
65<br />
66<br />
Hauptmann, <strong>Die</strong> Mohammedaner in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, 686-689.<br />
Justin McCarthy, Ottoman Bosnia, 1800 to 1878, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-<br />
Herzegovina. Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia<br />
(Cambridge, Ma 1993) 81; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.<br />
24
den großen Emigrationsströmen in das Osmanische Reich. Es gibt verschiedene<br />
Angaben über die Zahl der Auswanderer. Nach den offiziellen Zahlen Österreich-<br />
Ungarns verließen zwischen 1883 <strong>und</strong> 1905 3<strong>2.</strong>625 Muslime das Land, nur 4.042<br />
kehrten zurück. <strong>Die</strong> Zahl schließt jedoch nicht jene ein, die zwischen 1878 <strong>und</strong> 1883<br />
<strong>Bosnien</strong> verließen, sowie die illegalen Emigranten. Nach einigen Schätzungen waren es<br />
ungefähr 100.000. (zur Zahl der Muslime in <strong>Bosnien</strong> s. Tabelle 2) Zur gleichen Zeit gab<br />
es auch eine wirtschaftlich motivierte Emigration aller Nationen <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> aus den<br />
Nachbarregionen nach Übersee, insbesondere in die Vereinigten Staaten. 67<br />
In Mostar bildete sich in den letzten Jahren <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts eine muslimische<br />
Bewegung für kulturelle <strong>und</strong> religiöse Autonomie. Im August 1900 traf ein Komitee von<br />
Muslimen aus ganz <strong>Bosnien</strong> zusammen, um einen Forderungskatalog an den Kaiser zu<br />
richten. In erster Linie wurde der fehlende Schutz <strong>des</strong> islamischen Glaubens <strong>und</strong><br />
unzureichende religiöse <strong>und</strong> kulturelle Autonomie kritisiert. Insbesondere der Übertritt<br />
von Muslimen zum Christentum führte immer wieder zu heftiger Kritik an der<br />
Verwaltung Österreich-Ungarns. Dem islamischen Glauben zufolge ist eine<br />
Konvertierung zu einer anderen Religion nicht zulässig. Ein Konvertierungsstatut von<br />
1891 sollte diese Übertritte regeln, indem es Hürden für den Übertritt zum Christentum<br />
errichtete. In der Praxis unterlief die katholische Kirche diese Regelung mit Billigung<br />
der Monarchie. So führte die Kirche geheime Übertritte durch <strong>und</strong> versteckte<br />
übergetreten Muslime. 68<br />
<strong>Die</strong> ersten Schritte einer muslimischen Bewegung fielen mit dem Erstarken der<br />
kroatischen <strong>und</strong> serbischen Nationalbewegung in <strong>Bosnien</strong> zusammen. Der Großteil der<br />
Moslems sah den anti-osmanischen <strong>und</strong> anti-muslimischen Kurs der serbischen<br />
Nationalbewegung als Bedrohung <strong>und</strong> orientierte sich an dem kroatischen Gegenstück.<br />
Einzelne Muslime identifizierten sich jedoch stärker mit der serbischen Nation. So<br />
unterstützte der bedeutende muslimische Großgr<strong>und</strong>besitzer Šerif Arnautović die<br />
serbische Forderung nach einem Anschluß <strong>Bosnien</strong>s an Serbien. 69<br />
Ähnlich wie bei Kroaten <strong>und</strong> Serben bildeten auch die Muslime in den ersten Jahren <strong>des</strong><br />
20. Jahrh<strong>und</strong>erts ihre ersten nationalen Vereine. Der bedeutendste war die Nationale<br />
Muslimische Organisation (Muslimanska narodna organizacija, MNO). <strong>Die</strong><br />
Forderungen dieser Organisation blieben jedoch weniger klar formuliert, als jene der<br />
serbischen oder kroatischen Nationalbewegungen. <strong>Die</strong> muslimische Identität war<br />
geringer ausgeprägt <strong>und</strong> kein Nachbarstaat oder Gebiet stand als Vorbild <strong>und</strong><br />
Unterstützung bereit. Auch war die nationale muslimische Bevölkerung in <strong>Bosnien</strong><br />
stärker sozial gespalten als die anderen beiden Nationen. 70<br />
<strong>Die</strong> Annexion<br />
Am 5. Oktober 1908 annektierte Österreich-Ungarn <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina. <strong>Die</strong><br />
internationale Reaktion auf diesen Schritt fiel weitaus heftiger aus, als die tatsächlichen<br />
Folgen für <strong>Bosnien</strong>. Durch die Annexion wurde lediglich der Status-Quo formalisiert,<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
Malcolm, Bosnia, 139 f.; Babuna, <strong>Die</strong> Elite <strong>und</strong> die nationale <strong>Entwicklung</strong> der bosnischen Muslime,<br />
36-40.<br />
Tatsächlich traten zwischen 1879 <strong>und</strong> 1899 nur 32 Muslime zu einem anderen Glauben über, 29<br />
traten von anderen Religionen zum Islam über. <strong>Die</strong> katholische Kirche hingegen verlor mehr als<br />
doppelt so viele Gläubige (79) <strong>und</strong> konnte nur 36 Beitritte melden. s. Hauptmann, <strong>Die</strong><br />
Mohammedaner in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, 693 f.; Malcolm, Bosnia, 145 f.<br />
Babuna, <strong>Die</strong> Elite <strong>und</strong> die nationale <strong>Entwicklung</strong> der bosnischen Muslime, 126-137<br />
Zur Entstehungsgeschichte der Partei s. ebd. 238-250.<br />
25
doch sowohl auf serbischer Seite, als auch von den Großmächten kam Kritik an dem<br />
Schritt Österreich-Ungarns. 71 Das Osmanische Reich beschloß ein Warenboykott<br />
österreichisch-ungarischer Produkte. <strong>Die</strong> zwang Österreich-Ungarn zu einem<br />
Entgegenkommen gegenüber der Hohen Pforte. Das Sandžak Novi Pazar, das 1878<br />
zusammen mit <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina unter österreichisch-ungarische Verwaltung<br />
gefallen war, wurde dem Osmanischen Reich zurückgegeben. Weiterhin zahlte die<br />
k.u.k. Monarchie der Hohen Pforte 50 Millionen Kronen als Entschädigung für <strong>Bosnien</strong>-<br />
Herzegowina. 72<br />
In Folge der Annexion entstanden die serbischen Gruppen, die später am Attentat auf<br />
Kronprinz Franz Ferdinand beteiligt waren. Anstoß zu der Annexion gab die Besorgnis<br />
über serbische Bemühungen, alle Serben in einem Reich zu vereinen. Insbesondere seit<br />
dem Sturz der österreichfre<strong>und</strong>lichen Herrschaftsdynastie der Obrenović 1903 <strong>und</strong> der<br />
Machtübernahme der Familie Karadjordjević verschlechterten sich die Beziehungen<br />
zwischen beiden Staaten. Der erste Höhepunkt war der sogenannte Schweinekrieg 1906,<br />
bei dem Österreich-Ungarn Strafzölle auf serbische Schweine, eines der wichtigsten<br />
Exportprodukte <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, erhob. Daraus entwickelte sich eine wirtschaftliche<br />
Auseinandersetzung, die schon bald nationalistische Züge trug. 73<br />
Der direkte Auslöser für die Annexion war die Machtübernahme der Jungtürken in<br />
Istanbul, die eine selbstbewußtere <strong>und</strong> modernere Politik im Osmanischen Reich<br />
verfolgten (vgl. Kapitel <strong>2.</strong>1.1.). <strong>Die</strong> Regierung Österreich-Ungarns befürchtete erneute<br />
Ansprüche auf <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> stellte durch die Annexion die Jungtürken vor vollendete<br />
Tatsachen. Tatsächlich konzentrierten sich die Jungtürken stärker als die Sultane zuvor<br />
auf das Kerngebiet <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. Ein Jahr später kam es zu einem<br />
Abkommen zwischen beiden Reichen, in dem das Osmanische Reich die neuen<br />
Realitäten anerkannte <strong>und</strong> Ausgleichszahlungen Österreich-Ungarns für die Annexion<br />
vereinbarte.<br />
Zugleich kam es innerhalb <strong>Bosnien</strong>s zu einer Liberalisierung. 1910 wurde erstmals ein<br />
Landtag (Sabor) für <strong>Bosnien</strong> gewählt. Seine Kompetenzen waren größer als diejenigen<br />
der Landtage der österreichischen Kronländer. <strong>Die</strong> anderen Gebiete der Monarchie<br />
konnten jedoch auch den Reichsrat bzw. den Reichstag wählen, während die Einwohner<br />
<strong>Bosnien</strong>s nur den Landtag wählten. Weiterhin konnten die beiden Reichsregierungen<br />
<strong>und</strong> die gemeinsamen Ministerien ein Veto gegen Entscheidungen <strong>des</strong> bosnischen<br />
Landtages einlegen. <strong>Die</strong> wichtigste Auflage <strong>des</strong> Landtages war die Verabschiedung <strong>des</strong><br />
Budgets <strong>und</strong> die Kontrolle der Ausgaben. Das allgemeine Wahlrecht galt noch nicht,<br />
gewählt wurde nach dem Kurienwahlrecht, daß Großgr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong> die<br />
Höchstbesteuerten überrepräsentierte. 74<br />
Im Sabor erhielten die Orthodoxen 37, die Moslems 29, die Katholiken 23 <strong>und</strong> die<br />
Juden einen Sitz. 75 Da die Sitze nach Konfession aufgegliedert waren, fand der<br />
71<br />
72<br />
73<br />
74<br />
75<br />
Für den Text der Annexionserklärung, sowie den Reaktionen Serbiens <strong>und</strong> <strong>des</strong> Osmanischen<br />
Reiches s. Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 106-113.<br />
Matuz, Das Osmanische Reich, 25<strong>2.</strong><br />
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 75.<br />
<strong>Die</strong>s stärkte die Repräsentation der Muslime <strong>und</strong> trug zur muslimischen Akzeptanz der Annexion<br />
bei. s. Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />
Herzegowina, 49-59.<br />
Da hiervon 20 Abgeordneten ernannt werden, kommt es in der Literatur oft zu widersprüchlichen<br />
Angaben. Ohne die ernannten Abgeordneten ist Zusammensetzung wie folgt: Orthodoxe 31,<br />
Muslime 24, Katholiken 16 <strong>und</strong> Juden 1 Sitz, s. Malcolm, Bosnia, 150 f.; Friedman, The Bosnian<br />
26
Wahlkampf zwischen den Parteien der gleichen Religionszugehörigkeit statt. Alle Sitze<br />
der Orthodoxen <strong>und</strong> der Moslems gingen jeweils an deren wichtigsten Parteien, die<br />
SNO <strong>und</strong> die MNO. <strong>Die</strong> kroatischen Sitze teilten sich auf die CCA <strong>und</strong> die CNU.<br />
Ein Jahr später entstand eine Koalition aus muslimischen <strong>und</strong> den kroatischen<br />
Abgeordneten. Vor den Annexion war die Zusammenarbeit zwischen Serben <strong>und</strong><br />
Muslimen noch stärker gewesen. <strong>Die</strong> Agrarfrage, die im Landtag behandelt wurde,<br />
führte jedoch zu einer Annäherung zwischen Kroaten <strong>und</strong> Muslimen. 76<br />
<strong>Die</strong> unter Kállay bereits begonnene Trennung der Muslime von dem Islam außerhalb<br />
<strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> der Umma (der gesamten muslimischen Gemeinschaft) setzte sich nach<br />
der Annexion fort. So erhielten die Muslime 1909 ein Autonomiestatut, was<br />
muslimische Politiker seit Jahren gefordert hatten. Sie erhielten nun größere Rechte bei<br />
der Wahl <strong>des</strong> Reis-ul-Ulema. <strong>Die</strong>ser wurde von dem Kaiser auf Empfehlung durch die<br />
muslimische Gemeinde ernannt <strong>und</strong> vom Sultan in Istanbul bestätigt. Muslimische<br />
Kinder wurden in den Statuten dazu verpflichtet vor der allgemeinen Schule den Makteb<br />
(eine religiöse Schule) zu besuchen. 77<br />
Zugleich wandten sich die Muslime zunehmend von dem Osmanischen Reich ab. Nach<br />
der Ansicht vieler Muslime hatte das Reich sie durch die Hinnahme der Annexion<br />
verraten. <strong>Die</strong> Muslime bezeichneten sich nun seltener als Turčin (Türke) <strong>und</strong> mehr als<br />
Muslimani (Muslime). Das Vakufsystem wurde in Folge der Annexion wieder stärker<br />
muslimischen Forderungen angepaßt, was zu einer weiteren Annäherung zwischen<br />
Muslimen <strong>und</strong> Österreich-Ungarn führte. 78<br />
Insbesondere unter der serbischen Bevölkerung verhärtete sich der Widerstand gegen<br />
die Herrschaft der Habsburger. Unter anderen entstand die Mlada Bosna (Junges<br />
<strong>Bosnien</strong>), eine anti-klerikale, nationalistische Organisation, die sich gegen die<br />
Donaumonarchie wandte. Der Sieg Serbiens <strong>und</strong> Montenegros im ersten <strong>und</strong> zweiten<br />
Balkankrieg (1912 <strong>und</strong> 1913) stärkte deren Position. Durch den Versuch der SNO <strong>und</strong><br />
anderer moderater serbischer Parteien, die muslimischen Großgr<strong>und</strong>besitzer in ihre<br />
Parteien einzuschließen, wurden die gemäßigten Kräfte diskreditiert. <strong>Die</strong>s führte zu<br />
einer Radikalisierung <strong>des</strong> Parteienspektrums der bosnischen Serben. Obwohl bei diesen<br />
neuen Gruppen, wie Mlada Bosna, nationale Ziele im Vordergr<strong>und</strong> standen, lag die<br />
Ursache dieser <strong>Entwicklung</strong> Großteils in der Agrarfrage. 79 Der Landtag hatte zwar 1911<br />
die Kmetenablöse beschlossen, die Lösung wurde jedoch von serbischen Nationalisten<br />
abgelehnt. <strong>Die</strong> Ablöse bedeutete keine Abschaffung der Kmetenverhältnisse <strong>und</strong> führte<br />
zu einer finanziellen Belastung für die Kmeten. Somit wurde diese Lösung von<br />
serbischen Nationalisten abgelehnt. Kriegsbedingt wurde 1915 die Kmetenablöse<br />
unterbrochen. 80<br />
Der zunehmende Widerstand der serbischen Bevölkerung gegen die Herrschaft der<br />
k.u.k. Monarchie über <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> die Balkankriege führten zu Repressalien <strong>und</strong> zur<br />
partiellen Rücknahme der bosnischen Autonomie. So wurde 1913 die zivile<br />
76<br />
77<br />
78<br />
79<br />
80<br />
Muslims, 75 f.; Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-<br />
1918, 111.<br />
Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />
Herzegowina, 253-255, 281.<br />
Hauptmann, <strong>Die</strong> Mohammedaner in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, 698 f.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 72, 74 f.<br />
Djordjević, <strong>Die</strong> Serben, 771 f.<br />
Wessely, <strong>Die</strong> Wirtschaftliche <strong>Entwicklung</strong> von <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina, 565 f.<br />
27
Administration mit der Militärverwaltung vereint <strong>und</strong> dem Kriegsministerium<br />
unterstellt. Der Ausnahmezustand betraf zwar die gesamte Bevölkerung, richtete sich<br />
jedoch in erster Linie gegen die bosnischen Serben. Der neue Gouverneur, General<br />
Ottokar von Potiorek, war damit nicht mehr dem k.u.k. Finanzministerium<br />
verantwortlich. Im selben Jahr wurde die Zivilverwaltung beseitigt, die meisten<br />
Kulturvereine verboten <strong>und</strong> Prozesse gegen Serben <strong>und</strong> andere Gegner der Herrschaft<br />
durchgeführt. Der Landtag konnte dennoch Ende 1913 erneut tagen 81<br />
In diesem angespannten Klima zwischen Serben <strong>und</strong> der Monarchie kam es zum Besuch<br />
<strong>des</strong> Kronzprinzen Franz Ferdinand in Sarajevo. Der Tag <strong>des</strong> Besuches fiel mit dem St.<br />
Veithstag zusammen, der aufgr<strong>und</strong> der legendären Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo<br />
Polje) 1389 den Beginn der osmanischen Herrschaft über Serbien symbolisiert, der<br />
bedeutendste Gedenktag Serbiens war. Somit war der Zeitpunkt <strong>des</strong> Besuchs denkbar<br />
schlecht gelegt, bzw. eine bewußte Provokation der Serben. Nur durch eine Reihe von<br />
Fehlern <strong>und</strong> Zufällen gelang es den schlecht vorbereiteten Attentätern den Kronprinz an<br />
diesem Tag zu ermorden. In allgemein bekannter Weise führten die folgenden<br />
Ereignisse binnen einen Monats zum 1. Weltkrieg. 82<br />
Nach wie vor ist der genaue Einfluß der serbischen Regierung auf die Attentäter unklar.<br />
Fest steht jedoch, daß sie vom Chef <strong>des</strong> militärischen Geheimdienstes, Dragutin<br />
Dimitrijević Apis Unterstützung erhielten. Apis war zugleich auch Anführer der<br />
großserbischen Geheimorganisation „Schwarze Hand“ <strong>und</strong> größter Widersacher <strong>des</strong><br />
serbischen Ministerpresidenten Pašić. 83<br />
Der 1. Weltkrieg<br />
Zwar begann der 1. Weltkrieg auf dem Balkan, doch die Region blieb nur ein<br />
Nebenschauplatz. <strong>Die</strong> Kriegsereignisse bilden jedoch die Gr<strong>und</strong>lage für das Entstehen<br />
Jugoslawiens. Auf dem Gebiet <strong>Bosnien</strong>s kam es kaum zu Kampfhandlungen, abgesehen<br />
von einigen kleineren Auseinandersetzungen in Ostbosnien. Trotzdem war der Krieg<br />
auch im restlichen <strong>Bosnien</strong> spürbar. Manche Kriegsfolgen betrafen die gesamte<br />
Bevölkerung, andere Maßnahmen richteten sich nur gegen eine Volksgruppe.<br />
Wie andere Einwohner der Monarchie wurden Bosnier als Soldaten Österreichs<br />
rekrutiert. Weiterhin wurde Getreide für den Krieg konfisziert. <strong>Die</strong> gesamte Herrschaft<br />
der Monarchie verschärfte sich mit Kriegsausbruch. In erster Linie litten jedoch die<br />
bosnischen Serben unter dem Krieg, da sie als Bedrohung der Integrität der Monarchie<br />
galten. Erstmals unterdrückte Österreich-Ungarn gezielt eine Nation <strong>Bosnien</strong>s. So wurde<br />
1915 die Benützung <strong>des</strong> kyrillischen Alphabets verboten <strong>und</strong> die meisten serbischen<br />
Vereine aufgelöst. Während <strong>des</strong> Krieges wurden etwa 5.000 serbische Familien aus<br />
<strong>Bosnien</strong> nach Serbien vertrieben. Zwischen 3.300 <strong>und</strong> 5.500 bosnische Serben wurden<br />
in Lagern, zumeist in Arad, interniert, 700 bis <strong>2.</strong>200 von ihnen starben dort. 84 Insgesamt<br />
250 Serben wurden wegen Spionage <strong>und</strong> ähnlichen Vergehen durch Militärgerichte zum<br />
Tode verurteilt <strong>und</strong> hingerichtet. 85<br />
81<br />
82<br />
83<br />
84<br />
85<br />
Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />
Herzegowina, 333-335, 343; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 83 f.<br />
Malcolm, Bosnia, 154 f.<br />
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 84.<br />
Malcolm, Bosnia, 158.<br />
<strong>Die</strong> meisten wurden jedoch später durch Kaiser Karl I. begnadigt.<br />
28
<strong>Die</strong> Reaktion der Serben war sehr unterschiedlich. Manche meldeten sich freiwillig, um<br />
im Krieg gegen Serbien ihre Loyalität zu beweisen, während andere nach Serbien<br />
flohen, um dort gegen die k.u.k. Monarchie zu kämpfen. Sie stellten auch den größten<br />
Anteil an russischen Freiwilligeneinheiten an der Ostfront. So umfaßt die 1. serbische<br />
Division 1916 15.000 Deserteure <strong>und</strong> ehemalige Kriegsgefangene. 86<br />
Zu Beginn <strong>des</strong> Krieges wandten sich zwar manche Muslime Serbien zu, doch die<br />
Mehrheit kämpfte für Österreich-Ungarn. Sie lehnten mehrheitlich die Annexion 1908<br />
nicht mehr ab <strong>und</strong> begrüßten die Liberalisierungen, die auf die Annexion folgten (u.a.<br />
Wahl zum Sabor). Weiterhin kämpfte man durch das Bündnis der Donaumonarchie mit<br />
dem Osmanischen Reich indirekt auch für die Hohe Pforte. <strong>Die</strong> anti-muslimische<br />
Haltung in Serbien tat ein Übriges. 87<br />
Noch 1918 unterstützten die bosnischen Kroaten eine neue staatliche Lösung innerhalb<br />
der Monarchie mit den Südslawen als dritter Säule <strong>des</strong> Staates. Auch Teile der<br />
bosnischen Serben unterstützten diese Lösung, da sie gegen Kriegsende explizit in diese<br />
Pläne einbegriffen wurden. <strong>Die</strong> Bosnischen Muslime waren gespalten, einige<br />
unterstützten sowohl eine derartige Lösung, als auch eine bosnische Autonomie<br />
innerhalb der ungarischen Reichshälfte. So trafen die muslimischen Politiker Šerif<br />
Arnautović <strong>und</strong> Safvetbeg Bašagić 1917 den Kaiser, um die letztere Lösung zu<br />
erreichen. Der Gr<strong>und</strong> für eine von Kroatien getrennte Lösung lag wohl in der<br />
Befürchtung der muslimischen Politiker, in einem mit Kroatien vereinigten <strong>Bosnien</strong> die<br />
Interessen ihrer Bevölkerung nicht durchsetzen zu können. Zugleich bemühte sich auch<br />
der Lan<strong>des</strong>chef <strong>Bosnien</strong>s Baron Sarkotić um eine Lösung innerhalb der Monarchie. Mit<br />
dem langsamen Zerfall der Monarchie verloren diese Konzepte zunehmend an<br />
Unterstützung. Im August 1918 versammelte der Slowene Korošec südslawische<br />
Politiker aus der Donaumonarchie. Sie gründeten einen Nationalrat, um die Bildung<br />
Jugoslawiens voranzutreiben.<br />
Während einige Muslime noch an einer Anbindung an Ungarn festhielten, trat Mehmed<br />
Spaho hervor, der später als Führer der Jugoslawischen Muslimischen Organisation<br />
(JMO) eine bedeutende Rolle in Jugoslawien spielen sollte. Er kritisierte die repressive<br />
Politik der Monarchie im Krieg <strong>und</strong> strebte einen jugoslawischen Staat an. Spaho<br />
meinte, daß der Krieg die ethnischen Gruppen <strong>Bosnien</strong>s einander näher gebracht habe.<br />
Am 29. Oktober 1918 stimmte das kroatische Parlament gegen die Herrschaft der<br />
Habsburger. Am 1. November trat der Lan<strong>des</strong>chef Sarkotić zurück, nur zwei Tage später<br />
entstand die erste nationale Regierung <strong>Bosnien</strong>s. <strong>Die</strong>ser rasche Niedergang der<br />
Monarchie in <strong>Bosnien</strong> sorgte insbesondere unter den Serben für Jubel, was sowohl auf<br />
Kroaten wie auch Muslime ernüchternd wirkte. 88 Mit dem Zerfall der staatlichen<br />
Autoritäten erklärten etliche serbische Bürgermeister einseitig den Anschluß an Serbien.<br />
Noch vor der offiziellen Staatsgründung, am 3. November 1918, kam es in <strong>Bosnien</strong> zu<br />
Bauernaufständen, die insbesondere gegen die muslimischen Großgr<strong>und</strong>besitzer<br />
gerichtet waren, woraufhin die serbischen Truppen zur Beruhigung der Lage ins Land<br />
gerufen wurden. Nur drei Tage später zogen sie unter Jubel der Bevölkerung in Sarajevo<br />
ein. <strong>Die</strong> Aufstände verdeutlichten die nationalistische Interpretation wirtschaftlicher<br />
Bruchlinien. Neben diesen wirtschaftlichen Ursachen wurden die Muslime auch eng mit<br />
86<br />
87<br />
88<br />
Djordjević, <strong>Die</strong> Serben, 772 f.; Robert J. Donia, John V.A. Fine, jr., Bosnia and Hercegovina: A<br />
Tradition betrayed (London 1994) 118 f.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 78.<br />
Malcolm, Bosnia, 160-16<strong>2.</strong><br />
29
vormaligen osmanischen Besatzern identifiziert. Viele Serben erinnerten sich auch an<br />
die Förderung der Muslime in der Donaumonarchie durch den k.u.k Finanzminister<br />
Kállay. Obwohl die serbischen Truppen die gewalttätigen Übergriffe auf die<br />
muslimische Bevölkerung beendeten, blieb das Klima gespannt <strong>und</strong> schon bald<br />
ersetzten Serben Muslime in führenden Positionen das Lan<strong>des</strong>. In Folge kam es 1918 zu<br />
einer größeren Emigrationswelle von Muslimen in die Türkei. 89<br />
Das Entstehen von ationalbewegungen in <strong>Bosnien</strong><br />
Im Laufe der 50 Jahre österreichische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong> bildete sich erstmals eine<br />
muslimische Identität heraus. Robert Donia nennt vier Argumente, mit denen diese<br />
Identitätsfindung begründet wird <strong>und</strong> untersucht sie auf ihre Glaubwürdigkeit:<br />
1. Psychologische Entfremdung vom Osmanischen Reich. <strong>Die</strong> Entfremdung vom<br />
Osmanischen Reich sieht er als zutreffende Begründung. So wird in keiner Petition von<br />
Muslimen eine Wiederherstellung <strong>des</strong> Zustan<strong>des</strong> von vor der Besetzung durch<br />
Österreich-Ungarn gefordert.<br />
<strong>2.</strong> Opportunismus. <strong>Die</strong>ses Motiv hält Donia für wenig überzeugend. <strong>Die</strong> muslimische<br />
Bevölkerung war zwar sehr fragmentiert <strong>und</strong> die Interessen der Eliten deckten sich<br />
kaum mit jenen der Bauern. <strong>Die</strong>s ermöglichte eine Instrumentalisierung der<br />
muslimischen Bevölkerung durch die Eliten, stellte jedoch keinen Unterschied zur<br />
kroatischen <strong>und</strong> serbischen Nationalbewegung jener Jahre dar.<br />
3. Religiöser Fanatismus. Für Donia scheidet F<strong>und</strong>amentalismus als Faktor der<br />
Identitätsfindung aus. <strong>Die</strong> individuellen Interessen der Eliten sind nachzuvollziehen <strong>und</strong><br />
stehen nur selten im Zusammenhang mit der Religion. Der Islam diente bereits damals<br />
nicht nur als Religion, sondern als kulturelle Identifikation, die über Glauben<br />
hinausging.<br />
4. Sozio-ökonomische Interessen der Eliten. Innerhalb der muslimischen Bevölkerung<br />
haben in erster Linie die Eliten von der Identitätsfindung profitiert. Dementsprechend<br />
unterstützt das Parteiprogramm der MNO die Monarchie <strong>und</strong> stellte sich gegen eine<br />
Bodenreform. <strong>Die</strong> Eliten außerhalb von Sarajevo hatten jedoch weniger Einfluß <strong>und</strong><br />
man kann die Eliten nicht als einheitliche Gruppe sehen.<br />
<strong>Die</strong> muslimische Identität entstand also in der Habsburger Zeit durch eine Entfremdung<br />
vom Osmanischen Reich. <strong>Die</strong> muslimische Elite versuchte durch diese Identitätsfindung<br />
ihre privilegiere Stellung zu sichern. 90 Zwei Argumente ließen sich hinzufügen. Erstens<br />
fand die muslimische Identitätsfindung als einzige die aktive Unterstützung der<br />
Verwaltung. Zweitens zwang die nicht-muslimische Herrschaft die Muslime <strong>Bosnien</strong>s<br />
zu einer Auseinandersetzung mit der Rolle der Religion für die eigenen Identität.<br />
<strong>Die</strong> Herausbildung muslimischer Identität unter der Herrschaft der Habsburger teilt<br />
Mark Pinson in drei Stufen. Zuerst artikulierten sich die Muslime durch traditionelle<br />
Formen, wie Teilnahme an religiösen <strong>und</strong> kulturellen Veranstaltungen. In der zweiten<br />
Phase kam es zu Aufständen gegen <strong>und</strong> Petitionen an die christlichen Machthaber.<br />
Zuletzt artikulierte sich die muslimische Bevölkerung durch bereits eindeutig<br />
westeuropäische Institutionen, so wie die Gründung einer Partei <strong>und</strong> der Teilnahme an<br />
Wahlen. 91 <strong>Die</strong>se <strong>Entwicklung</strong> der Artikulation muslimischer Interessen geht einher mit<br />
89<br />
90<br />
91<br />
Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics (Ithaca, N.Y. 1992)<br />
360, 367 f.<br />
Donia, Islam <strong>und</strong>er the Double Eagle, 182-194.<br />
Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, 97.<br />
30
einer von Robert Donia beobachteten größeren Interkommunikation der Bevölkerung.<br />
Zu Beginn österreichischer Herrschaft war die Mobilisierung der muslimischen Eliten<br />
lokal begrenzt <strong>und</strong> betraf meist nur bestimmte Maßnahmen. Erst seit dem Aufbau einer<br />
Partei gelang es ihnen das gesamte Gebiet <strong>Bosnien</strong>s zu erreichen <strong>und</strong> langfristige Ziele<br />
anzustreben. 92<br />
<strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> der Nationalbewegung verlief auf der serbischen <strong>und</strong> kroatischen Seite<br />
zwar ähnlich, vollzog sich jedoch bereits früher <strong>und</strong> in erster Linie außerhalb <strong>Bosnien</strong>s<br />
in ihren jeweiligen Kernländern. <strong>Die</strong> Serben <strong>und</strong> Kroaten <strong>Bosnien</strong>s folgten meist mit<br />
Verzögerung der <strong>Entwicklung</strong> in Kroatien bzw. Serbien. <strong>Die</strong> serbische Forderung nach<br />
der Autonomie von Schulen <strong>und</strong> der Kirche kann jedoch als erste moderne politische<br />
Bewegung in <strong>Bosnien</strong> gewertet werden. Da es innerhalb der kroatischen Bevölkerung<br />
kaum einen Mittelstand gab, blieb die kroatische Nationalbewegung in <strong>Bosnien</strong>s lange<br />
Zeit sehr schwach. Ihr fehlte die soziale Infrastruktur, wie sie der serbischen<br />
Bevölkerung zu Verfügung stand. Als sich die Nationalbewegung zu formieren begann,<br />
bildeten sich zwei, oft konkurrierende Träger. Auf der einen Seite standen die klerikale<br />
<strong>und</strong> nationalistisch-konservative Bewegung, die von kirchlichen Würdenträgern, so zum<br />
Beispiel Erzbischof Josip Stadler, getragen wurden. Vom Mittelstand hingegen ging ein<br />
liberaleres <strong>und</strong> säkulares Programm aus. 93<br />
<strong>Die</strong> Bilanz der österreichisch-ungarischen Verwaltung <strong>Bosnien</strong>s ist gespalten. Einerseits<br />
waren die Fortschritte im Vergleich zum Osmanischen Reich enorm. Andererseits<br />
wurden Reformen nur zögerlich angegangen. Auch der Versuch die <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong><br />
Nationalismus in <strong>Bosnien</strong> aufzuhalten ist gescheitert. Für die nationale <strong>Entwicklung</strong><br />
stellt die Herrschaft Österreich-Ungarns eine bedeutsame Phase dar. Während vor 1878<br />
das zentrale Identifikationsmerkmal die Religion war, ersetzte die Nation das Millet.<br />
Zugleich hat das Millet-System das Entstehen von Nationalbewegungen parallel zu<br />
religiösem Bekenntnis begünstigt.<br />
<strong>2.</strong><strong>2.</strong><strong>2.</strong> <strong>Die</strong> Autonomie <strong>des</strong> Libanon<br />
Ähnlich wie in <strong>Bosnien</strong> begann mit der Autonomie <strong>des</strong> Libanon in der <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts eine Phase der Modernisierung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Der neue Status <strong>des</strong> Libanon<br />
war jedoch zwischen den Großmächten umstritten. Während Frankreich eine Rückkehr<br />
zu dem Zustand vor der ägyptischen Herrschaft forderte, wandten sich die Hohe Pforte<br />
<strong>und</strong> Großbritannien gegen eine Autonomie unter einem maronitischem Gouverneur<br />
(bzw. Emir). Als Kompromiß wurde im Juni 1861 schließlich ein règlement organique<br />
verabschiedet, das bis zum Ausbruch <strong>des</strong> 1. Weltkrieges in Kraft blieb.<br />
Das Autonomiestatut<br />
Der Gouverneur war der Hohen Pforte gegenüber verantwortlich <strong>und</strong> mußte die Steuern<br />
einziehen, für die innere Sicherheit sorgen <strong>und</strong> durfte Richter ernennen. Ein Rat aus<br />
zwölf gewählten Religionsvertretern sollte ihm dabei zur Seite stehen. <strong>Die</strong>ser Rat<br />
bestand ab 1864 aus jeweils drei Maroniten <strong>und</strong> Drusen, zwei Orthodoxen <strong>und</strong> einem<br />
griechisch-katholischen Mitglied, sowie einem „Muslimen“ (Sunniten) <strong>und</strong> einem<br />
anderen Christen (Art. 2). Der Mont Liban erhielt danach als Mutasarrifiyah die<br />
Autonomie zurück. Das Mutasarrifiyah wurde verkleinert. <strong>Die</strong> Autonomie erstreckte<br />
sich jedoch nur auf Kleinlibanon im Gebirge <strong>und</strong> die Küste zwischen Sidon <strong>und</strong> Tripoli,<br />
92<br />
93<br />
Donia, Islam <strong>und</strong>er the Double Eagle, 181.<br />
Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 101, 103 f.<br />
31
ohne Beirut <strong>und</strong> die beiden erstgenannten Städte (Art.3). Der Gouverneur mußte ein<br />
nicht-libanesischer Christ sein <strong>und</strong> durfte nicht aus dem Kernbereich <strong>des</strong> Osmanischen<br />
Reichs stammen. Er wurde vom Osmanischen Reich ausgewählt, mußte jedoch von den<br />
fünf europäischen Vertragsstaaten akzeptiert werden. <strong>Die</strong> sieben Distrikte <strong>des</strong><br />
Mutasarrifiyah wurden von einem Subgouverneur der stärksten Religion geleitet. So gab<br />
es drei maronitische <strong>und</strong> jeweils einen sunnitischen, drusischen, griechisch-orthodoxen<br />
<strong>und</strong> griechisch-katholischen Subgouverneur. Im Mont Liban wurden keine osmanischen<br />
Truppen stationiert, es gab auch keinen Militärdienst. 94 Ab 1867 kam Italien als sechste<br />
Garantiemacht hinzu. Kurz vor Verabschiedung <strong>des</strong> réglement zogen die französischen<br />
Truppen ab.<br />
In der Nationalität der Gouverneur <strong>des</strong> Libanons seit 1860 kommt der multinationale<br />
Charakter <strong>des</strong> osmanischen Reiches zum Ausdruck. Der erste Gouverneur war ein<br />
Armenier. Ihm folgten ein Araber aus Aleppo, ein italienischer Adeliger, ein Pole <strong>und</strong><br />
schließlich wieder ein Armenier.<br />
<strong>Die</strong> Zivilgesetzgebung blieb, wie im gesamten Osmanischen Reich zwischen den<br />
Konfessionen getrennt (Art. 8), alle Konfessionen wurden jedoch gleichgestellt (Art.5),<br />
ein Vorteil im Vergleich zur Regelung im restlichen osmanischen Reich.<br />
<strong>Die</strong> Steuern wurden zur lokalen Verwaltung verwandt, nur ein Überschuß mußte an<br />
Istanbul abgeliefert werden (Art. 15). <strong>Die</strong> zentrale Reform der Autonomie war die<br />
Abschaffung <strong>des</strong> Feudalismus (Art. 5) 95 im Libanon. Da dieser den Anlaß für die<br />
Auseinandersetzungen zwischen Maroniten <strong>und</strong> Drusen 1840 <strong>und</strong> 1886 darstellte,<br />
nahmen die Spannungen im Mont Liban ab. <strong>Die</strong> nächsten Konflikte fanden erst wieder<br />
nach 1914 statt. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen im autonomen Libanon beschränkten sich<br />
auf kleinere Proteste mancher Maroniten, die sich über die fremde Herkunft der<br />
Gouverneure beschwerten <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Vollmachten kritisieren. Bei Protesten der Drusen<br />
standen die hohen Steuern im Mittelpunkt. 96 Der erste Gouverneur hat mit folgender<br />
Illustration die Bemühungen um ein Ende der konfessionellen Auseinandersetzungen<br />
zum Ausdruck gebracht:<br />
„A doctor fell sick, and called in a fellow physician and said to him, “We<br />
are three, you, I, and the disease. If you will help me, we will conquer the<br />
disease. If you help the disease you will conquer me“. So we in Lebanon are<br />
three; you, the people, I, the ruler, and the traditional animosity of races in<br />
Lebanon. Help me and we shall conquer it. Help it, and you will ruin me and<br />
yourselves together.“ 97<br />
In Mont Liban waren Christen in deutlicher Mehrheit. In den Gebieten, mit<br />
Ausnahme von Beirut, die später Teil <strong>des</strong> libanesischen Staaten wurden, stellte die<br />
muslimische Bevölkerung hingegen die Mehrheit <strong>und</strong> blieb somit von der Autonomie<br />
ausgenommen (s. Tabelle 3). <strong>Die</strong>s bedeutete, daß die Autonomie de facto eine<br />
Privilegierung der Christen in der Region bedeutete.<br />
94<br />
95<br />
96<br />
97<br />
Zur rechtlichen Lage <strong>des</strong> autonomen Libanon s. Edmond Rabbath, La Formation du Liban Politique<br />
et Constitutionnel. Essai de synthèse (Beirut 1986) 226-239.<br />
Der Text der Autonomieregelung <strong>des</strong> Libanon (Réglement et Protocole relatifs à la réorganisation<br />
du Mont-Liban vom 9.6.1861 <strong>und</strong> Protocole et Règlement modifié relatifs au Liban vom 6.9.1864)<br />
ist abgedruckt bei Bruno Bilek, Der Libanon. <strong>Die</strong> historische <strong>Entwicklung</strong> zur Staatlichkeit<br />
(Diplomarbeit Wien 1987) 221-224.<br />
Kerr, Lebanon in the last years of feudalism, 26.<br />
Hitti, Lebanon in History, 445.<br />
32
Institutionelle <strong>und</strong> wirtschaftliche Modernisierung<br />
In dieser Zeit kam es auch zu den erwähnten gesamtosmanischen Reformen, die sich im<br />
Libanon auswirkten. So wurden die Gerichte weitgehend säkularisiert. 1863 stellte eine<br />
französische Firma die Straße zwischen Beirut <strong>und</strong> Damaskus fertig. Sie bildete das<br />
Rückgrat der libanesischen Infrastruktur. Trotz <strong>des</strong> beschränkten Zugangs zum Meer<br />
prosperierte der Libanon in den Jahren der Autonomie. 1863 wurde in Beirut der<br />
modernste Hafen zwischen Port Said <strong>und</strong> Izmir eröffnet. Zwei Jahre später wurde 1895<br />
neben der Straße auch eine Eisenbahn zwischen Damaskus <strong>und</strong> Beirut fertiggestellt.<br />
Durch Handel entwickelte sich Beirut von einem Küstendorf zu einer bedeutenden<br />
Hafenstadt, zwischen 1860 <strong>und</strong> 1914 wuchs Beirut von 60.000 auf 150.000 Einwohner<br />
an. 98 <strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> der Städte <strong>und</strong> <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> insgesamt dürfte durch das Fehlen<br />
jeglicher Nomaden, im Gegensatz zur restlichen arabischen Welt, erleichtert worden<br />
sein. Von der Modernisierung profitierten fast ausschließlich Christen. Der neuen<br />
Oberschicht (Bankiers, Händler, Seidenproduzenten <strong>und</strong> Schiffsmakler) gehörten nur<br />
wenige Muslime an. 99<br />
Trotz der Urbanisierung blieben die traditionellen Gesellschaftsstrukturen bestehen.<br />
Hitti nennt drei Merkmale der sozialen Struktur <strong>des</strong> Libanons:<br />
- die Loyalität zur Großfamilie,<br />
- die Treue zur Religion der Eltern <strong>und</strong><br />
- die enge Verwurzelung mit dem Boden.<br />
Durch den wachsenden ausländischen Einfluß geriet diese traditionelle<br />
Gesellschaftsstruktur zunehmend in Konflikt mit der Modernisierung. In Verbindung<br />
mit einer hohen Geburtenrate löste dies Ende <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die erste große<br />
Emigrationswelle aus. <strong>Die</strong> erste Emigrationswelle führte nach Ägypten, wo die<br />
englische Kolonialherrschaft <strong>und</strong> den Bau <strong>des</strong> Suez-Kanals zu einem wirtschafltichen<br />
Aufschwung führte. Später wanderten die Libanesen zunehmend nach Übersee aus.<br />
Allein zwischen 1900 <strong>und</strong> 1914 verließen schätzungsweise 100.000 Libanesen, ein<br />
Viertel der Gesamtbevölkerung, das Land. Während die Emigranten in erster Linie<br />
Christen waren, kam es bei den Drusen zu Bevölkerungsverschiebungen innerhalb <strong>des</strong><br />
Lan<strong>des</strong>. <strong>Die</strong> muslimischen Bevölkerung blieb hingegen am stärksten an ihren<br />
Wohnorten verwurzelt.<br />
<strong>Die</strong> Emigration führte einerseits zu einem „brain-drain“, andererseits trugen die<br />
Rücküberweisungen der Emmigranten erheblich zum Wohlstand <strong>des</strong> Libanon bei. In<br />
den Jahren 1951 <strong>und</strong> 1952 gelangten so 18 bzw. 22 Millionen Dollar ins Land. Hinzu<br />
kommen Investitionen in die Wirtschaft durch Auslandslibanesen. Rückkehrer brachten<br />
auch westliche Konzepte wie Nationalismus <strong>und</strong> Demokratie zurück in den Libanon. 100<br />
In der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand ein Schulwesen, das in erster Linie<br />
von europäischen <strong>und</strong> amerikanischen Missionaren aufgebaut wurde. So eröffnete 1846<br />
ein jesuitisches Seminar in Ghazir, 1875 zog es nach Beirut um <strong>und</strong> entwickelte sich zur<br />
französischsprachigen Universität <strong>des</strong> Libanons Saint-Joseph. 101<br />
<strong>Die</strong> amerikanische Regierung intervenierte im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert nicht in die Politik <strong>des</strong><br />
Osmanischen Reichs. Zugleich gab es schon früh eine amerikanische Mission, die 1866<br />
98<br />
99<br />
100<br />
101<br />
Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 24, 28.<br />
Hierzu s. die Vergleiche der konfessionellen Eliten in Labaki, Confessional Communities, 544 f.<br />
Hitti, Lebanon in History, 471-476.<br />
Es steht heute noch im christlichen Ost-Beirut nahe der ehemals "grünen Linie".<br />
33
das Syrian Protestant College gründete. <strong>Die</strong>se entwickelte sich zur American University<br />
in Beyrouth (AUB), die nach wie vor besteht. <strong>Die</strong> Universität wurde bald zur<br />
wichtigsten amerikanischen Bildungsstätte außerhalb der Vereinigten Staaten. Von<br />
dieser Universität profitierten in erster Linie Christen. So waren zwischen 1871 <strong>und</strong><br />
1882 nur 7,6 % der Absolventen <strong>des</strong> Syrian Protestant College Muslime, meist Drusen.<br />
Unter ihnen befand sich kein einziger Schiite <strong>und</strong> nur ein Sunnit. Am größten war der<br />
Anteil der Maroniten (29,4 %) unter den Absolventen. 102<br />
Insbesondere die Ausbildung von Mädchen wurde in den religiösen Schulen gefördert,<br />
da sie von der traditionellen osmanischen Ausblidung meist ausgeschlossen blieben. Ein<br />
Bericht <strong>des</strong> amerikanischen Konsulats 1869 stellt fest, daß vor 1860 nur 4 Mädchen<strong>und</strong><br />
15 Jungenschulen in Beirut bestanden. Neun Jahre später gab der bereits 23 Schulen<br />
für Mädchen <strong>und</strong> 29 für Jungen, somit gingen 6 % der beiruter Bevölkerung in der<br />
Schule. 103 Im Jahr 1914 gab es bereits 6.000 Mädchen in 30 Schulen im Mont Liban.<br />
Nach der Schätzung von Philip Hitti sollen zu dieser Zeit in Syrien, Libanon <strong>und</strong><br />
Palästina 500 französische Schulen für 50.000 Jungen <strong>und</strong> Mädchen bestanden haben.<br />
Gleichzeitig wurden Großbritannien <strong>und</strong> Preußen bzw. das Deutsche Reich im Libanon<br />
aktiv. <strong>Die</strong> Missionstätigkeit preußischer Orden förderte den Aufbau <strong>des</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heitssystems (z.B. das Johanniter Krankenhaus). Da die meisten Einrichtungen<br />
von Missionaren gegründet wurden, profitierten in erster Linie libanesische Christen<br />
von diesen Schulen <strong>und</strong> Krankenhäusern. Später erlangten zunehmend Drusen <strong>und</strong><br />
andere Muslime Zugang. 104<br />
Konfession Mont Liban (1906) Beirut (1889) libanesische Gebiete<br />
(ohne Mont Liban)<br />
Maroniten 117.148 61,2 %<br />
Orthodoxe 25.579 13,3 %<br />
Katholiken<br />
(griechischkatholisch)<br />
18.689 9,7 %<br />
Christen 16<strong>2.</strong>478 84,2 % 70.300 65, 4 % 117.332 34,88 %<br />
Sunniten 3.788 1,9 %<br />
Schiiten 5.524 2,8 %<br />
Drusen 19.293 10,0 %<br />
Muslime 28.605 14,7 % 33.600 31,2 % 200.814 63,12 %<br />
Insgesamt 191.122 100 % 107.400 100 % 318.146 100 %<br />
Tabelle 3: Bevölkerungsverteilung nach Konfessionen für den Mont Liban, Beirut <strong>und</strong> die Gebiete<br />
außerhalb <strong>des</strong> Mont Liban, die später Teil <strong>des</strong> Libanon werden. 105<br />
In der Autonomiephase <strong>des</strong> Mont Liban kam es auch außerhalb <strong>des</strong> Bildungssystem zu<br />
einem Modernisierungsschub. Ähnlich wie in <strong>Bosnien</strong> entstanden nationale Vereine.<br />
102<br />
103<br />
104<br />
105<br />
Obwohl weniger als tausend Protestanten in der gesamten Region lebten, stellten sie immerhin 5,9%<br />
der Absolventen an der Syrian Protestant College, Labaki, Confessional Communities, 543.<br />
Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 29.<br />
Hitti, Lebanon in History, 445-451.<br />
Da andere Christen, Muslime, Juden <strong>und</strong> Ausländer hier nicht berücksichtigt werden, ergibt die<br />
Summe der genannten Konfessionen nicht immer 100 %. Boutros Labaki, Confessional<br />
Communities, Social Stratification and Wars in Lebanon, in: Social Compass, Nr. 4/1988, Jhrg.<br />
XXXV, 54<strong>2.</strong><br />
34
Am bedeutendsten war der Syrische Bildungsverein, der ab 1868 sowohl Drusen, als<br />
auch Christen <strong>und</strong> andere Muslime als Mitglieder hatte. Das arabische Zeitungswesen<br />
nahm seinen Ausgang im Libanon. So entstand 1858 Hadiqat al-Akhbar (Der Garten der<br />
Nachrichten) in Beirut. Zeitungen entwickelten sich aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> relativ liberalen<br />
Klimas im Libanon sehr gut, sogab es 1892 bereits 14 Zeitungen <strong>und</strong> Zeitschriften.<br />
Lediglich Kairo konnte sich neben Beirut als bedeutender Verlagsort etablieren. Da sich<br />
die britische Verwaltung gegenüber der Presse liberaler verhielt als das Osmanische<br />
Reich, übertraf Kairo am Ende <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bereits Beirut als Verlagsort. Beirut<br />
blieb jedoch im arabischen Raum einflußreich. 106<br />
Neben Freistellung vom Militärdienst im Osmanischen Reich genoß die Bevölkerung<br />
<strong>des</strong> Autonomiegebietes weitere Vorteile. Im Mont Liban mußten die Einwohner keinen<br />
Zehnten auf landwirtschaftliche Erzeugnisse bezahlen. Somit lag die durchschnittliche<br />
Einkommensbesteuerung mit 7,4 % um ein Viertel unterhalb der Steuerlast in den<br />
angrenzenden Regionen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. <strong>Die</strong> Autonomie <strong>des</strong> Mont Liban<br />
vergrößerte somit den sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Abstand zum Umland. Da im Mont<br />
Liban überwiegend Christen lebten, während die angrenzenden Regionen mehrheitlich<br />
von Muslimen bevölkert waren, bevorteilte diese unterschiedliche <strong>Entwicklung</strong> die<br />
christliche Bevölkerung, mit Auswirkungen bis in die Gegenwart. 107<br />
Konkurrierende ationalbewegungen<br />
Alle diese Elemente einer Modernisierung ließen sowohl im Autonomiegebiet, wie auch<br />
in Beirut, einen Mittelstand entstehen. <strong>Die</strong>ser bestand aus wohlhabenden Bauern,<br />
Händlern, Vertretern ausländischer Handelsgesellschaften, Angestellten der öffentlichen<br />
Einrichtungen (Häfen, Straßen <strong>und</strong> Banken), Kleinindustriellen, Lehrern <strong>und</strong><br />
Redakteuren. 108 In diesem modernen Mittelstand entwickelten sich drei politische<br />
Konzepte als Alternativen zum Osmanischen Reich.<br />
<strong>Die</strong> erste war der Pan-Arabismus bzw. der arabische Nationalismus. <strong>Die</strong>se<br />
Nationalbewegung strebte den Zusammenschluß aller Araber in einem Staat an. Araber<br />
definierten sich hierbei sowohl ethnisch, wie auch durch die Sprache. <strong>Die</strong>se Bewegung<br />
lehnte eine Eigenständigkeit <strong>des</strong> Libanon ab. Da die Mehrheit der Araber dem<br />
islamischen Glauben anhingen, während Muslime im Libanon damals noch eine<br />
Minderheit waren, wurde der arabische Nationalismus überwiegend von Muslimen<br />
propagiert <strong>und</strong> stieß in dieser Phase nur auf begrenzte christliche Unterstützung, im<br />
Gegensatz zur <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Als wichtige Auslöser <strong>des</strong> Pan-Arabismus<br />
können sowohl der „Turkismus“ bzw. „Osmanismus“ der Jungtürken als auch der<br />
aufkeimende Zionismus gesehen werden. 109<br />
Ähnlich Ziele verfolgt der „Pan-Islamismus“, der im ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
seinen Anfang nimmt. Gr<strong>und</strong> hierfür ist der langsame Abstieg <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />
<strong>und</strong> die Tanzimat-Reformen, die Christen, Juden <strong>und</strong> Muslim gleichstellten. <strong>Die</strong><br />
Reformen widersprachen dem Anspruch <strong>des</strong> Osmanischen Reiches, ein islamischer<br />
Staat zu sein. Der Sultan war zugleich Kalif <strong>und</strong> somit Oberhaupt der sunnitischen<br />
106<br />
107<br />
108<br />
109<br />
Ebd., 461, 464 f.<br />
Labaki, Confessional Communities, 540 f.<br />
Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 29.<br />
Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939 (London-Oxford-New York, 1970),<br />
260-323.<br />
35
Muslime. Der Pan-Islamismus lehnt die Nation gr<strong>und</strong>sätzlich ab, da sie die islamische<br />
Einheit spaltet. So war die Kernaussage von Jamal-al-Din al-Afghani, dem Wegbereiter<br />
<strong>des</strong> Pan-Islamismus, „Keine Nationalität (Wataniyah) im Islam.“<br />
Als dritte politische Richtung entwickelte sich der libanesische Nationalismus. Er wurde<br />
in erster Linie von den Christen, aber auch von den Drusen vertreten. Er hatte im<br />
Mutasarrifiyah viele Anhänger. In den anderen Gebieten, die keine so starke historische<br />
Bindung an den autonomen Libanon hatten, blieb der libanesische Nationalismus ohne<br />
Rückhalt. 110<br />
Der 1. Weltkrieg<br />
Obwohl der Libanon kein Kriegsschauplatz war, litt die Region stark unter den<br />
Kriegsfolgen. Mit dem Beginn <strong>des</strong> 1. Weltkrieges endete die Autonomie <strong>des</strong> Libanon.<br />
Aus Angst vor pro-französischer Agitation marschierten osmanische Truppen ein. Ein<br />
Jahr später wurde der Rat aufgelöst <strong>und</strong> 'Ali Munif, erst der zweite Türke in der<br />
Geschichte <strong>des</strong> Libanon, übernahm die Verwaltung <strong>des</strong> Gebietes. Der repressiven<br />
Herrschaft fielen nicht nur Christen, sondern auch Muslime zum Opfer. Zugleich führte<br />
der Krieg zu Hungersnöten im Libanon. Der Mittelstand verarmte, während viele<br />
Bauern <strong>und</strong> städtische Unterschichten verhungerten. Es kam zu Epidemien <strong>und</strong> in der<br />
zweiten Kriegshälfte strömten armenische <strong>und</strong> assyrische Flüchtlinge aus Anatolien<br />
nach Beirut <strong>und</strong> in das Umland. Insgesamt starben nach Schätzungen 100.000<br />
Menschen, ein Viertel der Bevölkerung. In Folge verfielen viele Gebäude <strong>und</strong> Dörfer. 111<br />
Trotz dieser katastrophalen Zustände kam es nicht zu nennenswerten Aufständen<br />
während <strong>des</strong> Krieges. Erst im Oktober 1918 mit einer französischen Invasion <strong>des</strong><br />
Libanon <strong>und</strong> dem Einzug arabischer <strong>und</strong> britischer Truppen in Syrien kam das letzte<br />
Kapitel osmanischer Herrschaft über den Libanon zu seinem Ende.<br />
Anders als in <strong>Bosnien</strong> litten alle Einwohner gleichermaßen unter den Kriegsfolgen, da<br />
Drusen (mit Großbritannien) <strong>und</strong> Christen (mit Frankreich) gleichermaßen der<br />
Kollaboration mit dem Gegner verdächtigt wurden. Nach Ende <strong>des</strong> Krieges bestand<br />
keine Nostalgie, auch nicht unter den Muslimen, für das Osmanischen Reich. <strong>Die</strong> neuen<br />
Optionen entsprachen vielmehr den drei führenden nationalen bzw. konfessionellen<br />
Konzepten:<br />
1. Ein großarabisches Reich,<br />
<strong>2.</strong> ein unabhängiger Libanon oder<br />
3. ein islamisches Reich.<br />
<strong>Die</strong> folgende französische Mandatsherrschaft entsprach am ehesten den Forderungen der<br />
meisten Maroniten nach einem selbständigen Land Libanon.<br />
110<br />
111<br />
Hitti, Lebanon in History, 477-480.<br />
Ebd., 483-486.<br />
36
<strong>2.</strong><strong>2.</strong>3. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns <strong>und</strong> <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />
Mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns <strong>und</strong> <strong>des</strong> Osmanischen Reichs bei<br />
Kriegsende änderte sich das Umfeld <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> <strong>des</strong> Libanon. <strong>Bosnien</strong> hatte 400 Jahre<br />
zum Osmanischen Reich <strong>und</strong> 40 Jahre zu Österreich-Ungarn gehört, auch der Libanon<br />
stand 400 Jahre, mit kurzen Unterbrechungen, unter osmanischer Herrschaft. Das<br />
Osmanische Reich zerfiel etwas früher als Österreich-Ungarn bereits im Sommer 1918.<br />
Zwischen Juni <strong>und</strong> Oktober 1918 konnten die Alliierten große militärische Erfolge<br />
verzeichnen <strong>und</strong> reduzierten das Gebiet unter Kontrolle der Hohen Pforte dramatisch.<br />
<strong>Die</strong>s führte zu einem Rückzug der verbleibenden osmanischen Armeen auf das Gebiet<br />
Anatoliens um zumin<strong>des</strong>t den Kern <strong>des</strong> Reiches zu halten. Der Zusammenbruch war<br />
jedoch so vollständig, daß das Reich am 31. Oktober 1918 eine bedingungslose<br />
Kapitulation eingestehen mußte. <strong>Die</strong> Folge war die Besetzung Istanbuls <strong>und</strong> <strong>des</strong><br />
Bosporus. Istanbul wurde gemeinsam von Frankreich, Großbritannien <strong>und</strong> Italien<br />
verwaltet, während Griechenland große Teil der anatolischen Küste besetzte. 112<br />
Bereits während <strong>des</strong> Krieges hatten Großbritannien <strong>und</strong> Frankreich in der arabischen<br />
Welt eine doppelte Strategie verfolgt. Auf der einen Seite versuchten sie die arabische<br />
Bevölkerung mit dem Versprechen (insbesondere durch die Korrespondenz <strong>des</strong><br />
britischen Hochkommissars in Ägypten McMahon mit dem Sharif von Mekka Husayn)<br />
eines unabhängigen arabischen Reiches gegen das Osmanische Reich zur Rebellion zu<br />
bringen. Andererseits vereinbarten sie untereinander im Sykes-Picot Pakt vom Mai 1916<br />
eine Aufteilung der arabischen Gebiete in koloniale Einflußsphären. Schließlich<br />
versprach Großbritannien in der Balfour Deklaration 1917 die Errichtung eine<br />
nationalen „Heimstätte“ (homeland) für Juden in Palästina. Der Sharif von Mekka<br />
leitete als Hüter der heiligen Stätten <strong>des</strong> Islam (Mekka <strong>und</strong> Medina) eine Legitimation<br />
als gesamtarabischer Herrscher ab. Auf dieser Basis entstanden bereits bald nach<br />
Kriegsende Konflikte zwischen der arabischen Bevölkerung <strong>und</strong> den Mandatsmächten<br />
Frankreich <strong>und</strong> Großbritannien. 113<br />
Bei der im Januar 1919 beginnenden Friedenskonferenz in Paris sollte die zukünftige<br />
Gestalt der ehemaligen Gebiete <strong>des</strong> Osmanischen Reiches beschlossen werden. Der<br />
Vertrag von San Remo teilte die arabischen Teile <strong>des</strong> Reiches zwischen Frankreich <strong>und</strong><br />
Großbritannien auf. Der Friedensvertrag zu Anatolien wurde erst im August 1920 in<br />
Sèvres abgeschlossen, besaß jedoch keinen praktischen Wert mehr. Türkische Politiker<br />
<strong>und</strong> Soldaten unter Führung von Mustafa Kemal (später Atatürk) lehnten den Vertrag ab<br />
<strong>und</strong> begannen eine Krieg zur Rückeroberung ganz Anatoliens. Von Bedeutung für die<br />
Muslime außerhalb Anatolien war das Schicksal <strong>des</strong> Kalifats. Der letzte osmanische<br />
Herrscher, Abdülmecid II. (1922-1924) war nicht mehr Sultan, hielt jedoch den Titel <strong>des</strong><br />
Kalif inne <strong>und</strong> war somit formal Oberhaupt aller Muslime. Erst am 3.3.1924 schaffte die<br />
Türkei das Kalifat ab <strong>und</strong> beendete somit eine Einrichtung, die seit dem Tod<br />
Mohammed bestand. 114<br />
Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns schien lange Zeit nicht so wahrscheinlich wie<br />
das Ende <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. Während das Osmanische Reich bereits in den<br />
Jahrh<strong>und</strong>erten vor dem 1. Weltkrieg zahlreiche Gebiete verloren hatte, dehnte sich der<br />
112<br />
113<br />
114<br />
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 327-330.<br />
Albert Hourani, A History of the Arab Peoples (New York 1991) 318 f.<br />
Hierzu s. Paul Dumont, François Georgeon, La mort d'un empire (1908-1923), in: Robert Mantran<br />
(Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 633-647; Josef Matuz, Das Osmanische Reich,<br />
271-278.<br />
37
Einfluß Österreich-Ungarns in der <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts auf dem Balkan aus.<br />
Noch 1917 unterstützten die meisten politischen Führer der Nationen in Österreich-<br />
Ungarn ein Fortbestand einer, wenn auch reformierten, Monarchie. Gleichzeitig gelang<br />
es einigen nationalen Politikern (z.B. Beneš, Trumbić), für ihre Pläne zur Loslösung<br />
ihrer Nationen von Österreich-Ungarn die Unterstützung der Entente zu sichern.<br />
Militärische Niederlagen, so an der Front in Italien, beschleunigten den Zerfall <strong>des</strong><br />
Staates. Ende Oktober 1918 war die Monarchie bereits de facto in viele kleinere Staaten<br />
zerfallen. Mit dem Waffenstillstand am 3. November 1918 <strong>und</strong> der Friedenskonferenz<br />
1919/20 in St. Germain (für Österreich) <strong>und</strong> Trianon (für Ungarn) wurde dieser Zerfall<br />
bestätigt. Neben den Neugründungen Jugoslawien <strong>und</strong> Tschechoslowakei erhielt<br />
Rumänien Siebenbürgen. Südtirol fiel an Italien <strong>und</strong> Galizien wurde Teil <strong>des</strong><br />
wiederentstandenen Polen.<br />
Im Fall <strong>des</strong> Osmanischen Reiches herrscht weitgehende Einigkeit über die Gründe <strong>des</strong><br />
Zerfalls. <strong>Die</strong> völlige militärische Niederlage, verb<strong>und</strong>en mit dem langfristigen<br />
Staatszerfall machten einen Fortbestand <strong>des</strong> Reiches unmöglich. <strong>Die</strong> Gründe für das<br />
Ende Österreich-Ungarns sind nach wie vor umstritten. Einige Historiker führen den<br />
Zerfall auf den Einfluß nationaler Organisationen im Exil auf den amerikanischen<br />
Präsidenten Wilson <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Verbündete zurück. 115 Andere Autoren sehen in der<br />
Struktur Österreich-Ungarns die Ursachen: Ähnlich wie das Osmanische Reich sei die<br />
Donaumonarchie unfähig gewesen sich zu reformieren <strong>und</strong> den Vorstellungen der<br />
Bevölkerung anzupassen. Der zweite Ansatz vernachlässigt jedoch die<br />
Reformvorschläge von Karl Renner <strong>und</strong> anderer gemäßigter Politiker. Nachdem<br />
Österreich-Ungarn jedoch den 1. Weltkrieg mit der Kriegserklärung an Serbien begann,<br />
beschleunigte sie den Zerfall, anstatt die nationale Irredenta durch Serbien zu<br />
beenden. 116<br />
<strong>2.</strong><strong>2.</strong>4 Zusammenfassung<br />
Seit Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts sahen sich Österreich-Ungarn <strong>und</strong> das Osmanische<br />
Reich zunehmend durch das Entstehen von Nationalbewegungen bedroht. <strong>Die</strong>se<br />
Konzepte entwickelten sich vorrangig im europäischen Herrschaftsbereich beider<br />
Staaten, während Nationalismus in der arabischen Welt nur marginale Bedeutung besaß.<br />
Da die Nationalbewegungen die Errichtung von Staaten anstrebten, die eine Nation<br />
zusammenfassen, waren sie langfristig nicht mit dem Fortbestand multinationaler<br />
Reiche vereinbar. Nationalstaaten im französischen Sinne, die eine Nation auf einem<br />
bestehenden Territorium aufbauen, waren jedoch in Südosteuropa kaum mit der<br />
Bevölkerungsverteilung vereinbar. Das Ergebnis waren Nationalbewegungen, die um<br />
ein Territorium konkurrierten. Im Fall von <strong>Bosnien</strong> war dies der serbische <strong>und</strong> der<br />
kroatische Nationalismus, später auch der muslimische bzw. bosniakische<br />
Nationalismus. 117 In den arabischen Regionen <strong>des</strong> osmanischen Reiches konnte sich nur<br />
115<br />
116<br />
117<br />
So argumentiert Fejtö, daß die Monarchie von der Entente erhalten werden sollte <strong>und</strong> nur der<br />
Einfluß von Beneš <strong>und</strong> Masaryk das Ende der Monarchie herbeigeführt hat, s. François Fejtö,<br />
Requiem für die Monarchie. <strong>Die</strong> Zerschlagung Österreich-Ungarns (Wien 1991).<br />
Zum Ende Österreich-Ungarns <strong>und</strong> einer sehr ausgewogenen Argumentation über die Ursachen s.<br />
Robert A. Kann, Geschichte <strong>des</strong> Habsburgerreiches, 1526 bis 1918 (=Forschungen zur Geschichte<br />
<strong>des</strong> Donauraums 4, Wien/Köln/Weimar 1993) 445-465; A.J.P. Taylor, The Habsburg Monarchy,<br />
1809-1918 (London 1990) 250-28<strong>2.</strong><br />
Hierzu s. Harald Heppner, Modernisierung der Politik als Strukturproblem in Südosteuropa, in:<br />
Österreichische Ostheft, Nr. 3/95, Jhrg. 37, 717-735.<br />
38
im Libanon eine, wenn auch weniger ausgeprägte, konfessionelle Identität entwickeln.<br />
<strong>Die</strong>se Identitätsfindung beschränkte sich jedoch auf die Maroniten <strong>des</strong><br />
Autonomiegebietes.<br />
<strong>Die</strong> Autonomie <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> die österreichisch-ungarische Herrschaft über <strong>Bosnien</strong><br />
brachten den ersten Modernisierungsschub in beiden Ländern. Zuvor dominierte in<br />
beiden die Landwirtschaft <strong>und</strong> die soziale Struktur war weitgehend feudal geprägt. Ein<br />
Schulsystem <strong>und</strong> größere Städte bestanden kaum. <strong>Die</strong> Loslösung vom Osmanischen<br />
Reich bedeutete eine moderne Infrastruktur <strong>und</strong> das Entstehen von Zeitungen <strong>und</strong> ersten<br />
politischen Parteien.<br />
Mit der Besetzung <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina stand erstmals eine größere kompakte<br />
muslimische Bevölkerung unter der Herrschaft Österreich-Ungarns. Im Osmanischen<br />
Reich waren große christliche Bevölkerungsgruppen zwar keine Seltenheit, mit der<br />
formalen Autonomie <strong>des</strong> Mont Liban verband sich jedoch erstmals eine territoriale<br />
Selbstverwaltung mit einer dominanten nicht-muslimische Bevölkerungsgruppe, den<br />
Maroniten. Zuvor bestand die Autonomie nicht-muslimischer Religionen nur im<br />
Rahmen der Millets, die mit dem modernen Konzept der Personalautonomie<br />
vergleichbar sind <strong>und</strong> nicht territorial begrenzt waren.<br />
<strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> der Libanon stellten somit für Österreich-Ungarn <strong>und</strong> das Osmanische<br />
Reich gleichermaßen eine Neuheit dar. Beide Länder erhielten territoriale Autonomie.<br />
Im Fall von <strong>Bosnien</strong> begründete sich diese Eigenständigkeit aus der Uneinigkeit beider<br />
Reichshälften über die Herrschaft, sowie aus den Bemühungen <strong>Bosnien</strong> von den<br />
benachbarten Nationalbewegungen abzugrenzen. Der serbische Nationalismus stellte die<br />
größte Bedrohung für den Status-Quo dar, während der kroatische Nationalismus lange<br />
Zeit lediglich eine engere Anbindung <strong>Bosnien</strong>s an Kroatien innerhalb der Monarchie<br />
forderte. Im Libanon wurde die Autonomie dem Osmanischen Reich weitgehend von<br />
den europäischen Großmächten verordnet. Für die christliche Bevölkerung Libanon<br />
ermöglichte diese Selbstverwaltung eine Annäherung an Frankreich <strong>und</strong> Europa <strong>und</strong><br />
entzog das Gebiet de facto jeglicher Kontrolle <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. Erst der<br />
Weltkrieg führte zu einer - katastrophalen - Wiedereingliederung in das Reich. In<br />
<strong>Bosnien</strong> bedeutete die Eigenständigkeit <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> keineswegs einen geringen Einfluß<br />
der Monarchie. Im Gegenteil, die direkte Verwaltung stärkte die Herrschaft <strong>und</strong><br />
ermöglichte eine stärkere Einbindung der muslimische Bevölkerung an Österreich-<br />
Ungarn.<br />
Während das Millet-System im Osmanischen Reich nur auf die nicht-muslimischen<br />
Konfessionen bezogen war, weitete sich dieses de facto unter der österreichischungarischen<br />
Verwaltung <strong>und</strong> der libanesischen Autonomie auch auf die Muslime aus.<br />
Insbesondere die Autonomiestatute <strong>des</strong> Mont Liban <strong>und</strong> die erfolgreichen serbische <strong>und</strong><br />
muslimische Autonomiebewegungen bewirkten eine große Eigenständigkeit aller<br />
Religionsgruppen in beiden Ländern. <strong>Die</strong>se religionsbezogene Selbstständigkeit<br />
beschränkte sich jedoch nicht nur auf religiöse Belange, sondern erstreckte sich auf die<br />
Ausbildung, sowie andere soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche Bereiche. <strong>Die</strong>se Trennung der<br />
Religionen bzw. Nationen in eigenständige <strong>und</strong> oftmals weitgehend von einander<br />
unabhängige Gruppen festigte die jeweilige Identität <strong>und</strong> verhinderte auch das Entstehen<br />
einer bosnischen bzw. libanesischen Identität.<br />
Obwohl Österreich-Ungarn versuchte, <strong>Bosnien</strong> von serbischen <strong>und</strong> kroatischen<br />
Nationalismus abzuschirmen, drangen diese neuen nationalen Ideen auch nach <strong>Bosnien</strong><br />
ein. In <strong>Bosnien</strong> entstanden klare Trennungslinien zwischen den Nationen. <strong>Die</strong><br />
39
Parteienlandschaft <strong>und</strong> die Aufgliederung der Landtagssitze nach<br />
Religionszugehörigkeit sind ein Ausdruck dieser <strong>Entwicklung</strong>.<br />
Im Libanon setzte sich der osmanische Konfessionalismus auch ohne Wahlen in der<br />
Verwaltung <strong>und</strong> insbesondere im Rat fort. <strong>Die</strong> bereits zuvor bestehende<br />
Eigenständigkeit <strong>des</strong> Libanon wurde durch die Autonomie rechtlich abgesichert. In<br />
dieser Phase festigte sich zudem die maronitische Vorherrschaft im Land. Neben dieser<br />
Konfession waren nur Drusen in größerer Zahl <strong>und</strong> ausreichender Konzentration im<br />
autonomen Libanon vertreten, um sich mit dem entstehenden Land zu identifizieren.<br />
Sunniten <strong>und</strong> Orthodoxe fühlten sich noch mehr mit ihren Glaubensbrüdern im<br />
restlichen Osmanischen Reich verb<strong>und</strong>en, während die Schiiten, kaum im autonomen<br />
Libanon vertreten, erst nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg ihre eigene Identität stärker bewußt<br />
wurden.<br />
<strong>Die</strong> <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts hat im Libanon nationale <strong>und</strong> konfessionelle<br />
Identitäten entstehen lassen, die sich in der gespalteten politischen Landschaft beider<br />
Länder niederschlägt.<br />
In <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> im Libanon herrschte unter den Bevölkerungsgruppen keineswegs<br />
Einigkeit über den Zerfall <strong>des</strong> Reiches oder über die zukünftige Staatsform. Theoretisch<br />
standen in <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> dem Libanon drei Positionen einander gegenüber:<br />
1. <strong>Die</strong> Bildung eines eigenen Staates<br />
Während im Libanon die Christen <strong>und</strong> insbesondere die Maroniten einen eigenen Staat<br />
anstrebten, gab es in <strong>Bosnien</strong> keine nennenswerten Bestrebungen für einen<br />
unabhängigen Staat, wie etwa in Kroatien.<br />
<strong>2.</strong> Verbleib bei der bestehenden Staatsform<br />
<strong>Die</strong> Kroaten unterstützten am stärksten von allen Nationen <strong>Bosnien</strong>s den Fortbestand<br />
der Monarchie. Weiterhin wurde die Herrschaft Österreich-Ungarns auch von der<br />
muslimischen Bevölkerung unterstützt. Weder im Mont Liban, noch in den anderen<br />
Gebieten der Region, die Teil <strong>des</strong> Mandatsgebietes „Grand Liban“ werden, gab es<br />
großen Rückhalt für das Osmanische Reich. Am stärksten dürfte die Unterstützung<br />
durch die Sunniten gewesen sein, die ihre Interessen am besten im Reich gesichert<br />
sahen.<br />
3. den Anschluß an einen neuen Staat.<br />
<strong>Die</strong> Bevölkerung der Mont Liban <strong>und</strong> Beiruts strebte jedoch neben der Schaffung eines<br />
libanesischen Staates entweder Großsyrien oder ein panarabisches Reich an. Als<br />
Alternative Staatsformen boten sich für <strong>Bosnien</strong> im wesentlichen Großserbien oder<br />
Jugoslawien an. Während Großserbien naturgemäß nur für die serbische Bevölkerung<br />
attraktiv war, erhielt die jugoslawische Bewegung im Krieg insbesondere von Kroaten<br />
regen Zulauf.<br />
Nach dem 1. Weltkrieg konnten die Einwohner <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> <strong>des</strong> Libanon jedoch nicht<br />
die neue Staatsform selbst bestimmen. Im Libanon begann die französische<br />
Mandatsherrschaft, die einen vergrößerten Libanon schuf. Der neue Staat wurde zwar<br />
von den meisten Maroniten begrüßt, die Mehrheit der anderen Konfessionen lehnten<br />
hingegen den Libanon unter französischer Verwaltung ab. In <strong>Bosnien</strong> wurde das<br />
Entstehen Jugoslawiens am stärksten von der serbischen Bevölkerung willkommen<br />
geheißen. Sowohl Kroaten, wie auch Muslime standen dem neuen Staat jedoch<br />
skeptisch gegenüber oder lehnten ihn später sogar offen ab.<br />
40
<strong>2.</strong>3. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> <strong>des</strong> Libanon in der Zwischenkriegszeit <strong>und</strong> im <strong>2.</strong><br />
Weltkrieg<br />
<strong>2.</strong>3.1. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina als Teil <strong>des</strong> 1. Jugoslawien <strong>und</strong> <strong>des</strong> „Unabhängigen<br />
Staates Kroatien“<br />
Zwischen Auflösung der Monarchie <strong>und</strong> Konsolidierung Jugoslawiens<br />
Am 1. Dezember 1918 rief Prinzregent Alexander in Belgrad das Königreich der<br />
Serben, Kroaten <strong>und</strong> Slowenen (SHS) aus. 118 Ein wesentlicher Beitrag zur Entstehung<br />
<strong>des</strong> Staates leisteten pro-jugoslawische Politiker im Exil, die bei der Entente auf dieses<br />
Ziel hingearbeitet hatten. <strong>Die</strong> Rolle <strong>des</strong> serbischen Ministerpräsidenten Pašić <strong>und</strong> seiner<br />
Exil-Regierung ist hierbei nicht eindeutig. In erster Linie wollte Serbien einen<br />
großserbischen Staat mit allen Gebieten, in denen Serben lebten.<br />
In Serbien fühlte man sich aufgr<strong>und</strong> der Erfahrung als unabhängiger Staat <strong>und</strong> der<br />
Kriegsopfer Serbiens den anderen Nationen überlegen. Serbien wollte im neuen Staat<br />
dominieren. Weiterhin strebten die serbischen Politiker einen zentralistischen Staat an,<br />
während Slowenen, Bosnier <strong>und</strong> Kroaten im allgemeinen eine Föderation bevorzugten.<br />
Erst die schweren Niederlagen zwischen 1915-17 zwangen Pašić <strong>und</strong> seine Regierung<br />
zur Akzeptanz der jugoslawischen Staatsauffassung. <strong>Die</strong> unterschiedlichen<br />
Staatsauffassungen lassen sich bereits vor dem Weltkrieg in Schulbüchern nachweisen.<br />
In <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> Kroatien stellten die Schulbücher die anderen südslawischen Völker dar<br />
<strong>und</strong> propagierten zumin<strong>des</strong>t teilweise Jugoslawismus, während die serbischen<br />
Schulbücher nicht auf die kroatische Nation eingingen <strong>und</strong> sämtliche kroatischen<br />
Länder <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong> als Teile eines zu errichtenden Großserbiens darstellten. 119<br />
In den ersten Monaten nach der Schaffung <strong>des</strong> Staates gelang es beiden Seiten (wobei<br />
die Slowenen eine ähnliche Position wie die Kroaten hatten) nicht, eine Lösung für die<br />
zukünftige Gestalt <strong>des</strong> Staates zu finden. Ohne die Vorarbeit <strong>des</strong> kroatisch-dominierten<br />
Jugoslawischen Komitees wären andere staatliche Lösungen wahrscheinlicher gewesen.<br />
Man kann also Jugoslawien nicht als einen von außen aufgezwungenen Staat<br />
bezeichnen, doch genauso wenig bestand ein breiter Konsens für eine jugoslawische<br />
Ideologie. Obwohl der neue jugoslawische Staat ohne Zweifel in erster Linie aus sich<br />
selbst heraus entstand, wäre er ohne den Sieg der Entente <strong>und</strong> der fehlenden Bereitschaft<br />
Österreich-Ungarns zu einem getrennten Friedensvertrag mit der Entente Anfang 1918<br />
kaum denkbar gewesen. 120<br />
<strong>Die</strong> Gründung Jugoslawiens wurde in der kroatischen Bevölkerung mit Skepsis<br />
aufgenommen, von der serbischen <strong>und</strong> auch die muslimischen Bevölkerung dagegen<br />
weitgehend begrüßt. Während die serbische Bevölkerung auf eine mit dem neuen Staat<br />
verb<strong>und</strong>ene Landreform hoffte, versuchte die politische Führung der Muslime eine<br />
derartige Neuregelung zu verhindern, da sie, wie erwähnt, die bei weitem größten<br />
Landbesitzer in <strong>Bosnien</strong> stellten. 121<br />
118<br />
119<br />
120<br />
121<br />
Im folgenden Text wird das Königreich der Serben, Kroatien <strong>und</strong> Slowenen zur Vereinfachung als<br />
Jugoslawien bezeichnet, auch wenn der Staat erst nach 1929 offiziell diesen Namen trägt.<br />
Hierfür s. Charles Jelavich, South Slav nationalisms - textbooks and Yugoslav Union before 1914<br />
(Columbus, Oh. 1990) 138-243.<br />
Ivo J. Lederer, Nationalism and the Yugoslavs, in: Peter F. Sugar, Ivo J. Lederer (Hg.) Nationalism<br />
in Eastern Europe (Seattle/London 1969), 428-430; Mirjana Gross, Wie denkt man kroatische<br />
Geschichte? in: Österreichische Osthefte, Nr. 1/93, Jhrg. 35, 89.<br />
Zur Bodenreform vgl. Arnold Suppan, Jugoslawien <strong>und</strong> Österreich (Wien-München, 1996).<br />
41
<strong>Die</strong> Serben stellten den höchsten Anteil an der bosnischen Bevölkerung in der<br />
Zwischenkriegszeit. <strong>Die</strong> Bevölkerungsverteilung blieb im 1. Jugoslawien weitgehend<br />
stabil, da es keine größeren Emigrationsströme gab (s. Tabelle 4).<br />
1921 1931<br />
Orthodoxe 829.920 43,9 % 1.028.139 44,2 %<br />
Muslime 588.204 31,1 % 718.079 30,9 %<br />
Katholiken 444.308 23,5 % 547.949 23,6 %<br />
Andere 28.638 1,5 % 29.388 1,3 %<br />
Gesamt 1.890.440 100 % <strong>2.</strong>323.555 100 %<br />
Tabelle 4: Ergebnisse der Volkszählungen 1921 <strong>und</strong> 1931 122<br />
<strong>Die</strong> Parteien <strong>Bosnien</strong>s<br />
Bereits in dieser Anfangsphase Jugoslawiens entstand die JMO, die Jugoslawische<br />
Muslimische Organisation, die sich schon bald zur einzigen nennenswerten Partei der<br />
Muslime in <strong>Bosnien</strong> entwickelte. Sie wurde Anfang 1919 in Banja Luka gegründet. Der<br />
erste Präsident Ibrahim Maglajlić verschrieb sich noch ganz einem zentralistischen<br />
Jugoslawien. Schon bald übernahm der bereits erwähnte Mehmed Spaho die Führung.<br />
Im Gegensatz zu Maglajlić verlangte er eine Autonomielösung für <strong>Bosnien</strong>. Anderes als<br />
die kroatischen Bauernpartei wollte die JMO jedoch Jugoslawien als einheitlichen Staat<br />
erhalten. Dementsprechend befand sie sich meist in einer Koalition mit den serbischen<br />
Parteien. Zugleich bemühte sich die Partei um eine Vermittlung zwischen Kroaten <strong>und</strong><br />
Serben.<br />
<strong>Die</strong> führenden Politiker der JMO stammten aus der urbanen Mittelschicht, sie mußten<br />
jedoch eine äußerst heterogene Gruppe vertreten, wie auch die anderen neuen Parteien<br />
Jugoslawiens, die meist nach ethnischen Kriterien entstanden. <strong>Die</strong> JMO sah sich nicht<br />
als nationale Partei, obwohl sie nur Muslime vertrat. Gr<strong>und</strong> hierfür war, daß sich die<br />
muslimische Bevölkerung vor dem zweite Weltkrieg entweder als Serben, Kroaten oder<br />
Jugoslawen identifizierten. Eine muslimische Nation, wie sie in <strong>Bosnien</strong> unter Tito<br />
entstand, gab es damals noch nicht. Ivo Banac gibt hierfür sehr klare Beispiele: Von den<br />
24 Abgeordneten der JMO 1920 bezeichneten sich 15 als Kroaten, 2 als Serben, 5 gaben<br />
keine Nation an <strong>und</strong> nur einer sah sich als Bosnier. Auch Mehmed Spaho erklärte sich in<br />
seiner Jugend als Serbe, später verweigerte er eine Festlegung <strong>und</strong> bezeichnete sich<br />
Jugoslawe. Sein Bruder, der zwischen 1938 <strong>und</strong> 1942 auch Reis ul-ulema war, sah sich<br />
selber als Kroate, während sich der dritte Bruder als Serbe registrieren ließ. 123<br />
Der wichtigste kroatische Politiker <strong>Bosnien</strong>s, Josip Sunarić, folgte der Linie der<br />
kroatischen Bauernpartei von Stjepan Radić. Im Kern der Partei <strong>und</strong> der politischen<br />
Arbeit von Radić stand die Durchsetzung von größerer Autonomie für Kroatien. Irvine<br />
Gill teilt die <strong>Entwicklung</strong> der Bauernpartei bis zur Ausrufung der Königsdiktatur in drei<br />
Phasen. In der ersten Phase bis 1925 wies sie die neue politische Ordnung zurück, in der<br />
zweiten Phase 1925-26 bildete sie den Koalitionspartner der Radikalen Partei, während<br />
122<br />
123<br />
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.<br />
Banac, The National Question in Yugoslavia, 371, 375; Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina,<br />
122-125; Malcolm, Bosnia, 163.<br />
42
sie in der 3. Phase erneut eine Oppositionspartei wurde, die jedoch den Staat<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich akzeptierte. 124<br />
<strong>Die</strong> Bauernpartei <strong>des</strong> kroatischen Volkes, die von Anton <strong>und</strong> Stjepan Radić 1903<br />
gegründet worden war, strebte ursprünglich eine Donauföderation an. Vor <strong>und</strong> während<br />
<strong>des</strong> Krieges trat die Bauernpartei für einen kroatischen Staat innerhalb Österreich-<br />
Ungarns ein (möglichst als dritter Teil <strong>des</strong> Staates). <strong>Die</strong>ses Ziel wurden durch das Ende<br />
der Monarchie 1918 unmöglich. Radić stand einer Union mit Serbien <strong>und</strong> Montenegro<br />
skeptisch gegenüber <strong>und</strong> erkannte die Monarchie nicht für Kroatien an. Vor der ersten<br />
Wahl 1920 spielte die Partei von Radić noch keine große Rolle. Erst nach den ersten<br />
Wahlen unter allgemeinem Wahlrecht in Kroatien <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong> wurde die Gefolgschaft<br />
der Partei unter den Bauern deutlich. 125<br />
<strong>Die</strong> kroatische Parteien versuchten die muslimische Bevölkerung anzusprechen <strong>und</strong><br />
strebten eine Einbeziehung <strong>Bosnien</strong>s in ein autonomes Kroatien an. Bis zum Ende <strong>des</strong> 1.<br />
Jugoslawiens gelang es den kroatischen Parteien nicht, Muslime in größerem Umfang<br />
zu integrieren.<br />
<strong>Die</strong> serbische Parteien bemühten sich kaum um die Muslime, die aufgr<strong>und</strong> der Kriege<br />
mit dem Osmanischen Reich <strong>und</strong> der Mythologisierung der Schlacht auf dem Kosovo<br />
Polje 1389 als potentielle Feinde gesehen wurden. Da die Serben in Jugoslawien die<br />
größte einzelne Nation bildeten, waren sie weniger als die Kroaten gezwungen andere<br />
Nationen einzubinden. <strong>Die</strong> serbischen Einwohner <strong>Bosnien</strong>s unterstützten neben der<br />
Radikalen Partei <strong>und</strong> der Demokratischen Partei die Serbische Bauernpartei, die sich für<br />
eine Landreform <strong>und</strong> die Belange der Bauern einsetzte. 126<br />
Von den ersten Wahlen bis zur Krise der Demokratie<br />
Am 20. November 1920 fanden die ersten relativ freien Wahlen zur<br />
Verfassungsversammlung statt. Neben der JMO traten noch andere muslimische<br />
Parteien zur Wahl in <strong>Bosnien</strong> an, diese erhielten jedoch weniger als 2 Prozent aller<br />
Stimmen <strong>und</strong> gingen bald in der JMO auf oder versanken in der politischen<br />
Bedeutungslosigkeit. <strong>Die</strong> JMO erhielt 6,9 Prozent in Gesamtjugoslawien, was 33,5<br />
Prozent der Stimmen in <strong>Bosnien</strong> entspricht. Somit wählte fast die gesamte muslimische<br />
Bevölkerung die Jugoslawische Muslimische Organisation. In etlichen Gemeinden<br />
erhielt die JMO mehr Stimmen, als sich Einwohner als Muslime deklariert hatten. 127<br />
Bei der serbischen Bevölkerung waren mehrere Parteien erfolgreich: So erhielten die<br />
Demokratische Partei (DS), die Radikale Partei (NRS) <strong>und</strong> die Bauernpartei die meisten<br />
Stimmen der serbischen Bevölkerung. <strong>Die</strong> in Kroatien starke „Kroatische Bauernpartei“<br />
trat bei den ersten Wahlen noch nicht in <strong>Bosnien</strong> an. <strong>Die</strong> eher lockere Gruppierung <strong>des</strong><br />
Nationalen Klubs <strong>und</strong> die „Kroatische Volkspartei“ (HPS) lagen 1920 in der Gunst der<br />
kroatischen Bosnier vorn. Lediglich die Kommunistische Partei (KPJ), die nur wenige<br />
Jahre später verboten wurde, konnte als multinationale Partei einen nennenswerten<br />
Stimmenanteil in <strong>Bosnien</strong> erzielen. Wobei die KP genauso wie anderen zumin<strong>des</strong>t<br />
124<br />
125<br />
126<br />
127<br />
Jill A. Irvine, The Croat Question (Boulder, Col. 1993) 40.<br />
Banac, The National Question in Yugoslavia, 226-229.<br />
Ebd., 189-192, 372 f.<br />
Muslime als religiöses <strong>und</strong> nicht nationales Bekenntnis, Ebd., 389, 370.<br />
43
teilweise multinationale Parteien (Sozialdemokraten <strong>und</strong> Bauernpartei) kaum<br />
muslimische Kandidaten für <strong>Bosnien</strong> aufstellten. 128<br />
DS NRS Nationalklub KPJ SLS/HSP 129 JMO Bauernpartei<br />
Serbisch Serbisch Kroatisch Jugoslawisch Kroatisch Muslimisch Serbisch<br />
5,59 % 17,96 % 11,6 % 5,46 % 6,28 % 33,5 % 16,65 %<br />
Tabelle 5: Ergebnis der Wahlen am 28.11.1920 in <strong>Bosnien</strong> in Prozent 130<br />
Wie deutlich die Parteienwahl <strong>und</strong> die nationale Zugehörigkeit zusammenhängen, läßt<br />
sich in Tabelle 6 erkennen. Hier werden die jeweiligen Parteien nach ihrer nationalen<br />
Orientierung zusammengefaßt <strong>und</strong> mit der Volkszählung von 1921 verglichen. Dabei<br />
fällt die große Übereinstimmung zwischen Wahlverhalten <strong>und</strong> nationaler Identität auf.<br />
Bevölkerungszählung 1921 Wahlergebnis 1920<br />
Muslimisch 31.1 % 33.5 %<br />
Serbisch (bzw. orthodox) 43.7 % 40.2 %<br />
Kroatisch (bzw. katholisch) 21.3 % 17. 88 %<br />
Jugoslawisch - 5.46 %<br />
Tabelle 6: Vergleich der Wahlergebnisse 1920 mit der Volkszählung (nach Religionszugehörigkeit)<br />
1921 131<br />
Im folgenden Jahr wurde die zentralistische Vidovdan Verfassung in Belgrad auf<br />
Vorschlag von Premierminister Pašić verabschiedet. Alle Abgeordnete der JMO<br />
stimmten für diese neue Verfassung <strong>und</strong> gewannen als Gegenleistung die territoriale<br />
Integrität <strong>Bosnien</strong>s. Das Land blieb nicht als einheitliche Provinz erhalten, da<br />
Jugoslawien in kleinere Bezirke (Oblast) aufgeteilt wurde. <strong>Die</strong> 6 Bezirke <strong>Bosnien</strong>s<br />
stimmten jedoch mit den Grenzen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> unter österreichisch-ungarischer<br />
Verwaltung überein. <strong>Die</strong> Verabschiedung der neuen Verfassung wurde durch die<br />
Mehrheit der kroatischen Abgeordneten unter der Führung der kroatischen Bauernpartei<br />
boykottiert, so daß der Verfassung von Anfang an die nötige Legitimität fehlte. Nur die<br />
Stimmen der JMO ermöglichten die Verabscheidung der Vidovan Verfassung. Auch<br />
später tat sich die JMO als wichtiger Partner in serbisch-zentralistischen Regierungen<br />
hervor.<br />
Der muslimischen Partei gelang es auch eine Abschwächung der Landreform zu<br />
erwirken. Das Dekret <strong>des</strong> Königs Alexander vom 25. Februar 1919 bedurfte 12 Jahre,<br />
bis es umgesetzt wurde. Es sah die Abschaffung der Kmetentums, die Aufteilung von<br />
Großgr<strong>und</strong>besitz <strong>und</strong> die Entschädigung der vormaligen Eigentümer vor. Insgesamt<br />
erhielten 150.000 Bauern Land, während die alten Eigentümer mit Geld <strong>und</strong><br />
Staatsanleihen entschädigt wurden. <strong>Die</strong> durchschnittliche Größe der neuen Felder war<br />
128<br />
129<br />
130<br />
131<br />
Ebd., 370-371, 389. Bei den Sozialdemokraten <strong>und</strong> der Bauernpartei waren weniger als 2 %<br />
Muslime, bei der KPJ immerhin fast 12 %.<br />
SLS steht für die Slowenische Volkspartei, die in Jugoslawien mit der HSP zusammen kandidierte.<br />
In <strong>Bosnien</strong> kann man das Ergebnis jedoch als Stimmen für die kroatische HSP werten, zur HSP, s.<br />
Ebd., 349-351.<br />
Ebd., 389.<br />
Ebd., 389; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.<br />
44
jedoch so klein, daß es zu keiner gr<strong>und</strong>legenden Verbesserung der Lage für Kleinbauern<br />
kam <strong>und</strong> auch die Produktivität nicht wesentlich erhöht werden konnte.<br />
<strong>Die</strong> fehlende Bereitschaft der regierenden serbischen Parteien <strong>und</strong> der Verwaltung, der<br />
kroatischen Bevölkerung durch Kompromisse entgegenzukommen, leitete den Beginn<br />
der großen Differenzen zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben ein. <strong>Die</strong>ser Konflikt verhinderte<br />
eine demokratische <strong>Entwicklung</strong> <strong>und</strong> führte 1929 zur Königsdiktatur. Im Juni 1928 kam<br />
es zu einer besonders hitzigen Sitzung im Parlament, bei der ein Abgeordneter der<br />
Radikalen Partei Stejpan Radić erschoß, woraufhin die Regierung aufgelöst wurde. Ein<br />
neues national „neutrales“ Kabinett unter dem Slowenen Korošec sollte die<br />
Unterstützung der Bauernpartei sicherstellen. <strong>Die</strong>ser politische Lösungsversuch schlug<br />
jedoch fehl. Sie boykottierte nach dem Zwischenfall das Parlament. Da somit das<br />
Parlament beschlußunfähig wurde, nützte König Alexander die Gelegenheit, um im<br />
Januar 1929 die Königsdiktatur auszurufen. Das Parlament wurde aufgelöst <strong>und</strong><br />
politischen Parteien wurden verboten. Mit dem Tod Radić's endete die erste<br />
demokratische Phase Jugoslawiens. 132<br />
<strong>Die</strong> Zeit nach dem 1. Weltkrieg hat neben einer neuen politischen Landschaft in<br />
<strong>Bosnien</strong> auch eine soziale Liberalisierung mit sich gebracht. Insbesondere unter den<br />
Muslimen kam es zu einer Modernisierung. So führte der religiöse Führer der Muslime,<br />
Reis ul-ulema Caušević, nachdem er bei einem Besuch der Türkei durch die Reformen<br />
Atatürks inspiriert wurde, eine Öffnung der muslimischen Gesellschaft ein. Frauen<br />
durften arbeiten <strong>und</strong> ihre Verschleierung wurde abgeschafft. Männer sollten nach<br />
türkischem Vorbild den Fez durch einen Hut ersetzen. 133<br />
<strong>Die</strong> Königsdiktatur<br />
Der Versuch König Alexanders, Jugoslawien, nunmehr der offizielle Name <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>,<br />
durch die Diktatur größere Stabilität zu verleihen, gelang nur in begrenzt. <strong>Die</strong><br />
allgemeinen politischen Aktivitäten wurden zwar vorerst eingedämmt, doch die<br />
Spannungen zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben innerhalb von Jugoslawien konnte er nicht<br />
lösen. Er teilte das Land in 9 Banschaften (Banovine) ein. Vier dieser Banovine<br />
verliefen durch <strong>Bosnien</strong>: Drina, Zeta, Primorska <strong>und</strong> Vrbas. Drina umfaßte<br />
Nordostbosnien mit dem Verwaltungszentrum Sarajevo, Zeta die Herzegowina <strong>und</strong><br />
Südostbosnien mit Cetinje (Montenegro) als Zentrum. In der Banovina Primorska lag<br />
das bosnische Hinterland der kroatische Küste mit Split als Sitz der Administration. Zu<br />
Vrbas gehörte Nordwestbosnien, mit Banja Luka als Verwaltungszentrum. <strong>Die</strong>se<br />
Maßnahmen bewirkten, daß die Muslime in keinem Verwaltungsbezirk die Mehrheit<br />
besaßen. <strong>Die</strong>se Gebiete wurden von einem Ban verwaltet, der vom König eingesetzt<br />
wurde. 134 Doch nicht nur auf der Ebene der Banovine hatte die Königsdiktatur<br />
Auswirkungen. Viele muslimische Bürgermeister wurden durch Serben ersetzt, die<br />
direkt vom König ernannt wurden. Trotz dieser Verwaltungsreform, stand die JMO der<br />
Königsdiktatur nicht gr<strong>und</strong>sätzlich ablehnend gegenüber. Sie stellte sich allerdings<br />
gegen die Aufteilung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in Banovine. Nur ein Jahr später ordnete König<br />
Alexander per Dekret an, daß alle Muslime Jugoslawiens einen gemeinsamen Reis ululema<br />
erhalten sollen. Sein Sitz war Belgrad, was den zentralistischen Anspruch<br />
132<br />
133<br />
134<br />
Holm S<strong>und</strong>haussen, Geschichte Jugoslawiens, 1918-1980 (Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982) 50-<br />
7<strong>2.</strong><br />
Malcolm, Bosnia, 167.<br />
Law altering the appellation and administrative divisions of the Kingdom of the Serbs, Croats and<br />
Slovenes, Belgrade <strong>2.</strong>10.1929, in: Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 195 f.<br />
45
untermauerte. Daraufhin trat der bosnische Ulema Caušević zurück. Er wurde durch den<br />
proserbischen ersten Präsidenten der JMO Malajlić ersetzt. 135<br />
In der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre kam es zu einer vorsichtigen<br />
Redemokratisierung. Nach einer neuen Verfassung von 1931 entstand 1932 eine<br />
„neutrale“ Regierungspartei, die weitgehend der vormaligen Radikalen Partei entsprach<br />
<strong>und</strong> weiterhin die bosnische <strong>und</strong> kroatischen Kräfte ausschloß. Nach der Ermordung von<br />
König Alexander im Jahre 1934 durch einen mazedonischen Attentäter, der im Auftrag<br />
der kroatischen Ustaša-Bewegung agierte, kam es zu einer Entspannung der politischen<br />
Lage in Jugoslawien unter der Regentschaft von Prinz Paul. Ein Jahr später fanden<br />
Wahlen statt, die zwar manipuliert wurden, jedoch gewisse Freiheiten zuließen. In Folge<br />
wurde die JMO erneut an der Regierung beteiligt. 136<br />
Der Kroatisch-Serbische Ausgleich<br />
Ende der Dreißiger Jahre kam es zu einer Annäherung von Kroaten <strong>und</strong> Serben. Daraus<br />
ging die Regierung Cvetković-Maček hervor. Maček vertrat als Nachfolger Radić's in<br />
der Bauernpartei die kroatischen Interessen. Im Rahmen dieser Annäherung entstand<br />
1939 der Ausgleich (Sporazum), der Kroatien als einheitliches Banovina herstellte.<br />
<strong>Die</strong>ses Banovina umfaßte nicht nur die Sava-Banovina (Kroatien <strong>und</strong> Slawonien),<br />
sondern auch Primorska. Damit fielen große Teile <strong>des</strong> historischen <strong>Bosnien</strong>s an das<br />
kroatische Banovina. So kam Nordbosnien um Brčko <strong>und</strong> die Herzegowina, sowie<br />
Südbosnien an Kroatien. 137 <strong>Die</strong> beiden verbleibenden Banovine mit bosnischen<br />
Gebieten gelangten infolge <strong>des</strong> Sporazums verstärkt unter serbische Kontrolle.<br />
Mit dem Sporazum muß die Bauernpartei aber auch erstmals Regierungsverantwortung<br />
in umfangreichem Ausmaß übernehmen. Ab August 1939, weniger als eine Woche vor<br />
Beginn <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkrieges, erhielt Kroatien die Oberhoheit über Handel, Landwirtschaft,<br />
Industrie, Forstwirtschaft, Bauwesen, Bergbau, Soziale Fragen, Ges<strong>und</strong>heit, Justiz,<br />
Sporterziehung <strong>und</strong> innere Verwaltung. Zwei Jahre später, kurz vor Kriegsausbruch in<br />
Jugoslawien, erhält es auch die Kontrolle über die Gendarmerie. Im Lauf der Jahre hatte<br />
die Bauernpartei viele Oppositionsinstitutionen aufgebaut, die nun legalisiert <strong>und</strong> der<br />
Banovina angegliedert wurden. Am wichtigsten war hierbei der paramilitärische<br />
Verband der Partei. <strong>Die</strong>ser Erfolg der Bauernpartei führte zu Problemen, da sie ihre<br />
wichtigstes Programmziel erreicht hatte <strong>und</strong> nun innerparteiliche Differenzen über das<br />
weitere Vorgehen sichtbar wurden. 138<br />
Im Juni <strong>des</strong> selben Jahres starb Mehmed Spaho, der trotz seiner mehrmaligen<br />
Regierungsbeteiligung eine Aufteilung <strong>Bosnien</strong>s auf Kosten der Muslime nicht<br />
verhindern konnte. Sein Nachfolger Džafer Kulenović forderte, der Linie von Spaho<br />
folgend, eine eigene bosnische Banovina. 139<br />
In dieser Zeit wurde die Kommunistische Partei <strong>und</strong> die Ustaše aktiv. <strong>Die</strong> Ustaše<br />
nahmen bis kurz vor dem zweiten Weltkrieg eine marginale Rolle in der politischen<br />
135<br />
136<br />
137<br />
138<br />
139<br />
Malcolm, Bosnia, 170 f.<br />
S<strong>und</strong>haussen, Geschichte Jugoslawiens, 77-83.<br />
Interessant ist hierbei, daß sich ein Großteil der bosnischen Gebiete <strong>des</strong> Banovina<br />
Primorska/Kroatien mit den Anprüchen der kroatischen Bosnier <strong>und</strong> ihrer Republik Herceg-Bosna<br />
1993-94 deckt.<br />
Rudolf Kiszling, <strong>Die</strong> Kroaten. Der Schicksalsweg eines Südslawenvolkes (Graz/Köln 1956) 160-<br />
16<strong>2.</strong><br />
Malcolm, Bosnia, 172 f.<br />
46
Landschaft Kroatiens ein. Der Anführer Ante Pavelić war vorher Führer der Partei <strong>des</strong><br />
kroatischen Rechts <strong>und</strong> lehnte Jugoslawien vollkommen ab. Er ging 1929 ins<br />
italienische Exil <strong>und</strong> organisierte von dort aus Militärlager. 1932 gründete er offiziell<br />
die Ustaše - Kroatische Revolutionäre Organisation. Nach seiner Vorstellung sollte<br />
Kroatien neben den Gebieten der Banovina auch ganz <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina umfassen<br />
<strong>und</strong> politische Rechte nur Kroaten gewähren. Gleichzeitig mit der Ermordung von<br />
König Alexander organisierte er 1934 einen erfolglosen Aufstand in seiner<br />
Heimatregion Lika. <strong>Die</strong> Kampfverbände der Bauernpartei wurden von den Ustaše<br />
infiltriert <strong>und</strong> konnte <strong>des</strong>halb nicht gegen sie eingesetzt werden. Obwohl 1940 etliche<br />
Ustaše-Führer verhaftet wurden, konnte die Organisation weiter in Kroatien agieren.<br />
Auch die serbischen Oppositionsparteien versuchten nun, das Sporazum zu zerstören<br />
<strong>und</strong> forderten eine Neuverhandlung. Sie beanspruchten ganz <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina für<br />
Serbien. 140<br />
Am 25. März 1941 schloß die jugoslawische Regierung einen Bündnisvertrag mit<br />
Deutschland, der auf deutschen Druck hin zustande kam. Nur zwei Tage später kam es<br />
zu einem Putsch durch General Dušan Simović. <strong>Die</strong>ser Machtwechsel wurde von den<br />
meisten politischen Kräften begrüßt <strong>und</strong> die meisten Minister blieben im Amt. 141 So trat<br />
die kroatische Bauernpartei der neuen Regierung bei <strong>und</strong> auch die Muslime <strong>Bosnien</strong>s<br />
unterstützen einen Kurswechsel gegenüber Deutschland. Doch mit der Bombardierung<br />
Belgrads durch die deutsche Luftwaffe am 6. April 1941 <strong>und</strong> der folgenden Invasion<br />
endete diese Regierung <strong>und</strong> das erste Jugoslawien. Der königliche Generalstab floh<br />
zuerst nach Pale <strong>und</strong> Sarajevo <strong>und</strong> dann über Montenegro nach London. 142<br />
Trotz <strong>des</strong> Bestehens Jugoslawien unternahm niemand in der Zwischenkriegszeit den<br />
ernsthaften Versuch ein jugoslawisches Nationalgefühl aufzubauen. Obwohl dies den<br />
Erfolg <strong>des</strong> Staates stark behinderte, gab es vor dem zweiten Weltkrieg zumin<strong>des</strong>t nie<br />
eine wirkliche Gefahr, daß Jugoslawien zerbricht. Ivo Lederer führt dies darauf zurück,<br />
daß Jugoslawien von revanchistischen Staaten umgeben war, 143 die teilweise aggressiv<br />
territoriale Ansprüche stellten. <strong>Die</strong>ses Umfeld brachte sogar die Bauernpartei dazu, trotz<br />
ihrer ursprünglichen Ablehnung <strong>des</strong> Staates, diesen nicht mit allen Mitteln (oder mit<br />
Hilfe äußerer Unterstützung, z.B. <strong>des</strong> faschistischen Italiens) zu bekämpfen. 144<br />
Es ist jedenfalls den politischen Eliten in der Zwischenkriegszeit nicht gelungen, einen<br />
Staat aufzubauen, der von einem allgemeinen Konsens getragen wurde. <strong>Die</strong> fehlende<br />
Kompromißbereitschaft hatte schon während <strong>des</strong> Bestehens von Jugoslawien die<br />
Extreme gestärkt <strong>und</strong> die interne Stabilität zerstört. Hierin liegt auch die Erklärung für<br />
die schwache Verteidigung der jugoslawischen Armee 1941 <strong>und</strong> den nachfolgenden<br />
blutigen Bürgerkrieg. 145<br />
<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina im <strong>2.</strong> Weltkrieg<br />
Ähnlich wie auch andere Kriege <strong>und</strong> Bürgerkriege in multinationalen Staaten finden<br />
sich im Rahmen der Einbeziehung Jugoslawiens in den <strong>2.</strong> Weltkrieg mehrere parallele<br />
140<br />
141<br />
142<br />
143<br />
144<br />
145<br />
Irvine, The Croat Question, 47-53.<br />
Babara Jelavich, History of the Balkan, Bd. 2: Twentieth Century (Cambridge 1983) 236.<br />
Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 133-135.<br />
Er nennt Italien, Ungarn, Bulgarien <strong>und</strong> das italienisch dominierte Albanien. Man könnte in<br />
mancherlei Hinsicht auch Österreich hinzufügen.<br />
Lederer, Nationalism and the Yugoslavs, 432 f.<br />
Irvine, The Croat Question, 54-56.<br />
47
Konflikte. So unterscheidet Noel Malcolm fünf sich überlagerende Kriege in der Zeit<br />
zwischen 1941 <strong>und</strong> 1945. Der erste Krieg wurde von Deutschland <strong>und</strong> Italien gegen<br />
Jugoslawien geführt. Auf einer zweiten Ebene kämpften die Achsenmächte gegen die<br />
Alliierten. Im dritten Krieg standen Italien <strong>und</strong> Deutschland den Widerstandsgruppen in<br />
Jugoslawien gegenüber. Malcolm unterscheidet zwei weitere Bürgerkriege: Der Kampf<br />
der Ustaše gegen die serbische Bevölkerung <strong>und</strong> schließlich die Auseinandersetzungen<br />
zwischen den Partisanen <strong>und</strong> den Četnici. 146 <strong>Die</strong>ser Liste ließ sich noch der Krieg<br />
zwischen den Partisanen <strong>und</strong> den Ustaše hinzufügen.<br />
Noch vor Ende <strong>des</strong> Angriffskrieges Deutschlands gegen Jugoslawien wurde am 10.<br />
April der „Unabhängige Staat Kroatien“ (NDH) ausgerufen. Zu ihm gehörte ganz<br />
<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> Srem bis an den Zusammenfluß von Sava <strong>und</strong> Donau bei<br />
Belgrad. Einige dalmatinische Küstenstreifen fielen nicht an Kroatien, sondern an<br />
Italien. <strong>Die</strong>ser Staat war jedoch nicht unabhängig, wie es der Name versucht zu<br />
suggerieren, sondern stand unter deutschem <strong>und</strong> italienischem Einfluß. Er war in zwei<br />
Okkupationszonen geteilt. <strong>Die</strong> Gebiete entlang <strong>des</strong> Mittelmeers <strong>und</strong> das Hinterland<br />
kamen unter italienische Militärverwaltung, während der Rest von der deutschen Armee<br />
besetzt wurde. In zwölf Provinzen finden sich Teile <strong>Bosnien</strong>s, wobei in sieben das<br />
Zentrum dieser Provinzen in <strong>Bosnien</strong> selber liegt, während sich in den anderen fünf das<br />
Zentrum außerhalb <strong>Bosnien</strong>s befand. 147<br />
<strong>Die</strong> Ustaša Regierung, die eingesetzt wurde, besaß kaum eine breite Unterstützung in<br />
Kroatien oder <strong>Bosnien</strong>. Sie agierte zuvor in erster Linie aus dem Ausland. Nach<br />
Angaben von Noel Malcolm hatte sie nur 1<strong>2.</strong>000 Mitglieder in Kroatien. <strong>Die</strong> scheinbare<br />
Verwirklichung der weitverbreiteten Forderung nach einem unabhängigen kroatischen<br />
Staat, das in der Zwischenkriegszeit unter anderem von der kroatischen Bauernpartei<br />
gefordert wurde, brachte der Ustaša-Partei eine gewisse Unterstützung zu Beginn <strong>des</strong><br />
NDH. <strong>Die</strong> kroatische Bauernpartei lehnte jedoch eine Zusammenarbeit mit den<br />
Achsenmächten ab, so daß Maček auch das Angebot den NDH zu führen abschlug. 148<br />
Das Regime ging außerordentlich gewalttätig gegen die Zivilbevölkerung vor. Neben<br />
der Judenverfolgung, konzentrierten sich die Progrome auf die 1,9 Millionen Serben,<br />
fast ein Drittel der insgesamt 6,3 Millionen Einwohner. Hierbei kam es neben<br />
Vertreibungen <strong>und</strong> erzwungenen Konvertierungen auch zum Massenmord. So war es<br />
das Ziel von Ante Pavelić, dem Poglavnik (Führer) <strong>des</strong> NDH, ein Drittel aller Serben zu<br />
vertrieben, ein Drittel zu ermordet <strong>und</strong> ein Drittel zum Katholizismus zu<br />
konvertieren. 149 Während der Erzbischof von Zagreb Stepinac die erzwungenen<br />
Übertritte ablehnte, stieß die Vorgehensweise <strong>des</strong> Regimes auf die Unterstützung vom<br />
Erzbischof Šarić von Sarajevo. Insbesondere die Franziskaner beteiligten sich aktiv an<br />
der Politik der Ustaše. Viele von ihnen wurden in Italien in der Nähe <strong>des</strong> Hauptquartiers<br />
der Ustaše ausgebildet <strong>und</strong> noch vor dem Krieg rekrutiert. Kritische Geistliche <strong>und</strong><br />
Intellektuelle lehnten die Zusammenarbeit ab <strong>und</strong> gerieten nach dem Krieg oft in<br />
146<br />
147<br />
148<br />
149<br />
Malcolm, Bosnia, 174.<br />
Ivo Banac, Bosnian Muslims: From Religious Community to Socialist Nationhood and<br />
Postcommunist Statehood, 1918-1992, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina,<br />
Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993)<br />
141.<br />
Zur Struktur <strong>des</strong> „Unabhängigen Kroatien“ s. Holm S<strong>und</strong>haussen, Der Ustascha-Staat: Anatomie<br />
eines Herrschaftssystems, in: Österreichische Osthefte, Nr. 2/95, Jhrg. 37, 497-533.<br />
Malcolm, Bosnia, 174 f.<br />
48
Konflikt mit der kommunistischen Partei (vgl. Kapitel 3.4.1). 150 Insgesamt wurden über<br />
200.000 Serben konvertiert <strong>und</strong> 100.000 Serben ermordet. Symbol dieser Verfolgungen<br />
wurde das Lager Jasenovac in Westslawonien, in dem die meisten Serben im Krieg<br />
ermordet wurden. 151<br />
Der Terror ging so weit, daß sich bereits im Juli 1941 deutsche Armeeangehörige über<br />
die Brutalität beschwerten. <strong>Die</strong> Ustaše bemühten sich um die Unterstützung der<br />
Muslime. Der JMO-Vorsitzende Džafer Kulenović wurde im November 1941 zum<br />
kroatischen Vizepräsident. Auch zeigte sich Pavelić bei dem 1. Jahrestag der Ausrufung<br />
<strong>des</strong> „unabhängigen Kroatiens“ mit einem Fez <strong>und</strong> bezeichnete die Muslime als die<br />
„Reinsten aller Kroaten“. 152 <strong>Die</strong> Ustaše räumten jedoch den Muslimen trotz derartiger<br />
Deklarationen keine wirklichen Rechte ein. <strong>Die</strong> Rechte der Muslime verbesserten sich<br />
im Vergleich zum Vorkriegsjugoslawien kaum. Dagegen wurde der Druck auf die<br />
muslimische Bevölkerung durch die Četnici 153 größer. Da das kroatische Regime keine<br />
Sicherheit herstellen konnte, unterstützten die Muslime zunehmend die Partisanen. <strong>Die</strong><br />
Übergriffe der Četnici <strong>und</strong> die fehlende Repräsentation von Muslime in der<br />
jugoslawischen Exilregierung verhinderten eine Kooperation zwischen muslimischen<br />
Politikern <strong>und</strong> der serbischen Exilregierung. Es gab dementsprechend kaum Muslime,<br />
die sich serbischen Freischärlern anschlossen. Unter der muslimischen Bevölkerung<br />
bestanden Bemühungen, über den NDH-Staat hinweg mit den deutschen<br />
Besatzungstruppen ein Bündnis zu schließen. <strong>Die</strong>s mißlang <strong>und</strong> führte lediglich 1943 zu<br />
einer SS-Einheit (Handžar) aus bosnischen Muslimen. Der deutsch-fre<strong>und</strong>liche<br />
Großmufti von Jerusalem ermutigte die bosnischen Muslime, sich im Kampf gegen die<br />
Kolonialmächte den Deutschen anzuschließen. 154<br />
Neben kleineren, lokal begrenzten Aufständen gegen das Regime bauten zwei Gruppen<br />
ein weites Widerstandsnetz gegen das Ustaša-Regime auf: <strong>Die</strong> Četnici <strong>und</strong> die<br />
Partisanen der kommunistischen Partei. Zu Beginn <strong>des</strong> Krieges war der Erfolg der<br />
großserbisch-orientierten Četnici noch größer, unter anderem auch aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
internationalen Anerkennung. Sie wurden von einem serbischen Offizier der<br />
jugoslawischen Armee angeführt. Draža Mihailović erhielt die Rückendeckung der<br />
königlichen Regierung im Exil, die ihn zum General <strong>und</strong> 1942 schließlich zum<br />
Kriegsminister ernannte. <strong>Die</strong> Exilregierung sicherte den Četnici die Unterstützung durch<br />
die Alliierten. <strong>Die</strong>se relativ dezentrale Widerstandsgruppe setzte sich ursprünglich für<br />
eine Wiederherstellung <strong>des</strong> Vorkriegsjugoslawiens zum Ziel. Auch wenn dies offiziell<br />
angestrebt wurde, stand die Schaffung Großserbiens im Zentrum der Bemühungen der<br />
Četnici. Es sollte neben Serbien auch Montenegro, <strong>Bosnien</strong>, Slawonien, Dalmatien, <strong>und</strong><br />
150<br />
151<br />
152<br />
153<br />
154<br />
Fred Singleton, A Short History of the Yugoslav Peoples (Cambridge 1985) 179-181.<br />
Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 141 f. Bis heute bestehen keine gesicherten Zahlen über die<br />
serbischen Kriegsopfer. Serbische Historiker setzen die Zahl oftmals zu hoch bei über einer Million<br />
an (z.B. Vladimir Dedijer, Jasenovac - das jugoslawische Auschwitz <strong>und</strong> der Vatikan (Freiburg<br />
1988)). Kroatische Historiker (z.B. Franjo Tudjman, Nationalism in Contemporary Europe (New<br />
York 1981) 162-164) versuchen die Zahl nach unten zu korrigieren <strong>und</strong> schätzen weniger als<br />
100.000 serbische Opfer <strong>des</strong> NDH.<br />
Malcolm, Bosnia, 175 f.; Friedman, The Bosnian Muslims, 12<strong>2.</strong><br />
<strong>Die</strong> Četnici beziehen ihren Namen von anti-osmanischen Einheiten in Serbien zur Zeit der<br />
Herrschaft der Hohen Pforte. s. Castellan, Histoire <strong>des</strong> Balkans, 306 f.<br />
Malcolm, Bosnia, 189.<br />
49
sogar Teile Nordalbaniens umfassen, <strong>des</strong>sen nicht-serbische Bevölkerung, vergleichbar<br />
mit der Politik der Ustaše, entweder ermordet oder vertrieben werden sollte. 155<br />
<strong>Die</strong> Četnici folgten einer anderen Taktik als die siegreichen Partisanen. Sie bekämpften<br />
lediglich zu Anfang <strong>des</strong> Krieges, bis Ende 1941, offen die deutsche Besatzung. Im<br />
weiteren Kriegsverlauf folgten sie der Linie der Exilregierung, die einen Beginn <strong>des</strong><br />
Widerstan<strong>des</strong> gleichzeitig mit der alliierten Invasion anstrebte. Zugleich versuchten sie<br />
möglichst wenig in Konflikt mit den Besatzungsmächten zu kommen, um schwere<br />
Repressalien der deutschen Besatzer gegen die serbische Zivilbevölkerung zu<br />
verhindern <strong>und</strong> bereiteten statt<strong>des</strong>sen die erwartete Fronteröffnung durch die westlichen<br />
Alliierten auf dem Balkan vor. <strong>Die</strong>s war eine Reaktion auf die deutsche Anweisung für<br />
jeden durch den Widerstand getöteten Soldaten 100 Serben zu ermorden.<br />
Insbesondere kroatische <strong>und</strong> muslimische Zivilisten wurden zu Opfern der Četnici. <strong>Die</strong><br />
Muslime wurden von den Četnici eng mit dem alten Feindbild der Türken identifiziert.<br />
<strong>Die</strong>se Zurückhaltung gegenüber den Besatzern bewirkte jedoch, daß die<br />
Hauptaktivitäten sich auf die Partisanen oder auf die Zivilbevölkerung konzentrierte.<br />
<strong>Die</strong>se Linie brachte den Četnici die Kritik ein, durch ihre Politik den Besatzern sowohl<br />
indirekt, wie auch direkt geholfen zu haben. Tatsächlich griffen die Četnici später die<br />
Partisanen verstärkt an <strong>und</strong> machten die Zivilbevölkerung anderer Nationen zu den<br />
Hauptopfern ihrer Übergriffe. 156<br />
Im Zentrum der zweiten Widerstandsgruppe stand die kommunistische Partei. Sie war in<br />
der Zwischenkriegszeit sehr klein <strong>und</strong> wurde schon bald nach den ersten Wahlen 1920<br />
verboten. 1940 hatte sie lediglich 6.000 Mitglieder in ganz Jugoslawien. In <strong>Bosnien</strong><br />
besaß die KP ein Jahr zuvor nur 170 Mitglieder. Zeitweilige Allianzen mit den Četnici<br />
blieben von kurzer Dauer, da sich eine der beiden Gruppen besser mit dem<br />
gemeinsamen Feind arrangieren konnte, als mit der anderen Widerstandsgruppe.<br />
Während die Četnici in erster Linie in Serbien, Montenegro <strong>und</strong> in der Herzegowina<br />
ihre Basis hatten, etablierten sich die kommunistischen Partisanen in <strong>Bosnien</strong>.<br />
Der Parteivorsitzende (seit 1937) Josip Broz Tito wollte, im Gegensatz zu den Četnici,<br />
nicht den Vorkriegszustand wiederherstellen oder eine Nation bevorteilen, sondern ein<br />
sozialistisches Jugoslawien erschaffen. 157 Bereits 1935 schlug die KP eine<br />
Föderalisierung Jugoslawiens vor, während sie zuvor eine Zerschlagung <strong>des</strong><br />
„imperialistischen Gebilde“ Jugoslawien propagierte. <strong>Die</strong> Föderalisierung sollte mit<br />
einer Zentralisierung auf der politischen Ebene einhergehen <strong>und</strong> konnte somit kaum<br />
einen wirklich föderalen Staat hervorbringen, nach sowjetischem Vorbild. <strong>Die</strong><br />
Föderalisierung spiegelt sich auch im Motto der Partisanen wieder: Bratstvo i jedinstvo<br />
(Brüderlichkeit <strong>und</strong> Einigkeit). Gerade dieses Konzept zog viele Nichtkommunisten an.<br />
So gab es Religionsvertreter in den Einheiten der Partisanen, Nichtkommunisten hielten<br />
Posten bei den Partisanen <strong>und</strong> innerhalb der provisorischen Regierung inne. Allerdings<br />
sorgte die KP dafür, daß sie keine wirkliche Macht abzugeben hatte. So wurde im<br />
Herbst 1942 in Bihać der antifaschistische Rat zur Volksbefreiung Jugoslawiens<br />
(AVNOJ) gegründet, dem neben Kommunisten auch prominente Vertreter der<br />
Vorkriegsparteien angehörten. In Jajce wurde ein Jahr später Tito zum Präsidenten <strong>des</strong><br />
155<br />
156<br />
157<br />
Josef Manoschek, „Serbien ist judenfrei“ Militärische Besatzungspolitik <strong>und</strong> Judenvernichtung in<br />
Serbien 1941/1942 (=Beiträge zur Militärgeschichte 38, München 1993) 114-121.<br />
Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 143 f.<br />
In der Zwischenkriegszeit lehnte die KP auf Weisung Moskaus sogar zeitweise Jugoslawien<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich ab <strong>und</strong> forderte eine staatliche Neuordnung <strong>des</strong> Balkans.<br />
50
nationalen Befreiungskomitees (die Exekutive <strong>des</strong> AVNOJ) gewählt. <strong>Die</strong> Partisanen<br />
machten somit der Exilregierung in London die Vertretung Jugoslawiens streitig. 158<br />
Am Beginn der Partisanenkämpfe im Juli 1941 bestand die Gruppe in erster Linie aus<br />
Serben aus der Šumadija, doch schon bald wuchs die Zahl der Partisanen aus anderen<br />
Nationen stark an. Im Mai 1942 wurde die erste eigene Einheit für die Muslime<br />
geschaffen. 159 Im selben Jahr kontrollierten die Partisanen bereits ein größeres Gebiet in<br />
Nordwestbosnien. Während die italienischen Besatzung mit den Četnici teilweise<br />
zusammenarbeitete, bekämpfte die deutsche Armee sowohl die Partisanen, als auch die<br />
Četnici. 160 Der Erfolg der Partisanen <strong>und</strong> der Druck der Alliierten führte im September<br />
1944 zu einem Aufruf von König Peter, die Partisanen zu unterstützen. Bereits bei der<br />
Konferenz 1943 in Teheran beschlossen die Alliierten nur noch mit den Partisanen zu<br />
zusammenzuarbeiten, als deutlich wurde, daß die Četnici mit den Besatzern<br />
kollaborierten. 161 Zugleich brach die Herrschaft der Ustaše zusammen. Viele<br />
Angehörige <strong>des</strong>ertierten zu den Partisanen, auch der Waffenstillstand Italiens 1943<br />
begünstigte die Partisanen.<br />
<strong>Die</strong> Sympathien der bosnischen Kroaten, wie auch der Kroaten in Kroatien, waren<br />
gespalten. Viele schlossen sich entweder den Ustaše oder den Partisanen an. Zu Beginn<br />
<strong>des</strong> Krieges erfuhren die Ustaše noch Unterstützung, doch die Kombination der<br />
Terrorherrschaft <strong>und</strong> <strong>des</strong> Erfolges der Partisanen führte zu einer stärkeren Gefolgschaft<br />
der multinationalen Armee. <strong>Die</strong> Sympathien der serbischen Bevölkerung waren ähnlich<br />
zwischen den Partisanen <strong>und</strong> den Četnici gespalten. Auch hier gewann die erste Gruppe<br />
allmählich die Oberhand. Während jene Serben, die in Serbien selber oder im<br />
Grenzgebiet wohnten, eher die Četnici unterstützten, waren die Partisanen in der<br />
serbischen Bevölkerung in Zentral- <strong>und</strong> Westbosnien stärker verankert. <strong>Die</strong> Lage für die<br />
bosnischen Muslime stellte sich weitaus schwieriger dar. Wie im vorhergehenden<br />
Kapitel erwähnt, war in der Zwischenkriegszeit die Selbstidentifikation der Muslime<br />
noch nicht gefestigt. <strong>Die</strong>s wirkte sich auch auf die jeweiligen Sympathien während <strong>des</strong><br />
Krieges aus. So vertrat der Bruder von Mehmet Spaho, dem Parteivorsitzenden der<br />
JMO, eine prokroatischen Linie. Er war zugleich auch der Reis-ul-Ulema zwischen<br />
1938 <strong>und</strong> 194<strong>2.</strong> Während <strong>des</strong> Krieges kämpften Muslime auf fast allen Seiten mit; am<br />
wenigsten bei den Četnici, jedoch bei den Partisanen <strong>und</strong> in der Armee der Ustaše. <strong>Die</strong><br />
bosnischen Muslime erhalten in den Plänen der KP nicht den Status einer eigenen<br />
Nation, Kardelj beschreibt die Muslime <strong>Bosnien</strong>s 1936 als „besondere ethnische<br />
Gruppe“. Das Versprechen der Partisanen <strong>Bosnien</strong> als Republik wiederherzustellen hat<br />
zur muslimischen Unterstützung für ein sozialistisches Jugoslawien beigetragen.<br />
Insgesamt litt die muslimische Bevölkerung proportional gesehen am meisten. So<br />
starben während <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkrieges 75.000 Muslime, beziehungsweise 8,1 Prozent<br />
dieser Bevölkerungsgruppe. 162<br />
158<br />
159<br />
160<br />
161<br />
162<br />
S<strong>und</strong>haussen, Geschichte Jugoslawiens, 130-136.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 128 f.<br />
Einige Četnici-Einheiten wurden von den deutschen Besatzern legalisiert, indem sie sie formal dem<br />
serbischen Marionettenregieme von General Nedić unterstellt, s. Manoschek, „Serbien ist judenfrei“,<br />
116.<br />
„The Yugoslav partisans, <strong>und</strong>er the leadership of Marshall Tito, would be supported by the three<br />
powers 'to the greatest possible extent.'“ The Tehran Conference, in: Frederick H. Hartmann (Hg.)<br />
Basic Documents of International Relations (New York/Toronto/London 1951) 164.<br />
Malcolm, Bosnia, 180 f.<br />
51
Insgesamt setzten sich die Partisanen durch, da es ihnen gelang, gerade in <strong>Bosnien</strong> für<br />
alle drei Nationen attraktiv zu sein <strong>und</strong> nicht, wie die anderen beiden Gruppen, die in<br />
<strong>Bosnien</strong> aktiv wurden, einer repressiven nationalistischen Linie zu folgen.<br />
Es war nicht überraschend, daß <strong>Bosnien</strong> im Zentrum <strong>des</strong> Widerstan<strong>des</strong> stand. Mit Hilfe<br />
von Guerilla Taktik gelang es den Partisanen sieben deutsche Offensiven abzuwehren.<br />
Während die Partisanen Ende 1944 bereits die größten Teile <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong><br />
kontrollierten, gelang es ihnen erst am 6. April 1945 in Sarajevo einzuziehen, womit<br />
ihre Herrschaft über <strong>Bosnien</strong> gesichert wurde. Obwohl der größte Teil Jugoslawien<br />
durch die Partisanen befreit wurde, beteiligte sich die Rote Armee bei der Eroberung<br />
Serbiens Ende 1944. <strong>Die</strong> letzten Einheiten Deutschlands <strong>und</strong> <strong>des</strong> Ustaše-Regimes<br />
ergaben sich im Mai 1945, während einige kleine Četnici-Einheiten noch Jahre in<br />
abgelegenen Gegenden Jugoslawien aushielten. Draža Mihailović wurde erst 1946<br />
gefangengenommen <strong>und</strong> hingerichtet. Mit dem Sieg der Partisanen <strong>und</strong> der<br />
kommunistischen Vorherrschaft über Jugoslawien begann <strong>Bosnien</strong>s Geschichte als<br />
Republik <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Jugoslawien, die mehr als doppelt so lange, 46 Jahre, andauern sollte. 163<br />
<strong>2.</strong>3.<strong>2.</strong> Libanon als französisches Mandatsgebiet<br />
Bereits unter der osmanischen Herrschaft <strong>des</strong> Libanon war die französische Vormacht<br />
im Land größer, als der Einfluß einer einzelnen Großmacht in <strong>Bosnien</strong> vor 1878. <strong>Die</strong><br />
Übernahme <strong>des</strong> Mandats für den Libanon <strong>und</strong> Syrien nach Ende <strong>des</strong> 1. Weltkrieges<br />
instituionalisierte die französische Vorherrschaft über den Libanon. Zuvor waren die<br />
Beziehungen Frankreichs zum Libanon in erster Linie mit den Maroniten verb<strong>und</strong>en.<br />
Nun mußte Frankreich gegenüber den anderen Konfessionen eine politische Linie<br />
definieren.<br />
<strong>Die</strong> Konsolidierung der französischen Herrschaft<br />
Anfang Oktober 1918 landeten französische Einheiten in Beirut. Im selben Monat zogen<br />
die Einheiten von Faysal mit britischen Truppen in Damaskus ein. Damit endete die<br />
osmanische Herrschaft Bereich der Levante. Zwei Jahre später, im April 1920, teilen<br />
sich Frankreich <strong>und</strong> Großbritannien den Mashrik 164 gemäß <strong>des</strong> Sykes-Picot Abkommens<br />
auf. Irak <strong>und</strong> Palästina (mit Transjordanien) fielen unter britische Herrschaft, während<br />
Libanon <strong>und</strong> Syrien von Frankreich verwaltet werden sollten. Lediglich die arabische<br />
Halbinsel blieb nominell unabhängig. Im Vertrag von Sèvres, einem der „Pariser<br />
Vorortverträge“, mußte die Türkei dieser Aufteilung zustimmen. <strong>Die</strong> französisch <strong>und</strong><br />
englisch besetzten Gebiete wurden zwei Jahre später offiziell in Mandate <strong>des</strong><br />
neugegründeten Völkerb<strong>und</strong>es umgewandelt. Gegen die französische Besatzung<br />
formierte sich jedoch schon bald Widerstand von der Bevölkerung. <strong>Die</strong> syrischlibanesischen<br />
Aufständischen wurde bei einer Schlacht in Maysaloun, in der Nähe von<br />
Damaskus, 1920 besiegt. 165<br />
<strong>Die</strong> Begründung für die Kolonialisierung <strong>des</strong> Libanons <strong>und</strong> der anderen ehemaligen<br />
Gebiete <strong>des</strong> Osmanischen Reiches war der fehlen<strong>des</strong> <strong>Entwicklung</strong>sstand der Länder. Sie<br />
sollten fremder Verwaltung unterstellt werden, bis sie sich selbst regieren können. <strong>Die</strong>se<br />
Rechtfertigung findet sich in Artikel 22 der Satzung <strong>des</strong> Völkerb<strong>und</strong>es:<br />
163<br />
164<br />
165<br />
Siehe Jelavich, History of the Balkans, Bd. 2, 270-273<br />
<strong>Die</strong> arabischen Gebiete in Asien ohne die arabische Halbinsel.<br />
Hitti, Lebanon in History, 486 f.<br />
52
„Certain communities formerly belonging to the Turkish Empire have<br />
reached a stage of development where their existance as independent nation<br />
can be provisionally recognized subject to the rendering of administrative<br />
advice and assistance by a Mandatory until such time as they are able to<br />
stand alone.“ 166<br />
<strong>Die</strong> Formulierung bringt den Anspruch zum Ausdruck, nur im besten Interesse <strong>des</strong><br />
Lan<strong>des</strong> die Verwaltung zu übernehmen. Zusätzlich wird von unabhängigen Nationen<br />
gesprochen, die im Nahen Osten kaum zu diesem Zeitpunkt bestanden. So erhielt der<br />
heutige Libanon seine jetzigen Grenzen erst 1920.<br />
<strong>Die</strong> französische Kolonialpolitik war auf die Assimilation der lokalen Bevölkerung<br />
bedacht <strong>und</strong> versuchte französische Kultur so zu verbreiten, daß zumin<strong>des</strong>t Teile der<br />
Kolonialvölker zu französischen Bürgern wurden. In der Kolonialpolitik Frankreichs<br />
kommt somit weniger die französische Demokratie, als deren Zentralismus zum<br />
Ausdruck. David Thomson beschreibt diese Politik folgendermaßen: „This policy had<br />
the more limited aim of transforming a native élite into full French citizens, and at<br />
taking this élite into partnership in administration.“ 167 <strong>Die</strong>se zentralistischen <strong>und</strong><br />
étatistischen Tendenzen wurden im Mandatsgebiet Libanon zwar nicht mehr so stark<br />
wie in früheren Kolonien praktiziert, doch insbesondere auf die maronitische<br />
Bevölkerung hatte diese Linie Einfluß. <strong>Die</strong>se Politik hatte den Nachteil für den Libanon<br />
die maronitische Elite zu diskreditierten <strong>und</strong> der Bevölkerung eine einheitliche<br />
politische Klasse vorzuenthalten. Zugleich führte dies dazu, daß ein großer<br />
Bevölkerungsteil, die Maroniten, die französische Herrschaft nicht als Fremdherrschaft<br />
empfand.<br />
Der Status von Syrien <strong>und</strong> dem Libanon wurde am 24. Juli 1922 geregelt. <strong>Die</strong>ses<br />
Dokument ist sehr knapp gefaßt <strong>und</strong> unausgewogen. So setzt sich ein unproportional<br />
großer Teil <strong>des</strong> Textes mit archäologischen Bestimmungen (Art. 14) auseinander. Im<br />
Statut verpflichtet sich Frankreich binnen drei Jahren eine Verfassung für die beiden<br />
Mandatsgebiete zu verabschieden (Art.1). Nach <strong>des</strong>sen Inkrafttreten konzentrierten sich<br />
die Kompetenzen der Mandatsmacht auf die außenpolitische Vertretung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />
(Art. 3) <strong>und</strong> die Anwesenheit von französischen Truppen zur Verteidigung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />
(Art.2). Weiterhin wurden die Menschenrechte <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>freiheiten (Art. 6 & 8), sowie<br />
die Autonomie der Konfessionen (Art. 9 &10) mit dem Vertrag zugesichert. Neben dem<br />
Arabischen wird Französisch als Amtssprache eingeführt (Art. 16). 168 <strong>Die</strong><br />
Mandatsregelung erweckt den Eindruck, als sollte der Einfluß Frankreichs in die<br />
internen Angelegenheit <strong>des</strong> Libanon (<strong>und</strong> Syrien) nach der Verabschiedung der<br />
Verfassung minimal sein. Frankreich kontrollierte die Politik <strong>des</strong> Libanon jedoch bis zu<br />
<strong>des</strong>sen Unabhängigkeit nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg.<br />
In den ersten Jahren der französischen Mandatszeit wurden neue Gesetze eingeführt, die<br />
Währung an den französischen Franken geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> eine neue Verwaltung aufgebaut.<br />
Auch wurde eine provisorische Verfassung verabschiedet, die die neuen Grenzen <strong>des</strong><br />
166<br />
167<br />
168<br />
Convenant of the League of Nations, Article 2<strong>2.</strong>3, in: Hartmann (Hg.) Basic Documents of<br />
International Relations, 59.<br />
David Thomson, Democracy in France since 1870 (New York/London 1964) 167.<br />
Der Text der Mandatsregelung findet sich in Stephen Hemesley Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er<br />
French Mandate (London/New York/Toronto 1958) 376-380.<br />
53
„Etat du Grand Liban“ 169 festlegte. In seiner Fläche ist dieser libanesische Staat doppelt<br />
so groß wie das autonome Gebiet „Mont Liban“ der osmanischen Zeit.<br />
Bevölkerungszahl vergrößerte sich um 50 Prozent. <strong>Die</strong> Küstenstädte kamen hinzu<br />
(Beirut, Tripoli, Sidon <strong>und</strong> Tyrus), sowie einige Gebiete im Hinterland (Baalbek, Bekaa,<br />
Hasbaïya, Rachaïya <strong>und</strong> Marj'uyun). Im Jahr 1913 lebten im Mont Liban 414.800<br />
Einwohner, von ihnen waren 329.482 Christen (24<strong>2.</strong>308 Maroniten). Zehn Jahre später<br />
hatte das neue Libanon 628.863 Einwohner (150.000 in Beirut, 30.000 in Tripoli <strong>und</strong><br />
13.000 in Sidon) (vgl. Tabelle 7). 170 Obwohl die Maroniten in diesem neuen Staat<br />
dominierten, hießen nicht alle Maroniten diese Vergrößerung <strong>des</strong> Libanons<br />
willkommen, da sie um ihre Vormachtstellung im neuen Staat fürchteten. Der Status der<br />
Mandatsherrschaft berücksichtigte nicht den Widerstand von breiten Teilen der<br />
Bevölkerung gegen die französische Herrschaft <strong>und</strong> gegen den neuen Staat an sich.<br />
Im Rahmen <strong>des</strong> 14 Punkte Programmes (u.a. Selbstbestimmungsrecht der Völker) <strong>des</strong><br />
amerikanischen Präsidenten beauftrage Woodrow Wilson die King-Crane Kommission<br />
die Unterstützung der Bevölkerung an den verschiedenen möglichen staatlichen<br />
Lösungen zu bestimmen. Frankreich <strong>und</strong> Großbritannien versuchten vergeblich die<br />
Arbeit der Kommission zu behindern. Der Bericht über Palästina, Syrien, Libanon,<br />
sowie Mesopotamien (bzw. Irak) analysierte die Probleme der neuen Lage aus der Sicht<br />
der lokalen Eliten (ca. <strong>2.</strong>000 Personen wurden befragt). Im Zentrum dieses Berichts<br />
stand Syrien. 171 <strong>Die</strong> elfköpfige Kommission, bestehend aus amerikanischen Politikern,<br />
Delegierten der Friedenskonferenzen <strong>und</strong> Historikern kam zum Schluß, daß Großsyrien<br />
am meisten Unterstützung findet. <strong>Die</strong> historische Autonomie <strong>des</strong> Libanon könnte, so der<br />
King-Crane Bericht, auch in einem gemeinsamen Staat mit Syriens gewahrt bleiben.<br />
<strong>Die</strong> Kommission befragte die Eliten auch nach ihrer bevorzugten Mandatsmacht. Über<br />
60 % von ihnen sprachen sich, kaum überraschend im Hinblick auf die Autoren, für eine<br />
amerikanische Mandatsherrschaft aus. Gleichviele lehnten eine französische Herrschaft<br />
strikt ab. Englische <strong>und</strong> französische Politiker protestierten naturgemäß gegen diese<br />
Schlußfolgerungen. Das zentrale Gegenargument war die potentielle Bedrohung <strong>des</strong><br />
Islam für die Christen <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> die Juden Palästinas. Somit erhoben die beiden<br />
Mandatsmächte den Anspruch Palästina <strong>und</strong> den Libanon getrennt von Syrien zu<br />
verwalten.<br />
<strong>Die</strong> Positionen der Bevölkerung unterschieden sich jedoch nach Konfessionen. Drusen<br />
<strong>und</strong> Muslime forderten meist ein gesamtarabisches Reich, wie es von Großbritannien<br />
versprochen worden war. Neben vielen Muslimen wünschten sich viele Orthodoxe <strong>und</strong><br />
die winzige protestantische Religionsgemeinschaft einen Zusammenschluß mit Syrien.<br />
Zu diesem Zeitpunkt hat sich die schiitische Gemeinschaft noch kaum artikuliert <strong>und</strong><br />
folgte meist den politischen Führer der sunnitischen Muslime. 172<br />
169<br />
170<br />
171<br />
172<br />
Der Name steht in keinem Verhältnis zur geringen Größe <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> mit etwas mehr als 600.000<br />
Einwohnern <strong>und</strong> ca. 10.000 km 2 Gesamtfläche (vergleichbar mit Oberösterreich).<br />
Hitti, Lebanon in History, 488-490.<br />
Syrien hier nicht im Sinne <strong>des</strong> Staates Syrien, sondern der geographischen Region, die auch den<br />
Libanon <strong>und</strong> Palästina umfaßt.<br />
Da die Schiiten sowohl in Großsyrien, wie auch in einem arabischen Reich, eine kleinere Minderheit<br />
als im Libanon darstellen würden, kann man davon ausgehen, daß ihre Unterstützung für den<br />
Libanon größer als unter den Sunniten war. Michael Kuderna, Libanon, in: Udo Steinbach, Robert<br />
Rüdiger (Hg.) Der Nahe <strong>und</strong> Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte <strong>und</strong><br />
Kultur, Bd. 2: Länderanalysen (Opladen 1988) 239; Michael Kuderna, Christliche Gruppen im<br />
Libanon: Kampf um Ideologie <strong>und</strong> Herrschaft in einer unfertigen Nation (Wiesbaden 1983) 24.<br />
54
<strong>Die</strong> Präferenzen wurden jedoch nicht nur durch die Konfessionszugehörigkeit, sondern<br />
durch die Region geprägt. So fanden sich die meisten Befürworter eines unabhängigen<br />
Libanon im Mont Liban, welches traditionell große Autonomie besaß. Im Bekaa <strong>und</strong> im<br />
Südlibanon war die Identifikation mit dem Libanon jedoch historisch kaum verankert. 173<br />
Der Bericht sah bereits viele zukünftige Probleme voraus. So urteilte die Kommission,<br />
daß sich Syrien ohne den Libanon in einer geographisch schwierigen Lage befindet, die<br />
beide Ländern für einen französischen Einfluß anfällig machen. Zudem befürchtete sie<br />
Schwierigkeiten für das Gleichgewicht zwischen Christen <strong>und</strong> Muslimen in einem<br />
selbständigen Libanon. 174<br />
Selbst ein hoher französischer Kolonialbeamter, Robert de Caix, warnte vor einem<br />
Großlibanon. Nach seiner Meinung würde Beirut das Gleichgewicht zwischen Stadt <strong>und</strong><br />
Land stören <strong>und</strong> sich zu einer überproportional großen Hauptstadt entwickeln. Tripoli<br />
sah er wiederum als Zentrum der Gegner <strong>des</strong> Libanons, so daß der Anschluß der Stadt<br />
einen zukünftigen Unruheherd darstellte. Er sollte mit beiden Vermutungen recht haben,<br />
wenn auch erst 40 Jahre später. 175<br />
<strong>Die</strong> Republik Libanon<br />
Am 23. Mai 1926 wurde der Libanon zu einer Republik erklärt. Zugleich wurde die<br />
neue Verfassung verabschiedet. Sie führte die parlamentarische Demokratie als<br />
Regierungssystem ein. <strong>Die</strong> Verfassung wurde von einem repräsentativen Rat auf<br />
Anweisung <strong>des</strong> ersten zivilen Hochkommissars für den Libanon, Henri de Jouvenel,<br />
ausgearbeitet. Sie sah einen vom Parlament gewählten Präsidenten, ein Kabinett mit<br />
Ministerpräsident <strong>und</strong> ein Parlament mit zwei Kammern (Abgeordnetenkammer <strong>und</strong><br />
Senat) vor. Der Senat, <strong>des</strong>sen Mitglieder vom französischen Hochkommissar ernannt<br />
wurden, bestand nur 17 Monate. 176<br />
Der wichtigste Autor der Verfassung, Michel Chiha, ein maronitischer Geschäftsmann,<br />
war darum bemüht, den politischen Wettbewerb von der interkonfessionellen auf die<br />
intrakonfessionelle Ebene zu verlegen. Trotzdem lebten in einem Wahlkreis stets<br />
mehrere Konfessionen, so daß der jeweilige Wahlgewinner auch auf die Interessen der<br />
anderen Konfessionen eingehen mußte. Durch dieses Gleichgewicht hoffte man die<br />
Spannungen zwischen den Konfessionen zu mindern. Das Verhältnis der<br />
Ämterverteilung zwischen Christen <strong>und</strong> Muslimen lag bis zu den Reformen 1989 bei<br />
6:5, sowohl im Parlament, wie auch in der Verwaltung (zur Funktionsweise der<br />
Institutionen s. Kapitel 3.1.<strong>2.</strong>). 177<br />
Trotz mehrfacher Änderungen <strong>und</strong> zeitweiliger Suspendierung ist die Verfassung nach<br />
wie vor in Kraft. <strong>Die</strong> umfassenden Verfassungsänderungen nach Ende <strong>des</strong><br />
Bürgerkrieges können jedoch als Totalrevision gelten, so daß seit 1989/90 im Libanon<br />
die „<strong>2.</strong> Republik“ besteht.<br />
Der spätere Präsident Emile Eddé reformierte als Premierminister 1929/1930 den Staat.<br />
Durch diese Reform erhielt der Libanon fünf Provinzen (muhafadha): Nordlibanon,<br />
Mont Liban, Südlibanon, Bekaa <strong>und</strong> Beirut. <strong>Die</strong>se Provinzen besaßen keine Autonomie<br />
173<br />
174<br />
175<br />
176<br />
177<br />
Theodor Hanf, <strong>Die</strong> drei Gesichter <strong>des</strong> Libanonkrieges, in: Friedensanalysen 8 (Frankfurt 1978) 67.<br />
Corm, L'europe et l'orient, 131-138, 146-149.<br />
Itamar Rabinovich, The War for Lebanon, 1970-1983 (Ithaca, N.Y./London 1984) 21.<br />
Adnan Ansawi, Libanon, Vereinigte Arabische Republik, Irak (=<strong>Die</strong> Staatsverfassungen der Welt 2,<br />
Frankfurt/Berlin 1960) 21.<br />
David C. Gordon, The Republic of Lebanon, Nation in Jeopardy (Boulder, Col 1983) 20.<br />
55
<strong>und</strong> unterstanden der Zentralregierung. <strong>Die</strong>se Gliederung besteht bis heute. Eddé schloß<br />
weiterhin 100 öffentliche Schulen. In einem Land mit einem schwachen öffentlichen<br />
Schulwesen <strong>und</strong> großen Bildungsdifferenzen zwischen Konfessionen war die<br />
Schließung ein schwerer Rückschlag. In erster Linie wurde die muslimische<br />
Bevölkerung hierdurch benachteiligt, da die christlichen Kinder meist Missionsschulen<br />
besuchten. <strong>Die</strong>se <strong>und</strong> weitere Reformen in der französischen Mandatszeit begründeten<br />
die Tradition geringer staatlicher Intervention in das in das Sozialsystem, sowie das<br />
Bildungs <strong>und</strong> das Ges<strong>und</strong>heitswesen.<br />
Im Mai 1932 wurde erstmals die Verfassung durch den französischen Hochkommissar<br />
außer Kraft gesetzt <strong>und</strong> das Parlament aufgelöst. <strong>Die</strong> konfessionell dominierte Politik<br />
lähmte das System, das durch die Weltwirtschaftskrise bereits in eine Krise geraten war.<br />
Der ernannte Präsident Charles Debbas (1926-1933) blieb im Amt <strong>und</strong> verabschiedete<br />
Gesetze per Dekret mit der Zustimmung <strong>des</strong> Kommissars. In der zweijährigen Periode<br />
ohne Verfassung entwickelten sich zwei politische Strömungen im Libanon. <strong>Die</strong> eine<br />
forderte eine Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Herrschaft. <strong>Die</strong>se Gruppe stand<br />
in Opposition zu Präsident Debbas ab, da er die Suspendierung der Verfassung<br />
akzeptiert hatte. Zugleich strebte die Gruppe ein Ende der Mandatsherrschaft an.<br />
Hingegen befürwortete ein Großteil der maronitischen Bevölkerung die direkte<br />
französische Herrschaft. Während das Parlament aufgelöst war, wurden wirtschaftliche<br />
Reformen verabschiedet, die die Befürworter der Herrschaft durch Präsident <strong>und</strong><br />
Hochkommissar bestätigte. Zugleich stärkte die Ausschaltung <strong>des</strong> Parlament die<br />
Maroniten, die ihre Interessen besser durch Frankreich <strong>und</strong> den Präsidenten vertreten<br />
sahen, als in einem Parlament, wo ein Kompromiß mit den anderen Konfession nötig<br />
war. 178 <strong>Die</strong>se Reaktion zeigte, daß die französische Herrschaft von vielen Maroniten<br />
weniger als „fremd“ gesehen wurde, als die Teilung der Macht mit den anderen<br />
Konfessionen im eigenen Land. Hierin liegt eine der gr<strong>und</strong>legenden Probleme für einen<br />
unabhängigen Libanon.<br />
In den frühen Jahren der Republik etablierte sich, noch unter französischer<br />
Oberherrschaft, ein Aufteilungsschlüssel zwischen den Religionsgruppen, der später im<br />
Pact national Bekräftigung erfuhr. Demzufolge ist der Präsident stets ein maronitischer<br />
Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiite <strong>und</strong> der<br />
Verteidigungsminister ein Druse. 179 Im Vergleich zu den Bevölkerungszahlen (Tabelle<br />
7) wurden somit nur etwas drei Viertel der Bevölkerung berücksichtigt. Doch selbst<br />
dieser Repräsentationsgrad innerhalb der Elite dürfte zu hoch gegriffen sein: Zum einen<br />
überschätzt die Volkszählung die Zahl der Maroniten, zum anderen verfügte der<br />
Parlamentspräsident nur geringen politischen Einfluß. Praktisch wurden die wichtigsten<br />
Machtpositionen (Präsident <strong>und</strong> Ministerpräsident) zwischen zwei Konfessionen, die<br />
nur die Hälfte der Bevölkerung stellen, aufgeteilt.<br />
Der Nachfolger von Debbas, Habib al-Sa'd (1934-1936), wurde noch vom französischen<br />
Hochkommissar ernannt <strong>und</strong> gehörte der griechisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft<br />
an. Der nächste Präsident wurde bereits vom Parlament gewählt. In der Amtszeit <strong>des</strong><br />
ersten gewählten Präsidenten, Emile Eddé (1936-1941) zog sich die französische<br />
Mandatsmacht auf „Beraterposten“ zurück. Allerdings reichte der faktische Einfluß weit<br />
178<br />
179<br />
Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er French Mandate, 202-205.<br />
Nur in der Mandatszeit bekamen die Drusen den Posten <strong>des</strong> Verteidigungsministers zugesichert. Im<br />
unabhängigen Libanon erhielten die Drusen in den meisten Kabinetten einen bedeutenden<br />
Ministerposten.<br />
56
über eine „Beratung“ hinaus. Das erklärt sich unter anderem daraus, daß die<br />
französische Armee die einzige Militärmacht auf libanesischem Boden darstellte. 180<br />
Im November 1936 unterzeichneten Präsident Eddé <strong>und</strong> der Hochkommissar Damien de<br />
Martel einen auf 25 Jahre begrenzten Fre<strong>und</strong>schaftsvertrag zwischen dem Libanon <strong>und</strong><br />
Frankreich, der dem Mandatsgebiet Unabhängigkeit in allen Bereichen, mit der<br />
Ausnahme der Außen- <strong>und</strong> Verteidigungspolitik, einräumt. Auch sollte der Libanon<br />
dem Völkerb<strong>und</strong> beitreten können. <strong>Die</strong> französische Armee blieb im Libanon. <strong>Die</strong>ser<br />
Vertrag wurde jedoch aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Widerstan<strong>des</strong> der französischen<br />
Nationalversammlung nicht ratifiziert. Der Beginn <strong>des</strong> Weltkrieges schob eine Einigung<br />
vorerst weiter auf.<br />
Am 24. Januar 1937 wurde schließlich die Verfassung wieder in Kraft gesetzt. Trotzdem<br />
kann von einer vollständigen Demokratisierung keine Rede sein. Nur zwei Drittel der<br />
Abgeordneten wurden gewählt, das restliche Drittel wurde vom Präsidenten ernannt.<br />
<strong>Die</strong> Wahlen im gleichen Jahr brachten größere Unruhen <strong>und</strong> eine Zersplitterung der<br />
politischen Landschaft mit sich. Für die vierzig Sitze (von sechzig) bewarben sich fast<br />
600 Kandidaten. <strong>Die</strong> Opposition kam zu einer ungewöhnlichen Einigung mit Präsident<br />
Eddé. Ihr wurden 25 Sitze im Parlament „gestattet“. <strong>Die</strong> Möglichkeit, Wahlen durch ein<br />
Abkommen zwischen Präsident <strong>und</strong> Opposition derart zu manipulieren bringt die<br />
Mängel <strong>des</strong> Wahlrechts <strong>und</strong> <strong>des</strong> politischen Systems insgesamt zum Ausdruck. 181<br />
1922 1932 1943<br />
Maroniten 199.182 32,7 % 226.378 28,8 % 318.201 30,4 %<br />
griechischorthodox<br />
griechischkatholisch<br />
81.409 13,4 % 76.522 9,8 % 106.658 10,2 %<br />
4<strong>2.</strong>426 7,0 % 46.000 5,9 % 61.956 5,9 %<br />
andere Christen 1<strong>2.</strong>651 2,1 % 53.463 6,8% 64.603 6,2 %<br />
Christen 335.668 55,1 % 40<strong>2.</strong>363 51,2 % 551.418 52,7 %<br />
Sunniten 124.786 20,5 % 175.925 22,4 % 22<strong>2.</strong>594 21,3 %<br />
Schiiten 104.947 17,2 % 154.208 19,6 % 200.698 19,2 %<br />
Drusen 43.633 7,2 % 53.047 6,8 % 71.711 6,9 %<br />
Muslime 273.366 44,9 % 383.180 48,8 % 495.003 47,3 %<br />
Insgesamt 609.070 785.543 1.046.428<br />
Tabelle 7: <strong>Die</strong> Bevölkerungszahlen in der französischen Mandatszeit 182<br />
Eddé bemühte sich darum, den Libanon wieder zu verkleinern. Nach seinen<br />
Vorstellungen sollte der Staat die Grenzen <strong>des</strong> alten Autonomiegebiets mit Beirut<br />
umfassen. Er trat sogar mit dem Vertreter der jüdischen Verwaltung Palästinas, Chaim<br />
Weizman, in Kontakt, um diesem den Südlibanon anzubieten. Nachdem diese Pläne am<br />
180<br />
181<br />
182<br />
Hitti, Lebanon in History, 490-49<strong>2.</strong><br />
Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er French Mandate, 252 f.<br />
1943 fand lediglich eine Schätzung der Bevölkerung statt. Courbage, Fargues, La Situation<br />
Démographique au Liban, 21.<br />
57
französischen Widerstand scheiterten, bemühte sich die christliche Elite um eine<br />
Vorherrschaft innerhalb der bestehenden Grenzen. 183<br />
Zur gleichen Zeit gab es in der politischen Elite Syriens Bemühungen, den Libanon an<br />
Syrien anzuschließen. Insbesondere in Tripoli, wo es in der Zwischenkriegszeit öfter zu<br />
Aufständen gegen die Zugehörigkeit zum Libanon gekommen war, stieß dies auf<br />
fruchtbaren Boden. Der libanesische Präsident wurde dort 1937 mit Steinen empfangen.<br />
<strong>Die</strong> Stadt erhielt daraufhin eine, wenn auch begrenzte, Autonomie.<br />
<strong>Die</strong> Unabhängigkeit <strong>des</strong> Libanon erschien aus syrischer Sicht weniger selbstverständlich<br />
als aus der Perspektive der politischen Elite <strong>des</strong> Libanon. Syrien wurde unter der<br />
französischen Verwaltung in verschiedene Gebiete zerteilt. An der Küste Nordsyriens<br />
entstand ein alawitischer Staat, im Süden schuf Frankreich den Jabal al-Duruz, ein<br />
selbständiges Drusengebiet, im Nordosten bestand kurzzeitig die kurdisch-christlicharabische<br />
Provinz Jazira. Auch das Sandjak Alexandretta-Antiochia an der westlichen<br />
Grenze zwischen der Türkei <strong>und</strong> Syrien entzog sich der Kontrolle Syriens. Syrien war<br />
bemüht, alle diese Gebiete - einschließlich <strong>des</strong> Libanon - wieder in den Staat zu<br />
integrieren. 184<br />
Der <strong>2.</strong> Weltkrieg<br />
Als Reaktion auf den Kriegsbeginn verhängte der französische Hochkommissar am 9.<br />
September 1939 den Ausnahmezustand über den Libanon. Wiederum wurde die<br />
Verfassung außer Kraft gesetzt, das Parlament aufgelöst <strong>und</strong> die Macht <strong>des</strong> Präsidenten<br />
begrenzt. Kurzzeitig stand der Libanon unter Kontrolle von Vichy-Frankreich (1940-<br />
1941). Wie auch in anderen Kolonien stellte sich die Verwaltung zu Anfang <strong>des</strong> Krieges<br />
auf die Seite der Vichy-Regierung, nicht zuletzt auch wegen einer latenten traditionellen<br />
Antipathie gegenüber Großbritannien. Im Juni 1941 wurde der Libanon von englischen<br />
Truppen mit freien französischen Verbänden erobert. In Folge <strong>des</strong>sen kam der Libanon,<br />
ebenso wie Syrien, vorläufig unter britische Verwaltung.<br />
<strong>Die</strong> freien französischen Verbände entsandten einen Generalvertreter in den Libanon,<br />
der am 26. November 1941 mit britischem Einverständnis die Mandatsherrschaft<br />
beendete. Großbritannien <strong>und</strong> die Vereinigten Staaten erkannten die Unabhängigkeit<br />
sogleich an. Jedoch erst im September 1943 kehrte das Land mit einem neuen Parlament<br />
zu seiner verfassungsmäßigen Ordnung zurück. <strong>Die</strong> Mehrheit der Abgeordneten waren<br />
pro-arabisch oder nationalistisch ausgerichtet. Bishara al-Khuri, ein in Frankreich<br />
ausgebildeter Anwalt, wurde Präsident <strong>und</strong> Riyad al-Sulh wurde Ministerpräsident. 185<br />
Beide vereinbarten in dieser Zeit den Nationalpakt, der den bereits erwähnten<br />
Verteilungsschlüssel für die höchsten Staatsämter zwischen den Konfessionen festlegte.<br />
<strong>Die</strong>ser erkannte zwar den arabischen Charakter <strong>des</strong> Libanon an, sprach dem Land aber<br />
auch eine speziellen Status zu. Der Ministerpräsident beschrieb den Charakter<br />
folgendermaßen: „Le Liban est une patrie au visage arabe, qui puise dans la culture<br />
occidentale ce qui lui est bon et utile.“ 186<br />
183<br />
184<br />
185<br />
186<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 2<strong>2.</strong><br />
Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er French Mandate, 207 f., 25<strong>2.</strong><br />
Hitti, Lebanon in History, 492-495.<br />
Zitiert nach: Programme de l'Independence (Déclaration ministeriélle de Riad Solh du 7-10-1943),<br />
in: Harald Vocke, Der umstrittene Krieg im Libanon. Samisdats, Zeitungsberichte, Dokumente<br />
(=Aktueller Informationsdienst Moderner Orient Sondernr. 6, Hamburg 1980) 246.<br />
58
An sich stand der Nationalpakt im Widerspruch zur Verfassung, die in Artikel 7 <strong>und</strong> 12<br />
einen gleichberechtigten Zugang zu allen Ämtern vorsah. <strong>Die</strong>ser Konflikt wurde jedoch<br />
hingenommen, da der Nationalpakt nur als Provisorium galt. Er sollte später durch<br />
freien Zugang für alle ersetzt werden. <strong>Die</strong>ser Kompromiß zwischen muslimischen <strong>und</strong><br />
christlichen Spitzenpolitikern wurde mündlich vereinbart, er findet lediglich in der Rede<br />
<strong>des</strong> Ministerpräsidenten vom 7. Oktober 1943 seinen Ausdruck. 187 <strong>Die</strong> Rede kann eher<br />
als Absichtserklärung gesehen werden <strong>und</strong> weniger als konkrete Beschreibung <strong>des</strong><br />
Nationalpakts. Aufgr<strong>und</strong> der fehlenden schriftlichen Festlegung zeigten sih in<br />
Krisenzeiten verschiedene Interpretationen <strong>des</strong> Nationalpaktes. 188<br />
Trotz der formalen Unabhängigkeit <strong>des</strong> Libanon kam es erneut zum Konflikt mit<br />
Frankreich. Der Generalvertreter kontrollierte nach wie vor eine französische<br />
Verwaltung, spezielle Truppen <strong>und</strong> die Administration in Bereichen „gemeinsamen<br />
Interesses“ <strong>des</strong> Libanons <strong>und</strong> Syriens (Grenzkontrollen, Zölle, Tabakmonopol <strong>und</strong><br />
Firmenkonzession). Auch versuchte das Parlament alle Artikel, die sich auf den<br />
Mandatsstatus bezogen, abzuschaffen. <strong>Die</strong>ser Konflikte führte schließlich Ende 1943<br />
dazu, daß der französische Generalvertreter, Jean Helleu, die Verfassung außer Kraft<br />
setzte, den Präsidenten <strong>und</strong> das Kabinett verhaftete <strong>und</strong> sie ins „Exil“ nach Rachaïya<br />
schickte. Der Ausnahmezustand wurde wiederhergestellt <strong>und</strong> eine strenge Zensur<br />
eingeführt. Internationaler Druck auf das freie Frankreich <strong>und</strong> Unruhen im Libanon<br />
zwangen Frankreich zu einer Rücknahme <strong>des</strong> Eingriffs, so daß die Regierung nach nur<br />
21 Tagen zurückkehren konnte. Ende 1944 endete die französische Verwaltung <strong>und</strong> die<br />
Sonderrechte gingen an den Libanon über, die Truppen verließen erst am 31. Dezember<br />
1946 das Land. Libanon war jedoch Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, so daß<br />
man von einer schrittweisen Unabhängigkeit ausgehen kann, die mit dem Abzug<br />
fremder Truppen auf libanesischem Boden vollständig wurde. 189<br />
Durch die französische Mandatszeit vergrößerte sich die Vormacht der Christen <strong>und</strong><br />
insbesondere der Maroniten gegenüber den Muslimen im politischen System, in Bildung<br />
<strong>und</strong> Wirtschaft. <strong>Die</strong> Bevorzugung der Maroniten wirkte jedoch nachteilig auf das<br />
Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen aus. Im gleichen Sinne wirkte die<br />
Dominanz der französischen Sprache in Schulen <strong>und</strong> Verwaltung vom Staat. 190<br />
<strong>Die</strong> französische Mandatszeit besaß jedoch nicht nur schlechte Seiten. An positiven<br />
<strong>Entwicklung</strong>en sind der Aufbau der Infrastruktur, die Rationalisierung der<br />
Besitzregistrierung <strong>und</strong> die Einführung einer modernen Verwaltung <strong>und</strong> Armee<br />
hervorzuheben. Es gab auch mittelbare Vorteile für das Land. So vereinte der<br />
Widerstand gegen die französische Besatzung gegen Ende der Mandatszeit die<br />
Bevölkerung <strong>des</strong> Libanon über konfessionelle Grenzen hinweg. Zur Ablehnung der<br />
Mandatsherrschaft trugen der Niedergang der Seidenindustrie, die militärischen<br />
Maßnahmen gegen Aufstände in Damaskus 1925 <strong>und</strong> 1945 <strong>und</strong> der widerwillige Abzug<br />
Frankreichs gegen Ende <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkrieges bei, den David Gordon als „graceless and<br />
even humiliating“ beschreibt. 191 Gleichwohl beurteilten die meisten Maroniten die<br />
französische Herrschaft insgesamt positiv, doch sie isolierten sich dadurch von den<br />
anderen Konfessionen.<br />
187<br />
188<br />
189<br />
190<br />
191<br />
Für den gesamten Text s. Ebd.<br />
Kuderna, Libanon, 239; Gordon, The Republic of Lebanon, 20 f.<br />
Hitti, Lebanon in History, 495 f.<br />
Hanf, <strong>Die</strong> drei Gesichter <strong>des</strong> Libanonkrieges, 68.<br />
Gordon, The Republic of Lebanon, 21 f.<br />
59
Bereits 1957, noch vor dem 1. Bürgerkrieg, wurden die Bemühungen Frankreichs im<br />
Libanon als Fehlschlag gesehen:„..the French effort, so eagerly <strong>und</strong>ertaken, so<br />
tenacioulsy pursued, was <strong>des</strong>tined to an outcome which has been assessed by the world<br />
as one of unhappy failure in the most conspicous sphere, that of state-building and<br />
politics.“ 192 <strong>Die</strong> Konsequenz aus diesem Urteil ist nicht minder radikal: „The adoption<br />
in 1920 of a unitary Syria (containing, no doubt, a mildly priviledged Mont Lebanon)<br />
would have saved a whole multitude of later troubles, and if, at the time of writing<br />
(1957), it may be felt that Lebanon was lucky in its freedom from Syrian foreign policies<br />
of the mid-1950's, with their leaning to Russia, it may equally be believed that a Syria<br />
strengthend by a more westward-looking Lebanon, with a stronger sense of political<br />
(and commercial) realities, might well have been saved from courses thought by many<br />
of her friends to be gravely dangerous to her.“ 193<br />
<strong>2.</strong>3.3. Zusammenfassung<br />
Während <strong>Bosnien</strong> nach Ende Österreich-Ungarns in Jugoslawien aufging <strong>und</strong> als<br />
Verwaltungseinheit erst nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg wiederentstand, erhielt der Libanon<br />
seine Grenzen in der Zwischenkriegszeit. <strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> im Libanon blieb, abgesehen<br />
von den ersten Jahren französischer Herrschaft weitgehend autonom von seinem<br />
Umfeld. <strong>Bosnien</strong> hingegen wurde von Belgrad <strong>und</strong> mit dem Sporazum 1939 teilweise<br />
auch von Zagreb aus regiert. <strong>Die</strong>se Machtzentren waren eng mit der Vorherrschaft der<br />
jeweiligen Nation verknüpft. <strong>Die</strong> serbische Dominanz bis 1939/41 <strong>und</strong> die kroatische<br />
Herrschaft ab 1941 verschärften die Beziehungen zwischen allen drei Nationen<br />
<strong>Bosnien</strong>s. <strong>Die</strong> muslimische Identität, die sich in diesen Jahren formierte, wurde von der<br />
größeren serbisch-kroatischen Auseinandersetzung geprägt <strong>und</strong> kann als<br />
Abwehrreaktion gegen den serbischen <strong>und</strong> kroatischen Nationalismus gesehen werden.<br />
Der <strong>2.</strong> Weltkrieg führte schließlich zum ersten bewaffneten Konflikt zwischen Serben<br />
<strong>und</strong> Kroaten. Trotz nationaler Spannungen, die ins 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückreichen gab es<br />
zuvor keine Kämpfe zwischen beiden Nationen.<br />
Im Libanon dominierten die Maroniten mit französischer Unterstützung. <strong>Die</strong> Drusen,<br />
die zuvor im autonomen Libanon großen Einfluß genossen hatten, wurden durch die<br />
Gebietsvergrößerungen in eine Nebenrolle verdrängt. <strong>Die</strong> wichtigsten Partner im neuen<br />
vergrößerten Libanon wurden die Sunniten, deren Unterstützung erst durch den<br />
Nationalpakt gesichert werden konnte. <strong>Die</strong> französische Regierung war sich aufgr<strong>und</strong><br />
der Mandatsregelung <strong>des</strong> Völkerb<strong>und</strong>es bewußt, daß die Herrschaft über den Libanon<br />
zeitlich begrenzt sein würde. Frankreich bemühte sich daher um die Etablierung eines<br />
Staates, <strong>des</strong>sen enge Beziehungen zur ehemaligen Kolonialmacht über das Ende <strong>des</strong><br />
Mandats hinaus dauern sollten. <strong>Die</strong> enge, historisch f<strong>und</strong>ierte, Bindung der Maroniten<br />
sollte Frankreich helfen, die Kontrolle über den Staat aufrecht zu erhalten. Der<br />
Nationalpakt erschwerte jedoch eine ausschließliche Anlehnung <strong>des</strong> Libanon an die<br />
ehemalige Besatzungsmacht. Am Ende der französischen Herrschaft war im Libanon ein<br />
konfessioneller Proporzstaat entstanden, <strong>des</strong>sen Wurzeln auf den autonomen Mont<br />
Liban zurückgehen.<br />
Der Libanon wurde von den Kämpfen <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkriegs kaum betroffen, so daß die<br />
Zwischenkriegszeit fast nahtlos in die Nachkriegsära überging. In <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong><br />
Jugoslawien hingegen ist das katastrophale Ergebnis der Zeit zwischen 1918 <strong>und</strong> 1945<br />
192<br />
193<br />
Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er French Mandate, 368.<br />
Ebd., 367.<br />
60
zu einer vermeintlichen Lehre geworden. <strong>Die</strong> kommunistische Vorherrschaft beruhte<br />
nach dem Krieg Großteils auf dem unausgesprochenen Konsens, eine einseitige<br />
nationale Dominanz zu verhindern.<br />
Mit diesen sehr unterschiedlichen Erfahrungen begann somit die Nachkriegszeit <strong>des</strong><br />
wiederhergestellten <strong>Bosnien</strong>s als Republik <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Jugoslawien <strong>und</strong> <strong>des</strong> unabhängigen<br />
Libanon.<br />
61
<strong>2.</strong>4. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> Libanon nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg<br />
<strong>2.</strong>4.1. <strong>Bosnien</strong> im <strong>2.</strong> Jugoslawien<br />
Der Krieg in Jugoslawien endete mit der absoluten Herrschaft der kommunistischen<br />
Partei, die ihre Macht teilweise mit Gewalt konsolidierte. Gegner <strong>des</strong> neuen Regimes<br />
flohen nach Österreich, wo sie von der britischen Armee auf Druck Tito<br />
zurückgeschickt wurden. Von den 18.000 Flüchtlingen wurden die meisten bei ihrer<br />
Rückkehr ermordet. Insgesamt fielen bis zu 250.000 Jugoslawen der Gewalt in den<br />
ersten Nachkriegsjahren zum Opfer. Der politischen <strong>und</strong> militärischen Macht der KP<br />
konnte keine der Vorkriegsparteien ein gesamtjugoslawisches Konzept entgegensetzen,<br />
das für alle Nationen Jugoslawiens attraktiv gewesen wäre. <strong>Die</strong> Partikularinteressen der<br />
jeweiligen Nationalparteien machten es ihnen unmöglich, nach dem Krieg eine<br />
Alternative zu den Partisanen zu formulieren. <strong>Die</strong> Exzesse der Ustaše <strong>und</strong> Četnici<br />
trugen weiterhin dazu bei, extremen Nationalismus zumin<strong>des</strong>t vorläufig zu<br />
diskreditieren.<br />
In den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft verfolgte die KP eine Linie in der<br />
Nationalitätenpolitik, die jener der Sowjetunion entsprach. <strong>Die</strong> drei Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />
sind Selbstbestimmung, territoriale Autonomie <strong>und</strong> Gleichberechtigung der Nationen.<br />
Bei all diesen Rechten muß jedoch auch die kommunistische Ideologie berücksichtigt<br />
werden. So würde die Selbstbestimmung <strong>des</strong> Proletariats einer Nation nie zu einer<br />
Loslösung von einem sozialistischen Staat führen. Entsprechend ist die Wirkung <strong>des</strong><br />
Selbstbestimmungsrecht im Kontext kommunistischer Ideologie zu relativieren. In<br />
einem System, das dem einzelnen Individuum das Selbstbestimmungsrecht verweigert,<br />
ist es im übrigen kaum möglich eine wirkliche Selbstbestimmung einer Nation<br />
einzuräumen. 194<br />
Nicht nur in Nationalitätenfragen folgte die Politik Titos bis zum Bruch mit der UdSSR<br />
1948 Stalins Vorbild. So war die erste Verfassung von 1946 eine Kopie der<br />
Sowjetverfassung von 1936. Im Rahmen dieser rigiden kommunistischen Politik wurden<br />
insbesondere die Religionen unterdrückt. <strong>Die</strong> katholische Kirche war das Hauptopfer, da<br />
sie mit der Ustaše-Herrschaft in Verbindung gebracht wurde. Auch der Islam kam<br />
wegen der Struktur der Religion unter starken Druck, denn viel stärker als die anderen<br />
Religionen stellte der Islam in <strong>Bosnien</strong> auch eine soziale <strong>und</strong> kulturelle Einrichtung dar.<br />
<strong>Die</strong> serbisch-orthodoxe Kirche erlitt insgesamt weniger Nachteile als die anderen beiden<br />
Religionen, wurde aber in den ersten Nachkriegsjahren auch zum Objekt von<br />
Verfolgungen. (vgl. Kapitel 3.4.1.) 195<br />
Während dieser Zeit dominierte die serbische Bevölkerung in <strong>Bosnien</strong>. Infolge<strong>des</strong>sen<br />
wurde auch die Frage nach einer eigenen muslimischen Nation in den Hintergr<strong>und</strong><br />
gedrängt <strong>und</strong> erst in den sechziger Jahren wieder aktuell. Ausdruck der Unterdrückung<br />
<strong>des</strong> Islam waren die Prozesse gegen die „Jungen Muslime“ (Mladi Muslimani) zwischen<br />
1946 <strong>und</strong> 1949. 196 <strong>Die</strong> Gruppe entstanden 1939 mit dem Ziel den Islam in <strong>Bosnien</strong> zu<br />
fördern. Ähnlich wie die gesamte muslimische Bevölkerung folgten sie während <strong>des</strong><br />
Krieges verschiedenen Konfliktparteien. Nach dem Krieg bekämpften sie den säkularen<br />
194<br />
195<br />
196<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 146-148.<br />
Malcolm, Bosnia, 194 f.<br />
Ivo Banac, Bosnian Muslims: From Religious Community to Socialist Nationhood and<br />
Postcommunist Statehood, 1918-1992, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina,<br />
Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993)<br />
144 f.<br />
62
Kurs der Partisanen. Einer der Führer der Mladi Muslimani wurde war der spätere<br />
Präsident <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong>, Alija Izetbegović. Er wurde bei den Prozessen zu<br />
sechs Jahren Haft verurteilt. 197<br />
1946 wurde das islamische Sakralrecht verboten, vier Jahre später auch das Tragen vom<br />
Schleier <strong>und</strong> der Besuch von Koranschulen untersagt. Das Verbot erstreckte sich auch<br />
auf islamische Kulturorganisationen. <strong>Die</strong> Vakufs wurden entweder verstaatlicht oder<br />
zumin<strong>des</strong>t der Kontrolle der Religionsgemeinschaft entzogen. Im gleichen Jahr blieben<br />
199 Moscheen in <strong>Bosnien</strong> unbenutzt.<br />
Bei der Volkszählung 1948, der ersten nach dem Krieg, hatten die Muslime drei<br />
Möglichkeiten sich zu deklarieren: Entweder als muslimische Serben, muslimische<br />
Kroaten oder als Muslime mit „unbestimmter“ oder „nicht deklarierter“<br />
Nationszugehörigkeit. <strong>Die</strong> Gelegenheit sich nicht Serben oder Kroaten zuordnen zu<br />
müssen, wurde von vielen Muslimen genützt. So standen 778.000 „unbestimmte“<br />
Muslime nur 7<strong>2.</strong>000 serbischen <strong>und</strong> 25.000 kroatischen Muslimen gegenüber. Bei der<br />
nächsten Zählung 1953 konnte sich die Bevölkerung <strong>Bosnien</strong>s nicht mehr als Muslime<br />
deklarieren. Statt<strong>des</strong>sen fand die Identifizierung als „Jugoslawe“ in die Volkszählung<br />
Eingang. 891.800 Bosnier wählten diese Bezeichnung, wovon die überwiegende<br />
Mehrheit dem islamischen Glauben anhing.<br />
Mitte der fünfziger Jahre verbesserte sich die Stellung der Religionen in Jugoslawien.<br />
So garantierte ein Gesetz von 1954 die Religionsfreiheit <strong>und</strong> unterstellte die Kirchen<br />
<strong>und</strong> Moscheen staatlicher Kontrolle. Der Islam erfüllte eine politische Funktion bei der<br />
jugoslawischen Außenpolitik im Rahmen der Blockfreienbewegung. So waren einige<br />
Muslime führende Diplomaten in arabischen Staaten <strong>und</strong> Indonesien. 198<br />
<strong>Die</strong> Stärkung der Muslime<br />
Am Anfang der sechziger Jahre bahnte sich ein Konflikt zwischen zwei Konzepten der<br />
jugoslawischen Staatsführung an. Auf der einen Seite stand der Serbe Aleksander<br />
Ranković, der sich für einen zentralistischen Staat <strong>und</strong> einen „integralen<br />
Jugoslawismus“ stark machte. Dem stand Edvard Kardelj gegenüber, der die Wirtschaft<br />
modernisieren <strong>und</strong> den Staat dezentralisieren wollte. Der Slowene Kardelj strebte eine<br />
Politik an, die allen Nationen gleiche Rechte zuspricht. Weiterhin war er Architekt der<br />
sozialistischen Selbstverwaltung (vgl. Kapitel 3.3.1.) <strong>und</strong> hoffte durch wirtschaftlichen<br />
Fortschritt Nationalitätenkonflikte zu lösen. 199 Beide Politiker gehörten seit dem <strong>2.</strong><br />
Weltkrieg zum engen Kreis um Tito. Erst mit dem Ausschluß Aleksander Ranković's<br />
aus dem Zentralkomitee der Partei 1966 konnte sich die liberale Linie durchsetzten.<br />
Zugleich änderte sich die Lage für die einzelnen Nationen in <strong>Bosnien</strong>. Aleksander<br />
Ranković hatte eine repressive Politik im Kosovo, aber auch in <strong>Bosnien</strong> verfolgt. Sie<br />
richtete sich in erster Linie gegen die nicht-serbische Bevölkerung. Zugleich hoffte er<br />
auf die Schaffung einer jugoslawischen Nation <strong>und</strong> glaubte in den Bosnischen<br />
Muslimen einen Kern dieser zukünftigen Nation zu finden. 200 Er vertrat zwar eine proserbischen<br />
Linie, lehnte jedoch großserbische Strömungen ab. <strong>Die</strong> Geheimpolizei, die<br />
197<br />
198<br />
199<br />
200<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 150 f.<br />
Malcolm, Bosnia, 195-198.<br />
Siehe Carole Rogel, Edvard Kardelj's Nationality Theory and Yugoslav Socialism, in: Canadian<br />
Review of Studies in Nationalism, Fall 1985, Nr. 2, Jhrg. XII, 343-357.<br />
Sabrina P. Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 1962-1991 (Bloomington, Ind. 1992)<br />
7<strong>2.</strong><br />
63
unter seiner Kotrolle stand, ging radikal gegen Anhänger der Četnici <strong>und</strong> Draža<br />
Mihailović's vor. Ranković verkörpert die zentralistische Linie <strong>des</strong> serbischen<br />
Nationalismus, die sich in kommunistischen Zeiten gut ins System integrieren konnten.<br />
<strong>Die</strong> großserbische Linie hingegen wurde selbst von Zentralisten nicht geduldet. Erst mit<br />
der Herrschaft Milošević verbanden sich beide Linie <strong>des</strong> serbischen Nationalismus<br />
wieder. 201<br />
Ab 1965/1966 setzte sich in Jugoslawien auf Betreiben Titos eine Föderalisierung<br />
durch. 202 <strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> ging einher mit einer Aufwertung der Muslime zur Nation.<br />
Schon vier Jahre vorher konnten sich die Muslime bei der Volkszählung als „Muslime<br />
im ethnischen Sinne“ deklarieren. <strong>Die</strong>s führte dazu, daß die zuvor hohe Zahl an<br />
„Jugoslawen“ stark absank. Trotzdem kamen 87 Prozent jener 275.883 „Jugoslawen“<br />
aus <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina. Von diesen waren wiederum 84 Prozent Muslime. Somit<br />
stellte gemäß der Volkszählung 1961 die muslimische Bevölkerung nach wie vor den<br />
bei weitem größten Anteil der „Jugoslawen“. 203<br />
Auch führt die bosnische Verfassung von 1963 die Muslime neben Serben <strong>und</strong> Kroaten<br />
auf. <strong>Die</strong>s impliziert eine Gleichstellung mit den anderen beiden Nationen. 204 Während<br />
zuvor die serbische Bevölkerung <strong>Bosnien</strong>s in der Republik die KP <strong>und</strong> die staatlichen<br />
Organe dominierte, wurden nach dieser Kursänderung Muslime in der Führung der<br />
Republik gefördert. Auch stiegen Muslime vermehrt in der Politik Gesamtjugoslawiens<br />
auf. So amtierte von 1971 bis zu seinem Tod 1977 der bosnische Muslim Džemal<br />
Bijedić als Premierminister. 205<br />
Im bosnischen Zentralkomitees der KP setzte sich 1968 die Aufwertung der<br />
muslimischen Bevölkerung zur Nation fort. Bereits 1965 war der Vorsitzende der<br />
kommunistischen Partei <strong>Bosnien</strong>s, der Serbe Djuro Pucar, zurückgetreten. In der<br />
Sitzung wurde festgestellt, daß die Muslime sich als eigene Nation erwiesen haben.<br />
<strong>Die</strong>se Feststellung wirkte sich auf die Volkszählung 1971 aus, in der sich die Muslime<br />
erstmals als „Muslime im nationalen Sinn“ erklären konnten. 206 Bei dieser<br />
Volkszählung wählten 1,7 Millionen Einwohner in ganz Jugoslawien diese Kategorie,<br />
womit die Muslime nach Serben <strong>und</strong> Kroaten die größte Nation in Jugoslawien waren.<br />
Weiterhin dürften sich viele Muslime nach wie vor als Jugoslawen deklariert haben, so<br />
daß die Gruppe der Muslime in Jugoslawien bzw. in <strong>Bosnien</strong> noch größer sein dürfte<br />
(für die Bevölkerungszahlen <strong>Bosnien</strong>s s. Tabelle 8). 207<br />
<strong>Die</strong> Aufwertung der muslimischen Bevölkerung ging jedoch nicht mit einer Aufwertung<br />
<strong>des</strong> Islam als Religion einher. <strong>Die</strong> „Nationalisierung“ kann als eine der Religion<br />
201<br />
202<br />
203<br />
204<br />
205<br />
206<br />
207<br />
Für eine detaillierte Beschreibung <strong>des</strong> Sturz von Ranković's <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Politk s. Slobodan<br />
Stankovic, Titos Erbe. <strong>Die</strong> Hypothek der alten Richtungskämpfe ideologischer <strong>und</strong> nationaler<br />
Fraktionen (=Untersuchungen zur Gegenwartsk<strong>und</strong>e Südosteuropa 18, München 1981) 111-130.<br />
Ivo Banac setzt den Wandel von Titos Politik zum Föderalismus auf 1962 an. s. Separating History<br />
from Myth, Interview with Ivo Banac, in: Rabia Ali, Lawrence Lifschultz (Hg.) Why Bosnia? (Stony<br />
Creek, Conn. 1993) 141.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 155.<br />
Viktor Meier, <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> seine Muslime als Sonderproblem <strong>des</strong> Vielvölkerstaates, in: Roland<br />
Schönfeld (Hg.) Nationalitätenprobleme in Südosteuropa (=Untersuchungen zur Gegenwartsk<strong>und</strong>e<br />
Südosteuropas 25, München 1987) 130.<br />
Banac, Bosnian Muslims, 144 f.<br />
Malcolm, Bosnia, 199.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 160.<br />
64
entgegengesetzte Bewegung gesehen werden. <strong>Die</strong>s erklärt sich durch die Träger der<br />
muslimischen Nationalbewegung in den Nachkriegsjahren. Sie waren Mitglieder <strong>und</strong><br />
Funktionäre der kommunistischen Partei <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb meist nicht religiös, bis hin zur<br />
Religionsfeindlichkeit. 208 Auch die geringe Religiosität der bosnischen Muslime<br />
während der Zwischenkriegszeit <strong>und</strong> davor gab den Funktionären der KP das Gefühl,<br />
eine Nationswerdung der Muslime von einer Stärkung der Rolle <strong>des</strong> Islams trennen zu<br />
können. <strong>Die</strong> bosnische Republikführung war dennoch Hauptgeldgeberin der islamischen<br />
Gemeinde (IVZ), die sie so unter ihrer Kontrolle behalten wollte. 209<br />
Das Ergebnis ist ein Paradox, da man durch die Aufwertung eine Nation geschaffen hat,<br />
die sich in erster Linie durch die Religion von den anderen Bevölkerungsgruppen in<br />
<strong>Bosnien</strong> unterscheidet. Zugleich war man bemüht der Religion selbst keine größere<br />
Rolle einzuräumen. Das Entstehen der muslimischen Nation in dieser Zeit erklärt sich in<br />
erster Linie aus dem Unwillen der Muslime sich als Serben oder Kroaten zu definieren.<br />
<strong>Die</strong> Alternative, sich als Jugoslawe zu erklären war nicht attraktiv, da diese Gruppe<br />
sowohl Kroaten wie auch Serben umfaßt <strong>und</strong> somit den Unterschied zu den beiden<br />
anderen Nationen nicht zum Ausdruck bringt. Zudem läßt sich kaum eine klare<br />
„jugoslawische“ Identität feststellen, mit der sich die Muslime hätten identifizieren<br />
können. Weiterhin stand der Islam, <strong>des</strong>sen Basis die Umma, die Gemeinschaft aller<br />
Muslime ist, dem Nationalismus feindlich gegenüber, da er als Spalter der muslimischen<br />
Einheit gesehen wird. <strong>Die</strong>ser Widerspruch zeigt sich später noch deutlicher mit dem<br />
Aufkommen der nationalen Parteien Ende der achtziger Jahre. <strong>Die</strong> Religion <strong>und</strong> die<br />
damit verb<strong>und</strong>ene Kultur war bei den bosnischen Muslimen ein derart integraler Teil der<br />
Identität, daß eine säkulare Definition der Muslime durch den B<strong>und</strong> der Kommunisten<br />
nicht möglich war. Wolfgang Höpken weist jedoch darauf hin, daß die Anerkennung<br />
eine Lernfähigkeit der KP im Vergleich zum 1. Jugoslawien belegt. 210<br />
Muslime Serben Kroaten Jugoslawen Gesamt<br />
1948 788.403 1.136.116 614.142 - <strong>2.</strong>563.764<br />
1953 - 1.264.372 654.229 891.800 <strong>2.</strong>847.459<br />
1961 84<strong>2.</strong>248 1.406.057 711.665 275.883 3.277.948<br />
1971 1.48<strong>2.</strong>430 1.393.148 77<strong>2.</strong>491 43.796 3.746.111<br />
1981 1.629.924 1.320.644 758.136 326.280 4.10<strong>2.</strong>783<br />
1991 1.905.829 1.369.258 755.892 239.845 4.364.574<br />
Tabelle 8: <strong>Die</strong> Volkszählungen in <strong>Bosnien</strong> zwischen 1948 <strong>und</strong> 1991 211<br />
Francine Friedman sieht vier Gründen aus denen der B<strong>und</strong> der Kommunisten die<br />
Muslime förderte:<br />
Erstens sollte hierdurch die nationale Argumentation (von Kroaten <strong>und</strong> Serben) von<br />
regional- <strong>und</strong> wirtschaftspolitischen Themen getrennt werden, da die Partei in <strong>Bosnien</strong><br />
208<br />
209<br />
210<br />
211<br />
Malcolm, Bosnia, 200 f.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 162 f.<br />
Wolfgang Höpken, <strong>Die</strong> jugoslawischen Kommunisten <strong>und</strong> die bosnischen Muslime, in: Andreas<br />
Kappeler, Gerhard Simon, Georg Brunner (Hg.) <strong>Die</strong> Muslime in der Sowjetunion <strong>und</strong> in<br />
Jugoslawien (=Nationalitäten- <strong>und</strong> Regionalprobleme in Osteuropa 3, Köln 1989) 195.<br />
<strong>Die</strong> Kategorie "Muslime" war 1948 als Muslime mit unbestimmter Nationszugehörigkeit definiert.<br />
Auch die Kategorie der "Jugoslawen" 1953 definierte sich als Jugoslawen unbestimmter<br />
Nationszugehörigkeit. aus: Friedman, The Bosnian Muslims, 155.<br />
65
eine Balance zwischen den verschiedenen Nationen finden mußte. Entsprechend stand<br />
der BdK <strong>Bosnien</strong>s nationalistischen Strömungen am ablehnendsten gegenüber.<br />
Zweitens war die Förderung der muslimischen Nation eine Reaktion auf die<br />
zunehmende Religiosität der Muslime sein. Der muslimische Nationalismus in <strong>Bosnien</strong><br />
sollte das Erstarken <strong>des</strong> Islam abwehren.<br />
Drittens brachte die Förderung der Muslime in <strong>Bosnien</strong> Jugoslawien außenpolitisches<br />
Kapital, insbesondere in der Bewegung der Blockfreien. Muslime dienten, wie erwähnt,<br />
in Botschaften in der arabischen Welt. Besucher aus muslimischen Ländern wurden<br />
nach <strong>Bosnien</strong> gebracht <strong>und</strong> trafen mit bosnischen Muslimen zusammen.<br />
Viertens sollte die Anerkennung der Muslime die jeweiligen Ansprüche von Serben <strong>und</strong><br />
Kroaten auf <strong>Bosnien</strong> entkräften. <strong>Die</strong> Ansprüche beider Nationalbewegungen auf<br />
<strong>Bosnien</strong> verstärkten die Spannungen. Eine Stärkung der Eigenständigkeit <strong>Bosnien</strong>s<br />
sollte eine Vereinnahmung durch Kroatien <strong>und</strong> Serbien entgegenwirken. 212 Im<br />
Vordergr<strong>und</strong> stand die Abwehr der serbischen <strong>und</strong> kroatischen Nationalismen <strong>und</strong> nicht<br />
die Förderung der Muslime an sich. <strong>Die</strong>ses Motiv deckt sich mit der Förderung der<br />
bosnischen Identität, <strong>des</strong> Bošnjaštvo, durch Kállay in der österreichisch-ungarischen<br />
Zeit. (s. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong>1.)<br />
Der letzte Gr<strong>und</strong> erscheint am glaubhaftesten. Das zweite Argument der zunehmenden<br />
Religiösität der Muslime ist jedoch fragwürdig. Eine Stärkung <strong>des</strong> Glaubens in den<br />
sechziger Jahren unter den Muslimen nicht nachweisbar. Nach der Aufwertung der<br />
Muslime in <strong>Bosnien</strong> kam es zu einer weltweiten Renaissance <strong>des</strong> Islam. Durch die<br />
verstärkte Rolle der bosnischen Muslime konnte dieser Aufschwung der Religion<br />
leichter von den bosnischen Muslimen übernommen werden. Somit läßt sich ein<br />
umgekehrter kausaler Zusammenhang zwischen Religiosität <strong>und</strong> Stärkung der Muslime<br />
herstellen, als in Friedman beschreibt. 213<br />
Der „Kroatische Frühling“<br />
Das Ende der politischen Karriere von Aleksander Ranković bedeutete einen Auftakt<br />
zur Liberalisierung in ganz Jugoslawien. <strong>Die</strong>se ermöglichte ein verstärktes Auftreten<br />
von Nationalismen, insbesondere in Kroatien. Der kroatische Nationalismus findet<br />
seinen Ursprung bei Intellektuellen. Eine „Deklaration über die Benennung <strong>und</strong> Stellung<br />
der kroatischen Sprache“ wurde im März 1967 von 19 Kulturorganisationen <strong>und</strong> auch<br />
von dem bekannten kroatischen Schriftsteller Miroslav Krleža unterzeichnet. Sie<br />
provozierte eine Debatte über die angebliche Unterdrückung der kroatischen Sprache<br />
durch das Serbische. Eine Reaktion serbischer Intellektueller ließ nicht lange auf sich<br />
warten. 45 serbische Schriftsteller gestanden der kroatischen Sprache die<br />
Eigenständigkeit zu, forderten aber zugleich die Schaffung von serbischen Schulen in<br />
Kroatien für die dortigen Serben. Sie sollten dementsprechend nur in kyrillisch<br />
unterrichtet werden.<br />
Zunächst folgte der B<strong>und</strong> der Kommunisten <strong>und</strong> die Republiksführung Kroatiens unter<br />
der Führung von Mika Tripalo <strong>und</strong> Savka Dabčević-Kučar einer liberale Position, ohne<br />
den nationalen Forderungen der Intellektuellen nachzugeben. <strong>Die</strong> Deklaration wurde als<br />
„übereilt“ bezeichnet, nicht jedoch abgelehnt. 214 Erst später formierte sich eine<br />
Verbindung zwischen dem BdK Kroatien <strong>und</strong> der kroatischen Kulturorganisation<br />
212<br />
213<br />
214<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 164-168.<br />
Hierzu s. Meier, <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> seine Muslime als Sonderproblem <strong>des</strong> Vielvölkerstaates, 131.<br />
Stankovic, Titos Erbe, 154-159.<br />
66
Matica Hrvatska. Zuerst forderte die kroatische Partei lediglich, Jugoslawien in eine<br />
Konföderation zu verwandeln <strong>und</strong> die Partei zu föderalisieren. <strong>Die</strong>se Politik erfuhr noch<br />
die Unterstützung Sloweniens <strong>und</strong> Mazedoniens. <strong>Die</strong> liberale Linie schwenkte bereits<br />
1969 zu einer nationalistischen Politik über. <strong>Die</strong>se Zeit wird als der „Kroatische<br />
Frühling“, in Anlehnung an den „Prager Frühling“ 1968, bezeichnet. Bei dieser<br />
Bezeichnung werden die liberalen Motive der Bewegung überbewertet <strong>und</strong> die nationale<br />
Komponente vernachlässigt. <strong>Die</strong> Kritik Kroatiens konzentrierte sich auf vier zentrale<br />
Punkte: Erstens wurde die Dominanz serbischer Banken <strong>und</strong> Import-Export Firmen<br />
(insbesondere Genex) in der kroatischen Tourismusindustrie <strong>und</strong> der daraus folgende<br />
Profitabfluß nach Serbien kritisiert. Zweitens mißfiel der kroatischen Führung die<br />
Immigration von Serben nach Kroatien. Drittens beschuldigten Kroatien Serbien, eine<br />
Loslösung Dalmatiens von Kroatien zu betreiben. Schließlich sprach Kroatien den<br />
Vorwurf aus, daß die kroatische Sprache „serbisiert“ würde. 215<br />
<strong>Die</strong> politische Führung folgte dem Druck der Bevölkerung <strong>und</strong> der Matica Hrvatska.<br />
Letztere ist die bedeutendste kroatische Kulturorganisation. <strong>Die</strong> anderen Nationen<br />
Jugoslawiens, außer den Muslimen, besaßen auch vergleichbare Einrichtungen. 216 Zu<br />
Beginn der siebziger Jahre revitalisierte die Matica Hrvatska nationale Symbole <strong>und</strong><br />
arbeitete eine eigene kroatische Grammatik aus. Weiterhin reduzierte das kroatische<br />
Fernsehen die Ausstrahlung anderer jugoslawischer Sendungen. 217<br />
Muslime Kroaten Serben<br />
Anteil in % Bevölkerung BdK Bevölkerung BdK Bevölkerung BdK<br />
1971 39,6 28,3 20,6 11,1 37,2 55,2<br />
1981 39,7 35,5 18,5 12,3 32,2 44<br />
Tabelle 9: Vergleich zwischen dem Anteil der ationen im B<strong>und</strong> der Kommunisten <strong>und</strong> dem Anteil an der<br />
Gesamtbevölkerung <strong>Bosnien</strong>s 218<br />
Der „Kroatische Frühling“ sprang mit Beginn der siebziger Jahre nach <strong>Bosnien</strong> über.<br />
Zuerst expandierte die Matica Hrvatska nach <strong>Bosnien</strong>. Eine kroatische Zeitung<br />
analysierte 1971 die nationale Zusammensetzung der bosnischen Verwaltung (Banken,<br />
Medien, Verwaltung <strong>und</strong> BdK) <strong>und</strong> kam zu dem Ergebnis, daß die Kroaten<br />
unterrepräsentiert sind. <strong>Die</strong>se Behauptung ist, wie aus Tabelle 9 ersichtlich, wahr, doch<br />
auch die Muslime waren unterrepräsentiert. <strong>Die</strong>se Kritik sollte Forderungen nach einem<br />
Anschluß an Kroatien unterstreichen. Nur so könnten die Rechte der kroatischen<br />
Bevölkerung ausreichend gesichert werden. Durch diese expansionistische Rhetorik<br />
weckte Kroatien Ängste in den anderen Republiken <strong>und</strong> ermöglichte eine geschlossene<br />
Front gegen die kroatische Politik. Statt <strong>Bosnien</strong>s Integrität zu verteidigen, erhoben<br />
serbische Politiker daraufhin Gebietsforderungen an Ostbosnien. 219 Anfang 1971<br />
beschloß Tito schließlich, die Liberalisierung <strong>und</strong> Nationalisierung der Politik in<br />
215<br />
216<br />
217<br />
218<br />
219<br />
Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 92-101.<br />
<strong>Die</strong> serbische Kulturorganisation hieß Prosveta.<br />
Ebd., 108-121.<br />
Vor der Volkszählung 1971 läßt sich die genaue Anzahl der Muslime nicht bestimmen, da sie sich<br />
zwischen der Kategorie "Muslime <strong>und</strong> "Jugoslawen" aufteilte. <strong>Die</strong> prozentuelle Abnahme der<br />
kroatischen <strong>und</strong> serbischen Bevölkerung zwischen 1971 <strong>und</strong> 1981 läßt sich durch das starke<br />
Anwachsen der "Jugslawischen" Bevölkerung im gleichen Zeitraum erklären, Ebd., 125.<br />
Ebd. 108-128.<br />
67
Jugoslawien insgesamt <strong>und</strong> insbesondere in Kroatien, zu beenden. Im April 1971<br />
verurteilten die Vertreter <strong>des</strong> BdK <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> die „zunehmend<br />
nationalistisch-hegemonistischen Forderungen, daß <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina Serbien bzw.<br />
Kroatien angehören sollte, weil die Muslime Kroaten bzw. Serben sind.“ 220 Ende 1971<br />
mußte die kroatische Führung schließlich zurücktreten <strong>und</strong> es folgte eine<br />
Säuberungswelle, der nicht nur in Kroatien führende Liberale zum Opfer fielen. <strong>Die</strong><br />
Matica Hrvatska wurde vorübergehend geschlossen <strong>und</strong> etwa 10.000 Mitglieder <strong>des</strong><br />
B<strong>und</strong>es der Kommunisten wurden ausgeschlossen. 221 Das Ende <strong>des</strong> „Kroatischen<br />
Frühling“ verlief relativ friedlich. Trotzdem bestand die Gefahr einer gewaltsamen<br />
Konfrontation. Im Dezember 1971 kam es in Kroatien zu Studentenprotesten <strong>und</strong><br />
Streiks gegen die Säuberungswelle. <strong>Die</strong>se Proteste hätten möglicherweise größer <strong>und</strong><br />
erfolgreicher gewesen sein können, hätten sie einige Wochen später, in den<br />
Weihnachtsferien stattgef<strong>und</strong>en. Dann wären viele Gastarbeiter für die Ferien in<br />
Kroatien gewesen. Viele von ihnen unterstützten die Forderungen <strong>des</strong> „Kroatischen<br />
Frühlings“ <strong>und</strong> hätten sich wahrscheinlich an den beteiligt. Matica Hrvatska hatte in den<br />
vorangehenden Jahren über 30 Zweigstellen im Ausland, überwiegend in Deutschland,<br />
eröffnet. Hierdurch wurden Emigrantenorganisationen <strong>und</strong> Gastarbeiter in den neuen<br />
kroatischen Nationalismus eingeb<strong>und</strong>en. 222<br />
Nicht nur in Kroatien war das Ende <strong>des</strong> „Kroatischen Frühlings“ von Parteiausschlüssen<br />
begleitet, auch in <strong>Bosnien</strong> kam es zu Säuberungen. Sie richteten sich gegen<br />
„Unitaristen“ <strong>und</strong> Anhänger einer Teilung <strong>Bosnien</strong>s zwischen Kroatien <strong>und</strong> Serbien.<br />
1974 rechtfertigte der BdK die Parteiausschlüsse mit einer Bedrohung für die Muslime<br />
<strong>und</strong> die Integrität der Republik. Muslime blieben dementsprechend von den<br />
Säuberungen weitgehend verschont. 223<br />
Der „Kroatische Frühling“ beschleunigte die Identitätsbildung der bosnischen Muslime.<br />
<strong>Die</strong> Gebietsansprüche gegenüber <strong>Bosnien</strong> verdeutlichten den Muslimen den kroatischen<br />
(<strong>und</strong> auch serbischen) Druck auf die Republik. In Folge bauten die Muslime verstärkt<br />
eigene nationale Einrichtungen auf. Zuvor konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf<br />
die Stärkung der gesamten Republik <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina. 224<br />
<strong>Die</strong> Föderalisierung Jugoslawiens<br />
Trotz der Unterdrückung <strong>des</strong> „Kroatischen Frühlings“ wurden viele Forderungen später<br />
durch Tito erfüllt. Mitte der siebziger Jahre wird die kommunistische Partei<br />
föderalisiert; 1974 erhält Jugoslawien weiterhin eine neue Verfassung. Obwohl die<br />
föderale Verfassung <strong>und</strong> einige zentrale Forderungen <strong>des</strong> „Kroatischen Frühling“<br />
erfüllte, blieb diese Zeit durch eine große Illiberalität auf der personellen Ebene geprägt.<br />
Viele Intellektuelle wurden aus der Partei ausgeschlossen oder ins innere Exil gedrängt.<br />
Statt ihnen gelangten politische Opportunisten in hohe Ämter: „...Tito's cultural<br />
revolution purged the League of Communists of all liberal and pragmatic reformers and<br />
gave precedence in all professions to opportunists and poorly educated followers of the<br />
220<br />
221<br />
222<br />
223<br />
224<br />
Stankovic, Titos Erbe, 178.<br />
Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 129 f.<br />
Singleton, A Short History of the Yugoslav Peoples, 258.<br />
Stankovic, Titos Erbe, 197 f.<br />
Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 186.<br />
68
official line.“ 225 Tito konnte bis zu seinem Tod im Mai 1980 als Schiedsrichter<br />
zwischen den Republiken <strong>und</strong> Nationen wirken. Durch das Fehlen einer zentralen<br />
Persönlichkeit nach ihm herrscht schon bald nach Tito's Tod Unklarheit über die Ziele<br />
der Politik. <strong>Die</strong> Phase leitete <strong>des</strong> Ende Jugoslawiens ein.<br />
<strong>2.</strong>4.<strong>2.</strong> Der unabhängige Libanon<br />
<strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> unabhängigen Libanon wurde von zwei Gegensätzen bestimmt.<br />
Auf der einen Seite stand die arabische Identität <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen muslimische<br />
Bevölkerung <strong>und</strong> auf der anderen Seite lag die christliche Bevölkerung mit ihrer<br />
Orientierung nach Westen, insbesondere hin zu Frankreich. <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>linien der Politik<br />
<strong>des</strong> Libanons beruhten dementsprechend auf drei Säulen: Der Erhaltung der<br />
Souveränität, 226 den guten Beziehungen mit anderen arabischen Ländern <strong>und</strong> enge<br />
fre<strong>und</strong>schaftliche <strong>und</strong> kulturelle Verbindungen mit dem Westen. 227 Da sich in der<br />
französischen Mandatszeit lokale Eliten etabliert hatten, deren Erfolg von dem<br />
Fortbestand <strong>des</strong> Staates abhing, nahm die anti-libanesische Strömung in den ersten<br />
Nachkriegsjahren ab. Erst mit der Machtübernahme Nassers in Ägypten bildete sich eine<br />
neue panarabische Politikergeneration, die das Aufgehen <strong>des</strong> Libanons in einem<br />
größeren, meist sozialistisch geprägtem, arabischen Staat propagierten. 228<br />
Das außenpolitische Umfeld<br />
<strong>Die</strong> innere <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon ist stark von den <strong>Entwicklung</strong>en in Israel geprägt.<br />
Seit der Unabhängigkeit <strong>des</strong> Libanon bestimmt der Israelkonflikt das Umfeld <strong>des</strong><br />
Staates. So stimmte der Libanon, wie die anderen arabischen Länder auch, 1948 gegen<br />
den Teilungsplan für Palästina <strong>und</strong> schickte 5.000 Soldaten in den folgenden 1.<br />
Arabisch-Israelischen Krieg. Das Engagement im Krieg war jedoch sehr viel geringer<br />
als das der anderen arabischen Nachbarländer Israels. <strong>Die</strong> Waffenstillstandslinie von<br />
1949 legt die Grenze zwischen dem Libanon <strong>und</strong> Israel fest. Der Konflikt mit Israel<br />
bestimmte auch die Beziehungen zu den Großmächten. So verschlechterten sich die<br />
Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten <strong>und</strong> Libanon. Philip Hitti beschreibt<br />
sehr prägnant die Bestürzung der arabischen Welt über die zunehmende amerkianische<br />
Unterstützung Israels: „In all these lands [arabische Länder], where the mental picture of<br />
an American had been that of an idealistic, altruistic Christian gentleman in his best<br />
S<strong>und</strong>ay clothes and manners, the feeling of disappointment took the form of a shock<br />
from which the people have not yet [1962] recovered.“ 229<br />
Libanon trat 1949 einem kollektiven Sicherheitsbündnis bei, das aus Ägypten, Syrien,<br />
Saudi-Arabien <strong>und</strong> Jemen bestand. <strong>Die</strong> Niederlage im Krieg gegen Israel <strong>und</strong> die<br />
Staatsstreiche gegen die Monarchen in Ägypten <strong>und</strong> Syrien nur wenige Jahre später<br />
machten dieses Bündnis obsolet.<br />
225<br />
226<br />
227<br />
228<br />
229<br />
Vojin Dimitrijević, The 1974 Constitution as a Factor in the Collapse of Yugoslavia or as a Sign of<br />
Decaying Totalitarianism (= EUI Working Papers RSC 94/9, Florenz 1994) 10 f.,33.<br />
Während die Soveränität im westlichen Staatsbegriff fast automatisch Teil einer jeden Politk ist,<br />
bestehen aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Islam <strong>und</strong> der arabischen Bevölkerung in vielen Ländern stets Bestrebungen<br />
gegen den Staat <strong>und</strong> für eine größere Einheit (Panarabismus <strong>und</strong> Panislamismus).<br />
Hitti, Lebanon in History, 497 f.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 25.<br />
Hitti, Lebanon in History, 499.<br />
69
<strong>Die</strong> Beziehungen zu Syrien blieben lange Zeit gespannt. Während <strong>des</strong> französischen<br />
Mandats wurden einige Bereiche der Wirtschaftspolitik gemeinsam verwaltet. 230 In<br />
dieser Zeit wollte Syrien hohe Zölle einführen, der Libanon hingegen vertrat eine freie<br />
Handelspolitik. Dadurch gerieten beide Staaten in Konflikt. Infolge<strong>des</strong>sen lehnte Syrien<br />
nach Ende der französischen Mandatsherrschaft die Fortsetzung der gemeinsame<br />
Verwaltung ab <strong>und</strong> schloß in den fünfziger <strong>und</strong> sechziger Jahren oftmals die Grenze<br />
oder verhängte ein Wirtschaftsembargo. 231 Lange Zeit wurde von Syrien die<br />
Unabhängigkeit <strong>des</strong> Libanons zwar offiziell, jedoch nicht de facto anerkannt, wie es sich<br />
im Verlauf <strong>des</strong> libanesischen Bürgerkrieges öfters zeigte. Bis in die Gegenwart<br />
unterhalten der Libanon <strong>und</strong> Syrien keine diplomatischen Beziehungen, somit gibt keine<br />
Botschaften in dem jeweils anderen Land. 232<br />
<strong>Die</strong> Konsolidierung <strong>des</strong> Staates<br />
Bishara al-Khuri, der noch unter französischer Herrschaft sein Amt als Präsident antrat,<br />
wurde 1948 für weitere 6 Jahre gewählt. Doch schon bald stieß sein von Korruption,<br />
Willkür <strong>und</strong> Privilegienwirtschaft geprägter Regierungsstil auf Kritik. Nachdem die<br />
Parti Populaire Syrien (PPS) seinen Hauptverbündeten, Ministerpräsident Riad as-Solh,<br />
im Sommer 1951 ermordet hatte, kam es zu einer politischen Krise, von der sich al-<br />
Khuri nicht mehr erholte. Zwei Jahre vor dem Auslaufen der Amtszeit, am 18.<br />
September 1952 mußte er schließlich zurücktreten. 233 Obwohl diese Machtübergabe<br />
nicht spannungsfrei ablief, kam es zu keinen Auseinandersetzungen. Auf Al-Khuri<br />
folgte der pro-westliche Camille Chamoun als Präsident. <strong>Die</strong>ser friedliche<br />
Regierungswechsel stellte damals in der arabischen Welt eine Neuheit dar, die auch<br />
heute noch Seltenheitswert hat.<br />
Der neue Präsident erwies sich jedoch nicht als viel erfolgreicher als sein Vorgänger.<br />
Reformen der Verwaltung <strong>und</strong> <strong>des</strong> Wahlrechts wurden aufgeschoben. Auch kam er mit<br />
dem zunehmenden arabischen Nationalismus in Konflikt, der insbesondere seit der<br />
Machtübernahme Gamal Abdel Nasser 1953 in Ägypten stärker wurde. 234<br />
Das Parlament führte 1952 das passive <strong>und</strong> aktive Frauenwahlrecht ein 235 <strong>und</strong> versuchte<br />
erfolglos, den konfessionellen Schlüssel <strong>des</strong> Wahlrechts abzuschaffen. Genaue Zahlen<br />
über die konfessionelle Verteilung lagen bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor.<br />
<strong>Die</strong> letzte Volkszählung fand 1932 statt. Aus politischen Gründen wurde bis heute keine<br />
weitere durchgeführt. Insbesondere die Maroniten befürchteten einen Machtverlust,<br />
wenn neue Zahlen bekannt würden, so daß nur noch unzuverlässige „Schätzungen“<br />
stattfanden. Entsprechend ist auch die Gesamtzahl der Bevölkerung seit 1932 stets nur<br />
eine Schätzung. Bereits die Zählung 1932 war von Frankreich manipuliert wurden, so<br />
daß sie als Basis für spätere Schätzungen kaum zuverlässig ist (s. Tabelle 10). 236 <strong>Die</strong><br />
konfessionelle Gliederung <strong>des</strong> Parlamentes wurde 1959 formal auf die Verwaltung<br />
230<br />
231<br />
232<br />
233<br />
234<br />
235<br />
236<br />
Zölle, Grenzkontrollen, Tabakmonopol <strong>und</strong> Firmenkonzession für Unternehmen, die in beiden<br />
Ländern aktiv sind.<br />
Hitti, Lebanon in History, 500.<br />
Kuderna, Libanon, 235.<br />
Helena Cobban, The making of modern Lebanon (London 1985) 83.<br />
Hitti, Lebanon in History, 506-508<br />
Zugleich mußten Frauen, im Unterschied zu Männern, die Elementarbildung abgeschlossen haben,<br />
um wählen zu dürfen, s. Ansawi, Libanon, 21 f.<br />
Kuderna, Libanon, 236.<br />
70
übertragen. Bereits zuvor wurden Posten informell nach dem gleichen Prinzip verteilt,<br />
wobei Maroniten <strong>und</strong> Sunniten bis zum Ausbruch <strong>des</strong> Bürgerkrieges bevorzugt blieben.<br />
So waren 1955 40 Prozent der Beamten Maroniten, 27 Prozent Sunniten <strong>und</strong> nur 3,6<br />
Prozent Schiiten. 237<br />
237<br />
Gordon, The Republic of Lebanon, 83.<br />
71
Christen<br />
Muslime<br />
Maroniten 423.000 30,0 % Sunniten 286.000 20,3 %<br />
griechischorthodox<br />
griechischkatholisch<br />
149.000 10,6 % Schiiten 250.000 17,7 %<br />
91.000 6,5 % Drusen 88.000 6,2 %<br />
Andere 238 12<strong>2.</strong>000 8,7 % Insgesamt 1.409.000 100 %<br />
Tabelle 10: <strong>Die</strong> letzte offizielle Schätzung der Bevölkerung 1956 239<br />
Das Wahlrecht (vgl. Kapitel 3.1.<strong>2.</strong>) verhinderte den Aufstieg von neuen Politikern.<br />
Somit blieb das Parlament hinter der gesellschaftlichen <strong>Entwicklung</strong> zurück <strong>und</strong> schloß<br />
neue politische Strömungen aus dem System aus. <strong>Die</strong>se entwickelten sich in Folge<br />
außerhalb <strong>des</strong> politischen Establishment. Zu ihnen zählte die muslimische Bevölkerung,<br />
die sich durch das System nur unzureichend repräsentiert sah, linke Gruppen, die sich<br />
gegen das konfessionelle System wandten <strong>und</strong> ausländische Mächte, insbesondere die<br />
Sowjetunion, Syrien <strong>und</strong> Ägypten, die sich aus verschiedenen Gründen am Libanon<br />
interessierten.<br />
Gegen Ende der fünfziger Jahre gewann diese außerparlamentarische Opposition an<br />
Bedeutung. <strong>Die</strong> Bedrohung <strong>des</strong> Systems wurde erstmals beim Bürgerkrieg 1958<br />
deutlich. 240<br />
Der 1. Bürgerkrieg 1958<br />
Der größte Gegner Chamouns war Kamal Jumblat, der die Wahl Chamouns (gegen<br />
Bishara al-Khuri) zwar zunächst unterstützte, sich dann jedoch gegen ihn wandte.<br />
Chamoun versuchte Jumblat zu entmachten, da beide aus der gleichen Region (Chouf)<br />
stammten <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb regionale Konkurrenten waren. So förderte er Drusen, der<br />
anderen “Fraktion“ innerhalb der Konfession (vgl. Kapitel 3.4.<strong>2.</strong>) <strong>und</strong> regierte mit<br />
Sunniten, die nicht der politischen Elite entstammten. Chamoun versucht seine<br />
innenpolitischen Gegner durch Manipulationen der Wahl 1957 auszuschalten. So verlor<br />
Jumblat <strong>und</strong> andere wichtige muslimische Politiker ihren Sitz im Parlament. 241<br />
Rabinovich bezeichnet den Erfolg dieser Manipulation als einen „Pyrrhussieg“, da die<br />
Opposition nun außerparlamentarisch gegen Chamoun agierte. <strong>Die</strong> Spannungen spitzten<br />
sich zu, als Chamoun trotz Kritik den prowestlichen Ministerpräsidenten al-Sulh im<br />
Amt behielt <strong>und</strong> eine zweite Amtszeit anstrebte <strong>und</strong> somit die Gr<strong>und</strong>sätze <strong>des</strong><br />
staatlichen Konsens in Frage stellte. 242<br />
<strong>Die</strong> Bedrohung verstärkte sich, als Syrien <strong>und</strong> Ägypten sich 1958 zur Vereinten<br />
Arabischen Republik zusammenschlossen. Präsident Chamoun, nahm wohl auch als<br />
Reaktion darauf, die von den USA im Rahmen der „Eisenhower-Doktrin“ angebotene<br />
Unterstützung in der Höhe von 20 Millionen Dollar als einziges arabisches Land an. <strong>Die</strong><br />
238<br />
239<br />
240<br />
241<br />
242<br />
Andere sind neben Juden auch kleinere christliche <strong>und</strong> muslimische Gruppen.<br />
Marcel Pott, Renate Schimkoreit-Pott, Beirut. Zwischen Kreuz <strong>und</strong> Koran (Braunschweig 1985)<br />
34<strong>2.</strong><br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 26 f.<br />
Cobban, The making of modern Lebanon , 84 f.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 27 f.<br />
72
„Eisenhower-Doktrin“ bot jedem Staat im Nahen Osten Hilfe an, der durch Aggression<br />
<strong>des</strong> „internationalen Kommunismus“ bedroht wurde. 243<br />
Nach dem Mord an einem maronitischen Journalisten, der dem Präsidenten kritisch<br />
gegenüberstand, brachen in Tripoli, Sidon <strong>und</strong> im Chouf-Gebirge Unruhen aus. <strong>Die</strong>ser<br />
Aufstand ging von der nun außerparlamentarischen Opposition <strong>und</strong> auch von<br />
ehemaligen Ministern <strong>und</strong> Abgeordneten aus, die sich durch den Klientelismus <strong>des</strong><br />
Präsidenten benachteiligt fühlten. <strong>Die</strong>se Allianz von traditioneller muslimischer Elite<br />
mit neuen panarabischen Kräften stellte eine besonders große Bedrohung für den<br />
Präsidenten dar. Durch den kurzen Bürgerkrieg starben <strong>2.</strong>000 bis 4.000 Menschen. Das<br />
öffentliche Leben im Libanon war gelähmt. Im Juli 1958 betrieb die Vereinte Arabische<br />
Republik (Syrien <strong>und</strong> Ägypten) einen Putsch im Irak. <strong>Die</strong>ser führte zu einem<br />
Hilfsgesuch von Chamoun an den amerikanischen Präsidenten Eisenhower, da er eine<br />
gewaltsame Machtübernahme nun auch im Libanon befürchtete. <strong>Die</strong> Vereinigten<br />
Staaten schickten daraufhin 10.000 Marines in den Libanon. Sie griffen jedoch nicht in<br />
den Konflikt ein, als sie erkannten, wie wenig Rückhalt Chamoun besaß. So sah<br />
Präsident Eisenhower die Sinnlosigkeit eines Eingriffs ein: „I felt we were backing up a<br />
government with so little popular support that we probably should not be there.“ 244<br />
Auch die libanesische Armee erklärte sich für neutral. Da der Präsident von keiner Seite<br />
Unterstützung erhielt <strong>und</strong> zugleich seine reguläre Amtszeit auslief, blieb ihm nur der<br />
Rücktritt. <strong>Die</strong>s entschärfte die Lage.<br />
Der kurze Bürgerkrieg zeigte Muslimen <strong>und</strong> Christen das fragile Gleichgewicht <strong>des</strong><br />
libanesischen Systems. Politik, die sich von dem Konsens zu weit entfernt, führte<br />
unweigerlich zum Krieg. <strong>Die</strong>se Krise zeigte jedoch nicht nur die Zerbrechlichkeit<br />
sondern auch die Fähigkeit zum Ausgleich. <strong>Die</strong> Jahre nach 1958 brachten ein Mäßigung<br />
beider Seiten mit sich. 245 Der Bürgerkrieg verdeutlichte drei Bruchlinien in der Politik.<br />
Der vorrangige Konflikt bestand zwischen „Nasseristen“ <strong>und</strong> Vertretern eine prowestlichen<br />
Politik. Auf der zweiten Ebene fand eine Auseinandersetzung zwischen<br />
Christen <strong>und</strong> Muslimen statt. Der dritte Gegensatz war zwischen einer alten Elite <strong>und</strong><br />
einer neuen, radikaleren Gruppe von Politikern. Alle drei Ebenen spielen beim<br />
Ausbruch <strong>des</strong> Bürgerkrieges 1976 erneut die wichtigste Rolle.<br />
Der Shihabismus<br />
Der Armeechef Fu'uad Shihab (1958-1964) wurde der Nachfolger von Chamoun. Er<br />
bemühte sich darum, die gut organisierte maronitische Kata'ib Partei einzubinden. Auch<br />
mit der muslimischen Opposition pflegte er Kontakte, um die Gefahr eines neuen<br />
Bürgerkrieges abzuwenden. 246 <strong>Die</strong> Stärke der Präsidentschaft von Shihab lag, neben<br />
seinem guten Ruf wegen seiner Unparteilichkeit im Bürgerkrieg 1958, in der<br />
einflußreichen Stellung seiner Familie <strong>und</strong> dem Rückhalt in der Armee. Shihab konnte<br />
sich somit als Retter <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> präsentieren.<br />
Shihab setzte den wirtschaftsliberalen Kurs fort, versuchte jedoch zugleich<br />
benachteiligte Regionen fördern <strong>und</strong> die Sozialpolitik zu stärken. Doch auch Shihab<br />
gelang es nicht, eine umfassende Reform durchzusetzen. Er konnte jedoch den<br />
243<br />
244<br />
245<br />
246<br />
Stephen E. Ambrose, Rise to Globalism. American Foreign Policy since 1938 (New York 1988)<br />
164.<br />
Ebd., 165.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 29.<br />
Gordon, The Republic of Lebanon, 26-28.<br />
73
Staatsapparat stärken <strong>und</strong> manche großen Ungerechtigkeiten ausgleichen. Zugleich<br />
baute er das Deuxième Bureau, die militärische Geheimpolizei, auf. Nach dem Ende<br />
seiner Amtszeit wurde deutlich, daß die Stärkung <strong>des</strong> Staates nur vorübergehend war.<br />
Der schwache Präsident Charles Hélou (1964-1970) stand unter dem Einfluß Shihab's,<br />
der versuchte durch seinen Nachfolger weiter die Politik zu bestimmen. Da Hélou<br />
jedoch eine klare Mehrheit im Parlament fehlte, wurden Reformen <strong>des</strong> politischen<br />
Systems weiter aufgehalten. Seine Amtszeit wurde zudem von innen- <strong>und</strong><br />
außenpolitischen Krisen geprägt. So brach 1966 die Intra-Bank zusammen (vgl. Kapitel<br />
3.3.<strong>2.</strong>) <strong>und</strong> im folgende Jahr folgte die katastrophale Niederlage der arabischen Länder<br />
im Krieg gegen Israel. Obwohl der Libanon am Krieg nicht beteiligt war schwächte der<br />
Sieg Israels die panarabischen Bewegungen <strong>und</strong> das Selbstvertrauen der arabischen<br />
Welt. Für den Libanon bedeutete der Sechs-Tage-Krieg in erster Linie eine weitere<br />
palästinensische Flüchtlingswelle. 247<br />
<strong>Die</strong> Palästinenser im Libanon<br />
Seit dem 1. Arabisch-Israelischen Krieg 1948 lebten zwischen 75.000 <strong>und</strong> 200.000<br />
Palästinenser im Libanon. Etwa 20 Prozent von ihnen (meist Christen) wurden in die<br />
Gesellschaft integriert <strong>und</strong> erhielten teils auch die libanesische Staatsbürgerschaft. Viele<br />
von ihnen waren Maroniten <strong>und</strong> andere Christen, die erst nach Ende <strong>des</strong> 1. Weltkrieges<br />
vom Libanon nach Palästinas ausgewandert sind. <strong>Die</strong> Mehrheit der Palästinenser mußte<br />
jedoch in Flüchtlingslagern bleiben. <strong>Die</strong> Lager sollten sicher stellen, daß die Flüchtlinge<br />
möglichst bald nach Palästina zurückkehren. <strong>Die</strong> Palästinenser aus den Lagern wurden<br />
nicht in die Gesellschaft integriert, um Druck auf Israel aufrecht erhalten. Weiterhin<br />
befürchtete die christliche politische Elite bei der Integration der mehrheitlich<br />
muslimischen Palästinenser die Vorherrschaft zu verlieren. 248 Bis zum Ende der<br />
sechziger Jahre wurden die Palästinenser im Libanon in erster Linie als<br />
Flüchtlingsproblem betrachtet. Sie dominierte bereits zuvor die außerparlamentarische<br />
Opposition. Da ihnen libanesische Verbündete fehlten wurde die palästinensische<br />
Ablehnung <strong>des</strong> politischen Systems <strong>des</strong> Libanon kaum wahrgenommen. 249<br />
Ab 1965 verstärkten sich die Konflikte zwischen libanesischen Christen <strong>und</strong><br />
Palästinensern. Neben den neuen Flüchtlingen nach dem Sechs-Tage-Krieges 1967 gab<br />
es zwei weitere Gründe: <strong>Die</strong> linken <strong>und</strong> überwiegend muslimischen Parteien unter<br />
Führung <strong>des</strong> Drusen Jumblat bildeten mit der PLO eine oppositionelle Allianz. <strong>Die</strong><br />
politische Führung der Palästinenser, die PLO mußten schließlich 1970 ihre Basis<br />
Jordanien verlassen.<br />
<strong>Die</strong> meisten palästinensischen Flüchtlinge kamen entweder von der Westbank oder aus<br />
Gaza, die in Folge <strong>des</strong> Krieges von 1967 Israel besetzt wurden. Je nach Schätzung<br />
wuchs die Zahl der Palästinenser im Libanon auf 200.000 bis 300.000 an. 65 % von<br />
ihnen lebten in Lagern. Somit blieben im Libanon fast 10 % der Bevölkerung<br />
ausgegrenzt <strong>und</strong> verarmten. 250<br />
<strong>Die</strong> palästinesischen Flüchtlinge <strong>und</strong> Widerstandsgruppen führten dazu, daß der<br />
Libanon in den Konflikt mit Israel hineingezogen wurde. Als Vergeltungsmaßnahme<br />
247<br />
248<br />
249<br />
250<br />
Rabbath, La Formation du Liban Politique et Constitutionnel, 573-575.<br />
Gordon, The Republic of Lebanon, 91; D. Th. Schiller, Der Bürgerkrieg im Libanon. Entstehung,<br />
Verlauf, Hintergründe (München 1979) 94-96.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 40.<br />
Schiller, Der Bürgerkrieg im Libanon, 96 f.<br />
74
gegen eine palästinensische Aktion gegen Israel zerstörten israelische Einheiten im<br />
Dezember 1968 alle Flugzeuge am Beiruter Flughafen. Israel brachte somit deutlich<br />
zum Ausdruck, daß es den Libanon für die Aktivitäten von Palästinensern<br />
verantwortlich hielt. <strong>Die</strong>ser Angriff führte zu einer ungewohnten einhelligen<br />
Verurteilung aller Konfessionen Israels. Studenten protestierten gegen die Angriffe <strong>und</strong><br />
forderten die Einführung der Wehrpflicht im Land. <strong>Die</strong>se allgemeine Sympathie für die<br />
Palästinenser hielt jedoch nicht lange an. Proteste <strong>und</strong> Ausschreitungen in Sidon von<br />
Palästinensern <strong>und</strong> sunnitischen Libanesen gegen die Passivität der Regierung im<br />
Angesicht der israelischen Bedrohung verdeutlichte der maronitischen Elite, daß ihre<br />
Vormacht durch die Palästinenser bedroht werden könnte. <strong>Die</strong> Reaktion der meisten<br />
maronitischen Parteien war jedoch nicht eine Stärkung <strong>des</strong> Staates, sondern die<br />
Aufrüstung der Parteimilizen. 251<br />
Eine Konferenz in Kairo 1969 unter Vermittlung <strong>des</strong> ägyptischen Präsidenten Nasser<br />
sollte die Beziehungen zwischen dem Libanon <strong>und</strong> der PLO regeln. Der Vertrag<br />
untersagte Palästinensern Waffen außerhalb der Lager zu tragen <strong>und</strong> von libanesischen<br />
Boden aus Israel zu bombardieren. Der Zugang nach Israel wurde auf bestimmte<br />
Grenzgebiete beschränkt. Zugleich mußte der Libanon die militärische Präsenz der PLO<br />
im Land anerkennen. Das Abkommen besiegelte einen Souveränitätsverlust der<br />
libanesischen Regierung. Ein bedenkliches Licht warf der Ratifizierungsprozeß <strong>des</strong><br />
Abkommens auf die libanesische Demokratie: Dem Parlament lag der Vertrag nicht vor,<br />
so daß es über einen unbekannten Text abstimmte. Trotz der Ablehnung der meisten<br />
maronitischen Politikern, verabschiedete das libanesische Parlament das Abkommen.<br />
<strong>Die</strong>s führte zu einer Verschärfung der konfessionellen Spannungen <strong>und</strong> trug reduzierte<br />
die Legitimität <strong>des</strong> Abkommens. Trotzdem wurden die palästinensischen Gruppen<br />
erstmals libanesischen Gesetzen unterworfen. 252 <strong>Die</strong>ses Abkommen kann als Versuch<br />
gewertet werden, Unvereinbares zu verbinden. Der Schutz der Autonomie der PLO <strong>und</strong><br />
die Sicherung libanesischer Souveränität schließen einander aus. Der Vertrag stellte<br />
somit nur ein Provisorium dar, daß die gr<strong>und</strong>legenden Konflikte zwischen dem Staat<br />
<strong>und</strong> der PLO nicht lösen konnte.<br />
Während der Amtszeit von Shihab <strong>und</strong> Hélou erfolgte eine enge Anlehnung an Ägypten<br />
(bzw. die Vereinigte Arabische Republik, VAR). So wurde der Botschafter der VAR im<br />
Libanon oft als der neue “Hochkommissar“ <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> bezeichnet. Trotzdem war die<br />
Zeit von einer Stärkung staatlicher Strukturen geprägt. 253 <strong>Die</strong> ägyptenfre<strong>und</strong>liche Politik<br />
<strong>und</strong> Spannungen den Palästinensern führten zu einer oppositionellen Allianz der<br />
maronitischen Parteien. Bei den Parlamentswahlen 1968 schlossen sich die Kata'ib, die<br />
National-Liberale Partei <strong>und</strong> der Nationale Block gegen Shihab zusammen <strong>und</strong><br />
bestimmten die politische Richtung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. <strong>Die</strong>se Koalition förderten die Wahl<br />
Sulaiman Franjiyya (1970-1976) zum Präsidenten zwei Jahre später. 254<br />
<strong>2.</strong>4.3. Zusammenfassung<br />
<strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong>s nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg ist von einer relativ<br />
langen friedlichen Phase gekennzeichnet. In <strong>Bosnien</strong> war die Stabilität nach 1945 das<br />
251<br />
252<br />
253<br />
254<br />
Rabbath, La Formation du Liban Politique et Constitutionnel, 576-579.<br />
Gordon, The Republic of Lebanon, 93. Für den Text <strong>des</strong> Abkommen von Kairo <strong>und</strong> den <strong>2.</strong> Vertrag<br />
mit der PLO vom Mai 1973 (Melkart Abkommen) s. Votzke, Der umstrittene Krieg im Libanon,<br />
229-238.<br />
Cobban, The making of modern Lebanon, 93 f.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 31.<br />
75
Ergebnis der kommunistischen Diktatur <strong>und</strong> der großen Leiden aller Nationen <strong>Bosnien</strong>s<br />
<strong>und</strong> Jugoslawiens. Der Libanon erlebte keine Katastrophe wie <strong>Bosnien</strong>. In der<br />
Zwischenkriegszeit <strong>und</strong> im <strong>2.</strong> Weltkrieg kam es im Libanon zwar zu Aufständen <strong>und</strong><br />
Unruhen, die jedoch in keinem Verhältnis zum Bürgerkrieg in Jugoslawien standen. <strong>Die</strong><br />
Stabilität <strong>des</strong> Libanon beruhte vor allem auf den im Nationalpakt gef<strong>und</strong>en Konsens <strong>und</strong><br />
der allgemein akzeptierten staatlichen Eigenständigkeit <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Zugleich wurde das<br />
Land seit der Unabhängigkeit Kriegen <strong>und</strong> internen Krisen der Nachbarstaaten<br />
ausgeliefert, was die friedliche <strong>Entwicklung</strong> im Libanon noch erstaunlicher scheinen<br />
läßt.<br />
<strong>Die</strong> Stabilität nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg beruhte im Libanon <strong>und</strong> in Jugoslawien allgemein,<br />
insbesondere in <strong>Bosnien</strong>, auf einem fragilen Gleichgewicht. Der Nationalpakt im<br />
Libanon sicherte einen Ausgleich zwischen Sunniten <strong>und</strong> Maroniten, die jeweils den<br />
Anspruch erhoben alle Muslime bzw. Christen zu repräsentieren. <strong>Die</strong>ser Pakt<br />
bevorzugte die Maroniten, die aufgr<strong>und</strong> französischer Unterstützung ihre Vorherrschaft<br />
absichern konnten. Trotzdem stellte die garantierte Machtbeteiligung von Sunniten <strong>und</strong><br />
Schiiten ein Gleichgewicht her, das trotz fehlender Ausgewogenheit dreißig Jahre lang<br />
funktionierte. Im <strong>2.</strong> Jugoslawien schuf die kommunistische Partei ein ähnliches<br />
Gleichgewicht zwischen den Serben <strong>und</strong> den anderen Nationen. Während die<br />
Zwischenkriegszeit von einer serbischen Dominanz geprägt war, bemühte sich Tito <strong>und</strong><br />
die neue kommunistische Elite um einen Ausgleich zwischen den Nationen. <strong>Die</strong>s hatte<br />
Einfluß auf die Strukturierung der Republiken <strong>und</strong> trug zur Schaffung <strong>Bosnien</strong>s als<br />
eigenständige Republik bei. Nachdem <strong>Bosnien</strong> weder in der Zwischenkriegszeit, noch<br />
im faschistischen Kroatien bestand, war es nicht selbstverständlich, <strong>Bosnien</strong>-<br />
Herzegowina wiederherzustellen. Da der Krieg die größten Bruchlinien zwischen<br />
Kroaten <strong>und</strong> Serben aufzeigte, bemühte sich die KP darum, durch <strong>Bosnien</strong> einen<br />
„Puffer“ zwischen beiden Republiken zu schaffen. Zudem sollte die Eigenständigkeit<br />
<strong>Bosnien</strong>s Neid <strong>und</strong> territoriale Ansprüche von Serben <strong>und</strong> Kroaten gegeneinander<br />
aufheben. Innerhalb <strong>Bosnien</strong>s selber herrscht ein ähnliches Gleichgewicht vor. Trotz der<br />
formalen Ausgewogenheit der drei Nationen ist jedoch in Erinnerung zu rufen, daß in<br />
<strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> anderen Republiken die serbische Bevölkerung, insbesondere in den ersten<br />
20 Jahren Jugoslawiens, überrepräsentiert waren.<br />
Weder im Libanon, noch in <strong>Bosnien</strong>, besaß die Balance ein stabiles F<strong>und</strong>ament. In<br />
<strong>Bosnien</strong> wurde dies durch das Verdrängen der Kriegsgeschichte <strong>und</strong> eine<br />
kommunistische Diktatur erreicht, die die nationale Frage für lange Zeit für „gelöst“<br />
hielt. 255 Im Libanon war zwar eine freie Diskussion über den Nationalpakt möglich, eine<br />
Neuverhandlung der Bedingungen dieses Gleichgewichts bedrohte jedoch, wie in<br />
Jugoslawien auch, den Bestand <strong>des</strong> Staates.<br />
Aus dem Versuch der Benachteiligten, das Gleichgewicht der Nationen bzw.<br />
Konfessionen neu zu bestimmen, entstanden im Rahmen <strong>des</strong> „kroatischen Frühling“<br />
1969-1971 <strong>und</strong> <strong>des</strong> 1. libanesischen Bürgerkrieges 1958 Staatskrisen, die nicht nur eine<br />
Bedrohung für die Kooperation der einzelnen Gruppen darstellten, sondern den Staat<br />
insgesamt gefährdeten.<br />
Bei beiden Krisen verbanden sich integrierte Vertreter <strong>des</strong> jeweiligen Systems (die<br />
kroatische KP in Jugoslawien <strong>und</strong> traditionelle muslimische Politiker im Libanon) mit<br />
255<br />
Der Partisanen-Mythos <strong>und</strong> die Darstellung <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkrieges nahm zwar einen breiten Raum in<br />
Jugoslawien seit 1945 ein, zu einer wirklich freien Diskussion über die Kriegsereignisse kam es<br />
jedoch erst seit Mitte der achtziger Jahre - unter nationalistischem Vorzeichen.<br />
76
adikaleren Politikern <strong>und</strong> Intellektuellen, die sich gegen das System richteten (Matica<br />
Hrvatska <strong>und</strong> kroatische Nationalisten in Jugoslawien <strong>und</strong> Nasseristen im Libanon).<br />
<strong>Die</strong>se Verbindung stellte eine besondere Bedrohung für die beiden Länder, dar, da die<br />
Neuordnung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> auf zwei Ebenen vorangetrieben wurde: Innerhalb der<br />
Institutionen <strong>des</strong> politischen Systems <strong>und</strong> durch Druck von nicht-staatlicher Seite<br />
(Demonstrationen, Kulturinstitute <strong>und</strong> Medien).<br />
<strong>Die</strong>se Krise zeigen in beiden Staaten die Bruchlinien auf, die sich später im blutigen<br />
Krieg ausdrückten. Interessant ist eine Betrachtung der Akteure die zur Beendigung der<br />
Krise in Libanon 1958 <strong>und</strong> in Jugoslawien/<strong>Bosnien</strong> 1971 beigetragen haben. In<br />
Jugoslawien endete der „Kroatische Frühling“ mit einer Säuberungswelle in Partei <strong>und</strong><br />
Staat. Alle Akteure außerhalb <strong>des</strong> politischen Systems, wie Matica Hrvatska, wurden<br />
unterdrückt. <strong>Die</strong> Änderungsvorschläge <strong>und</strong> Kritik <strong>des</strong> neuen kroatischen Nationalismus<br />
wurden jedoch nicht leichtfertig ignoriert. <strong>Die</strong> Reformen von Staat <strong>und</strong> Partei Mitte der<br />
siebziger Jahre berücksichtigen die moderaten Positionen <strong>des</strong> „Kroatischen Frühlings“.<br />
Nicht berücksichtigt wurden jedoch die Rufe nach Demokratisierung <strong>und</strong> Öffnung <strong>des</strong><br />
politischen Systems. Im Libanon war die Oppositionsbewegung von 1958 personell<br />
erfolgreicher. Der Präsident trat zurück <strong>und</strong> die folgende politische <strong>Entwicklung</strong><br />
integrierte einige Politiker der Opposition in das politische System. Im Gegensatz zu<br />
Jugoslawien wurde der Staat weder reformiert, noch wurden die wesentlichen<br />
Forderungen der Oppositionellen erfüllt.<br />
Sowohl im Libanon, wie auch in Jugoslawien konnte die Konfrontation nur durch eine<br />
Person oder Institution beigelegt werden, die nicht für eine der beiden Konfliktparteien<br />
durch die Auseinandersetzung diskreditiert war. In Jugoslawien stand Tito über der<br />
kroatischen Kritik, so daß seine Unterdrückung <strong>des</strong> „Kroatischen Frühlings“ nicht als<br />
großserbische oder eine ähnliche Reaktion interpretiert wurde. Eine weitere Zuspitzung<br />
konnte so vermieden werden. Im Libanon blieb nur die schwache Armee <strong>und</strong> ihr<br />
Oberbefehlshaber an 1. Bürgerkrieg unbeteiligt. Sie waren somit die einzige für beide<br />
Konfliktparteien akzeptable Institutionen.<br />
<strong>Die</strong> im Libanon geprägte Formel von dem Bürgerkrieg ohne Sieger <strong>und</strong> Besiegte ließe<br />
sich auch für den „Kroatischen Frühling“ anwenden. <strong>Die</strong>s gilt zwar nicht auf<br />
personeller, wohl aber auf inhaltlicher Ebene. In beiden Ländern führte die<br />
Konfrontation nicht zu der nötigen Gr<strong>und</strong>satzdiskussion über die erwünschte<br />
Staatsform, so daß die Elite beider Länder eine weitere Auseinandersetzung um das<br />
politisches System nur aufschoben. Als dieses Thema erneut in Jugoslawien/<strong>Bosnien</strong><br />
<strong>und</strong> im Libanon auf der Tagesordnung stand, fehlten in beiden Ländern die<br />
ausgleichenden Elemente, die eine Konfrontation entschärfen konnten.<br />
<strong>2.</strong>5. <strong>Die</strong> Zeit vor dem Bürgerkrieg<br />
<strong>Die</strong> Zeit vor dem Bürgerkrieg läßt sich im Fall von <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> den<br />
Libanon nicht klar von der <strong>Entwicklung</strong> beider Länder nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg trennen.<br />
Mit dem Tod Titos 1980 <strong>und</strong> der Kairoer Konferenz zwischen Libanon <strong>und</strong> der PLO<br />
1969 beginnt in beiden Staaten jedoch eine Periode, in der die innerstaatlichen<br />
Spannungen zunahmen <strong>und</strong> ein Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher wurde. <strong>Die</strong>se<br />
Periode steht in Kapitel 3 im Vorgr<strong>und</strong>, <strong>des</strong>halb entfällt hier die Zusammenfassung.<br />
<strong>2.</strong>5.1. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina<br />
Mit dem Tod von Tito im Mai 1980 ging Jugoslawien der einzige „Schiedsrichter“<br />
zwischen den Republiken <strong>und</strong> Nationen verloren. Im Lauf der achtziger Jahre kommt<br />
der Gesamtstaat auf verschiedenen Ebenen zunehmend in eine Krise, die von den<br />
77
Politikern nicht mehr bewältigt werden konnten. Das oberste Organ <strong>des</strong> Staats ist seit<br />
1980 das Staatspräsidium mit einem jährlich wechselnden Präsidenten. Immer weniger<br />
Autorität geht jedoch von den Organen <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es aus <strong>und</strong> die Republiken führen am<br />
Ende <strong>des</strong> Jahrzehnts eine weitgehend eigenständige Politik (vgl. Kapitel 3.1.1.)<br />
<strong>Die</strong> Politik der Republiken Anfang der achtziger Jahre gliedert sich an zwei Achsen. <strong>Die</strong><br />
erste Achse bestimmt, ob die Republiken eine Konföderation bzw. eine Beibehaltung<br />
der föderalen Verfassung von 1974 anstreben oder eine Rezentralisierung verlangen. An<br />
der zweiten Achse gliedern sich die Republiken nach ihrer politischen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Zielen. <strong>Die</strong> eine Gruppe strebte eine Liberalisierung <strong>des</strong> Systems an,<br />
während eine zweite eine konservative Linie vertritt. Liberal Republiksparteien<br />
forderten eine Reform <strong>des</strong> Wirtschaftssystems <strong>und</strong> politische Diskussionen. <strong>Die</strong>se Art<br />
<strong>des</strong> Liberalismus ist jedoch nicht unbedingt mit Pluralismus <strong>und</strong> Demokratie<br />
gleichzusetzen.<br />
Serbien<br />
Liberal<br />
Vojvodina<br />
Slowenien<br />
Zentralistisch<br />
<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina Kroatien<br />
Montenegro<br />
Mazedonien<br />
Kosovo<br />
Konservativ<br />
Föderal<br />
Graphik 1: <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>positionen der Republiken <strong>und</strong> Provinzen Anfang der achtziger Jahre 256<br />
<strong>Bosnien</strong> strebte eine zentralistisches System an, da die Führung erneute Ansprüche auf<br />
bosnisches Gebiet von kroatischer oder serbischer Seite im Rahmen einer weiteren<br />
Föderalisierung befürchtete.<br />
<strong>Die</strong> Konföderalisierung in den siebziger Jahren hat zu einer neuen Politikergeneration in<br />
Jugoslawien geführt. Nach dem Tod der ersten Generation (meist ehemalige Partisanen,<br />
u.a. Kardelj 1979, Tito 1980, Ranković 1983) übernahmen Politiker die Macht in<br />
Jugoslawien, die ihre Machtbasis in erster Linie in einer jeweiligen Republik besaßen.<br />
Ohne Rückhalt in einer Republik ließ sich nach Titos Tod kaum noch Politik machen.<br />
Nicht zuletzt das Scheitern von Ante Marković als letzter jugoslawischer<br />
Premierminister ist hierfür ein Indiz. Während in den anderen Republiken somit eine<br />
zunehmend national orientierte Politik ermöglicht wurde, mußten in <strong>Bosnien</strong><br />
multinationale Koalitionen gebildet werden. 257<br />
<strong>Die</strong> Rolle der Muslime in den achtziger Jahren<br />
Der in sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren begonnene Prozeß der muslimischen<br />
Identitätsbildung setzte sich im Jahrzehnt nach Titos Tod fort. In <strong>Bosnien</strong> etablierte sich<br />
ein informelles Rekrutierungssystem der Elite nach einem nationalen Schlüssel.<br />
Hierdurch verringerte sich das serbische Übergewicht in der Verwaltung <strong>und</strong> Partei;<br />
1985 waren die Muslime in der Partei proportional zur Bevölkerung vertreten. Lediglich<br />
256<br />
257<br />
Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 217.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 188.<br />
78
in der Spitzenpositionen der Republik <strong>und</strong> <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es blieben Muslime<br />
unterrepräsentiert. Weiterhin blieben Kroaten <strong>und</strong> Muslime in der Polizei <strong>und</strong> Armee<br />
zugunsten der Serben unterrepräsentiert (vgl. Kapitel 3.1.1.).<br />
Neben dem muslimischen Nationalismus kommt verstärkt ein politisierter Islam zu<br />
Vorschein. <strong>Die</strong> politische Elite wehrte sich gegen die religiöse Wiedergeburt <strong>des</strong> Islam<br />
als politisches Konzept. Im Zentrum der staatlichen Bekämpfung eines politischen Islam<br />
sind die Prozesse 1983 zu sehen. 258 Zur gleichen Zeit fanden Gerichtsverfahren gegen<br />
serbische <strong>und</strong> kroatische Nationalisten in <strong>und</strong> außerhalb <strong>Bosnien</strong>s statt. Franjo Tudjman<br />
wurde wegen seiner nationalistischen Äußerungen zwei Jahre zuvor verurteilt.<br />
<strong>Die</strong>se Welle der Verurteilungen spiegelt den Versuch der politischen Elite wieder, die<br />
Liberalisierung nach dem Tod Titos unter Kontrolle zu bringen. Weiterhin zeigte sich<br />
das nationale Gleichgewicht auch in den Prozessen. Wenn ein muslimischer<br />
„Nationalist“ verurteilt wurde, muß auch ein serbischer Nationalist bestraft werden.<br />
Der serbische ationalismus<br />
Im Sinne <strong>des</strong> „Gleichgewichts“ zwischen den Nationen kam es 1984 zu einem Prozeß<br />
gegen einen serbischen Nationalisten. Der bosnische Serbe, Vojislav Šešelj, der damals<br />
an der Universität Sarajevo als Lektor tätig war, wurde beschuldigt gegen „die<br />
verfassungsmäßige Ordnung verstoßen <strong>und</strong> feindliche Propaganda“ verbreitet zu haben.<br />
Šešelj lehnte in einem Artikel, den er für die Parteizeitung Kommunist geschrieben<br />
hatte, die bisherige Nationalitätenpolitik ab <strong>und</strong> schlug eine Aufteilung <strong>Bosnien</strong>s<br />
zwischen Serbien <strong>und</strong> Kroatien vor. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Das harte<br />
Urteil wurde durch Druck von Amnesty International <strong>und</strong> die internationale<br />
Aufmerksamkeit in Folge der Olympischen Spiele in Sarajevo reduziert, so daß er im<br />
März 1986 freigelassen wurde. Später stieg Šešelj zum Vorsitz der Radikalen Partei<br />
Serbiens auf <strong>und</strong> gründete die Četnici neu, die während <strong>des</strong> Krieges in <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong><br />
Kroatien im Krieg einen Teil der grausamsten Kriegsverbrechen begingen. Zudem<br />
wurde seine Partei Koalitionspartner der Sozialistischen Partei Serbiens, so daß Šešelj<br />
1997 zum Vize-Premierminister Serbiens aufstieg. 259<br />
Ende der achtziger Jahre lockerte sich die strenge anti-nationale Politik in <strong>Bosnien</strong>.<br />
Nachdem der serbische Nationalismus de facto zur offiziellen Politik der<br />
Nachbarrepublik Serbien wurde (vgl. Kapitel 3.6.1), gestaltete es sich für <strong>Bosnien</strong><br />
schwierig, den serbischen Nationalismus in <strong>Bosnien</strong> aufzuhalten. In <strong>Bosnien</strong> diente die<br />
relativ hohe Geburtenrate der Muslime als Motiv, um Angst vor einer islamischen<br />
Repbulik zu schüren. So ging die Geburtenrate bei allen drei Nationen zwischen 1981<br />
<strong>und</strong> 1990 stark zurück, die Rate der Muslime blieb jedoch die Höchste. <strong>Die</strong> serbische<br />
Rate fiel von 7,7 auf 3,8 pro Tausend <strong>und</strong> die kroatische von 8,9 auf 7. <strong>Die</strong> muslimische<br />
Geburtenrate lag 1981 bei 14,8, während sie 1990 immer noch bei 11,3 lag. Neben der<br />
niedrigeren Geburtenrate wanderten auch mehr Kroaten <strong>und</strong> Serben in die jeweilige<br />
Republik ab. 260 Aus diesen Zahlen leiteten serbische Nationalisten eine islamische<br />
258<br />
259<br />
260<br />
<strong>Die</strong> Islamisten sind keine Nationalisten. Da sich ihre Vorstellung in <strong>Bosnien</strong> jedoch nur auf eine<br />
Nation in <strong>Bosnien</strong> beruft, sind sie mit Nationalisten zu vergleichen. s. Kapitel 6.4.1. Islam.<br />
Slobodan Inić, Vojislav Šešelj: A Demon Comes of Age, in Sonja Biserko, Seška Stanojlović<br />
(Hrsg.), Radicalisation of the Serbian Society. Collection of Documents (Belgrad 1997) 170-179.<br />
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 124. <strong>Die</strong>se Tendenz läßt sich auch in den anderen<br />
Republiken Jugoslawiens feststellen. <strong>Die</strong> Migration in die jeweilige national Republik stand im<br />
Zusammenhang mit der zunehmenden Wahrnehmung nationaler Interessen der Republiken <strong>und</strong><br />
Provinzen.<br />
79
Bedrohung durch eine absolute Mehrheit Muslime in <strong>Bosnien</strong> ab. <strong>Die</strong> Nutzung der<br />
Geburtenrate bei den Muslimen als Mobilisierungsinstrument der Serben kommt bei<br />
einem Interview mit dem Vorstizenden der SDS, Radovan Karadžić, zum Ausdruck: „If<br />
they [die Muslime] did not want to live in Yugoslavia in which the Serbs totaled 40<br />
percent, why should we live in a Bosnia where [the Muslims] total 44 percent? In a<br />
while, they will be 50 percent and a Muslim state will emerge.“ 261 <strong>Die</strong>se Ängste wurden<br />
zunehmend von dem BdKS, später Sozialistischen Partei Serbiens, unter Sloban<br />
Milošević mobilisiert. Verb<strong>und</strong>en hiermit war die Angst der serbischen Bevölkerung<br />
vor einer kroatisch-muslimschen Koalition. <strong>Die</strong>ses Mißtrauen führte zu Aktivitäten der<br />
serbischen Geheimpolizei in <strong>Bosnien</strong> - ohne Wissen der Republiksführung - die 1989<br />
bekannt wurden. 262 In diesem Klima entstand die Serbische Demokratische Partei<br />
(SDS), die gezielt diese Ängste ansprach <strong>und</strong> einen Großteil der serbischen Stimmen bei<br />
der ersten Wahl 1990 auf sich vereinen konnte (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong>1.).<br />
Muslime Serben Kroaten Jugoslawen andere<br />
1981 39,5 32,0 18,4 5,3 3,0<br />
1991 43,7 31,4 17,3 4,0 3,7<br />
Tabelle 11: Ergebnisse der Volkszählung für <strong>Bosnien</strong> 1981 <strong>und</strong> 1991 263<br />
Krise <strong>und</strong> Ende <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es der Kommunisten<br />
Ein großer Skandal schwächte in den späten achtziger Jahren die Kommunistische<br />
Partei <strong>Bosnien</strong>s. Führende Politiker <strong>Bosnien</strong>s ließen sich Anfang der achtziger Jahre<br />
ihre Sommerhäuser in Neum, dem einzigen bosnisch-herzegowinischen Dorf an der<br />
Adria, bauen. <strong>Die</strong> Preise für die Gr<strong>und</strong>stücke lagen weit unter dem Marktwert <strong>und</strong> das<br />
Baumaterial für die Luxusvillen stammte oftmals von einem Hotelbau. Neum war noch<br />
in den siebziger Jahren ein kleines Dorf, dem mit dem Hotel- <strong>und</strong> Villenbau eine<br />
Infrastruktur errichtet wurde, die sogar an der touristischen Adriaküste eine Seltenheit<br />
darstellte. <strong>Die</strong> Modernisierung wurde aus B<strong>und</strong>esmitteln zur Förderung<br />
unterentwickelter Gebiete finanziert. Zum Bau der Villen erteilten Banken an die<br />
Funktionäre günstige Kredite, so daß die aufgr<strong>und</strong> der hohen Inflationsrate bald hinfällig<br />
waren.<br />
Im Februar 1988 versuchte die serbische Illustrierte Svet darüber zu berichten. <strong>Die</strong><br />
bereits ausgelieferte Nummer wurde jedoch wieder eingezogen. Bereits wenige Tage<br />
später wurde der Skandal in der kroatischen Zeitschrift Danas veröffentlicht. <strong>Die</strong> Folge<br />
war eine Säuberungswelle in der bosnischen Partei <strong>und</strong> Verwaltung. Neben anderen<br />
Politikern mußte auch Mato Andrić, der Präsident der Republik, sein Amt niederlegen.<br />
Der Rücktritt <strong>des</strong> jugoslawischen Premierministers Branko Mikulić war neben<br />
wirtschaftlichen Problemen auch das Ergebnis <strong>des</strong> Bauskandals von Neum. Insgesamt<br />
hatten 76 von 130 Mitgliedern <strong>des</strong> bosnischen ZK Villen in Neum. 264 <strong>Die</strong> Folgen dieses<br />
Skandals waren zweierlei: Erstens wurde die Partei <strong>und</strong> die Verwaltung geschwächt.<br />
Zweitens führte er zu einer Diskreditierung <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es der Kommunisten in <strong>Bosnien</strong>. In<br />
261<br />
262<br />
263<br />
264<br />
Zitiert nach: Radovan Karadžić, Karadzic: 'I am a nationalist', in: Transition, 30.6.1995, Nr.11, Jhrg.<br />
1, 54.<br />
Friedman, The Bosnian Muslims, 19<strong>2.</strong><br />
Herbert Büschenfeld, Ergebnisse der Volkszählung 1991 in Jugoslawien, in: Osteuropa, Dezember<br />
1992, Jhrg. 42, 1100.<br />
Thomas Brey, <strong>Die</strong> Logik <strong>des</strong> Wahnsinns. Jugoslawien - von Tätern <strong>und</strong> Opfern<br />
(Freiburg/Basel/Wien 1993) S. 55 f.<br />
80
einer armen Republik, in der große Wohnungsnot bestand, stieß ein derartiger<br />
Mißbrauch auf wenig Verständnis. Der Vorwurf der reicheren Republiken, daß die von<br />
ihnen aufgebrachten Förderungen für unterentwickelte Gebiete verschwendet werden,<br />
erhielt durch den Bauskandal auftrieb. Im Skandal um Neum ist nicht zuletzt ein Gr<strong>und</strong><br />
zu sehen, warum die kommunistische Partei bei den Wahlen 1990, nur zwei Jahre<br />
später, das schlechteste Ergebnis in allen Republiken erlangte.<br />
Noch im März 1989 erklärte das Staatspräsidium, daß die Gründung von Parteien<br />
verfassungswidrig sei. Mit dem Verfall der Kommunistischen Partei nach dem<br />
abgebrochenen Parteikongreß im Januar 1990 war die Pluralisierung der politischen<br />
Landschaft nicht mehr aufzuhalten (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong>1). Das Parlament Jugoslawien<br />
beschloß <strong>des</strong>halb Anfang 1990 die Einführung eines Mehrparteiensystems. Statt der<br />
geplanten B<strong>und</strong>eswahlen im April 1990 kam es lediglich zu Wahlen in allen<br />
Republiken. <strong>Die</strong> Absage der B<strong>und</strong>eswahl ist Ausdruck der unterschiedlichen Interessen<br />
über die Zukunft <strong>des</strong> Staates <strong>und</strong> <strong>des</strong> dominanten Eiflusses der Republiken. 265<br />
Zuerst versuchte der B<strong>und</strong> der Kommunisten in <strong>Bosnien</strong> eine Parteienlandschaft nach<br />
nationalen Kriterien zu verhindern <strong>und</strong> untersagte die Bildung von nationale Parteien.<br />
Der Verfassungsgerichtshof hob jedoch vor den Wahlen das Verbot auf <strong>und</strong> ermöglichte<br />
somit das Entstehen der drei nationalen Parteien (SDA, SDA, HDZ). 266<br />
Am 18. November <strong>und</strong> <strong>2.</strong> Dezember 1990 fanden die ersten freien Wahlen in <strong>Bosnien</strong>-<br />
Herzegowina seit Ende der zwanziger Jahre statt. Sowohl die Wahl für die beiden<br />
Parlamentskammern, wie auch für das Präsidium (vgl. Kapitel 3.1.1.) konnten die drei<br />
nationalen Parteien überlegen gewinnen (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong>1.). So stimmten 86,5 % aller<br />
Muslime für die SDA, 84,6 % aller Serben für die SDS <strong>und</strong> 84 % der Kroaten für die<br />
HDZ. 267 Bürgerkammer Gemeindekammer<br />
Partei in % Sitze Sitze<br />
SDA 31,5 41 45<br />
SDS 26,1 34 38<br />
HDZ 16,0 20 24<br />
SKBiH-SDP 12,3 18 1<br />
SRSJ-BiH 8,9 12 1<br />
MBO 1,1 2 -<br />
andere Parteien 3,9 3 1<br />
insgesamt 100 130 110<br />
Tabelle 12: Ergebnis der Wahlen in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina 268<br />
265<br />
266<br />
267<br />
268<br />
Jens Reuter, Jugoslawien: Zerfall <strong>des</strong> B<strong>und</strong>esstaates. Systemwechsel <strong>und</strong> nationale<br />
Homogeniesierung in den Teilrepuliken, in: Magareta Mommsen (Hg.) Nationalismus in Osteuropa.<br />
Gefahrvolle Wege in die Demokratie (München 1992) 131.<br />
Lenard J. Cohen, Broken Bonds: The Disintegration of Yugoslavia (Boulder, Col. 1993) 143.<br />
Robert M. Hayden, Constitutional Nationalism and the Logic of the Wars in Yugoslavia, in:<br />
Problems of Post-Communism, September/October 1996, Nr. 5, Jhrg. 43, 31 f.<br />
John B. Allcock, Yugoslavia, in: Bogdan Szajkowski (Hg.) New Political Parties of Eastern Europe<br />
and the Soviet Union (Harlow 1991) 31<strong>2.</strong><br />
81
Bei einem Vergleich <strong>des</strong> Wahlergebnisses mit der Volkszählung fällt der enge<br />
Zusammenhang zwischen den Ergebnissen auf, so daß etliche Kommentatoren die<br />
Wahlen als aufwendige Volkszählung bezeichneten (vgl. 1. Wahlen im Jugoslawien der<br />
Zwischenkriegszeit, Kapitel <strong>2.</strong>3.1.). Der größte Unterschied findet sich zwischen<br />
„Jugoslawen“ in der Volkszählung <strong>und</strong> pro-jugoslawischen Parteien. Bei dem besseren<br />
Abschneiden der pro-jugoslawischen Parteien muß bedacht werden, daß die beiden<br />
Parteien der Kategorie, der B<strong>und</strong> der Kommunisten <strong>und</strong> der B<strong>und</strong> der Reformkräfte,<br />
neben der pro-jugoslawischen Orientierung ein wirtschaftliches <strong>und</strong> ideologisches<br />
Programm angeboten haben. Zugleich waren sie auch die einzigen größeren gesamtbosnischen<br />
Parteien. <strong>Die</strong>se Punkte erklären die sehr viel höheren Wahlergebnisse der<br />
beiden Parteien als die Zahl der „Jugoslawen“ in <strong>Bosnien</strong>. <strong>Die</strong> stärkste Korrelation bei<br />
den nationalen Parteien findet sich bei der HDZ. Unter den Muslimen gab es wiederum<br />
die verhältnismäßig niedrigste Unterstützung für die beiden nationalen Parteien (SDA,<br />
MBO).<br />
Unter den Abgeordneten (vgl. Tabelle 13) fällt auf, daß die Zahl der „Jugoslawen“<br />
genauso niedrig wie bei der Volkszählung lag. Ansonsten waren Serben <strong>und</strong> Kroaten im<br />
Parlament leicht überrepräsentiert.<br />
Das überragende Wahlergebnis für die nationalen Parteien war nicht das Ergebnis der<br />
nationalistischen Politik der Nachbarrepubliken Kroatien <strong>und</strong> Serbien, sondern auch ein<br />
sogenanntes „prisonners dilemma“. Aus Angst das die Angehörigen der anderen<br />
Nationen ihre nationale Parteien wählen, die deren Interessen stärker wahrnehmen,<br />
haben viele Bosnier für die jeweils eigene nationale Partei gestimmt.<br />
Muslime Serben Kroaten Jugoslawen bzw. andere<br />
Wahlen 32,6 26,1 16,0 21,2<br />
Abgeordnete 41,25 35,41 20,41 2,93<br />
Volkszählung 43,7 31,4 17,3 4,0<br />
Tabelle 13: Das Wahlergebnis 1990, die ationszugehörigkeit der Abgeordneten <strong>und</strong> die Volkszählung<br />
1991 im Vergleich 269<br />
<strong>Die</strong> drei Parteien hatten bereits vor den Wahlen beschlossen, im Falle eines Wahlsieges<br />
eine Koalition einzugehen. <strong>Die</strong> Zusammenarbeit beruhte auf einem Proporzsystem<br />
zwischen den Parteien <strong>und</strong> demzufolge auch zwischen den drei Nationen <strong>Bosnien</strong>s. Der<br />
Vorsitzende der SDA, Alija Izetbegović, wurde Vorsitzender <strong>des</strong> Staatspräsidiums. Ein<br />
Kroate, Jure Pelivan, wurde Premierminister <strong>und</strong> ein Serbe, Momčilo Krajišnik,<br />
übernahm das Amt <strong>des</strong> Parlamentspräsidenten. <strong>Die</strong>se Regelung ähnelt dem Nationalpakt<br />
im Libanon, wobei auffällt, daß die zweitgrößte Nation, die Serben, nur ein<br />
unbedeuten<strong>des</strong> Amt zugeteilt bekamen. <strong>Die</strong>s könnte auf zwei Ursachen zurückgehen.<br />
Erstens war die Zusammenarbeit zwischen der HDZ <strong>und</strong> der SDA enger als mit der<br />
SDS. So könnten sich beide Parteien gegenüber der serbischen Partei durchgesetzt<br />
haben. Zweitens läßt sich vermuten, daß die SDS bereits zu diesem Zeitpunkt kein<br />
einheitliches <strong>Bosnien</strong> mehr anstrebte <strong>und</strong> sich <strong>des</strong>halb nicht für ein hohes Amt in der<br />
Republik einsetzte. Insgesamt wurden die wichtigsten Posten von Muslimen<br />
kontrolliert. So gehörten der Innen- <strong>und</strong> Außenminister der SDA an. Weiterhin erhielt<br />
der Krisenstab (Krisni stab), der dem muslimischen 270 Präsidiumsmitglied Ejup Ganić<br />
unterstand, weitgehende Vollmachten. Aufgr<strong>und</strong> seiner Rückendeckung unter<br />
269<br />
270<br />
Für die Nationszugehörigkeit der Abgeordneten: Allcock, Yugoslavia, 313.<br />
Der Muslime <strong>und</strong> Mitglied der SDA Ganić wurde als "Jugoslawe" ins Präsidium gewählt.<br />
82
muslimischen Bevölkerung konnte der auf ein Jahr (seine Amtszeit wurde 1991 um ein<br />
Jahr verlängert) gewählte Vorsitzende <strong>des</strong> Staatspräsidiums, Alija Izetbegović, seine<br />
Machtposition bedeutend stärken. 271<br />
ation Präsidiumsmitglied Partei %<br />
Muslime Fikret Abdić SDA 44<br />
Alija Izetbegović SDA 37<br />
Serben Nikola Koljević SDS 25<br />
Bilijana Plavšić SDS 24<br />
Kroaten Stjepan Kljuić HDZ 21<br />
Franjo Boras HDZ 19<br />
Yugoslawen Ejup Ganić SDA<br />
Tabelle 14: Wahlergebnis <strong>des</strong> Präsidiums der <strong>2.</strong> R<strong>und</strong>e, <strong>2.</strong>1<strong>2.</strong>1990 272<br />
Bemühungen um ein neues Jugoslawien<br />
Kroatien <strong>und</strong> Slowenien betrieben nach den Wahlen 1990 immer offener eine Loslösung<br />
von Jugoslawien, während Serbien <strong>und</strong> Montenegro eine Rezentralisierung anstrebten.<br />
<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> Mazedonien bemühten sich hingegen um eine ausgleichende<br />
Position. Sie schlugen die Umwandlung Jugoslawiens in eine „Gemeinschaft der<br />
jugoslawischen Republiken“ vor. <strong>Die</strong>se Konföderation sollte nur noch die<br />
Wirtschaftspolitik, die Außenpolitik <strong>und</strong> die Verteidigung bestimmen. In dem Entwurf<br />
wird explizit auf die EG als Vorbild hingewiesen. Zugleich sollte sich dieses neue<br />
Jugoslawien auch der EG annähern (z.B. Anbindung an den ECU). <strong>Die</strong><br />
Entscheidungsstrukturen folgen den Verfahren der EG. So sollen die meisten<br />
Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Nur Kernfragen<br />
(Verteidigung, völkerrechtliche Verträge) hätten Einstimmigkeit benötigt. 273 <strong>Die</strong>ser Plan<br />
scheiterte jedoch am Widerstand Serbien <strong>und</strong> seiner Verbündeten. Durch die<br />
zunehmend eigenständige Politik der drei nationalen Parteien in <strong>Bosnien</strong> konnte bereits<br />
Anfang 1991 von einer einheitlichen bosnischen Position keine Rede mehr sein. 274 Mit<br />
Kriegsbeginn in Slowenien <strong>und</strong> Kroatien Ende Juni 1991 wurde deutlich, daß<br />
Jugoslawien, auch in geänderter Form nicht fortbestehen konnte.<br />
271<br />
272<br />
273<br />
274<br />
Hier ist zu bedenken, daß der Einfluß auf die Zentralregierung zwar größer wurde, die Kontrolle auf<br />
große Teile der Republik jedoch schwanden. Paul Shoup, The Bosnian Crisis in 1992, in: Sabrian<br />
Petra Ramet, Ljubiša S. Adamovich (Hg.) Beyond Yugoslavia. Politics, Economic and Culture in a<br />
Shattered Community (Boulder, Col/San Francisco/Oxford 1995) 158 f. <strong>und</strong> Sahil Zvizdić, Na<br />
poznatom kolosijeku [Auf bekanntem Gleis], in: Vjesnik, panorama subotam, 5.1.1991, 4 f. zitiert<br />
nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A272-A276.<br />
Allcock, Yugoslavia, 31<strong>2.</strong><br />
Alija Izetbegović, Kompromis kao uspjeh [Kompromiß als Erfolg], in: Borba, 18.1.1991, zitiert<br />
nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A276 f.; <strong>Die</strong> Plattform <strong>des</strong> Präsidiumsvorsitzenden der SR<br />
<strong>Bosnien</strong> Hercegovina <strong>und</strong> <strong>des</strong> Präsidium der Republik Mazedonien über die zukünftige<br />
jugoslawische Gemeinschaft, in: Internationale Politik, 20. Juni 1991, Nr. 989, Jhrg. 42, 22-24. In<br />
der gleichen Ausgabe finden sich die entsprechenden Stellungnahmen der jugoslawischen<br />
Regierung, Sloweniens, Serbiens <strong>und</strong> Kroatiens.<br />
Tri stava iz Bosne o novoj Jugoslaviji [Drei Standpunkte aus <strong>Bosnien</strong> über ein neues Jugoslawien]<br />
in: Politika, 10.1.1991, zitiert nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A280.<br />
83
Der Krieg in Kroatien <strong>und</strong> der drohende Krieg in <strong>Bosnien</strong><br />
<strong>Die</strong> Krise in <strong>Bosnien</strong> wurde mit dem Beginn der kroatisch-serbischen<br />
Auseinandersetzungen in Kroatien deutlich. Dort begann die SDS nach den Wahlen mit<br />
einer Loslösung der Gebiete unter ihrer Kontrolle. Polizei <strong>und</strong> Armeewaffenlager wurde<br />
geplündert <strong>und</strong> erste Milizen entstanden. Sie befanden sie teils unter der Kontrolle der<br />
serbischen Bürgermeister, teils agieren sie autonom. Bereits Ende 1990 entstanden<br />
„Autonome Gebiete“, die sich der kroatischen Verwaltung entzogen. Durch fragwürdige<br />
Referenden wurde diese abgesichert. Das genaue Territorium dieser Gebiete wurde noch<br />
nicht festgelegt, sondern lediglich durch die „ethnisch <strong>und</strong> historischen vom serbischen<br />
Volk bewohnten Gebiete Kroatiens“ definiert.<br />
Im September 1991 folgt die SDS in <strong>Bosnien</strong> dem Vorbild ihrer Schwesterpartei in<br />
Kroatien <strong>und</strong> ruft „Serbische Autonome Gebiete“ aus. Neben Bosanska Krajina<br />
entzogen sich Romanija (östlich von Sarajevo) <strong>und</strong> Ostdalmatien bosnischer<br />
Verwaltung <strong>und</strong> riefen die jugoslawische Volksarmee um „Unterstützung“ an. Damit<br />
beginnt der Zerfall <strong>Bosnien</strong>s bereits vor <strong>des</strong>sen Unabhängigkeit. Während <strong>des</strong> Krieges<br />
in Kroatien kam es öfters zu Grenzübertretungen durch kroatische Einheiten. Zugleich<br />
war <strong>Bosnien</strong> durch den Rückzug Jugoslawischen Volksarmee (JNA) aus Slowenien <strong>und</strong><br />
großen Teilen Kroatien bereits hoch militarisiert. <strong>Die</strong> JNA setzte ihre Truppen in den<br />
neu ausgerufenen serbisch autonomen Gemeinden ein. Mitte 1991 wurden bereits offen<br />
Übungen serbischer Milizen in <strong>Bosnien</strong> durchgeführt. <strong>Die</strong> JNA zog sich zugleich<br />
weitgehend aus den Städten zurück <strong>und</strong> zerstörte zahlreiche Stützpunkte, um eine<br />
Übernahme durch die kroatische Armee oder bosnische Polizei zu verhindern. 275<br />
Während die SDS auf lokaler Ebene bereits die Integrität <strong>Bosnien</strong>s zerstörte, bestand die<br />
Koalitionsregierung in Sarajevo fort. Nun zeigte sich jedoch eine deutlichere Allianz<br />
von HDZ <strong>und</strong> SDA gegen die SDS. Letztere Partei lehnte eine Abstimmung über die<br />
Souveränität der Republik ab. Der letzte Versuch im Juni 1991 einen Ausgleich im<br />
Staatspräsidium zu finden wurde durch den Kriegsausbruch in Kroatien verhindert. Im<br />
Oktober 1991 bemühten sich muslimische <strong>und</strong> kroatische Abgeordnete nicht mehr die<br />
SDS umzustimmen <strong>und</strong> stimmten für die Souveränität der Republik. In diesem<br />
Memorandum wird weiterhin festgelegt, daß <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina nur in Jugoslawien<br />
bleiben würde, wenn sowohl Kroatien, also auch Serbien diesem Staat weiterhin<br />
angehören. Da dies zu diesem Zeitpunkt bereits unvorstellbar geworden war,<br />
bek<strong>und</strong>eten die Abgeordneten somit de facto die Absicht, sich von Jugoslawien<br />
loszulösen. Bei der gleichen Sitzung erklärte sich <strong>Bosnien</strong> für neutral im Krieg<br />
zwischen Kroatien <strong>und</strong> der Jugoslawischen B<strong>und</strong>esarmee. <strong>Die</strong>se Entscheidungen <strong>des</strong><br />
bosnischen Parlaments repräsentierten nur noch Kroaten <strong>und</strong> Muslime, da die Sitzung<br />
bereits zuvor vom serbischen Parlamentspräsidenten abgebrochen wurde <strong>und</strong> alle<br />
Abgeordneten der SDS die Abstimmung boykottierten. <strong>Die</strong> bosnischen Institutionen<br />
sind somit bereits Ende 1991 zerfallen. 276<br />
Am 21. Dezember 1991 rief die SDS die „Republika Srpska i Bosna-Hercegovina“<br />
(später nur noch Republika Srpska/Serbische Republik) aus. Anfang 1992 begannen die<br />
ersten Verhandlungen um die zukünftige Gestaltung der Republik unter der<br />
275<br />
276<br />
Laura Silver, Allan Little, The Death of Yugoslavia (London 1995) 98-11<strong>2.</strong><br />
Jens Reuter, <strong>Die</strong> politische <strong>Entwicklung</strong> in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina, in: Südosteuropa, Nr. 11-<br />
12/1992, Jhrg. 41, 67<strong>2.</strong><br />
84
Schirmherrschaft der EG. 277 Am 29. Februar <strong>und</strong> 1. März fand schließlich die<br />
Volksabstimmung über die Unabhängigkeitserklärung <strong>Bosnien</strong>s statt. <strong>Die</strong> SDS <strong>und</strong> die<br />
Armee riefen zum Boykott <strong>des</strong> Referendums auf. Somit nahmen nur 64,31 % der<br />
Wahlberechtigten an der Abstimmung teil. Von ihnen stimmten 99,4 % für die<br />
Unabhängigkeit. Während der Abstimmung kam es bereits zu gelgentlichen<br />
Schießereien <strong>und</strong> zwei Tage später wurde Bosanski Brod von serbischen Milizen<br />
bombardiert - der ersten größere Waffeneinsatz in <strong>Bosnien</strong>. Am 27. März<br />
verabschiedete die „Republika Srpska“ ihre eigene Verfassung, während die<br />
jugoslawische Armee gegen die restlichen Gebiete vorging. Noch vor der Anerkennung<br />
der Unabhängigkeit am 6. April 1991 durch die EG hatte der Krieg in <strong>Bosnien</strong><br />
begonnen. 278<br />
<strong>2.</strong>5.<strong>2.</strong> Libanon<br />
Anfang der siebziger Jahre hatte sich im Libanon die soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche Lage<br />
seit der Unabhängigkeit gr<strong>und</strong>legend geändert. <strong>Die</strong> alte Elite <strong>und</strong> das politische System<br />
kontrollierten jedoch unverändert den Staat <strong>und</strong> stand somit zunehmend in Konflikt mit<br />
neuen politischen Strömungen. <strong>Die</strong> Wahl <strong>des</strong> Präsidenten Sulaiman Franjiyya 1970<br />
beendete den Shihabismus. Statt<strong>des</strong>sen besaß er seine Machtbasis bei den maronitischen<br />
Parteien (insbesondere bei der Kata'ib), die ihn 1970 wählten. 279<br />
Um die eigenen Position zu stärken entließ der neue Franjiyya Anhänger vom<br />
ehemaligen Präsidenten Shihab. <strong>Die</strong>se Säuberungswelle betraf vorrangig die Armee, wo<br />
Shihab die größte Unterstützung genoß. <strong>Die</strong> Entlassung Oberkommandierenden der<br />
Armee führte zur Ablehnung <strong>des</strong> Präsidenten durch die Armee <strong>und</strong> schwächte den<br />
Präsidenten Franjiyya. Zugleich erhöhte es <strong>des</strong>sen Abhängigkeit von maronitischen<br />
Politikern <strong>und</strong> Milizen. 280<br />
Konflikte mit Palästinensern<br />
In Jordanien kam es im September 1970 zu einem kurzen Krieg (bekannt als „schwarzer<br />
September“) zwischen palästinensischen Milizen <strong>und</strong> der jordanischen Regierung. Nach<br />
der Niederlage der PLO <strong>und</strong> anderer palästinensischer Gruppen mußten sie das Land<br />
verlassen <strong>und</strong> eine neue Basis finden. Nur im Libanon konnte die PLO frei gegen Israel<br />
agieren, da die Flüchtlinge in Ägypten <strong>und</strong> Syrien unter strenger staatlicher Kontrolle<br />
standen. Ein Kleinkrieg gegen Israel scheiterte an den Grenzen dieser Staaten. <strong>Die</strong><br />
Liberalität <strong>und</strong> Offenheit <strong>des</strong> Libanon ermöglichte es den Palästinensern <strong>und</strong> anderen<br />
Gruppen hingegen diesen Staat als Aktionsgebiet zu nützen. Damit wurde der Libanon<br />
in die Auseinandersetzungen mit Israel hineingezogen. <strong>Die</strong> libanesische Regierung<br />
bemühte sich die palästinensischen Angriffe auf Israel vom Libanon aus zu verhindern.<br />
So wurden Kommandos der PLO oft verhaftet. Auch Jassir Arafat wurde kurzzeitig<br />
277<br />
278<br />
279<br />
280<br />
Zwischen Anfang 1991 <strong>und</strong> Ende 1995 wurden eine Vielzahl von territorialen <strong>und</strong> institutionellen<br />
Kompromissen bei derartigen Konferenzen diskutiert. Meist können sie als Ausdruck der<br />
tatsächlichen Machtkonstellation in <strong>Bosnien</strong> gesehen werden. Im Rahmen dieser Arbeit können<br />
diese Konferenzen nicht behandelt werden. Hierfür s. Marie-Janine Calic, Krieg <strong>und</strong> Frieden in<br />
<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina (Frankfurt 1996) 186-216.<br />
<strong>Die</strong> beste Analyse der <strong>Entwicklung</strong> <strong>Bosnien</strong>s zwischen den Wahlen <strong>und</strong> Kriegsausbruch findet sich<br />
bei Shoup, The Bosnian Crisis in 1992, 155-187.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 40.<br />
Nadine Picaudou, La déchirure libanaise (Brüssel 1992) 117 f.<br />
85
festgehalten. <strong>Die</strong> Schwäche <strong>des</strong> Staates <strong>und</strong> der Armee (vgl. Kapitel 3.1.<strong>2.</strong>) verhinderte<br />
jedoch eine offensive Politik <strong>des</strong> Libanon gegenüber der PLO.<br />
<strong>Die</strong> PLO stellte seit 1969 nicht die einzige bewaffnete Einheit im Libanon dar. Fast alle<br />
Parteien besaßen ihre eigenen Milizen, die unter Waffen standen. <strong>Die</strong>se Milizen waren<br />
jedoch durch die zugehörigen Parteien in das politische System <strong>des</strong> Libanon integriert,<br />
während die PLO außerhalb <strong>des</strong> Systems stand <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer nicht-libanesischen<br />
Ziele nicht konfliktfrei integriert werden konnte. <strong>Die</strong> ideologische Nähe zur Linken<br />
führte dazu, daß die PLO die progressiven Parteien im Libanon stärkte. <strong>Die</strong>se<br />
überschätzten in Folge oftmals ihre libanesische Gefolgschaft. <strong>Die</strong> allgemeine<br />
Krisenstimmung <strong>und</strong> die Allianz zwischen linken Parteien <strong>und</strong> der PLO führte zu einem<br />
Anwachsen der christlichen Milizen, die verstärkt mit dem Anspruch auftraten, die<br />
christliche Bevölkerung zu schützen. 281 Der große Spielraum für alle politischen<br />
Strömungen im Libanon kann auf die Zersplitterung <strong>des</strong> Staates in große Zahl der<br />
Konfessionen zurückgeführt werden. <strong>Die</strong>se Freiheit führte jedoch dazu, daß Parteien<br />
<strong>und</strong> andere Gruppierungen staatliche Aufgaben übernahmen (Milizen, soziale <strong>Die</strong>nste<br />
etc.). Hierdurch wurde der Staat „porös“ <strong>und</strong> die Liberalität <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> drohte in<br />
Anarchie überzugehen. 282<br />
Das außenpolitische Umfeld<br />
<strong>Die</strong> arabischen Ölförderländer, allen voran Saudi-Arabien, konnten in den Jahrzehnten<br />
nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg ihren Einfluß steigern. Während sie zu Anfang Beirut als<br />
Wirtschafts- <strong>und</strong> Handelszentrum nützen, bauten sie mit der Zeit eine eigene<br />
Infrastruktur auf. Beirut blieb jedoch das wichtigste Handelszentrum der arabischen<br />
Welt. Spätestens mit dem Ölembargo im Oktober 1973 wurde die Macht der<br />
Ölförderländer deutlich. In der arabischen Welt nahm die neue Rolle Saudi-Arabien<br />
einen islamischen Unterton an. Muslimsche Gegner <strong>des</strong> politischen Systems <strong>des</strong><br />
Libanon erhielten hierdurch Unterstützung.<br />
Zugleich zeigte die USA nur geringes Interesse am Libanon. <strong>Die</strong> schmerzhafte<br />
Erfahrung in Vietnam ließ in diesen Jahren wenig Appetit an einem Engagement in<br />
anderen Ländern aufkommen. Spätestens nach der Invasion 1958 sah die USA das<br />
politische System <strong>des</strong> Libanon als veraltet an <strong>und</strong> zeigt somit wenig Interesse am<br />
Land. 283<br />
<strong>Die</strong> erwähnte Offenheit <strong>des</strong> Libanon brachte eine starke Aktivität anderer arabischer<br />
Staaten im Land mit sich. <strong>Die</strong>se Aktivitäten trugen zum Ausbruch <strong>des</strong> Krieges 1975 bei<br />
(vgl. Kapitel 3.6.<strong>2.</strong>). Da sich der Libanon durch den Nationalpakt bei innerarabischen<br />
Spannungen neutral verhielt, diente das Land oftmals als Austragungsort dieser<br />
Konflikte. Fast alle arabischen Staaten besaßen eine Zeitung im Libanon <strong>und</strong> einige<br />
unterstützen eine Partei. Sowohl Parteien, wie auch Zeitungen dienten zu dieser<br />
Konfliktaustragung. So wurde die PLO Großteils vom Irak <strong>und</strong> Libyen finanziert,<br />
während Ägypten <strong>und</strong> Saudi-Arabien (später Israel) die Status-Quo orientierten Kräfte<br />
unterstützten (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong><strong>2.</strong>; 3.5.<strong>2.</strong>).<br />
<strong>Die</strong> Bedeutung der amerikanische Universität in Beirut steigerte den Einfluß anderer<br />
arabischer Länder weiterhin So kam in Beirut zahlreiche Intellektuelle aus dem<br />
arabischen Raum zusammen. Somit spielten Nichtlibanesen in der Universität <strong>und</strong> in<br />
281<br />
282<br />
283<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 36 f., 41 f.<br />
Gordon, The Republic of Lebanon, 29 f.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 35.<br />
86
der Presse eine wichtige Rolle. <strong>Die</strong> Parteien <strong>und</strong> später die Milizen erhielt die<br />
finanzielle <strong>und</strong> ideologische Hilfe anderer Länder. All diese Element trugen dazu bei,<br />
daß im Libanon interne Bruchlinien oft externe Gründe hatten oder zumin<strong>des</strong>t durch<br />
äußere Faktoren verstärkt wurden. 284<br />
Zuspitzung der Krise<br />
<strong>Die</strong> alte muslimische (meist sunnitische) Elite wurde Anfang der siebziger Jahre<br />
zunehmend verdrängt. <strong>Die</strong> neue Generation war radikaler <strong>und</strong> lehnte die alten<br />
Loyalitätsverhältnisse ab. <strong>Die</strong>s zeigte sich bei den Parlamentswahlen 197<strong>2.</strong> Dort gewann<br />
unter anderem ein 26-jähriger Nasserist, Najjah Wakim, einen Parlamentssitz in Beirut<br />
der zuvor von einem traditionellen Notablen gehalten wurde.<br />
Syrien beeinflußte die Wahlen 1972 <strong>und</strong> macht somit seinen Anspruch deutlich. Durch<br />
den Tod von Nasser 1970 spielte Ägypten nicht mehr eine führende Rolle in der<br />
arabischen Welt. In Folge suchten libanesische Politiker zunehmend Rat <strong>und</strong><br />
Unterstützung in Damaskus. Keine Partei konnte mehr auf die Vermittlerrolle Syriens<br />
verzichten. Das Regime von Assad war jedoch keineswegs neutral. Es übte vielmehr<br />
über loyale libanesische Politiker Druck auf das System aus. <strong>Die</strong> wichtigsten<br />
Verbündeten zu diesem Zeitpunkt waren der pro-syrische Flügel der Baath-Partei, ein<br />
Großteil der schiitische Bevölkerung <strong>und</strong> einige Palästinensergruppen (vgl. Kapitel<br />
3.6.<strong>2.</strong>). 285<br />
<strong>Die</strong> nächste große Krise nach 1958 entstand im April 1973. Ein israelisches Kommando<br />
ermordete im Zentrum von Beirut einen palästinensischen Politiker. Da sich die Armee<br />
weigerte einzugreifen, forderte der Ministerpräsident den Rücktritt <strong>des</strong> Stabschefs der<br />
Armee. Nachdem der Präsident dem nicht entsprach, trat die Regierung von<br />
Ministerpräsident Salam zurück. Der Rücktritt brachte den Bruch zwischen der<br />
maronitischen <strong>und</strong> sunnitischen Elite zum Ausdruck. Während die Maroniten sich gegen<br />
ein stärkeres Vorgehen gegen die israelischen Angriff wehrten, näherten sich<br />
Palästinenser <strong>und</strong> sunnitische Politiker einander an. 286<br />
Als der Präsident Franjiyya einen Sunniten, Amin al-Hafiz, ohne Rückdeckung seiner<br />
Konfessiongemeinschaft zum Nachfolger ernannte, protestierte der schiitische Iman <strong>und</strong><br />
der sunnitische Großmufti. Kurze Zeit später, im Mai 1973, versuchte Franjiyya die<br />
Macht der PLO zu brechen, indem er palästinensische Flüchtlingslager bombardieren<br />
ließ. Syrien schloß daraufhin die Grenze <strong>und</strong> eine syrisch-kontrollierte palästinensische<br />
Miliz marschierte an der Grenze auf. Der Angriff schwächte die PLO jedoch keineswegs<br />
<strong>und</strong> trug nur zu einer weiteren Anspannung der innenpolitischen Lage bei. <strong>Die</strong> Lage<br />
konnte nur durch ein neues Abkommen mit der PLO <strong>und</strong> einen neunen<br />
Ministerpräsidenten entschärft werden. Das Melkart Abkommen, das die Regierung mit<br />
der PLO in Folge schloß, bestätigte den Vertrag von Kairo 1969. Der Konflikt um dem<br />
Ministerpräsidenten konnte beigelegt werden, indem Hafiz, der noch nicht von<br />
Parlament bestätigt worden war, seine Kandidatur zurückzog <strong>und</strong> Takieddin Sulh, ein<br />
prominenter sunnitischer Politiker zum neuen Ministerpräsident ernannt wurde. 287<br />
Erstmals spielten die Palästinenser eine Rolle in der libanesischen Innenpolitik.<br />
284<br />
285<br />
286<br />
287<br />
Hanf, <strong>Die</strong> drei Gesichter <strong>des</strong> Libanonkrieges, 89 f.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 36 f.<br />
Picaudou, La déchirure libanaise, 119 f.<br />
Ebd. 120 f.; Gordon, The Republic of Lebanon, 79.<br />
87
Zugleich zeigte sich, daß die Macht <strong>des</strong> Präsidenten auf muslimischen Widerstand stieß,<br />
die sich zunehmend auf die Seite der PLO stellten.<br />
Der Kleinkrieg der PLO mit Israel an der Südgrenze brachte größere<br />
Bevölkerungsbewegungen mit sich. Überwiegend Schiiten aus dem Süden, deren Leben<br />
durch diese Auseinandersetzung mit Israel bedroht wurde, zogen nach Beirut. In Folge<br />
entstand ein riesige Slums im Süden Beiruts. <strong>Die</strong>se Armenviertel befanden sich oft in<br />
direkter Nachbarschaft mit den Flüchtlingslagern der Palästinenser. <strong>Die</strong> Lager <strong>und</strong><br />
Armenviertel standen in krassem Kontrast zum Reichtum Beiruts durch das Ölgeschäft<br />
(vgl. Kapitel 3.3.<strong>2.</strong>). Das Aufeinandertreffen dieser großen Unterschiede zwischen<br />
armen <strong>und</strong> reichen Libanesen erhöhte das Konfliktpotential. <strong>Die</strong>se sozialen Spannungen<br />
kam im Programm <strong>des</strong> schiitischen Politikers <strong>und</strong> Geistlichen Sadr zum Ausdruck (vgl.<br />
Kapitel 3.<strong>2.</strong><strong>2.</strong>). Bei einer Versammlung 1974 in Baalbek vor 100.000 Schiiten ruft er zu<br />
einen Aufstand der Armen auf. 288<br />
<strong>Die</strong>sen neuen Problemen war das politische System <strong>und</strong> viele Politiker nicht gewachsen.<br />
Neue Politiker waren oftmals radikal <strong>und</strong> konnten keine überkonfessionelle Basis für<br />
ihre politischen Ziele finden. <strong>Die</strong> alte Elite besaß noch genug Macht, um neue Politiker<br />
von staatlichen Funktionen fernzuhalten. Junge Politiker wichen in Folge zunehmend<br />
auf politische Aktivitäten außerhalb <strong>des</strong> Systems aus. 289 Ähnlich wie in <strong>Bosnien</strong><br />
verlagerten sich die politischen Aktivitäten von den bestehenden Strukturen auf den<br />
Aufbau von Parallelstrukturen, die den Staat gefährdeten. <strong>Die</strong>s bedeutete, daß die Macht<br />
nicht mehr durch Wahlen, sondern durch Stärke der Bewaffnung <strong>und</strong> den<br />
Mobilisierungsgrad bestimmt wurde.<br />
1975 1984<br />
Christen insgesamt 1.199.000 37,4 % 1.525.000 42,7 %<br />
Maroniten 496.000 15,5 % 900.000 25,2 %<br />
griechisch-orthodox 230.000 7,2 % 250.000 7 %<br />
griechisch-katholisch 213.000 6,6 % 150.000 4,2 %<br />
Muslime insgesamt <strong>2.</strong>008.000 62,6 % <strong>2.</strong>050.000 57,3 %<br />
Sunniten 690.000 21,5 % 750.000 21 %<br />
Schiiten 970.000 30,2 % 1.100.000 30,8 %<br />
Drusen 348.000 10,9 % 200.000 5,6 %<br />
Insgesamt 3.207.000 3.575.000<br />
Tabelle 15: Bevölkerungsschätzungen 1975 <strong>und</strong> 1984 290<br />
288<br />
289<br />
290<br />
Picaudou, La déchirure libanaise, 130 f.<br />
Rabinovich, The War for Lebanon, 35, 40.<br />
Picaudou, La déchirure libanaise, 267. <strong>Die</strong> Schätzung von 1975 beruht auf der französischen<br />
Enzyklopädie "Universalis", jene für 1984 auf den Financial Times.<br />
88
<strong>2.</strong>6 Der Krieg<br />
Der Krieg in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> im Libanon kann in dieser Arbeit nur kurz<br />
erwähnt werden. Da sich die Arbeit auf die <strong>Entwicklung</strong> vor Kriegsausbruch<br />
konzentriert, soll nur auf die Gr<strong>und</strong>struktur der Kriege hingewiesen werden. Auf weitere<br />
Literatur zum Krieg wird verwiesen. 291<br />
<strong>2.</strong>6.1. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina<br />
Der Krieg in <strong>Bosnien</strong> stellt keinen monolithischen Block dar. Vielmehr sind durch den<br />
Ausbruch der Kämpfe Anfang 1992 verschiedene Konflikte entstanden, die teils parallel<br />
<strong>und</strong> teils hintereinander ausgefochten wurden. <strong>Die</strong> unterschiedlichen Kriege werden sehr<br />
verschieden kategorisiert. 292 Wenn man bei der Einteilung von den Konfliktparteien<br />
ausgeht, lassen sich vier Kriege definieren:<br />
Der serbisch-kroatische Krieg, Anfang 1992- Anfang 1993, Mitte-Ende 1995,<br />
Der serbisch-muslimische Krieg, Anfang 1992- Ende 1995,<br />
Der muslimisch-kroatische Krieg, Anfang 1993- Anfang 1994,<br />
Der innermuslimische Krieg, <strong>Die</strong> autonome Provinz Westbosnien, Ende 1993- Ende<br />
1994.<br />
291<br />
292<br />
Im Internet finden sich etliche Quellen zum Krieg in beiden Ländern. Von Interesse sind<br />
insbesondere die Positionen der jeweiligen Konfliktparteien:<br />
Für <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina: <strong>Die</strong> Sicht der SDA <strong>und</strong> Zentralregierung (Aufsätze von<br />
Wissenschaftlern, Zeitungsartikel, Dokumente): „Bosnia Homepage“<br />
http://www.cco.caltech.edu/~bosnia, zur serbischen Sichtweise (inkl. SRNA, Tanjug <strong>und</strong> proserbische<br />
Aufsätze): „Serbian Unity Congress“ http://www.suc.org <strong>und</strong> für die Position von Herceg-<br />
Bosna (Artikel, Literaturlisten): „Na Predak-Croatian Homepage“ http://www.hrnet.org/~napredak.<br />
<strong>Die</strong> beste Archivsammlung findet sich bei: „Open Media Research Institute“ http://www.omri.cz/.<br />
Ein sehr detaillierte Studie der Kriegsführung der bosnisch-serbischen Armee <strong>und</strong> der Vertreibungen<br />
findet sich in: Final report of the Commission of Experts (S/1994/674) United Nations Security<br />
Council, 27.5.1994, http://www.emse.fr/~maillot/html/perso/e/yugo/onu/experts/, zu den<br />
Menschenrechtsverletzungen s. Tadeusz Mazowiecki, Report on the situation of human rights in the<br />
terriory of former Yugoslavia (E/CN.4/1992/S-1/9) United Nations Economic and Social Council,<br />
28.8.199<strong>2.</strong>, http://www.emse.fr/~maillot/html/perso/e/yugo/mazowiecki/e.cn.4-1992-s-1-9.html#tire.<br />
Für den Libanon: <strong>Die</strong> Sicht der Maroniten (Zeitungsartikel, Kongressberichte): „Maronet“<br />
http://www.primenet.com/~maronet, die Forces Libanaises (Programm, Geschichte <strong>des</strong> Krieges):<br />
„Lebanese Forces Homepage“ http://www.lebanesef.com/, General Aoun (Reden, Programm):<br />
„General Aoun Hompage“ http://hudson.idt.net/aoun/aoun.html <strong>und</strong> für die Sicht der Hizbollah<br />
(Kontaktadressen, Programm): „Association for supporting the Islamic Resistance“<br />
http://www.moqwama.org/home<strong>2.</strong>html. <strong>Die</strong> beste allgemeine Übersicht über Quellen vom Libanon<br />
findet sich bei: „Almashriq“ http://www.hiof.no/almashriq/lebanon.<br />
So gliedert Susan Woodward den Krieg in fünf Sub-Konflikte: 1. Der Krieg der bosnischen Serben<br />
gegen die Loslösung <strong>Bosnien</strong>s von Serbien/Montenegro, <strong>2.</strong> Der Krieg der bosnischen Kroaten um<br />
Westherzegowina, 3. Der Selbbehauptungskrieg der jugoslawischen Volksarmee, 4. Der Krieg der<br />
bosnischen Regierung zur Eroberung serbisch <strong>und</strong> kroatisch besetzter Gebiete <strong>und</strong> 5. Krieg<br />
zwischen der Land- <strong>und</strong> Stadtbevölkerung (starke gegen schwache nationale Identität), s. Susan L.<br />
Woodward, Bosnia and Herzegowina, in: Leokadia Drobizheva, Rose Gottemoeller, Catherine<br />
McAdrle Kelleher, Lee Walker (Hg.) Ethnic Conflict in the Post-Soviet World. Case Studies and<br />
Analysis (Armonk, N.Y./London 1996) 25-28.<br />
89
Der serbisch-kroatische Krieg, Anfang 1992- Anfang 1993<br />
Bereits vor dem offenen Krieg in <strong>Bosnien</strong> begann ein Kleinkrieg zwischen bewaffneten<br />
Einheiten der serbischen SDS <strong>und</strong> der kroatischen Armee zusammen mit bosnischen<br />
Kroaten. <strong>Die</strong>se Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf die Herzegowina <strong>und</strong><br />
Posavina (an der Grenze zu Slawonien). Sie begannen bereits als Schießereien mit dem<br />
serbischen Krieg in Kroatien im Juli 1991. Obwohl in Mostar, der Hauptstadt der<br />
Herzegowina, die Muslime den größten Bevölkerungsanteil stellten, wurde die Stadt<br />
<strong>und</strong> die Region am Anfang <strong>des</strong> Krieges in erster Linie serbisch-kroatischen Kämpfen<br />
ausgesetzt. Der Neretva Fluß teilt die Region. In der Westherzegowina dominierte die<br />
kroatische Bevölkerung. In dieser Region waren auch die meisten kroatischen Truppen<br />
konzentriert. In der Ostherzegowina hingegen war die SDS sehr stark <strong>und</strong> besaß durch<br />
die jugoslawische Volksarmee, die sich Anfang 1992 in eine bosnisch-serbische Armee<br />
verwandelte (vgl. Kapitel 3.1.1.) ausreichende militärische Unterstützung. Bereits im<br />
März 1992 kam es zu Kämpfen zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben in Neretva Tal <strong>und</strong> in<br />
Bosanski Brod in der Posavina. Im folgenden Monat begann die Belagerung von Mostar<br />
durch JNA. Beide Gebiete besaßen eine große strategische Bedeutung. <strong>Die</strong> schmale<br />
Posavina verbindet Serbien mit dem größten serbischen Siedlungsgebiet in <strong>Bosnien</strong> um<br />
Banja Luka. Auch im weiteren Kriegsverlauf blieben diese beiden Gebiete im Zentrum<br />
serbisch-kroatischer Kämpfe. <strong>Die</strong> Herzegowina war für die serbische Seite von<br />
Bedeutung, weil es das Hinterland der kroatischen Küste bildete. Für die bosnischen<br />
Kroaten war dies Region wiederum das wichtigste Siedlungsgebiet.<br />
Zwischen 1993 <strong>und</strong> 1994 flauten die Kämpfe ab, da beide Seiten in erster Linie gegen<br />
die muslimischen Einheiten kämpften. Erst im August 1995, als die kroatische Armee in<br />
einem Angriff die serbische Krajina eroberte, kam es erneut zu größeren Gefechten<br />
zwischen bosnisch-kroatischen <strong>und</strong> bosnisch-serbischen Einheiten. <strong>Die</strong>se Kämpfe<br />
konzertierten sich jedoch auf das bosnische Grenzgebiet zur Krajina <strong>und</strong> führten zu<br />
einem großen Erfolg der kroatischen Truppen. 293<br />
Der serbisch-muslimische Krieg, Anfang 1992- Ende 1995<br />
Der zentrale Konflikt, der während <strong>des</strong> gesamten Krieges andauerte war der serbischmuslimische<br />
Krieg. Am 4. April 1992 beginnt der Krieg in vollen Umfang. Serbische<br />
Milizen <strong>und</strong> die Armee legten ihre Angriff auf die größeren bosnischen Städte mit der<br />
Zusage auf internationalen Anerkennung <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> am 7. April<br />
zusammen, um somit ein Rechtfertigung für die Attacken zu besitzen. Noch am 4. April<br />
ordnete Alija Izetbegović die Generalmobilmachung der Territorialverteidigung an. Vier<br />
Tage später verhängte Izetbegović den Ausnahmezustand: Das Parlament wurde<br />
aufgelöst <strong>und</strong> eine bosnischen Armee wurde geschaffen. In Folge erobern serbischer<br />
Einheiten von der serbischen Grenze aus weite Gebiete <strong>Bosnien</strong>s. Zugleich beginnt die<br />
Belagerung Sarajevos, die bis zum Ende <strong>des</strong> Krieges im Dezember 1995 die Stadt<br />
weitgehend von der Außenwelt abschneidet. Den Eroberungen bosnischer Städte (u.a.<br />
Bijeljina, Zvornik) folgt die sogenannte „ethnische Säuberung“, die Vertreibung <strong>und</strong><br />
Ermordung der muslimischen <strong>und</strong> kroatischen Bevölkerung. Im Lauf <strong>des</strong> Krieges gelang<br />
es der serbischen Armee so etwa 70 % <strong>des</strong> bosnischen Territoriums zu erobern. <strong>Die</strong><br />
293<br />
Zarko Puhovski, Der Krieg in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> der serbisch-kroatische Konflikt, in:<br />
Dialog. Beiträge zur Friedensforschung, Nr. 1-2/94, Jhrg. 26, 301-311; Misha Glenny, The Fall of<br />
Yugoslavia (London 1993) 156-161, 167 f. Zur Annäherung zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben s.<br />
Branislav Radivojša, Da li je na pomolu prekretnics [Ob ein Wendepunkt bevorsteht], in: Politika,<br />
2<strong>2.</strong>6.1993, zitiert nach: Osteuropa , November 1993, Jhrg. 43, A 644 f.<br />
90
Aufrüstung der kroatischen <strong>und</strong> der muslimischen Armee führte erst 1994 <strong>und</strong> 1995 zu<br />
erfolgreichen Gegenoffensiven. Unter dem Eindruck dieser Niederlagen <strong>und</strong> den<br />
stärkeren Engagement der NATO <strong>und</strong> der Vereinigten Staaten kam es Ende 1995 zu<br />
Verhandlungen in Dayton, die schließlich zu einem Friedensvertrag <strong>und</strong> der<br />
Stationierung von NATO-Truppen in <strong>Bosnien</strong> führte. 294<br />
Der muslimisch-kroatische Krieg, Anfang 1993-Anfang 1994<br />
<strong>Die</strong> Allianz zwischen Muslimen <strong>und</strong> Kroaten wurde mit dem Kriegsausbruch brüchig.<br />
In der politischen Führung der bosnischen Kroaten setzten sich der radikalere Flügel um<br />
Mate Boban aus der Herzegowina durch, der offen einen Anschluß an Kroatien forderte<br />
(vgl. 3.1.1.,3.<strong>2.</strong>1.,3.6.1.). Ähnlich wie die serbische Armee versuchte die kroatische<br />
Armee <strong>Bosnien</strong>s (HVO) große Gebiete zu erobern. Es folgten Vertreibungen. Zugleich<br />
nahmen innerhalb der SDA religiöser Politiker eine größere Rolle ein. <strong>Die</strong>s führte in der<br />
ersten Jahreshälfte 1993 zu intensiven Kämpfen in Zentralbosnien <strong>und</strong> in Mostar.<br />
<strong>Die</strong> USA übte Druck auf Kroatien aus, um die Allianz von Kroaten <strong>und</strong> Muslimen<br />
wiederherzustellen. Anfang 1994 wurde Boban abgesetzt <strong>und</strong> im April 1994 eine<br />
muslimisch-kroatische Föderation abgeschlossen. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen hörten<br />
zwar nicht gänzlich auf, sie beschränkten sich jedoch auf lokale Gefechte. 295<br />
1991 1995 (geschätzt) Tote <strong>und</strong> Vermisste Im Exil außerhalb<br />
<strong>Bosnien</strong><br />
Muslime 1.903.000 43 % 1.275.000 44 % 218.000 66 % 460.000 37 %<br />
Serben 1.366.000 31 % 987.000 34 % 83.000 25 % 330.000 26 %<br />
Kroaten 761.000 17 % 468.000 16 % 21.000 6 % 290.000 23 %<br />
Jugoslawen 243.000 6 % 116.000 4 % 5.000 2 % 129.000 10 %<br />
andere 104.000 2% 5<strong>2.</strong>000 2% <strong>2.</strong>000 1% 50.000 4 %<br />
Insgesamt 4.377.000 <strong>2.</strong>898.000 329.000 1.259.000<br />
Tabelle 16: Geschätzte Zahl der Bevölkerungsveränderungen durch den Krieg 296<br />
Der innermuslimische Krieg, Ende 1993- Ende 1994<br />
In Westbosnien um die Stadt Bihać <strong>und</strong> Velika Kladuša befindet sich ein relativ<br />
kompaktes Siedlungsgebiet bosnischer Muslime. Da sie von der kroatischen <strong>und</strong><br />
bosnischen Kraijna mit einer mehrheitlich serbischen Bevölkerung umgeben ist,<br />
entwickelte sich der Krieg anders als im restlichen Land. Der Spitzenpolitiker der SDA,<br />
Fikret Abdić, kontrollierte dieses Gebiet (zu Abdić s. Kapitel 3.<strong>2.</strong>1.,3.3.1.) unabhängig<br />
von der Regierung in Sarajevo. Im September 1993 ruft er in dieser Region die<br />
„Autonome Provinz Westbosnien“ aus <strong>und</strong> schließt einen Monat später einen<br />
Separatfrieden mit den bosnischen Serben <strong>und</strong> Kroatien. Zwischen der bosnischen<br />
294<br />
295<br />
296<br />
Hierzu s. Richard Holbrooke, To End a War (New York 1998), Silver, Little, The Death of<br />
Yugoslavia, 245-322; Malcolm, Bosnia, 234-251. Zu militärischen Aspekten <strong>des</strong> <strong>Bosnien</strong>krieges s.<br />
Anton Zabkar, The Drama in former Yugoslavia - The beginning of the end or the end of the<br />
beginning? (=National Defence Academy Series Studies and Reports 3/95, Wien 1995) 1-10, 99-<br />
119.<br />
Hierzu s. Silver, Little, The Death of Yugoslavia, 323-335, 354-359; Cohen, Broken Bonds, 275-<br />
282, 302-305.<br />
Murat Praso, Demographic Consequences of the 1992-95 War, in: Bosnia Report, July-October<br />
1996, Nr. 16, 5.<br />
91
Armee in Bihać <strong>und</strong> den Einheit Abdić's kommt es daraufhin zu heftigen Kämpfen, die<br />
Ende 1994 mit einer Niederlage von Fikret Abdić enden. <strong>Die</strong> „Autonome Provinz<br />
Westbosnien“ hatte nur etwas mehr als ein Jahr bestanden. 297<br />
<strong>2.</strong>6.<strong>2.</strong> Libanon<br />
Der Krieg im Libanon zwischen 1975 <strong>und</strong> 1990 wird von verschiedenen Autoren in eine<br />
Vielzahl von Phasen <strong>und</strong> Stufen der Intensität eingestuft. Einige Autoren (z.B.<br />
Rabinovich) beschreiben die Konflikte zwischen 1977 <strong>und</strong> 1982 nur als Krisen <strong>und</strong><br />
nicht als Bürgerkrieg. 298<br />
Um den Krieg im Libanon kategorisieren, ohne zu vereinfachen, lohnt es sich zwei<br />
Ebenen zu unterschieden. Auf der ersten Ebene lassen sich die Stufen <strong>des</strong> Krieges<br />
einordnen, gemessen an ihrer Intensität <strong>und</strong> der geographischen Ausdehnung. Während<br />
dieser einzelnen Phasen änderten sich die Konfliktparteien <strong>und</strong> ihre Gegner.<br />
1. Bürgerkrieg, Anfang 1975-Ende 1976,<br />
<strong>2.</strong> Kämpfe im Süden , Ende 1976- Anfang 1982<br />
3. <strong>Die</strong> Israelische Invasion, Anfang 1982-Anfang 1984,<br />
4. Aufstieg der Schiiten, Anfang 1984-Ende 1988,<br />
5. Das Auseinanderbrechen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, Ende 1988 bis Ende 1990.<br />
Der Bürgerkrieg, Anfang 1975-Ende 1976<br />
Der Krieg begann am 14. April 1975 als zwei Leibwächter von Pierre Gemayel, dem<br />
Vorsitzenden der Kata'ib, erschossen werden. Als Vergeltung wurden St<strong>und</strong>en später<br />
Palästinenser in einem Bus erschossen. Der Krieg beginnt somit mit einem Kampf<br />
zwischen maronitischen Milizen <strong>und</strong> Palästinensern, denen sich die linken Parteien<br />
anschließen. Beirut steht im Zentrum der Kämpfe, bei denen die Stadt in einen Westteil<br />
unter Kontrolle der PLO <strong>und</strong> den Ostteil unter maronitischer Vorherrschaft zerfällt. <strong>Die</strong><br />
Bevölkerung der anderen Konfliktparteien werden aus dem jeweiligen Einflußbereich<br />
vertrieben. Während die Armee am Anfang passiv blieb, kam es im März zu einer<br />
Spaltung der Armee. Muslimische Teile <strong>des</strong> Militärs gemeinsam mit linken Parteien <strong>und</strong><br />
palästinensischen Truppen griffen christliche Gebiete im Libanon Gebirge an <strong>und</strong> hatten<br />
großen Erfolg gegen die maronitischen Milizen.<br />
<strong>Die</strong>s führte zu einer syrischen Invasion <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> zugunsten der Christen (vgl. Kapitel<br />
3.6.<strong>2.</strong>). Nachdem die palästinensischen Truppen schwere Verluste erlitten hatten, trennt<br />
die syrische Armee das Land in eine palästinensiche Enklave im Süden <strong>und</strong> eine<br />
maronitische Zone im Gebiet <strong>des</strong> alten Mont Liban. Dazwischen <strong>und</strong> in den Städten<br />
übernahm Syrien die Herrschaft. Arabische Friedenskonferenzen in Riad <strong>und</strong> Kairo<br />
wandelten die syrischen Truppen in einer arabische „Friedensstreitmacht“ um, der sich<br />
297<br />
298<br />
Hierzu s. Glenny, The Fall of Yugoslavia, 152-154; Silver, Little, The Death of Yugoslavia, 339,<br />
387<br />
Theodor Hanf gliedert den Krieg bis 1987 in 14 Konflikte. Theodor Hanf, Libanon-Konflikt, in: in:<br />
Udo Steinbach, Robert Rüdiger (Hg.) Der Nahe <strong>und</strong> Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft,<br />
Wirtschaft, Geschichte <strong>und</strong> Kultur, Bd. 1: Gr<strong>und</strong>lagen, Strukturen <strong>und</strong> Problemfelder (Opladen<br />
1988) 668-677.<br />
92
kleine Kontingente anderer arabischer Länder anschlossen. Der prosyrische Präsident<br />
Sarkis wurde im Oktober 1976 gewählt. 299<br />
Kämpfe im Süden , Ende 1976- Anfang 1982<br />
Südlich <strong>des</strong> Litani Flusses übernahmen die PLO <strong>und</strong> verbündete linke Parteien die<br />
Kontrolle. Bei einer relativen ruhigen <strong>Entwicklung</strong> im Rest <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> setzt sich hier<br />
der Kleinkrieg zwischen Israel <strong>und</strong> der PLO fort. Im März 1978 marschieerte Israel<br />
erstmals bis zum Litani Fluß im Libanon ein. <strong>Die</strong> Palästinenser konnten jedoch<br />
rechtzeitig nach Norden fliehen, so daß diese Invasion erfolglos blieb. Nach dem<br />
Rückzug wurde von der UNO die Friedenstruppe UNIFIL stationiert (vgl. Kapitel<br />
3.6.<strong>2.</strong>).<br />
Gleichzeitig verschärften sich die Spannungen zwischen der syrischen Besatzung <strong>und</strong><br />
den maronitischen Milizen. <strong>Die</strong> Maroniten erhofften eine Entwaffnung der PLO. Syrien<br />
folgte dieser Forderung nicht. Schließlich versuchten im Winter 1980 maronitische<br />
Einheiten die Stadt Zahlé am Rande <strong>des</strong> Bekaa-Tals zu besetzten. In Folge kam es zu<br />
Kämpfen zwischen Syrern <strong>und</strong> maronitischen Milizen. <strong>Die</strong>ser Konflikt brachte einen<br />
Annäherung zwischen Maroniten <strong>und</strong> Israel, was wiederum die syrisch-israelischen<br />
Spannungen verstärkte. 300<br />
<strong>Die</strong> Israelische Invasion, Anfang 1982-Anfang 1984<br />
<strong>Die</strong> israelische Invasion im Juni 1982 war offiziell die Reaktion auf ein Attentat auf den<br />
israelischen Botschafter in London. <strong>Die</strong> Invasion bis nach Beirut <strong>und</strong> die anschließende<br />
Belagerung der PLO in Westbeirut dauerte ein halbes Jahr <strong>und</strong> brachte fast alle<br />
Bevölkerungsgruppen <strong>des</strong> Südlibanons gegen Israel auf. Jedoch lediglich die<br />
Palästinenser <strong>und</strong> die verbündete Amal leisteten der Invasion offenen Widerstand. Nach<br />
der Niederlage der PLO mußte sie den Libanon verlassen, während amerikanische,<br />
französische <strong>und</strong> italienische Truppen in Beirut eintrafen, um den Rückzug der PLO <strong>und</strong><br />
anderer palästinensische Milizen zu organisieren.<br />
Während der vorgehende Präsident Sarkis unter syrischer Vorherrschaft gewählt wurde,<br />
wurde Bashir Gemayels, der Führer der Kata'ib (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong><strong>2.</strong>), unter israelischer<br />
Präsenz zum Präsidenten gewählt. Nach seiner Ermordung durch ein Bombenattentat<br />
kam es zu den Massakern maronitischer Milizen an palästinensischen Zivilisten in den<br />
Lagern Shatila <strong>und</strong> Sabra. <strong>Die</strong>se Massaker verschärften die Spannungen <strong>und</strong> trugen zur<br />
Unbeliebtheit Israels bei, da israelische Truppen die Lager für die Massaker abriegelten.<br />
Präsident <strong>des</strong> Libanons wurde schließlich der Bruder von Bashir, Amin Gemayel (vgl.<br />
Kapitel 3.6.<strong>2.</strong>). Der Widerstand gegen die israelische Okkupation führte zu einem<br />
schrittweisen Rückzug Israels, der neue Kämpfe zwischen Drusen <strong>und</strong> Maroniten<br />
herbeiführte. <strong>Die</strong> Anschläge der Hizbollah auf die amerikanischen <strong>und</strong> französischen<br />
Truppen führten zu einem Rückzug der internationalen Truppen. Zugleich konnte Syrien<br />
seinen Einfluß auf das Land erneuern, so daß Amin Gemayel den Vertrag mit Israel<br />
aufkündigen mußte. Der Einmarsch der Amal-Miliz <strong>und</strong> der verbündeten Drusen unter<br />
Waldi Jumblat in Beirut führten zu einem Ende <strong>des</strong> israelischen Einflusses auf den<br />
299<br />
300<br />
Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 668-670; Rabinovich, The War for Lebanon, 43-56; Picaudou, La<br />
déchirure libanaise, 133-152; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 149-164; René Chamussy, Chronique<br />
d'un guerre. Liban 1975-1977 (Paris 1978).<br />
Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 670-671; Rabinovich, The War for Lebanon, 108-120; Picaudou,<br />
La déchirure libanaise, 153-175; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 8-138..<br />
93
Libanon nördlich <strong>des</strong> Litani-Flusses. <strong>Die</strong> Zentralregierung, die einen Wiederaufbau<br />
begonnen hatte, wurde geschwächt <strong>und</strong> die durch Israel gestärkte libanesische Armee<br />
zerfiel erneut. 301<br />
Konfliktparteien<br />
Front Libanaises/<br />
Forces Libanaises<br />
Stärke der<br />
Miliz<br />
Konfliktparteien<br />
ationalbewegung<br />
Kata'ib 10.000-15.000 Progressive Sozialistische<br />
Partei<br />
National-Liberale Partei<br />
<strong>Die</strong> Wächter der Zedern<br />
Zgharta Befreiungsarmee<br />
Maronitische Mönchsorden<br />
Al-Tabzim<br />
„Befreiter Libanon“ <strong>2.</strong>000-<strong>2.</strong>500<br />
Sozial-Nationalistische<br />
Syrische Partei<br />
Libanesische KP<br />
irakische Baath Partei<br />
Al-Murabitun<br />
Kommunistische Aktion<br />
Stärke der<br />
Miliz<br />
Insgesamt 1<strong>2.</strong>000-20.000 Insgesamt 5.000-7.000<br />
andere libanesische Einheiten<br />
externe Einheiten<br />
syrische Baath Partei Syrische Armee 2<strong>2.</strong>000-30.000<br />
Amal UNIFIL 4.000-6.000<br />
Reguläre libanesische Armee 5.000-20.000 Palästinensische Einheiten<br />
Fath, PFLP, PDFLP, Saiq etc.<br />
1<strong>2.</strong>000<br />
Israel 20.000-25.000<br />
Tabelle 17: <strong>Die</strong> größten Milizen <strong>und</strong> Truppen im Libanon zwischen 1975 <strong>und</strong> 1980 302<br />
Aufstieg der Schiiten, Anfang 1984-Ende 1988<br />
Nachdem Syrien <strong>und</strong> die verbündeten Milizen wieder die Oberhand gewonnen hatten,<br />
kam eine neue Regierung zustande. Ein Gleichgewicht zwischen den größten<br />
Konfessionen schien wieder hergestellt zu sein. In Sidon kam es jedoch erneut zu<br />
Kämpfen zwischen Palästinensern, gemeinsam mit islamistischen Sunniten, <strong>und</strong><br />
maronitischen Milizen. <strong>Die</strong> Amal versuchte einige christliche Dörfer vor dem<br />
Vormarsch der sunnitischen Milizen zu schützen. <strong>Die</strong>s führte erstmals zu einen Krieg<br />
zwischen Schiiten <strong>und</strong> Sunniten, die Drusen verhielten sich neutral. Im Oktober 1985<br />
versuchte Syrien zu vermitteln, da sich nun syrische Verbündete gegenseitig<br />
bekämpften. <strong>Die</strong> jeweiligen Führer konnten jedoch ihre eigenen Gruppen nicht mehr<br />
kontrollieren, so daß die Kämpfe weiter gingen. Zugleich kam es zu einem innermaronitischen<br />
Krieg zwischen pro-syrischen <strong>und</strong> anti-syrischen Einheiten. <strong>Die</strong> Milizen<br />
der Drusen blieben 1987 auch im schiitisch-palästinensischen Konflikt nicht mehr<br />
neutral <strong>und</strong> griffen die Amal an. <strong>Die</strong> Amal sah sich gleichzeitig von der erstarkten<br />
301<br />
302<br />
Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 671-674; Nadine Picaudou, La déchirure libanaise, 175-197;<br />
Friedman 126-222; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 8-138, 169-216.<br />
Lebanon <strong>und</strong>er Arms, in: The Middle East, May 1978, Nr. 43, 34; Gordon, The Republic of<br />
Lebanon, 105.<br />
94
islamistischen Hizbollah bedroht, so daß im Südlibanon 1988 ein inner-schiitischer<br />
Krieg ausgefochten wurde. 303<br />
Das Auseinanderbrechen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, Ende 1988-Ende 1990<br />
<strong>Die</strong> Amtszeit von Amin Gemayel endete im September 1988. Über seine Nachfolge<br />
herrschte jedoch eine Pattsituation zwischen der syrischen Armee <strong>und</strong> den Forces<br />
Libanaises. Syrien konnte eine Wahl verhindern, die FL konnte genug Stimmen im<br />
Parlament kontrollieren, um die Wahl eines ihr unangenehmen Kandidaten zu<br />
verhindern. Gemayel ernannt entgegen dem Nationalpakt den christlichen General Aoun<br />
zum Übergangspremierminister, während sein Vorgänger, Salim al-Hoss, die Entlassung<br />
nicht annahm <strong>und</strong> die Gegenregierung unter syrischer Vorherrschaft übernahm. Das<br />
Land war erneut zweigeteilt: In der christlichen Enklave zwischen Beirut <strong>und</strong> Tripoli<br />
herrschte Aoun, während Hoss <strong>und</strong> der syrischen Armee der Rest <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> unterstand.<br />
Um die Regierung zu finanzieren griff Aoun die Forces Libanaises an, die in der<br />
christlichen Enklave Steuern einhoben <strong>und</strong> die Häfen kontrollierten. Sein Beschuß<br />
Westbeiruts zerstörte die letzte Gelegenheit in der muslimischen Bevölkerung<br />
Unterstützung zu finden. Zugleich stieß die Vormacht Syriens im Libanon zunehmend<br />
auf Kritik der Arabischen Liga. Ein Lösung für den Libanon schien nötiger als je zuvor.<br />
Um die Wahl eines Präsidenten zu ermöglichen wurde beschlossen, das Parlament<br />
außerhalb <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> einzuberufen. Ein Waffenstillstand ermöglichte dann<br />
Verhandlungen in der saudi-arabischen Stadt Ta'if. Neben der Präsidentenwahlen sollte<br />
das Parlament eine Reform <strong>des</strong> politischen Systems verabschieden <strong>und</strong> die zukünftigen<br />
Beziehungen zu Syrien bestimmen. <strong>Die</strong> Reformen von Ta'if stellen ein politisches Ende<br />
<strong>des</strong> Bürgerkrieges dar. Das militärische Ende folgte erst ein Jahr später.<br />
Während Aoun auf einen syrischen Abzug bestand, vereinbarte das Parlament lediglich<br />
eine Rückzug über zwei Jahre in das Bekaa-Tal. Das Parlament wählte Ende 1989 René<br />
Moawad zum Präsidenten. Er starb drei Wochen später bei einem Anschlag. Elias Hrawi<br />
wurde als Ersatz gewählt. Der Einfluß Aouns verringerte sich weiter, als er den Krieg<br />
gegen die FL fortführte <strong>und</strong> zunehmend an Boden verlor. Im Oktober 1990 beendete die<br />
libanesische <strong>und</strong> die syrische Armee die Herrschaft Aouns, der in die französische<br />
Botschaft flüchtete. <strong>Die</strong>ser Sieg Syriens wurde durch den Einmarsch <strong>des</strong> Iraks in Kuwait<br />
erleichtert. Erstens war der Libanon das Zugeständnis der USA an Syrien für <strong>des</strong>sen<br />
Teilnahme an der Allianz gegen den Irak. Zweitens erhielt Aoun Unterstützung vom<br />
Irak. Das Wirtschaftsembargo gegen den Irak ließ diese Hilfe für Aoun versiegen. 304<br />
303<br />
304<br />
Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 674-676; Nadine Picaudou, La déchirure libanaise, 197-219;<br />
Arnold Hottinger, 7mal Naher Osten (München-Zürich 1991) 138-147.<br />
Hierzu s. Ronald D. McLaurin, Lebanon: Into or Out of Oblivion?, in: Current History, January<br />
1992, Nr. 561, Jhrg. 91, 30 f.<br />
95