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2. Die Historische Entwicklung Bosnien-Herzegowinas und des ...

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<strong>2.</strong> <strong>Die</strong> <strong>Historische</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> <strong>und</strong> <strong>des</strong><br />

Libanons<br />

Im Zentrum dieser Arbeit stehen zwei Länder, die nur auf eine kurze staatliche Tradition<br />

zurückgreifen können. Der Libanon entstand nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg als unabhängiger<br />

Staat, während <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina erst mit dem Kriegsausbruch im April 1992<br />

international anerkannt wurden. Trotzdem basieren beide auf historischen Provinzen. Es<br />

handelt sich also nicht um künstliche Konstruktionen <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, sondern um<br />

gewachsene Einheiten. Da es jedoch den Umfang der Arbeit sprengen würde, die<br />

Geschichte <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong>s vor dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert darzustellen <strong>und</strong> zu<br />

vergleichen, setzt dieses Kapitel in der Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ein. Zu diesem<br />

Zeitpunkt bildeten sich die Besonderheiten <strong>des</strong> Libanons <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong>s hervor, zudem<br />

leitete der Beginn der Nationalbewegungen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert ein neues Kapitel in der<br />

<strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Osmanischen Reiches <strong>und</strong> der Habsburger Monarchie ein.<br />

Da die Geschichte <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> enger als der Libanon mit den <strong>Entwicklung</strong>en<br />

in der umliegenden Region (insbesondere Kroatien <strong>und</strong> Serbien, später Jugoslawien)<br />

verknüpft ist, fällt die Darstellung für <strong>Bosnien</strong> umfangreicher aus.<br />

<strong>2.</strong>1. <strong>Die</strong> Gemeinsame Geschichte im Rahmen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />

<strong>2.</strong>1.1. Das Osmanische Reich im 19. <strong>und</strong> am Anfang <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Unter Sultan Mehmet II. kam <strong>Bosnien</strong> 1463 <strong>und</strong> die Herzegowina zwei Jahre später<br />

unter die Herrschaft <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. Etwas mehr als fünfzig Jahre später,<br />

1516, eroberte das Osmanische Reich den Libanon von den Mameluken. 1 In dieser Zeit<br />

der raschen Expansion <strong>des</strong> jungen Osmanischen Reiches beginnen 400 Jahre türkische<br />

Herrschaft über <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> den Libanon. <strong>Die</strong>se lange Zeit hat beide Staaten stark<br />

geprägt, so daß sich Elemente der osmanischen Herrschaft in den verschiedensten<br />

Bereichen <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> auch <strong>Bosnien</strong>s wiederfinden.<br />

<strong>Die</strong> Struktur <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />

Das Osmanischen Reich wurde durch drei Traditionen geprägt:<br />

- ein traditionelles muslimisches Staatswesen,<br />

- byzantinische Elemente <strong>und</strong><br />

- die türkische Herkunft der Dynastie der Osmanen.<br />

<strong>Die</strong> islamische Ausrichtung <strong>des</strong> Reiches bedeutet eine strikte Trennung zwischen<br />

Muslimen <strong>und</strong> Nicht-Muslimen. Trotz gelegentlicher Gleichbehandlung besaßen die<br />

Angehörigen anderer Religionen nie die gleichen Rechte wie Muslime. <strong>Die</strong> osmanische<br />

Gesellschaft gliederte sich entlang vertikaler <strong>und</strong> horizontaler Achsen. <strong>Die</strong> vertikale<br />

Achse trennte die Muslime <strong>und</strong> die anderen Konfessionen von einander. <strong>Die</strong> horizontale<br />

Achse entspricht den sozialen Abstufungen.<br />

<strong>Die</strong>se Gesellschaftspyramide war streng hierarchisch in verschiedene Gruppen<br />

aufgeteilt. An der Spitze stand der Sultan mit unbeschränkten Machtbefügnissen. Erst ab<br />

1909 wurden die Kompetenzen <strong>des</strong> Sultans im Rahmen einer konstitutionellen<br />

1<br />

Hierzu siehe Peter Sugar, Southeastern Europe <strong>und</strong>er Ottoman Rule, 1354-1804 (=A History of East<br />

Central Europe V, Seattle/London 1977) 65 f.; Jean-Louis Bacqué-Grammont, L'apogée de l'Empire<br />

ottoman: les événements (1512-1606), in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris<br />

1989) 143-145.<br />

5


Monarchie eingeschränkt. Zwei streng getrennte Gruppen gliedern die Hierarchie. <strong>Die</strong><br />

erste Gruppe stand im <strong>Die</strong>nst <strong>des</strong> Staates, Peter Sugar bezeichnet sie als „professional<br />

Ottomans“. Sie waren entweder Beamte der Hohen Pforte (Mülkiye), Schriftgelehrte mit<br />

ähnlichen Aufgaben wie Beamte (Kalemiye), Angehörige <strong>des</strong> Militärs (Seyfiye) oder<br />

Geistliche (Ilimiye). Jede dieser Gruppen besaß ihre eigene Hierarchie. Sie besaßen<br />

jedoch keine Rechte gegenüber dem Sultan. Traditionell konnten sie jedoch die<br />

Herrschaft beeinflussen <strong>und</strong> zu manchen Zeiten sogar den Sultan absetzen. Ihre zentrale<br />

Aufgabe war die Verwaltung <strong>des</strong> Reiches. Angehören konnten diesen „professionellen<br />

Osmanen“alle anerkannte Konfessionen. Sie sprachen als einzige Gruppe auch die<br />

Verwaltungssprache Osmanlica.<br />

<strong>Die</strong> zweite Gruppe war die restliche Bevölkerung (Raya), die sowohl Muslime, wie<br />

auch die Bevölkerung mit anderer Religionszugehörigkeit, umfaßte. <strong>Die</strong> Gläubigen<br />

monotheistischen Religionen (Judentum <strong>und</strong> Christentum) standen unter dem Schutz<br />

<strong>des</strong> Islam <strong>und</strong> wurden als Zimmi bezeichnet. Obwohl die Abstufungen in der<br />

gesellschaftlichen Hierarchie in erster Linie durch soziale <strong>und</strong> funktionale Unterschiede<br />

der jeweiligen Gruppen geprägt wurden, spielte die Konfession immer eine Rolle. So<br />

spezialisierten sich oftmals einzelne Konfessionen auf bestimmte Berufe. Insgesamt<br />

besaßen die Zimmi stets weniger Rechte als die muslimische Bevölkerung <strong>und</strong><br />

unterstanden anderen Gesetzen. So mußten nur Muslime in der Armee dienen. <strong>Die</strong><br />

Zimmi mußten hingegen einen Kopfsteuer bezahlen. 2 Bis ins 16. Jahrh<strong>und</strong>ert bestand<br />

der Knabenzins (Devşirme), der je<strong>des</strong> 5. nicht-muslimische Kind zur Armee<br />

verpflichtete. 3<br />

Das Millet-System<br />

Im Zentrum der gesellschaftlichen Gliederung der Zimmi standen religiöse<br />

Selbstverwaltungseinheiten, die Millets. <strong>Die</strong> Millets gliederten sich nach Konfessionen.<br />

Am Anfang <strong>des</strong> Osmanischen Reiches bestand auch ein muslimisches Millet, in der<br />

späteren <strong>Entwicklung</strong> bezog sich jedoch der Begriff Millet ausschließlich auf die Nicht-<br />

Muslime. <strong>Die</strong> drei ursprünglichen Millets waren das orthodoxe, das armenische<br />

(armenisch-orthodox) <strong>und</strong> das jüdische Millet, im Lauf der Zeit kamen weitere Millets<br />

hinzu, die im Lauf <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zunehmend nach nationalen <strong>und</strong> weniger<br />

religiösen Kriterien eingerichtet wurden. 4<br />

Das Millet gliederte die osmanische Gesellschaftspyramide vertikal. <strong>Die</strong> jeweiligen<br />

Millets besaßen ihre eigene Hierarchie <strong>und</strong> Verwaltung. Mit Hilfe der Millets sicherte<br />

das Osmanische Reich die Kontrolle über die nicht-muslimische Bevölkerung. Zugleich<br />

stellten die Millets ein Rechtssystem dar, das das Leben der nicht-muslimischen<br />

Untertanen <strong>des</strong> Reiches regelt. Nicht-Muslime hatten, im Gegensatz zu Muslimen, auch<br />

die Möglichkeit, sich in der Gesellschaft „horizontal“ zu bewegen, da sie zum Islam<br />

übertreten können. In der Frühphase der Millets waren die religiösen Grenzen noch<br />

fließend, so konvertierten große Teile der christlichen Bevölkerung auf dem Balkan zum<br />

Islam. Jedoch im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erstarrten die Millets, unter anderem bestärkt<br />

durch ein Heiratsverbot zwischen Christen <strong>und</strong> Muslimen. Zwischen den Millets gab es<br />

auch kaum gemischte Ehen, da die Einheiten, trotz ihres Nebeneinanders oftmals<br />

parallel lebten <strong>und</strong> kaum persönliche Kontakte besaßen.<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Sugar, Southeastern Europe <strong>und</strong>er Ottoman Rule, 31-44, 271-273<br />

Ebd., 55 f..<br />

Ebd., 44 f.<br />

6


Dem Osmanischen Reich war das Konzept der Nation fremd. Obwohl es Übertritte zum<br />

Islam gab, hat das Osmanische Reich nicht versucht, die Bevölkerung zu assimilieren<br />

oder eine „osmanische Identität“ zu propagieren. Das politische System <strong>des</strong> Reiches zog<br />

Nutzen aus dem Fortbestand anderer Religionen, da die Steuerzahlungen der Nicht-<br />

Muslime nicht unerheblich zur Finanzierung der Hohe Pforte beitrug. Da jedoch kein<br />

einheitliches osmanisches Staatsvolk entstand, wurde die osmanische Herrschaft<br />

zunehmend im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert als Besatzung empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die jeweiligen<br />

Millets bildeten geschlossene sub-Gesellschaften. Schließlich setzten sich die religiösen<br />

Führer zunehmend auch für die säkularen Belange ihrer Bevölkerungsgruppe ein. <strong>Die</strong><br />

Millets sicherten den Fortbestand von verschiedenen christlichen Gruppen <strong>und</strong> Juden<br />

<strong>und</strong> erhielten somit den „Flickenteppich“ verschiedener, teils kleiner, Konfession im<br />

Osmanischen Reich.<br />

<strong>Die</strong> Millets hatten als religiöse Strukturen keine territorialen Grenzen, sondern umfaßten<br />

eine Religion auf dem gesamten Gebiet <strong>des</strong> osmanischen Reiches. Nur selten, wie bei<br />

den Maroniten im Libanon, war die Religionsgemeinschaft auf einen kleinen Raum<br />

konzentriert. <strong>Die</strong> Zentren der Millets war meist in Istanbul.<br />

Obwohl sich die Millets durch ihre Konfession definierten, besaßen sie umfangreiche<br />

säkulare Aufgaben. Sie besaßen ein eigenes Zivilrecht <strong>und</strong> durften eigene Schulsysteme<br />

aufbauen. 5 In manchen Gebieten führte dies zu einem verhältnismäßig modernen<br />

Schulsystemen, während in anderen Teilen <strong>des</strong> Reiches, so in <strong>Bosnien</strong>, die Ausbildung<br />

rückständig blieb. Erst die österreichisch-ungarische Verwaltung führte in <strong>Bosnien</strong> zu<br />

dem Aufbau eines modernen Schulsystems (vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong>1.). Im Libanon hingegen<br />

ermöglichte diese Autonomie den Aufbau eines eigenständigen <strong>und</strong> verhältnismäßige<br />

modernen Schulsystems durch die europäischen Großmächte <strong>und</strong> die Vereinigten<br />

Staaten. Schon bald besaßen die christlichen Millets <strong>des</strong> Libanon ein besseres<br />

Ausbildungssystem als die muslimische Bevölkerung. <strong>Die</strong>ser Vorsprung blieb bis heute<br />

weitgehend erhalten. Das Millet-System hat bis heute beide Länder beeinflußt. So<br />

besteht im Libanon nach wie vor ein unterschiedliches Zivilrecht für alle Konfessionen.<br />

In <strong>Bosnien</strong> hat das Millet-System hingegen die Bildung von Nationalitäten nach<br />

religiösen Kriterien begünstigt. 6<br />

<strong>Die</strong> Tanzimat Reformen<br />

Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde der Führung <strong>des</strong> Osmanischen Reiches klar, daß nur<br />

eine Reform den weiteren Abstieg <strong>des</strong> Reiches verhindern konnte. Insbesondere die<br />

beiden Sultane Selim III. (1789-1807) <strong>und</strong> Mahmud II. (1808-1839) reformierte das<br />

Militär, die Landwirtschaft <strong>und</strong> das Wirtschaftssystem. Durch die Reformen wurde die<br />

Verwaltung modernisiert <strong>und</strong> die Kompetenzen der islamischen Gerichtshöfe auf Ehe-,<br />

Erb- <strong>und</strong> Scheidungsrecht begrenzt. Im Rahmen der Reformen wurden erstmals<br />

Ministerien geschaffen. Insgesamt sollte die Verwaltung nach europäischem Vorbild<br />

umgestaltet werden. <strong>Die</strong> alte Elite wurde zunehmend durch besonders ausgebildete<br />

Bürokraten ersetzt. <strong>Die</strong> Tanzimat Reformen sollten die Zentralverwaltung der Hohen<br />

5<br />

6<br />

Ebd., 273 f.<br />

Zu den Auswirkung <strong>des</strong> Millet-Systems auf die <strong>Entwicklung</strong> von Nationalbewegungen im<br />

osmanischen Teil Südosteuropas s. Hugh Seton-Watson, Nation and States. An Enquiry into the<br />

Origin of Nations and the Politics of Nationalism (London 1977) 143-146. Für das gesamte<br />

Osmanische Reich s. Georges Corm, L'europe et l'orient. De la balkanisation à la libanisation:<br />

Histoire d'une modernité inaccomplie (Paris 1991) 28-36, 44-59.<br />

7


Pforte stärken, ein einheitliches <strong>und</strong> modernes Steuersystem einzuführen <strong>und</strong> das<br />

islamische Recht durch europäische Gesetze zu ersetzen. 7<br />

In der <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert entstand unter der nicht-muslimischen Bevölkerung<br />

ein wirtschaftlich erfolgreicher Mittelstand. <strong>Die</strong>ser stellte das Millet-System in Frage, in<br />

dem Geistliche die politische <strong>und</strong> rechtliche Vorherrschaft genossen. Mit einem<br />

Reform-Dekret wurden die Millets 1856 weitgehend säkularisiert. Der Sultan ersuchte<br />

die Millets um eigene Reformvorschläge <strong>und</strong> regelte die Einkommen der Geistlichkeit.<br />

<strong>Die</strong> Millets erhielten eine neue Verfassung <strong>und</strong> den jeweiligen Führern wurde eine<br />

gewählte Ratsversammlung zur Seite gestellt. In diesen Versammlungen wurden<br />

erstmals der nicht-religiösen Elite <strong>des</strong> Millets eine Repräsentation zugesichert. <strong>Die</strong>s<br />

führte zu dem Widerstand der jeweiligen Patriarchen, Rabbiner <strong>und</strong> anderer religiöser<br />

Führer, die zu Recht einen Machtverlust befürchteten. 8<br />

Im Rahmen der Reformen wurde Versuche von der osmanischen Verwaltung<br />

unternommen, die Nicht-Muslime mit den Muslimen gleichzustellen. <strong>Die</strong>s hätte die<br />

Einführung der Wehrpflicht für Nicht-Muslime <strong>und</strong> die Abschaffung der Kopfsteuer<br />

bedeutet. Zudem hätten Nicht-Muslime ohne Einschränkungen in allen Bereichen der<br />

Verwaltung arbeiten dürfen. <strong>Die</strong>se Reformansätze stießen jedoch auf Widerstand von<br />

allen Seiten. <strong>Die</strong> religiösen Führer der Millets widersetzten sich der Säkularisierung <strong>und</strong><br />

der Entmachtung ihrer Position. Auch die Mehrheit der nicht-muslimischen<br />

Bevölkerung zog die Zahlung der Kopfsteuer einer Wehrpflicht vor. <strong>Die</strong> Millets waren<br />

in dem Widerspruch gefangen, einerseits eine Sonderrolle zu beanspruchen <strong>und</strong> sie mit<br />

europäischer Hilfe durchzusetzen <strong>und</strong> andererseits eine Gleichberechtigung zu<br />

verlangen. <strong>Die</strong> Reformpläne wurden aufgegeben. 9<br />

<strong>Die</strong> Millets hatten zwei unterschiedliche Auswirkungen auf das Osmanische Reich:<br />

Einerseits wirkten zentrifugal <strong>und</strong> zugleich hielten sie das Reich zusammen. <strong>Die</strong><br />

Nationalbewegungen, die aus <strong>und</strong> zugleich auch gegen die Millets auf dem Balkan, aber<br />

auch ansatzweise in der arabischen Welt, entstanden, trugen zum Zerfall <strong>des</strong> Reiches<br />

bei. Weiterhin bildeten Millets Allianzen mit europäischen Großmächten, die hierdurch<br />

die Macht der Hohen Pforte aushöhlten. So genossen viele Christen im osmanischen<br />

Reich Exterritorialität durch die von der Schutzmacht verliehene Staatsbürgerschaft.<br />

Allein in Istanbul lebten 1886 130.000 (15,3 %) Ausländer, von denen ein Großteil<br />

gebürtige Osmanen mit ausländischem Rechtsstatus waren. Neben Einfluß verlor das<br />

Osmanische Reich hierdurch auch Steuern. 10<br />

Zugleich hielten jedoch die Millets das Reich zusammen. <strong>Die</strong> Netzwerke weit<br />

verstreuter Millets, für die das Osmanische Reich einen gemeinsamen Rahmen schuf,<br />

waren oftmals an einem Fortbestehen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> interessiert. Insbesondere die in unter<br />

den religiösen Minderheiten stark vertretenen Händler <strong>und</strong> Geschäftsleute, trugen zur<br />

Einheit <strong>des</strong> osmanischen Reiches bei.<br />

<strong>Die</strong> Reformen gingen mit einem zunehmenden europäischen Einfluß auf das<br />

Osmanische Reich einher, doch erst deren partielles Scheitern ermöglichte es den<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Stanford J. Shaw, Ezel Kural Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II:<br />

Reform, Revolution, and Republic: The Rise of Modern Turkey, 1808-1975<br />

(Cambridge/London/New York/Melbourne 1977), 55, 71, 105.<br />

Ebd., 123-125.<br />

Ebd., 127 f.<br />

François Georgeon, Le dernier sursaut (1878-1908) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire<br />

Ottoman (Paris 1989) 540 f., 554.<br />

8


europäischen Großmächten ihren Einflußbereicht auszudehnen: Ende 1875 kam es zum<br />

osmanischen Staatsbankrott. Im folgenden Jahr gelangte die Finanzverwaltung unter<br />

weitgehende europäische Kontrolle (Dette Publique Ottomane). 11 In Folge dieser Krise,<br />

die durch Aufstände in der Herzegowina verstärkt wurde, mußte der Sultan Murad V.<br />

(1876) abtreten. Sein Nachfolger Abdulhamit II. (1876-1909) war nicht nur mit der<br />

Finanzkrise, sondern auch mit serbischen <strong>und</strong> montenegrinischen Gebietsansprüchen<br />

auf Bosnian <strong>und</strong> Mazedonien konfrontiert. Zudem droht ein Krieg mit Rußland um<br />

Bulgarien. <strong>Die</strong>se Krise der Hohen Pforte ebnete den Weg zum Verlust <strong>Bosnien</strong>-<br />

<strong>Herzegowinas</strong> 1878.<br />

Unter dem neuen Sultan erreichten die Reformen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches ihren<br />

Höhepunkt. Bereits im ersten Jahr seiner Herrschaft wurde eine Verfassung<br />

verabschiedete <strong>und</strong> die ersten Parlamentswahlen durchgeführt. Der Sultans verlor<br />

dadurch jedoch kaum an Macht. Er konnte die Verfassung in Krisensituationen<br />

aufheben <strong>und</strong> den Ausnahmezustand ausrufen. Der Sultan mußte sich nicht für sein<br />

Handeln rechtfertigen <strong>und</strong> konnte weiterhin Gesetze per Dekret verabschieden. Somit<br />

wurde das Osmanische Reich trotz Verfassung nicht in eine konstitutionelle Monarchie<br />

umgewandelt.<br />

In der Verfassung wurden alle Bürger <strong>des</strong> Reiches unabhängig von ihrer Religion<br />

gleichgestellt. Somit beendete die Verfassung die formale Benachteiligung von Nicht-<br />

Muslimen. Der Islam blieb jedoch Staatsreligion <strong>und</strong> der Sultan war nach wie vor Kalif<br />

<strong>und</strong> somit das Oberhaupt <strong>des</strong> Islam. <strong>Die</strong> Millets blieben auch erhalten, ihnen wurde<br />

lediglich eine interne Säkularisierung vorgeschrieben. 12<br />

Der russisch-türkische Krieg 1877 zeigte die militärische Schwäche <strong>des</strong> Osmanischen<br />

Reiches. <strong>Die</strong> russische Armee konnte trotz schwerer Verlust bis in die unmittelbare<br />

Nähe von Istanbul ziehen. Erst dort kam es zu einem Waffenstillstand zwischen der<br />

Hohen Pforte <strong>und</strong> Rußland. Der russische Plan zur Errichtung eines großbulgarischen<br />

Staates schien sich im ersten Friedensvertrag von San Stefano 1878 zu erfüllen. Den<br />

anderen europäischen Großmächte gelang es jedoch diesen Plan im Rahmen eines<br />

eigens einberufenen Kongresses in Berlin zu vereiteln. Bulgarien erhielt ein deutlich<br />

kleineres Territorium <strong>und</strong> unterstand formal weiterhin dem Osmanischen Reich.<br />

Gleichzeitig verlor das Osmanische Reich den Einfluß über weite Teile Südosteuropas:<br />

<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> das Sandžak Novi Pazar (südlich von <strong>Bosnien</strong>, zwischen<br />

Montenegro <strong>und</strong> Serbien) kamen unter die Verwaltung Österreich-Ungarns (vgl. Kapitel<br />

<strong>2.</strong><strong>2.</strong>1.), Serbien, Montenegro <strong>und</strong> Rumänien erhielten ihre formale Unabhängigkeit.<br />

Ostrumelien erhielt innere Autonomie <strong>und</strong> schloß sich nur 7 Jahre später Bulgarien an.<br />

<strong>Die</strong> europäische Territorien unter osmanischer Herrschaft reduzierten sich<br />

dementsprechend auf Thrakien, Mazedonien <strong>und</strong> die albanischen Provinzen. Bald<br />

darauf verlor das Reich ein Teil Armeniens an Rußland, Tunesien an Frankreich,<br />

Ägypten <strong>und</strong> Zypern an Großbritannien. <strong>Die</strong> Niederlage im russisch-türkischen Krieg<br />

hatte auch Folgen für die Reformen. So löste der Sultan das Parlament auf, da es die<br />

Kriegsführung in Folge der Niederlage kritisiert hatte. Der Sultan führte die Reformen<br />

11<br />

12<br />

Zum Staatsbankrott s. Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Gr<strong>und</strong>linien seiner Geschichte<br />

(Darmstadt 1985) 244-248.<br />

Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 166-178; Matuz, Das<br />

Osmanische Reich, 232-238.<br />

9


jedoch fort <strong>und</strong> baute die Verwaltung nun vollständig nach europäischem Vorbild um<br />

<strong>und</strong> ersetzt die alten Institutionen durch Ministerien. 13<br />

<strong>Die</strong> Jungtürken<br />

<strong>Die</strong> Tanzimat Reformen bildeten die Vorläufer für die Jungtürken-Bewegung, die mit<br />

Ende <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand. <strong>Die</strong> Jungtürken entstammten meist dem Militär.<br />

1889 gründeten Studenten Militärakademie ein Geheimkomitee mit dem Namen<br />

„Einheit oder Fortschritt“, der offizielle Name der Jungtürken. Zentrum der Jungtürken<br />

war Saloniki <strong>und</strong> die osmanischen Gebiete auf dem Balkan. Sie setzten sich für eine<br />

türkische Identität ein <strong>und</strong> versucht das Osmanische Reich in einen zentralistischen<br />

Staat zu verwandeln. Ihnen gingen die Tanzimat-Reformen nicht weit genug. Deshalb<br />

standen sie in Opposition zum Sultan. <strong>Die</strong> Ziele der Jungtürken stießen bei den übrigen<br />

Religionsgruppen auf Widerstand. 14 <strong>Die</strong> Bedeutung dieses Widerstan<strong>des</strong> wird deutlich,<br />

wenn man sich den Anteil der nicht-türkischen Bevölkerung vergegenwärtigt. 1884<br />

lebten nur 9,8 Millionen Einwohner <strong>des</strong> Osmanischen Reiches in Anatolien. 4,8 Million<br />

waren auf dem Balkan Zuhause, in den arabischen Provinzen lebten weitere 4,4<br />

Millionen Einwohner. <strong>Die</strong> Bevölkerung <strong>des</strong> Reiches bestand zwischen 1881 <strong>und</strong> 1893<br />

aus ca. 73 % Muslimen <strong>und</strong> 23 % Christen. 15 Zu Anfang arbeiteten sie mit den Christen<br />

gegen die absolutistische Herrschaft Abdulhamit II. zusammen, die Christen konnten<br />

jedoch der zentralistischen Linie der Jungtürken nicht folgen. Der Versuch eine<br />

einheitliche türkisch-osmanische Identität zu schaffen stieß nicht nur bei den Christen<br />

auf Widerstand. Viele Araber lehnten diesen Versuch der Assimilierung ab. 16<br />

1908 kam es zu der Revolution der Jungtürken, die Stanford Shaw als eines der<br />

merkwürdigsten Ereignisse der Geschichte bezeichnet. <strong>Die</strong> Jungtürken strebten zwar<br />

eine Machtübernahme durch eine Revolution an, die 1908 stattfindende Revolution war<br />

jedoch nicht geplant sondern eher ein spontaner Aufstand. Gr<strong>und</strong> für die Revolution war<br />

die schlechte wirtschaftliche Lage, insbesondere im europäischen Teil <strong>des</strong> Osmanischen<br />

Reiches. Während die europäischen Großmächte eine Stärkung <strong>des</strong> Osmanischen<br />

Reiches durch die Machtübernahme der Jungtürken ab 1908 vermuteten, bewirkte die<br />

Revolution das Gegenteil. <strong>Die</strong>se Sorge der Großmächte führte unter anderem zur<br />

Annexion <strong>Bosnien</strong>s 1908, da Österreich-Ungarn einen erneuten Anspruch <strong>des</strong><br />

Osmanischen Reiches auf die Provinz befürchtete. <strong>Die</strong> türkische Orientierung der<br />

Jungtürken stärkte jedoch in der arabischen Welt die Abkehr vom Osmanischen Reich,<br />

hin zu panislamischen oder panarabischen Bewegungen. Den bosnischen Muslime<br />

wurde hingegen deutlich, daß eine Protektion durch die Hohe Pforte ausgeschlossen<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

Ebd., 182-195, 212 f.; Georges Castellan, Histoire <strong>des</strong> Balkans. XIVe-XXe siècle (Paris 1991) 315-<br />

321.<br />

Der Name stammt von einem Maroniten, Hali Ganim, der im französischen Exil ein Zeitung namens<br />

„La Jeune Turquie“ publizierte. Matuz, Das Osmanische Reich, 249-251.<br />

Da die Volkszählungen <strong>und</strong> anderen Erfassungen der Bevölkerung sehr ungenau waren <strong>und</strong> stets<br />

nach Religionszugehörigkeit, nicht nach Nation, klassifiziert wurden, läßt sich nur schwer<br />

bestimmen, wieviele Einwohner <strong>des</strong> Osmanischen Reches keine Türken waren. s. Donald Quataert,<br />

The Age of Reforms, 1812-1914, in: Hadil Inalcik, Donald Quataert (Hg.) An Economic and Social<br />

History of the Ottomon Empire, 1300-1914 (Cambridge 1994) 779-78<strong>2.</strong><br />

Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 255.<br />

10


lieb. 17 <strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon, insbesondere während <strong>des</strong> 1. Weltkrieges, wurde<br />

direkt von den Jungtüren betroffen.<br />

<strong>Die</strong> Jungtürken setzten mit ihrer Machtübernahme die Verfassung von 1876 wieder in<br />

Kraft. Sultan Abdulhamit nützte die Annexion <strong>Bosnien</strong>s durch Österreich-Ungarn als<br />

Vorwand um einen Versuch zu unternehmen die Jungtürken zu entmachten. <strong>Die</strong><br />

militärische Stärke der Jungtürken führte jedoch zur Absetzung <strong>des</strong> Sultan. Sein Bruder<br />

Mehmet V. (1909-1918) wurde sein Nachfolger. Obwohl „Einheit oder Fortschritt“<br />

zwar die Machtbefugnisse <strong>des</strong> Sultans beschneiden konnte, gelang es nicht, den Staat<br />

gr<strong>und</strong>legend zu reformieren. <strong>Die</strong> Aufstände in Albanien 1910-1911 <strong>und</strong> der erste<br />

Balkankrieg 1912 schwächte die Macht der Jungtürken <strong>und</strong> <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />

weiter. 18<br />

<strong>2.</strong>1.2 <strong>Die</strong> Geschichte <strong>Bosnien</strong>s im Osmanischen Reich<br />

In den ca. 400 Jahren osmanischer Herrschaft bildeten sich die bis in die Gegenwart<br />

sichtbaren Eigenarten <strong>Bosnien</strong>s hervor. <strong>Bosnien</strong> war, wie auch der restliche Balkan, eine<br />

stark landwirtschaftlich geprägte Gegend, der durch die osmanische Herrschaft eine<br />

urbane Struktur aufgelegt wurde. Eine Neuerung bildet die klare Hierarchie, die allen<br />

ihren Platz zuweist <strong>und</strong> auch den untersten Schichten Schutz gewährt. Darin besteht ein<br />

Fortschritt zur teils willkürlichen Herrschaft der mittelalterlichen Reiche Südosteuropas.<br />

Allerdings stellt das Osmanische Reich auf dem Balkan nicht eine völlig neue<br />

Herrschaftsform dar, da es in vielen Bereichen auf byzantinistische Traditionen<br />

zurückgreift. 19<br />

Bei dem Niedergang der osmanischen Herrschaft in <strong>Bosnien</strong> seit dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

spielten zwei Faktoren eine Rolle. Erstens identifizierte sich die christliche Bevölkerung<br />

identifizierte immer weniger mit dem Reich. In der 1. Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

entstehen die ersten Nationalbewegung in Südosteuropa, die sich gegen die Hohe Pforte<br />

richteten. Für <strong>Bosnien</strong> ist hierbei der serbische Nationalismus von Bedeutung. <strong>Die</strong><br />

bosnische Bevölkerung wurde jedoch erst spät von der kroatischen <strong>und</strong> serbischen<br />

Nationalbewegung erfaßt. Weiterhin riefen die Reformversuchen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zunehmend den Widerstand muslimischer Großgr<strong>und</strong>besitzern hervor. Schließlich<br />

beeinflußte das zunehmende Interesse der europäischen Großmächte an Gebieten der<br />

Hohen Pforte die <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Staates nachteilig. 20<br />

Reformversuche<br />

<strong>Die</strong> Tanzimat Reformen hatten in <strong>Bosnien</strong> besondere Auswirkungen. Im Zentrum der<br />

Reformen stand die Abschaffung der Janitscharen, <strong>des</strong> Elitekorps <strong>des</strong> Osmanischen<br />

Reiches. <strong>Die</strong>ses Heer entsprach nicht mehr der modernen Kriegsführung <strong>und</strong> hatte sich<br />

zu einem korrupten Apparat außerhalb der direkten Kontrolle der Hohen Pforte<br />

entwickelt. Viele Janitscharen gehörten den bosnischen Großgr<strong>und</strong>besitzern (Begs) an.<br />

<strong>Die</strong> Abschaffung der Janitscharen 1826 führte zu einer Revolte der Janitscharen in<br />

Istanbul, die nur aufgr<strong>und</strong> der guten Vorbereitung <strong>des</strong> Sultans niedergeschlagen werden<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

Ebd., 266 f., 273-277; François Georgeon, Le dernier sursaut (1878-1908) in: Robert Mantran (Hg.)<br />

Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 569-576.<br />

Matuz, Das Osmanische Reich, 251-256.<br />

Hierzu s. Nicoară Beldiceanu, L'organisation de l'Empire ottoman (XIVe-XVe siècles) in: Robert<br />

Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 117-138.<br />

Francine Friedman, The Bosnian Muslims. Denial of a Nation (Boulder, Col. 1996) 32 f.<br />

11


konnte. 21 Der Widerstand der bosnischen Janitscharen konnte erst durch eine<br />

Strafexpedition 1827 gebrochen werden. 22<br />

In <strong>Bosnien</strong> standen die muslimischen Begs an der Spitze der lokalen Hierarchie. Sie<br />

besaßen die Ländereien (Chiftliks) auf denen christliche Leibeigene (Kmeten) arbeiteten<br />

(zur Struktur der Landwirtschaft vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong>1.). Als Reaktion auf die Entfremdung<br />

von der Zentralverwaltung stellten die Begs zunehmend Privatarmeen auf, die nicht nur<br />

gegen die Kmeten sondern auch gegen die Hohe Pforte eingesetzt wurden. So kam es<br />

zwischen 1820 <strong>und</strong> 1840 zu insgesamt vier Aufständen der bosnischen Begs. Auch viele<br />

christliche Geistliche lehnten die Reformen ab, da sie um ihre privilegierten Positionen<br />

innerhalb <strong>des</strong> orthodoxen Millets fürchteten. 23<br />

<strong>Die</strong> osmanischen Reformen konnten erst sehr spät in <strong>Bosnien</strong> umgesetzt werden. Erst<br />

dem Gouverneur Ömer Lüfti Paşa (1860-61, ein ehemaliger österreichischer Offizier aus<br />

Kroatien) gelang es, die feudalen Strukturen zu überwinden <strong>und</strong> die Reformen<br />

umzusetzen. Unter ihm wurde auch die Hauptstadt von Travnik nach Sarajevo verlegt.<br />

Sein Nachfolger Topal Osman Paşa (1861-1869) führte eine Verwaltungsreform durch<br />

<strong>und</strong> schuf einen Rat aus den Vertretern der größten Konfessionen <strong>Bosnien</strong>s. Er richtete<br />

säkulare Schulen ein <strong>und</strong> verbesserte die Infrastruktur. 24<br />

Frühe ationalbewegungen<br />

<strong>Die</strong> kroatischen Franziskaner in <strong>Bosnien</strong> spielten eine große Rolle bei der Erziehung<br />

<strong>und</strong> wurden zu einem der frühen Träger der kroatischen Nationalbewegung in <strong>Bosnien</strong>.<br />

Unter der Serben <strong>Bosnien</strong>s nahm die serbisch-orthodoxe Kirche eine ähnliche Rolle ein.<br />

So gab es um 1860 380 katholische <strong>und</strong> über 400 orthodoxe Priester in <strong>Bosnien</strong>. Das<br />

Schulwesen der Christen, ein Schlüssel zur nationalen <strong>Entwicklung</strong>, lag ebenfalls unter<br />

der Kontrolle der beiden Kirchen. So unterstanden der katholischen Kirche um 1860 27<br />

Gr<strong>und</strong>schulen <strong>und</strong> Gymnasien in den größeren Städten, während die orthodoxe Kirche<br />

zehn Jahre später zwischen 28 <strong>und</strong> 57 Gr<strong>und</strong>schulen in <strong>Bosnien</strong> betrieb. 25<br />

<strong>Die</strong> Muslime <strong>Bosnien</strong>s waren von zwei gegensätzlichen Identitäten geprägt: Einerseits<br />

teilten sie den Glauben mit der osmanischen Staatsreligion, andererseits vereinte sie die<br />

slawische Herkunft mit Kroaten <strong>und</strong> Serben. So wurden die Muslime selbst in Istanbul<br />

als Bošnjaci (Bosniaken) oder als Potur (islamisierte lokale Bevölkerung) bezeichnet.<br />

Lediglich die christliche Bevölkerung <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> gelegentlich auch die Muslime<br />

selber bezeichneten sich als Turci, um von der christlichen Bevölkerung unterschieden<br />

zu werden. Während Serben <strong>und</strong> Kroaten im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in <strong>Bosnien</strong> bereits eine<br />

rudimentäre nationale Identifikation entwickelten, gab es unter der muslimischen<br />

Bevölkerung noch kaum eine ethnischer oder nationale Identität. 26<br />

Das Ende osmanischer Herrschaft<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

26<br />

Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 19-21.<br />

Noel Malcolm, Bosnia: A Short History (London 1994) 120 f.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 34-37.<br />

Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 149 f. Zur administrativen<br />

Gliederung <strong>Bosnien</strong>s im Osmanischen Reich s. Andereas Birke, <strong>Die</strong> Provinzen <strong>des</strong> Osmanischen<br />

Reiches (=Beihefte zum Tübinger Atlas <strong>des</strong> Vorderen Orients Reihe B 13, Wiesbaden 1976) 44-47.<br />

Malcolm, Bosnia, 126.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 43, 46; Smail Balić, Das Unbekannte <strong>Bosnien</strong>. Europas Brücke<br />

zur islamischen Welt (=Kölner Veröffentlichung zur Religionsgeschichte 23, Köln/Weimar/Wien<br />

1992) 4, 36-38.<br />

12


Das Ende osmanischer Herrschaft über <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina läßt sich auf interne <strong>und</strong><br />

externe Faktoren zurückführen. So entstand durch die zaghafte Ausbreitung der<br />

Marktwirtschaft im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert eine neue soziale Schicht unter der nichtmuslimischen<br />

Bevölkerung, die die Bauern zu Revolten gegen die Hohe Pforte anführte.<br />

<strong>Die</strong> Reformversuche <strong>des</strong> Osmanischen Reiches bestärkten lediglich diese rudimentären<br />

Nationalbewegungen. Der Bau einer orthodoxen Kirche in Sarajevo wurde ein<br />

Kristallisationspunkt <strong>des</strong> Konflikts zwischen Muslimen <strong>und</strong> Christen. So herrschte<br />

Streit darüber, ob der Kirchturm höher als die Minarette der Begova Moschee sein<br />

dürften <strong>und</strong> über die Glocken der Kirche, die in den meisten osmanischen Städten<br />

verboten waren. Der osmanische Gouverneur mußte oft in Auseinandersetzungen wie<br />

dieser schlichten. 27 Nach einer schlechten Ernte 1874 kam es in der Herzegowina zu<br />

einem Aufstand der Bauern gegen die Steuereintreiber. Auch wenn die Mehrheit der<br />

rebellierenden Bauern Christen waren, stand die wirtschaftliche Not <strong>und</strong> nicht religiösen<br />

Forderungen im Zentrum <strong>des</strong> Aufstan<strong>des</strong>. Der Aufstand breitete sich schnell in andere<br />

Teile <strong>Bosnien</strong>s aus.<br />

Auf der anderen Seite spielten externe Faktoren eine nicht zu vernachlässigende Rolle.<br />

So gelangten Waffenlieferungen durch Montenegro, Serbian <strong>und</strong> Ungarn an die<br />

Aufständischen. 28 <strong>Bosnien</strong> stellte wegen seiner militärischen Instabilität im Hinterland<br />

der dalmatinischen Küste für Österreich-Ungarn eine Gefahr dar. So weißt Donia darauf<br />

hin, daß es bereits seit 1856 österreichische Pläne gab, <strong>Bosnien</strong> zu annektieren. <strong>Die</strong><br />

Vereinigung Deutschlands 1870 verschloß der k.u.k Monarchie eine weitere Expansion<br />

gen Westen, so daß der Balkan als einziges Gebiet zur weiteren Ausbreitung verblieb. 29<br />

Zugleich richtete der autonome serbische Staat sein Interesse auf Gebiete mit serbischer<br />

Bevölkerung. So formulierte der serbische Innenminister Ilija Grašanin 1844 das<br />

Expansionsprojekt „ačertanije“ (Plan, Entwurf). In diesem beschrieb er unter anderem<br />

einen Plan zur Mobilisierung der serbischen Bevölkerung <strong>und</strong> zur Vereinnahmung<br />

<strong>Bosnien</strong>s. Im Juli 1877 versuchten Serbien <strong>und</strong> Montenegro diesen Plan umzusetzen.<br />

Der Angriff schlug jedoch weitgehend fehl <strong>und</strong> Serbien konnte nur durch russische<br />

Intervention von einer osmanischen Besetzung bewahrt werden. 30 Der direkte Auslöser<br />

für das Ende der osmanischen Herrschaft über <strong>Bosnien</strong> war der Krieg zwischen Rußland<br />

<strong>und</strong> der Türkei <strong>und</strong> der folgende Vertrag von San Stefano (vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong>1).<br />

<strong>2.</strong>1.3. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>des</strong> Libanon im Osmanischen Reich<br />

Im Zentrum der historischen <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon steht der Mont Liban. Mont<br />

Liban oder der kleine Libanon entsprach einer Bergkette, die entlang <strong>des</strong> Mittelmeeres<br />

liegt. <strong>Die</strong>ses Kerngebiet <strong>des</strong> Libanon beginnt hinter Tripoli im Norden <strong>und</strong> zieht sich<br />

entlang der Küste bis Sidon. In diesem Gebiet dominierten zwei Konfessionen:<br />

Maroniten <strong>und</strong> Drusen (vgl. Tabelle 1). Beide Religion umfaßten nur wenige Mitglieder<br />

<strong>und</strong> siedelten sich in der Bergregion <strong>des</strong> Mont Liban an, um Verfolgungen zu entgehen.<br />

<strong>Die</strong> maronitische Kirche geht auf den Mönch Maron zurück, der die Maroniten am<br />

Orontes gründete. Um der schnellen Ausbreitung <strong>des</strong> Islam zu entgehen, flohen die<br />

Maroniten im 7. Jahrh<strong>und</strong>ert von Nordsyrien in das Libanongebirge. Durch die<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

Malcolm, Bosnia, 131.<br />

Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 158 f.<br />

Robert J. Donia, Islam <strong>und</strong>er the Double Eagle: The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 1878-<br />

1914 (New York 1981) 8 f.<br />

Malcolm, Bosnia, 127, 133.<br />

13


Kreuzzüge kamen sie in Kontakt mit Europa. <strong>Die</strong>s führte im 11. Jahrh<strong>und</strong>ert zu einer<br />

Unierung mit der katholischen Kirche <strong>und</strong> zu engen Beziehungen mit Frankreich. 31<br />

<strong>Die</strong> Religion der Drusen entstand 1015 durch Muhammed ibn Ismail Daraze als<br />

Abspaltung der Ismailiten, ein Zweig <strong>des</strong> schiitischen Islam. <strong>Die</strong> Selbstbezeichnung ist<br />

Muwahhidun (Unitaristen). In einigen Glaubenselementen geht die Religion jedoch auf<br />

vorislamische Sekten im Mittelmeerraum zurück. Kurz nach der Gründung wurde ein<br />

weiterer Übertritt zur Religion untersagt. Seitdem kann niemand mehr der Religion<br />

beitreten. <strong>Die</strong> Drusen trennen sich auf religiöser Ebene in eine Gruppe der Elite ('uqqal),<br />

die als einzige in den Glauben völlig eingeweiht sind <strong>und</strong> jene Gläubigen (juhhal), die<br />

nur teilweise über das Drusentum unterrichtet sind. Von den anderen islamischen<br />

Glaubensrichtungen wurden die Drusen lange Zeit als Ketzer behandelt. Heute werden<br />

sie von diesen nicht als Muslime anerkannt. Gr<strong>und</strong> dafür ist die Ablehnung der „fünf<br />

Säulen“ <strong>des</strong> Islam 32 durch die Drusen. Im Drusentum finden auch christliche Propheten,<br />

sowie griechische Philosophen, wie Plato, Anerkennung. 33 <strong>Die</strong> anderen Konfessionen,<br />

sowie Sunniten, Schiiten <strong>und</strong> christliche Gruppen, spielten erst in der späteren<br />

<strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon eine größere Rolle.<br />

<strong>Die</strong> osmanische Herrschaft beließ den Libanon weitgehende Autonomie. Der lokale<br />

Herrscher war ein Emir, <strong>des</strong>sen bekanntester, Fakhraddine II., am Anfang <strong>des</strong> 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert über ein Gebiet in den Grenzen <strong>des</strong> heutigen Libanon regierte. Ab 1778 war<br />

der Emir stets ein Maronit. <strong>Die</strong> Autonomie führte zu einer religiösen Toleranz, die im<br />

Nahen Osten unbekannt war. 34<br />

<strong>Die</strong> osmanische Herrschaft über das Gebiet <strong>des</strong> heutigen Libanon war von Brüchen <strong>und</strong><br />

Intermezzos durch andere Machthaber geprägt. Während eine kleine griechische Flotte<br />

1826 erfolglos versuchte Beirut einzunehmen, gelang es dem Sohn <strong>des</strong> ägyptischen<br />

Herrschers Muhammad Ali zwischen 1831 <strong>und</strong> 1839 den Libanon zum dominieren. <strong>Die</strong><br />

Kontrolle über Syrien, Libanon <strong>und</strong> Palästina wurde vom Sultan anerkannt. Aufstände<br />

<strong>und</strong> die Opposition der europäischen Großmächte, abgesehen von Frankreich bereiteten<br />

jedoch der ägyptischen Herrschaft über den Libanon ein Ende. 35 <strong>Die</strong> kurze ägyptische<br />

Herrschaft brachte dem Libanon einen Modernisierungsschub: Kleidervorschriften für<br />

Christen <strong>und</strong> Juden wurden aufgehoben, konsultative Räte wurden eingerichtet <strong>und</strong> in<br />

Damaskus <strong>und</strong> Aleppo eröffnete Großbritannien ein Konsulat. 36 Erstmals wurden die<br />

Christen Muslimen weitgehend gleichgestellt. So wurden die Steuern angeglichen <strong>und</strong><br />

Christen in die Armee eingezogen. <strong>Die</strong>se soziale <strong>und</strong> politische Aufwertung brachte<br />

Konvertierungen zum maronitischen Christentum mit sich. <strong>Die</strong> Christen verbündeten<br />

sich trotzdem mit den Drusen gegen die ägyptische Fremdherrschaft. Nur dank<br />

31<br />

32<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

Helga Anschütz, Paul Harb, Christen im Vorderen Orient, Kirchen, Ursprünge, Verbreitung. Eine<br />

Dokumentation (=Aktueller Informationsdienst Moderner Orient Sondernr. 10, Hamburg 1985) 61-<br />

65.<br />

Fasten während Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka, fünf Gebete pro Tag, Almosen,<br />

Glaubensbekenntnis.<br />

Zum Glauben der Drusen s. Cyril Glassé, The Concise Encyclopedia of Islam (San Francisco 1989)<br />

103 f.; Najla M. Abu-Izzedine, The Druzes (Leiden 1984).<br />

Charles Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 1800-1914, in: Albert Hourani,<br />

The Lebanese on the World: A Century of Emigration (London 1992) 15 f.<br />

Robert Mantran, Les débuts de la Question d'Orient (1777-1839) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire<br />

de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 447 f.<br />

Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 14, 18.<br />

14


europäischer Unterstützung konnten sich die Aufständischen durchsetzen <strong>und</strong> der Mont<br />

Liban wurde erneut zu einem autonomen Teil <strong>des</strong> osmanischen Reiches. 37<br />

Zwischen 1840 <strong>und</strong> 1867 war der Libanon zwischen drei osmanischen Vilayets<br />

(Provinzen) aufgeteilt. So gehörte der Norden zum Vilayet Tripoli, die Bekaa-Ebene<br />

stand unter der Administration von Damaskus <strong>und</strong> der Süden wurde von Sidon aus<br />

verwaltet. In der Realität entzog sich ein Großteil <strong>des</strong> heutigen Libanon den Vilayets<br />

<strong>und</strong> wurde lokal verwaltet. 38<br />

Unruhen im Mont Liban<br />

Im Mont Liban kam es in dieser Zeit zu mehreren Kämpfen (1841, 1845, 1860)<br />

zwischen Drusen <strong>und</strong> Christen. Gründe für die Auseinandersetzungen war das<br />

Bevölkerungswachstum der Christen, verb<strong>und</strong>en mit einem Prestigezuwachs, einer<br />

zunehmenden Einmischung <strong>und</strong> Instrumentalisierung der Bevölkerungsgruppen durch<br />

Großbritannien <strong>und</strong> Frankreich <strong>und</strong> die direkte Verwaltung <strong>und</strong> Zentralisierung durch<br />

Sultan Mahmud II.. Malcolm Kerr weist darauf hin, daß bis in die vierziger Jahre <strong>des</strong><br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts die Auseinandersetzungen im Libanon feudaler 39 Natur waren <strong>und</strong><br />

durch die Großfamilien geprägt wurden, während in den folgenden Jahren religiöse <strong>und</strong><br />

konfessionelle Spannungen zunahmen. <strong>Die</strong>se Konflikten besaßen jedoch oftmals<br />

ökonomische Ursachen. So führten Spannungen zwischen den überwiegend christlichen<br />

Großgr<strong>und</strong>besitzern <strong>und</strong> den meist drusischen Bauern zu etlichen Aufständen. 40<br />

1833 1860<br />

Mont Liban Mont Liban Grand Liban<br />

Maroniten 130.000 60,5 % 17<strong>2.</strong>500 63,9 % 208.108 42,7 %<br />

Orthodoxe 10.000 4,7 % 27.100 10,0 % 33.475 6,9 %<br />

Katholiken 3.000 1,4 % 20.400 7,6 % 68.040 13,4 %<br />

Drusen 65.000 30,2 % 28.560 10,6 % 44.160 9,1 %<br />

Sunniten <strong>2.</strong>500 1,2 % 7.795 2,9 % 76.565 15,7 %<br />

Schiiten 3.000 1,4 % 13.200 4,9 % 55.100 11,3 %<br />

Gesamt 215.000 269.980 487.600<br />

Tabelle 1: Bevölkerungschätzungen <strong>des</strong> Mont Liban <strong>und</strong> <strong>des</strong> Grand Liban 41<br />

<strong>Die</strong> Beziehungen zwischen Maroniten <strong>und</strong> Drusen galten bis etwa 1840 als friedlich.<br />

Beide Konfessionen besaßen eine gemeinsame Politik gegenüber der Hohen Pforte.<br />

Unter der Verwaltung vom letzten Shihabib (Verwalter <strong>des</strong> Mont Liban) Bashir III.<br />

kommt es zu ersten Kämpfen zwischen Christen <strong>und</strong> Drusen, infolge<strong>des</strong>sen fliehen<br />

etliche Maroniten nach Beirut, wo sie von den osmanischen Truppen, die die Ruhe<br />

wiederherstellen sollten, angegriffen <strong>und</strong> ausgeraubt wurden. Ein Protestnote<br />

37<br />

38<br />

39<br />

40<br />

41<br />

Malcolm Kerr, Lebanon in the last years of feudalism, 1840-1860 (Beirut 1959) <strong>2.</strong><br />

Zur administrativen Gliederung <strong>des</strong> Libanon im Osmanischen Reich s. Birke, <strong>Die</strong> Provinzen <strong>des</strong><br />

Osmanischischen Reiches, 242-251.<br />

Nur manche historische Kategorien europäischer Prägung lassen sich auch auf den Nahen Osten<br />

übertragen, so gab es nur im Libanon eine soziale Stuktur im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, die sich als feudal<br />

beschreiben ließe. hierzu siehe Kerr, Lebanon in the last years of feudalism.<br />

Ebd., 3.<br />

<strong>Die</strong> Schätzung 1860 stammt von der französischen Armee, Youssef Courbage, Philippe Fargues, La<br />

Situation Démographique au Liban. Analyse <strong>des</strong> Données (Beirut 1974) 11.<br />

15


Frankreich, Großbritanniens <strong>und</strong> Rußlands an den Paşa beschuldigte die osmanische<br />

Verwaltung der Komplizenschaft mit den Drusen. Der Konflikt war jedoch sehr viel<br />

harmloser als spätere Auseinandersetzungen <strong>und</strong> forderte nur etwa 300 Opfer, meist<br />

Drusen. Als Folge der Auseinandersetzung wurde der Libanon direkter osmanischer<br />

Kontrolle unterstellt <strong>und</strong> erstmals wurde ein Nichtaraber 42 Gouverneur <strong>des</strong> Gebiets. Der<br />

Libanon wurde daraufhin in zwei Gebiete aufgeteilt. Der Norden fiel der Verwaltung<br />

eines christlichen Untergouverneurs zu, während der Süden von einem Drusen verwaltet<br />

wurde, die Grenze bildete die Straße von Beirut nach Damaskus. Im Norden lebten etwa<br />

74.000 Maroniten, 25.000 griechisch-katholische Einwohner, 23.000 Orthodoxe <strong>und</strong><br />

10.150 Drusen, während im Süden 25.450 Drusen, 17.350 Maroniten, 5.200 Orthodoxe<br />

<strong>und</strong> 15.590 unierte Christen lebten.<br />

Somit war die Bevölkerung nach wie vor gemischt, wenn es auch zu einer gewissen<br />

Konzentration auf beiden Seiten gekommen war. Im Süden bildeten jedoch alle<br />

christlichen Gruppen zusammen eine Mehrheit gegenüber den Drusen. <strong>Die</strong> französische<br />

Regierung protestierte gegen die Aufteilung <strong>und</strong> forderte eine gemeinsame Verwaltung.<br />

Auch der osmanische Außenminister lehnte die Aufteilung ab. Er sah sie als<br />

Provokation für einen Bürgerkrieg. 43 Tatsächlich kam es 1845 zu ersten<br />

Auseinandersetzungen, nachdem Christen 14 drusische Dörfer niedergebrannt hatten,<br />

stießen sie mit osmanischen Einheiten zusammen.<br />

Während die Drusen als Bevölkerungsgruppe relativ geschlossen blieb, fand unter der<br />

maronitischen Bevölkerung aufgr<strong>und</strong> ihres wirtschaftlichen Aufschwungs eine soziale<br />

Differenzierung statt. In Folge kam es zu sozialen Konflikten. So kam es 1858 zu eine<br />

Bauernrevolte, in <strong>des</strong>sen Folge sich der Anführer Shahin zum Diktator über ein<br />

Bauernland erklärte. Der Aufstand wurde von der Kirche unterstützt, die durch die<br />

Großgr<strong>und</strong>besitzer zuvor unterdrückt worden war.<br />

Der Krieg 1860<br />

Schließlich eskalierten die Spannungen zwischen Drusen <strong>und</strong> Christen zu den<br />

Massakern von 1860. <strong>Die</strong> größten Kämpfe fanden im Süden statt, wo Maroniten <strong>und</strong><br />

Drusen am engsten nebeneinander wohnten, zuerst griff die osmanische Armee nicht<br />

ein. Später ermordeten Armee-Einheiten jedoch Christen, die sich unter deren Schutz<br />

gestellt hatten. Insgesamt starben etwa 1<strong>2.</strong>000 Menschen, die Ausbreitung <strong>des</strong> Konflikts<br />

nach Damaskus forderte dort weitere 10.000 Opfer unter der christlichen Bevölkerung. 44<br />

<strong>Die</strong> Eskalation der Kämpfe führte zu einem Beschluß der europäischen Großmächte<br />

(Frankreich, Großbritannien, Preußen, Rußland <strong>und</strong> Österreich), mit Truppen zu<br />

intervenieren. Bevor Frankreich als einziges der fünf Länder 7.000 Soldaten nach Beirut<br />

schicken konnte, sorgte die osmanische Verwaltung unter Außenminister Fu‘ad für<br />

Ruhe <strong>und</strong> bestrafte die osmanischen Beamten <strong>und</strong> Einheiten, die mit den Drusen<br />

kollaboriert hatten oder inaktiv geblieben waren. Eine internationale Kommission sollte<br />

die Schuldigen finden <strong>und</strong> eine Lösung für das Gebiet erarbeiten. Während Österreich<br />

42<br />

43<br />

44<br />

Ein Ungar mit dem Namen ‘Umar Pasha al-amsawi (Der Österreicher).<br />

Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 20.<br />

Bis heute ist Hauptschuld an dem Konflikt zwischen Maroniten <strong>und</strong> Drusen umstritten, vgl. die<br />

Position der Drusen in Najib Alamuddin, Turmoil. The Druzes, Lebanon and the Arab-Israeli<br />

Conflict (London 1993) 128-134 <strong>und</strong> die Position der Maroniten in Jad Hatem, The critical role of<br />

the Maronites, International Maronite Congress (Los Angeles, Ca. 23-26.6.1994)<br />

http://www.primenet.com/ ~maronet/ga_papers/hatem.html.<br />

16


<strong>und</strong> Preußen die osmanische Verteidigung der Drusen unterstützten, trat neben<br />

Frankreich auch Rußland für die Christen ein. 45<br />

<strong>Die</strong> Autonomie <strong>des</strong> Libanon in Folge dieser Unruhen leitet eine neue Phase in der<br />

<strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Gebiets ein. Der Mont Liban unterstand weiterhin dem Osmanischen<br />

Reich, genoß jedoch eine Autonomie, die ihm eine unabhängige <strong>und</strong> relativ ruhige<br />

<strong>Entwicklung</strong> bis zum 1. Weltkrieg ermöglichte (vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong><strong>2.</strong>).<br />

<strong>2.</strong>1.3 Zusammenfassung<br />

Das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert war von Krisen <strong>und</strong> Reformversuchen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />

geprägt. <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> der Libanon bereiteten dem Reich größere Krisen. Sie führten<br />

dazu, daß <strong>Bosnien</strong> am Ende <strong>des</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts zwar noch unter osmanischer Souveränität<br />

stand, jedoch de facto bereits Bestandteil Österreich-Ungarn war. Der Libanon blieb<br />

zwar stärker im Einflußbereich <strong>des</strong> Osmanischen Reiches, wurde jedoch zum Zentrum<br />

europäischen Einflusses im Nahen Osten.<br />

<strong>Die</strong> erwähnten Krisen waren zum Teil interner Natur <strong>und</strong> wurden unter der Bevölkerung<br />

<strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong>s ausgetragen. Bereits Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts kam es<br />

zwischen den Drusen <strong>und</strong> Christen, insbesondere Maroniten, <strong>des</strong> Libanons zu<br />

kriegerischen Auseinandersetzungen. In <strong>Bosnien</strong> bestanden im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zwar<br />

durchaus Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften, doch führten diese nicht<br />

zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. <strong>Die</strong> Ursachen für den Aufstand in der<br />

Herzegowina 1874 war stärker als im Libanon wirtschaftlicher Natur.<br />

Der Libanon war stärker ausländischem Einfluß ausgesetzt. Auch wenn es ein<br />

Engagement für <strong>Bosnien</strong> auf serbischer <strong>und</strong> österreichischer Seite vor 1878 gab, war das<br />

Ausmaß sehr viel geringer als der vergleichbare französische Einfluß im Libanon. Im<br />

Libanon fand eine rege missionarische Aktivität statt (vgl. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong><strong>2.</strong>). <strong>Die</strong><br />

Missionen kontrollierten das Schul- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen. Weiterhin erfuhren die<br />

Konfessionen <strong>des</strong> Libanon Unterstützung von den verschiedenen Großmächten.<br />

Frankreich hatte bereits seit der frühen Neuzeit enge Beziehungen zu den katholischen<br />

Christen in der Levante. 1648 gab Ludwig XIV. den Maroniten ein Schutzversprechen.<br />

<strong>Die</strong>ser Anspruch wurde in einer „Kapitulation“ (Vertrag) zwischen dem Osmanischen<br />

Reich <strong>und</strong> Frankreich von 1673 festgeschrieben. <strong>Die</strong>ser Schutz Frankreichs erstreckte<br />

sich auf alle Katholiken in der Levante. 46 Frankreich nahm Das Recht jedoch erst seit<br />

dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, mit zunehmendem kolonialem Interesse, in vollem Umfang wahr.<br />

Großbritannien setzte sich hingegen für die Drusen ein. Durch die unterschiedlichen<br />

Engagements der europäischen Großmächte wurden die konfessionellen Differenzen<br />

weiter zugespitzt.<br />

Rußland erhob den Anspruch alle orthodoxen Christen <strong>des</strong> osmanischen Reiches zu<br />

schützen. Nach einem verlorenen Krieg gegen Rußland stimmte das Osmanische Reich<br />

1774 der Errichtung einer orthodoxen Kirche in Istanbul zu. Katharina II. interpretierte<br />

dieses Zugeständnis als Anerkennung der russischen Schutzmacht über alle orthodoxen<br />

Christen. <strong>Die</strong>ser Anspruch Rußland besaß jedoch kaum Einfluß auf die Orthodoxen im<br />

45<br />

46<br />

<strong>Die</strong>s entsprach dem Schutzmachtsanspruch Rußlands über die orthodoxe Bevölkerung <strong>und</strong><br />

Frankreichs über die katholischen Christen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches, vgl. Kapitel <strong>2.</strong>1.3, Phillip K.<br />

Hitti, Lebanon in History (London 1962) 433-440.<br />

Gilles Veinstein, Les provinces balkaniques (1606-1774) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de<br />

l'Empire Ottoman (Paris 1989) 319.<br />

17


Libanon. Rußland versuchte mit diesem Recht die Expansion auf dem Balkan zu<br />

legitimieren. 47<br />

Auf die Frage, weshalb sich außer Österreich-Ungarn keine andere europäische<br />

Großmacht in gleicher Weise in <strong>Bosnien</strong> engagiert hat, gibt es eine naheliegende<br />

Antwort: Im Gegensatz zum Libanon mit seiner Küste <strong>und</strong> dem Zugang zur restlichen<br />

arabischen Welt besaß <strong>Bosnien</strong> nie eine derart wichtige strategische Lage. Das Fehlen<br />

einer eigenen Küste (bis auf ca. 20 Kilometer bei Neum) <strong>und</strong> die geographische<br />

Umklammerung durch Kroatien beziehungsweise Österreich-Ungarn, gab <strong>und</strong> gibt<br />

<strong>Bosnien</strong> keine unter strategischen Gesichtspunkten wichtige Lage. <strong>Die</strong> gebirgige<br />

Topographie <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> erschwerte zudem den Transport auf dem Landweg. So führen<br />

auch die wichtigsten Verkehrswege <strong>des</strong> Balkans an <strong>Bosnien</strong> vorbei. 48<br />

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Ende osmanischer Herrschaft in <strong>Bosnien</strong><br />

<strong>und</strong> die Autonomie für den Libanon durch das Zusammenwirken der erwähnten internen<br />

<strong>und</strong> externen Faktoren bedingt wurde. Der Aufstand in der Herzegowina 1875 <strong>und</strong> die<br />

Kämpfe zwischen Drusen <strong>und</strong> Maroniten erleichterten bzw. begründeten eine<br />

Einmischung der europäischen Großmächte. In der Folgezeit kam es in beiden Gebieten<br />

erstmals zu einer größeren Modernisierung auf wirtschaftlicher <strong>und</strong> sozialer Ebene.<br />

Weiterhin entstanden zwischen der <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> dem Ende <strong>des</strong> 1.<br />

Weltkrieges erste politische Bewegungen <strong>und</strong> Parteien im Libanon <strong>und</strong> in <strong>Bosnien</strong>.<br />

<strong>2.</strong><strong>2.</strong> <strong>Bosnien</strong> unter der Verwaltung Österreich-Ungarn, der autonome Libanon<br />

<strong>2.</strong><strong>2.</strong>1. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina als Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie<br />

<strong>Die</strong> Angliederung <strong>Bosnien</strong>s an die österreichisch-ungarische Monarchie bildet eine<br />

Zäsur in der Geschichte der Provinz. Einerseits vollzog sich hierdurch ein Wechsel von<br />

der Herrschaft eines mittelalterlich geprägten Großreiches zu einem Vielvölkerstaat.<br />

Während erstmals alle Kroaten in einem Staat lebten, wenn auch durch<br />

Verwaltungsgrenzen getrennt, fand sich die muslimische Bevölkerung <strong>Bosnien</strong>s<br />

erstmals in einem nicht-muslimischen Staat wieder. <strong>Die</strong> serbischen Einwohner <strong>Bosnien</strong>s<br />

gelangten nicht, wie erhofft, zu Serbien, sondern zur Donaumonarchie. Damit entstand<br />

ein Auslöser für die zunehmenden Spannungen zwischen Serbien <strong>und</strong> Österreich-<br />

Ungarn.<br />

<strong>Die</strong> Besetzung <strong>und</strong> Verwaltung <strong>Bosnien</strong>s<br />

<strong>Die</strong> Verwaltung <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> durch Österreich-Ungarn war ein Ergebnis <strong>des</strong><br />

Berliner Kongresses von 1878 (vgl. Kapitel <strong>2.</strong>1.1.). Ziel Österreich-Ungarns war es, den<br />

russischen Einfluß auf dem Balkan zurückzudrängen <strong>und</strong> den Status-Quo mit dem<br />

Osmanischen Reich zu erhalten. Somit dürfte die Verwaltung <strong>Bosnien</strong>s in erster Linie<br />

eine Versuch gewesen sein, zu verhindern, daß Serbien <strong>und</strong> dadurch Rußland die<br />

Einflußsphäre nach <strong>Bosnien</strong> ausdehnt. 49<br />

Noch vor Abschluß <strong>des</strong> Berliner Kongresses wurde die bevorstehende Okkupation<br />

<strong>Bosnien</strong>s durch Österreich-Ungarn bekanntgegeben. <strong>Die</strong>se Ankündigung führte zur<br />

Bewaffnung der muslimischen Bevölkerung <strong>und</strong> der Vorbereitung <strong>des</strong> Widerstan<strong>des</strong>.<br />

47<br />

48<br />

49<br />

Castellan, Histoire <strong>des</strong> Balkans, 201-203.<br />

Karl Kaser, Südosteuropäische Geschichte <strong>und</strong> Geschichtswissenschaft (Wien/Köln 1990) 28-31.<br />

Castellan, Histoire <strong>des</strong> Balkans, 347-350 <strong>und</strong> Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and<br />

Modern Turkey, Bd. II, 187-191.<br />

18


Ende Juli 1878 proklamierte der Kaiser den österreichisch-ungarischen Einmarsch <strong>und</strong><br />

unterstrich die Einwilligung <strong>des</strong> Sultan. 50 Auch wenn die Zustimmung der Hohen Pforte<br />

widerwillig erfolgte, ging der größte Widerstand von der lokalen Bevölkerung <strong>und</strong> nicht<br />

vom Osmanischen Reich aus. Dementsprechend verlief die Besetzung, entgegen den<br />

Erwartungen der neuen Herrscher <strong>Bosnien</strong>s, nicht konfliktfrei. So mußte die Monarchie<br />

ein Drittel ihrer mobilisierten Truppen in <strong>Bosnien</strong> einsetzen. Insgesamt standen 200.000<br />

Soldaten Österreich-Ungarns 79.200 Aufständischen <strong>und</strong> 13.800 osmanischen Truppen<br />

gegenüber. Erst nach drei monatigen Kämpfen konnte Österreich-Ungarn die<br />

vollständige Kontrolle über <strong>Bosnien</strong> herstellen. 51<br />

In der Monarchie wurde der Anschluß <strong>Bosnien</strong>s nicht nur begrüßt; so befürchteten<br />

insbesondere Ungarn <strong>und</strong> die Deutsch-Österreicher der Monarchie einen Machtverlust<br />

zugunsten der slawischen Bevölkerung. Weiterhin herrschte keine Einigkeit darüber, zu<br />

welcher Reichshälfte <strong>Bosnien</strong> gehören solle. Für <strong>Bosnien</strong> wurde schließlich eine<br />

Sonderregelung beschlossen, die eine Entscheidung zugunsten einer Reichshälfte<br />

vermied. <strong>Bosnien</strong> wurde somit vom Gemeinsamen Finanzministerium verwaltet. Da der<br />

Reichsrat eine finanzielle Unterstützung für den Aufbau <strong>Bosnien</strong>s ablehnte, fehlten<br />

Geldmittel für die Verwaltung <strong>und</strong> zugleich entzog sich die Verwaltung der Provinz<br />

parlamentarischer Kontrolle. Donia zieht den Schluß, daß die Architekten der<br />

österreichisch-ungarischen <strong>Bosnien</strong>politik Beamte <strong>und</strong> nicht Politiker waren. Da das<br />

Budget, über das das k.u.k. Finanzministerium zu verwalten hatte, war verhältnismäßig<br />

gering, so daß sich schon balb das Ministerium vorrangig mit der Verwaltung <strong>Bosnien</strong>s<br />

beschäftigte. 52<br />

Nach der Verwaltungsübernahme erkannte Österreich-Ungarn die religiöse<br />

Oberherrschaft <strong>des</strong> Sultans über die Muslime an, gestattete weiterhin die Benützung der<br />

osmanischen Währung <strong>und</strong> übernahm die wenigen osmanischen Verwaltungsbeamten. 53<br />

Der Einfluß <strong>des</strong> Osmanischen Reiches reduzierte sich jedoch drastisch in den Jahren der<br />

österreichisch-ungarischen Verwaltung.<br />

Auch die Verwaltungseinteilung blieb gleich, nur die Namen änderten sich. So wurden<br />

aus den Sandžaks Kreise <strong>und</strong> Kazas, aus Kadiluks wurden Bezirke. <strong>Die</strong> Zahl der<br />

Beamten <strong>und</strong> Soldaten erhöhte sich jedoch dramatisch mit der österreichischungarischen<br />

Machtübernahme. Während nur 120 osmanische Beamte <strong>Bosnien</strong><br />

verwalteten, erhöhte sich die Zahl auf 9.533 im Jahr 1908. Im November 1881, zur Zeit<br />

von größeren Aufständen in der Herzegowina, standen zusätzlich 1<strong>2.</strong>840 Soldaten in<br />

<strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> 4000 in der Herzegowina.<br />

Offiziell galt in <strong>Bosnien</strong> Militärrecht, die osmanischen Gesetze galten jedoch fort, bis<br />

sie mit der Zeit durch neue österreichische Gesetze ersetzt wurden. Insbesondere die<br />

Sharia wurde weiter angewandt, in der religiöse Belange der Muslime geregelt<br />

50<br />

51<br />

52<br />

53<br />

Austrian Proclamation on the Entrance of Austro-Hungarian Troops into Bosnia and the<br />

Herzegovina, 28.7.1878, in: Snežana Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents. From its<br />

creation to its dissolution (Dordrecht/Boston/London 1994) 96-98<br />

Martha M. Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in<br />

<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina (1878-1914) (Bern/Frankfurt/New York/Paris 1987) 25-28.<br />

Da die Finanzminister, die <strong>Bosnien</strong> verwalteten, Politiker waren <strong>und</strong> auch ihre Handeln veranworten<br />

mußten, ist die These Donia's zur fehlenden Demokratie nur teils glaubhaft, insbesondere nach 1908.<br />

Donia, Islam <strong>und</strong>er the Double Eagle, 11.<br />

Siehe Convention between Austria-Hungary and Turkey Respecting the Occupation and<br />

Administration by Austira-Hungary of the Provinces of Bosnia and Herzegowina, with Annex,<br />

Constantinople, 21.4.1879, in: Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 101-103.<br />

19


wurden. 54 Ziel der österreichischen Politik war jedoch die Einführung <strong>des</strong> Rechtsstaats<br />

<strong>und</strong> einer geordneten Verwaltung.<br />

<strong>Die</strong> zentrale Persönlichkeit der österreichisch-ungarischen Verwaltung war Kállay, der<br />

k.u.k. Finanzminister von 1882 bis 1903. Als Autor einer Geschichte Serbiens<br />

übernahm ein Experte <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> der Region die Aufgabe der Verwaltung der<br />

Provinz. Kállay hoffte, mit einer effizienten Administration wirtschaftlichen<br />

Aufschwung <strong>und</strong> infolge<strong>des</strong>sen auch größere Unterstützung durch die lokale<br />

Bevölkerung zu sichern. Zugleich förderte Kállay das Bosniakentum (Bošnjaštvo) unter<br />

allen Einwohnern <strong>Bosnien</strong>s, um irridentistischen Bestrebungen der Serben, aber auch<br />

der kroatischen Bevölkerung entgegenzuwirken. Ziel der Politik war es, ein Loyalität<br />

aller Nationen zu <strong>Bosnien</strong> zu schaffen <strong>und</strong> hierdurch <strong>Bosnien</strong> aus dem von<br />

Nationalbewegungen geprägten Umfeld herauszuhalten. Kállay führte auch die<br />

Bezeichnung Bosnaklar ein, um von dem bisherigen Begriff für die Muslime Bošnjaci<br />

zu unterscheiden. Unter der kroatischen <strong>und</strong> serbischen Bevölkerung jedoch stießen<br />

diese Maßnahmen auf wenig Erfolg. Teile der muslimischen Bevölkerung akzeptierten<br />

das Konzept. <strong>Die</strong> Bemühungen waren möglicherweise kontraproduktiv, da sich<br />

Moslems dem konservativen Islam zuwandten <strong>und</strong> sich durch diese Identitätsfindung<br />

stärker von den anderen beiden Nationen abgrenzen konnten. Mit dem Konzept <strong>des</strong><br />

Bosniakentum war die Hoffnung verb<strong>und</strong>en, daß die Muslime zum Christentum<br />

konvertieren. <strong>Die</strong>ser Glaube basierte auf der Annahme, daß die Muslime nur aus<br />

Gründen materiellen Vorteils im 15. <strong>und</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>ert zum Islam übergetreten seien.<br />

Dementsprechend müßte eine Umkehrung der Vorzeichen eine Rückkonvertierung<br />

bewirken. <strong>Die</strong>se Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, unter österreichisch-ungarischer<br />

Herrschaft kam es kaum zu Konvertierungen. Man kann davon ausgehen, daß die<br />

Identität der drei Religionsgemeinschaften zu diesem Zeitpunkt bereits gefestigt war.<br />

Auf Kállay‘s Tod 1903 folgte István Freiherr Burián von Rajecz, der zwischen 1903 <strong>und</strong><br />

1912 <strong>und</strong> gegen Ende <strong>des</strong> 1. Weltkrieges amtierte. Anders als Kállay bemühte er sich<br />

nicht um die Etablierung <strong>des</strong> Bošnjaštvo, sondern gestattete Kroaten <strong>und</strong> Serben ein<br />

stärkeres Besinnen auf die eigenen Nationszugehörigkeit. Als Ergebnis entstanden<br />

Nationalparteien. 55<br />

<strong>Die</strong> Agrarfrage <strong>und</strong> die wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Modernisierung<br />

<strong>Die</strong> Landwirtschaft bestimmte die wirtschaftliche Struktur <strong>Bosnien</strong>s. <strong>Bosnien</strong> war 1878<br />

ein bäuerliches Gebiet, 87 % der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. <strong>Die</strong><br />

Besitzverhältnisse führten zur sogenannten „Agrarfrage“, die das politische Geschehen<br />

der österreichisch-ungarischen Verwaltung prägte. In der Blütezeit <strong>des</strong> Osmanischen<br />

Reiches bekamen die Soldaten <strong>und</strong> Beamten <strong>des</strong> Sultans Militärlehen zugewiesen. <strong>Die</strong><br />

auf diesem Land ansässigen, in der Regel christlichen Bauern (Kmeten), hatten den<br />

Lehensinhaber durch Abgaben zu unterhalten. Im 16. <strong>und</strong> 17 Jahrh<strong>und</strong>ert wurde diese<br />

54<br />

55<br />

<strong>Die</strong> Sharia ist die Gesetzesammlung nach dem Koran <strong>und</strong> der Überlieferung (Sunna) <strong>und</strong> lokalen<br />

Tradition. <strong>Die</strong> Sharia <strong>Bosnien</strong>s folgte der Rechtsschule Hanafi, die im Osmanischen Reich<br />

angewandt wurde. hierzu s. John Alden William, Der Islam (Genf 1973) 115-119, 231-238.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der verschiedenen in Kraft befindlichen Gesetze kam es öfters zu größerer<br />

Rechtsverwirrung, Malcolm, Bosnia, 138 f.<br />

Zur Bošnjaštvo-Politik Kállays s. Smail Balić, Das Bosniakentum als nationales Bekenntnis, in:<br />

Österreichische Osthefte, Nr. 2/91, Jhrg. 33, 157; Aydin Babuna, <strong>Die</strong> Elite <strong>und</strong> die nationale<br />

<strong>Entwicklung</strong> der bosnischen Muslime. Mit besonderer Berücksichtigung der österreichischungarischen<br />

Periode (Dissertation Wien 1994) 181-20<strong>2.</strong><br />

20


Lehen erblich. <strong>Die</strong> Güter (Ciftluk oder Agaluk) gehörten meist muslimischen<br />

Großgr<strong>und</strong>besitzern (Begs oder Agas). <strong>Die</strong> Mehrheit der Kmeten waren orthodox, es gab<br />

jedoch auch katholische <strong>und</strong> muslimische Kmeten. <strong>Die</strong> Kmeten erhofften von der neuen<br />

Verwaltung die Abschaffung <strong>des</strong> Kmetentums <strong>und</strong> die Verteilung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Erst nach<br />

der Annexion widmet sich Österreich-Ungarn einer Reform der Landwirtschaft. Das<br />

lange Zögern läßt sich durch fehlen<strong>des</strong> Geld für Entschädigungen der Begs <strong>und</strong> Agas<br />

zurückführen. Weiterhin wollte die Monarchie nicht die muslimische Elite gegen sich<br />

aufbringen. 56 <strong>Die</strong> Agrarfrage nahm zunehmend einen nationalen Charakter an. Da die<br />

Mehrheit der Begs Muslime <strong>und</strong> die Kmeten Großteils Serben waren, kam es zu<br />

Spannungen zwischen beiden Nationen. <strong>Die</strong> Mehrheit der Muslime waren jedoch<br />

Kleinbauern mit weniger als 50 Hektar Boden. (s. unten).<br />

Während die Agrarfrage lange Zeit ungelöst blieb, kam es zu einer wirtschaftlichen <strong>und</strong><br />

sozialen Modernisierung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in anderen Bereichen. In der osmanischen Zeit war<br />

ein öffentliches Schulwesen fast inexistent. <strong>Die</strong> Unterrichtssprache war türkisch <strong>und</strong><br />

richtete sich fast ausschließlich an die muslimische Bevölkerung. <strong>Die</strong> Fortschritte unter<br />

österreichisch-ungarischer Herrschaft waren groß. Im Vergleich zur restlichen<br />

Monarchie <strong>und</strong> anderen Balkanstaaten blieb das Schulwesen jedoch sehr rückständig. In<br />

<strong>Bosnien</strong> besuchten 1908 nur 15 Prozent der Kinder Alter eine Gr<strong>und</strong>schule. Weiterhin<br />

gab es nur 12 höhere Schulen <strong>und</strong> keine Universität. Aus politischen Gründen war es<br />

Schülern verboten, eine Universität in slawischer Sprache zu besuchen. <strong>Die</strong> Zahl der<br />

Studenten aus <strong>Bosnien</strong> blieb somit klein. Erst nach der Annexion erhöhte sich die Zahl<br />

der Schulen, blieb jedoch weit hinter dem Durchschnitt der Monarchie <strong>und</strong> sogar<br />

Serbiens zurück. Am höchsten war die Zahl der katholischen Kinder in den<br />

Primärschulen. Doch auch unter den Katholiken stieg der Prozentsatz an Schulgängern<br />

in der entsprechenden Altersgruppe in der gesamten Zeit der Herrschaft Österreich-<br />

Ungarn nicht über 50 Prozent.<br />

Das schlechte Ausbildungssystem hatte eine konstant hohe Analphabetenrate zur Folge.<br />

So konnten 1910 87,8 Prozent der bosnischen Bevölkerung weder lesen noch schreiben<br />

(Dalmatien: 62,7 %, Istrien 40,2 %). Der höchste Anteil lag bei den Muslimen mit über<br />

90 Prozent. 57<br />

Der wirtschaftliche Aufbau <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, ein vorrangiges Ziel der Verwaltung Österreich-<br />

Ungarns, wurde nur teilweise erreicht. <strong>Die</strong> dafür notwendige Verbesserung der<br />

Infrastruktur scheiterte Großteils an dem Widerstand Ungarns. Weiterhin fehlte es an<br />

Kapitel zum Aufbau von Industrien <strong>und</strong> Infrastruktur. Lediglich der Abbau von<br />

Rohstoffen wurde in <strong>Bosnien</strong> recht erfolgreich betrieben. Am bedeutendsten war die<br />

Holzindustrie. Da es in der Provinz große Holzvorräte <strong>und</strong> billige Arbeitskräfte gab,<br />

konnte dieser Wirtschaftszweig eine zentrale Rolle in der bosnischen Wirtschaft<br />

einnehmen. <strong>Die</strong> inneren Unruhen trugen nicht zu einem günstigen wirtschaftlichen<br />

56<br />

57<br />

Kurt Wessely, <strong>Die</strong> Wirtschaftliche <strong>Entwicklung</strong> von <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina, in: Adam Wandruszka,<br />

Peter Urbanitsch (Hg.), <strong>Die</strong> Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. I: Alois Brusatti (Hg.) <strong>Die</strong><br />

wirtschaftliche <strong>Entwicklung</strong> (Wien 1973) 562-565 <strong>und</strong> Ferdinand Hauptmann, <strong>Die</strong> Mohammedaner<br />

in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch, <strong>Die</strong> Habsburgermonarchie 1848-<br />

1918, Bd. IV: <strong>Die</strong> Konfessionen (Wien 1985) 677 f.<br />

Hierbei ist nicht zu vergessen, daß in religiösen Schulen meist Arabisch Unterrichtssprache war, so<br />

daß viele Kinder im Serbokroatischen Analphabeten waren, aber zumin<strong>des</strong>t Arabisch lesen <strong>und</strong><br />

schreiben konnten. Hauptmann, <strong>Die</strong> Mohammedaner in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, 699 <strong>und</strong> Čupić-<br />

Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina,<br />

314-319.<br />

21


Klima bei <strong>und</strong> schreckten potentielle Investoren ab. Peter Sugar betont, daß der späte<br />

Zeitpunkt der politischen <strong>und</strong> sozialen Reformen, erst nach der Annexion, einen<br />

wirtschaftlichen Aufschwung verzögert hat. Peter Sugar kommt zum Schluß, daß<br />

<strong>Bosnien</strong> zu größeren sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen <strong>Entwicklung</strong>en in der Lage gewesen<br />

wäre, als dies in dieser Zeit der Fall war. Er führt dies auf mangeln<strong>des</strong> Engagement <strong>und</strong><br />

Fehler Österreich-Ungarns zurück. Zugleich gesteht er der österreichisch-ungarischen<br />

Zeit Fortschritte zu. 58<br />

<strong>Die</strong> ationen <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> die österreichisch-ungarische Verwaltung<br />

In <strong>Bosnien</strong> entwickelten sich die Voraussetzungen für die Ausbreitung von<br />

Nationalbewegungen erst spät. So weist Mark Pinson darauf hin, daß 1866 die erste<br />

Druckerei öffnete <strong>und</strong> es um 1875 noch keinen Buchladen in Sarajevo gab. 59 Auch<br />

waren die meisten Zeitungen aus den Nachbarländern, also nicht nur aus Serbien,<br />

sondern auch aus Kroatien, Slawonien <strong>und</strong> Dalmatien verboten. Selbst das von Kállay<br />

verfaßte Buch zur serbischen Geschichte war in <strong>Bosnien</strong> nicht zu erhalten. <strong>Die</strong>se<br />

Verbote sind als Versuch zu werten, die Nationalbewegungen der Umländer von<br />

<strong>Bosnien</strong> fernzuhalten. 60<br />

Lediglich die kroatische Bevölkerung hieß die österreichische Verwaltung willkommen,<br />

auch wenn sich ihre Hoffnung, mit Kroatien vereint zu werden, nicht erfüllte. <strong>Die</strong><br />

politischen Aktivitäten der Kroaten in <strong>Bosnien</strong> wurden zu Anfang von<br />

Franziskanermönchen dominiert. Zunächst deckt sich ihre Position mit der liberalen<br />

Politik Strossmayers. Der Bischof von Djakovo, zu <strong>des</strong>sen Bistum bis 1878 auch<br />

<strong>Bosnien</strong> gehörte, strebte einen Ausgleich mit der Orthodoxie <strong>und</strong> der serbischen<br />

Bevölkerung innerhalb Österreich-Ungarns an. Er war ein Verfechter <strong>des</strong><br />

Jugoslawismus <strong>und</strong> gründete die Jugoslawische Akademie. Bereits kurze Zeit nach dem<br />

Beginn österreichisch-ungarischer Verwaltung wandten sich die Franziskaner der Politik<br />

der Partei <strong>des</strong> Rechts zu. <strong>Die</strong>se war weniger an einem Ausgleich mit der serbischen<br />

Bevölkerung interessiert, als an einer Autonomie Kroatiens innerhalb Österreich-<br />

Ungarns. <strong>Die</strong> Loyalität zu Österreich-Ungarn <strong>und</strong> der Versuch der Partei <strong>des</strong> Rechts<br />

<strong>Bosnien</strong> an Kroatien anzunähern schreckte die anderen ethnischen Gruppen <strong>Bosnien</strong>s<br />

ab. <strong>Die</strong>s führte zu einem politischen Bündnis zwischen Serben <strong>und</strong> Muslimen in<br />

<strong>Bosnien</strong>. 1<br />

<strong>Die</strong> Forderung kroatischer Politiker, <strong>Bosnien</strong> mit Kroatien zu vereinen, dominiert die<br />

gesamte Zeit österreischisch-ungarischer Herrschaft. So baten kroatischer Politiker<br />

1906 bei Travnik in einer Petition an Kaiser Franz Joseph <strong>Bosnien</strong> an Kroatien<br />

anzuschließen. Nikola Mandić bildete 1907 die Hrvatska arodna Zajednica (National-<br />

Kroatischer Verein, CNU), die sich bald zu einer Partei entwickelt. Neben ihr entstand<br />

die Hrvatska katolička udruga (Kroatisch-Katholische Gesellschaft, CCA). Beide<br />

strebten eine Union mit Kroatien an <strong>und</strong> erklärten die Muslime zu Kroaten islamischen<br />

Glaubens. 61<br />

58<br />

59<br />

60<br />

61<br />

Peter Sugar, Industrialization of Bosnia-Hercegovina, 1878-1918 (Seattle 1963) 193-220.<br />

Marc Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, in:<br />

Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Development from the Middle Ages<br />

to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993) 90.<br />

Dušan T. Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina. History & Politics (Paris 1996) 66.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 61, 70-7<strong>2.</strong><br />

22


<strong>Die</strong> Serben in <strong>Bosnien</strong> forderten in erster Linie das Recht, die Führung der serbischorthodoxen<br />

Kirche unabhängig vom Kaiser zu bestimmen, die Eröffnung von serbischen<br />

Schulen <strong>und</strong> die Zulassung <strong>des</strong> kyrillischen Schrift. Der Versuch der Monarchie, die<br />

serbisch-orthodoxen Kirchen <strong>Bosnien</strong>s dem Patriachat von Karlowitz zuzuordnen, stieß<br />

auf serbischen Widerstand. Somit blieb die serbisch-orthodoxe Kirche dem Patriachat in<br />

Istanbul unterstellt. 62 Gerade die katholische Ausrichtung der Habsburgermonarchie<br />

wurde von der serbischen Bevölkerung mit Argwohn betrachtet. So fürchtete die<br />

serbische Nationalbewegung zunehmende Missionstätigkeit der katholischen Kirche zu<br />

Lasten der serbisch-orthodoxen Kirche. Der politischen Führung der bosnischen Serben<br />

gelang es jedoch nicht, von den Moslems in diesen Forderung unterstützt zu werden.<br />

Der Aufstand 1881-82 gegen die Einführung der Wehrpflicht in der Herzegowina wurde<br />

zu einem Großteil von Serben angeführt. <strong>Die</strong> folgende Repression der Kirche <strong>und</strong><br />

Schulen konnte den serbischen Widerstand nur zeitweise brechen. 63 1896 reiste eine<br />

serbische Delegation nach Wien <strong>und</strong> beklagte sich in einer Petition an den Kaiser über<br />

die Einschränkung der inneren Autonomie. Sowohl der k.u.k. Finanzminister Benjamin<br />

Kállay, als auch der Patriarch in Konstantinopel lehnten eine Änderung der orthodoxen<br />

Kirchenorganisation ab, weil sie darin eine Serbisierung befürchteten. In den folgenden<br />

Jahren herrschte Konfrontation zwischen den Behörden <strong>und</strong> den Metropoliten auf der<br />

einen sowie den gewählten Gemeindevorstehern auf der anderen Seite. 1901 legte die<br />

serbische Opposition dem Kaiser ein Memorandum vor, in dem sie die Lan<strong>des</strong>regierung<br />

für die Zwietracht in der bosnischen Orthodoxie verantwortlich machte. <strong>Die</strong><br />

Lan<strong>des</strong>regierung wies das zurück <strong>und</strong> alles blieb beim Alten. Erst unter dem<br />

Finanzminister Stefan Burian von Rajecz kam es 1903 zu einer Einigung, <strong>und</strong> 1905<br />

konnte ein neues Statut für die orthodoxen Gemeinden verkündet werden, dasden<br />

Gemeinden aber nur wenig mehr Mitspracherecht einräumte. <strong>Die</strong> Autonomiebewegung<br />

hat das nationale Bewußtsein unter den bosnischen Serben stark gefördert. Eine ähnlich<br />

Bewegung gab es 1899-1907 auch bei den Muslimen. 64<br />

In der Zeit österreich-ungarischer Verwaltung konnten sich serbische Zeitungen <strong>und</strong><br />

Vereine gut entwickeln. So bestanden 1906 acht Zeitungen <strong>und</strong> Zeitschriften in<br />

kyrillischer Schrift. <strong>Die</strong> größte Zeitung war Srpska Rječ mit einer Auflage von 3.000<br />

Exemplaren.<br />

Vor der Annexion 1908 entwickelten sich Vereine aller Nationen, aus denen nationale<br />

Organisationen hervorgingen. So stieg die Zahl der serbischen Vereine von 43 1904 bis<br />

1912 auf 337. Neben den nationalistischen Turnvereinen (u.a. Sokol), nahm Prosveta<br />

eine zentrale Rolle unter diesen Vereinen ein. Sie verteilte Stipendien an serbische<br />

Studenten <strong>und</strong> Schüler, veröffentlichte eine Zeitung <strong>und</strong> erhielt den Kontakt zu Serben<br />

außerhalb <strong>Bosnien</strong>s. Aus dieser regen Vereinsbildung heraus entstand im Jahr 1907 die<br />

Serbisch-Nationale Organisation (Srpska narodna organizacija, SNO). Sie forderte<br />

Autonomie für <strong>Bosnien</strong>, strebte jedoch langfristig einen Anschluß an Serbien an. Wie<br />

die meisten kroatischen Parteien bezeichnete die SNO die Muslime als „konvertierte<br />

62<br />

63<br />

64<br />

Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />

Herzegowina, 60.<br />

Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 68, 70 f.; Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die<br />

österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina, 65.<br />

Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />

Herzegowina, 66-82; Dimitrije Djordjević, <strong>Die</strong> Serben, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch,<br />

<strong>Die</strong> Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. III, Teilbd. 1: <strong>Die</strong> Völker <strong>des</strong> Reiches (Wien 1980) 768-<br />

771.<br />

23


Serben“. Um nicht die Unterstützung der muslimischen Bevölkerung zu verlieren,<br />

vermieden die serbischen Parteien <strong>und</strong> Vereine, eine Landwirtschaftsreform zu fordern.<br />

Trotzdem mußten auch sie eine Verbesserung der Stellung der Bauern verlangen. <strong>Die</strong>s<br />

stellte eine schwierige Gradwanderung für die Partei dar. <strong>Die</strong> politischen Strömungen in<br />

der Herzegowina waren damals nationaler, als im restlichen <strong>Bosnien</strong>, so daß dort die<br />

nationale Komponente im Forderungskatalog der serbischen Parteien einen<br />

dominanteren Platz einnahm.<br />

Anders als bei Kroaten <strong>und</strong> Serben in <strong>Bosnien</strong> fehlte den Muslimen eine regionale<br />

religiös-kulturelle Autorität. <strong>Die</strong> Orientierung nach <strong>und</strong> Protektion von Istanbul ließ<br />

eine derartige Struktur während der osmanischen Herrschaft nicht entstehen. Somit<br />

ergab sich die Schwierigkeit für die Muslime, sich selber zu definieren. <strong>Die</strong> Muslime in<br />

<strong>Bosnien</strong>, anders als im arabischen Teil <strong>des</strong> Osmanischen Reiches, waren mit der Millet-<br />

Struktur zufrieden waren.<br />

Auf Betreiben der muslimischen Bevölkerung trennte der Kaiser 1882 die islamische<br />

Hierarchie von der osmanischen <strong>und</strong> führte den Reis-ul-Ulema als geistliches Oberhaupt<br />

der bosnischen Muslime ein. Ihm stand ein vierköpfiges Gremium, die Medžlissi-<br />

Ulemas zur Seite, die den Religionsunterricht überwachten. Im folgenden Jahr wurde<br />

die Lan<strong>des</strong>-Vakuf-Kommission geschaffen, die die Vakufs verwaltete. Da die<br />

Mitglieder der Kommission von der Regierung ernannt wurden, genossen sie nicht die<br />

Akzeptanz der muslimischen Bevölkerung. <strong>Die</strong> Vakufs, islamisch-kulturelle Stiftungen<br />

zum Erhalt von Moscheen, Brücken, Herbergen, Schulen <strong>und</strong> religiösen Einrichtungen,<br />

blieben trotzdem von der österreichisch-ungarischen Verwaltung weitgehend unberührt.<br />

<strong>Die</strong>se Stiftungen stellten jedoch einen bedeutsamen wirtschaftlichen Faktor dar. So<br />

konnte ein Spender seine Erben zu den Verwaltern <strong>des</strong> Vakufs ernennen, die dann eine<br />

fast steuerfreie Stiftung leiten konnten. 1878 befand sich ein Drittel <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in<br />

<strong>Bosnien</strong> in dem Besitz von Vakufs, nach islamischen Recht konnten sie auch nicht in<br />

Privatgr<strong>und</strong> zurück verwandelt werden. 65<br />

1870 1879 1910<br />

Orthodoxe 534.000 37,2 % 496.485 43,0 % 825.418 43,5 %<br />

Muslime 694.000 48,3 % 449.000 38,9 % 61<strong>2.</strong>137 32,2 %<br />

Katholiken 208.000 14,5 % 209.000 18,1 % 434.061 22,9 %<br />

Andere unbekannt - unbekannt - 26.428 1,4 %<br />

Gesamt 1.436.000 100 % 1.154.485 100 % 1.898.044 100 %<br />

Tabelle 2: Ergebnis der Volkszählungen von 1870, 1879 <strong>und</strong> 1910 66<br />

<strong>Die</strong> großen Unterschiede in den Forderungen <strong>und</strong> Zielen der muslimischen<br />

Großgr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong> der Bauern machte eine einheitliche Politik noch lange Zeit<br />

unmöglich. So forderte die muslimische Bewegung eine Reform <strong>des</strong> Landbesitzes. <strong>Die</strong><br />

muslimischen Großgr<strong>und</strong>besitzer dämpften allerdings diese Bemühungen. Auch<br />

formierte sich erst am Ende <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts eine Schicht muslimischer<br />

Intellektueller, die sich zu einer Trägerschicht der muslimischen Nation hätten<br />

entwickeln können. <strong>Die</strong> Probleme der Identitätsfindung der Muslime zeigt sich auch an<br />

65<br />

66<br />

Hauptmann, <strong>Die</strong> Mohammedaner in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, 686-689.<br />

Justin McCarthy, Ottoman Bosnia, 1800 to 1878, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-<br />

Herzegovina. Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia<br />

(Cambridge, Ma 1993) 81; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.<br />

24


den großen Emigrationsströmen in das Osmanische Reich. Es gibt verschiedene<br />

Angaben über die Zahl der Auswanderer. Nach den offiziellen Zahlen Österreich-<br />

Ungarns verließen zwischen 1883 <strong>und</strong> 1905 3<strong>2.</strong>625 Muslime das Land, nur 4.042<br />

kehrten zurück. <strong>Die</strong> Zahl schließt jedoch nicht jene ein, die zwischen 1878 <strong>und</strong> 1883<br />

<strong>Bosnien</strong> verließen, sowie die illegalen Emigranten. Nach einigen Schätzungen waren es<br />

ungefähr 100.000. (zur Zahl der Muslime in <strong>Bosnien</strong> s. Tabelle 2) Zur gleichen Zeit gab<br />

es auch eine wirtschaftlich motivierte Emigration aller Nationen <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> aus den<br />

Nachbarregionen nach Übersee, insbesondere in die Vereinigten Staaten. 67<br />

In Mostar bildete sich in den letzten Jahren <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts eine muslimische<br />

Bewegung für kulturelle <strong>und</strong> religiöse Autonomie. Im August 1900 traf ein Komitee von<br />

Muslimen aus ganz <strong>Bosnien</strong> zusammen, um einen Forderungskatalog an den Kaiser zu<br />

richten. In erster Linie wurde der fehlende Schutz <strong>des</strong> islamischen Glaubens <strong>und</strong><br />

unzureichende religiöse <strong>und</strong> kulturelle Autonomie kritisiert. Insbesondere der Übertritt<br />

von Muslimen zum Christentum führte immer wieder zu heftiger Kritik an der<br />

Verwaltung Österreich-Ungarns. Dem islamischen Glauben zufolge ist eine<br />

Konvertierung zu einer anderen Religion nicht zulässig. Ein Konvertierungsstatut von<br />

1891 sollte diese Übertritte regeln, indem es Hürden für den Übertritt zum Christentum<br />

errichtete. In der Praxis unterlief die katholische Kirche diese Regelung mit Billigung<br />

der Monarchie. So führte die Kirche geheime Übertritte durch <strong>und</strong> versteckte<br />

übergetreten Muslime. 68<br />

<strong>Die</strong> ersten Schritte einer muslimischen Bewegung fielen mit dem Erstarken der<br />

kroatischen <strong>und</strong> serbischen Nationalbewegung in <strong>Bosnien</strong> zusammen. Der Großteil der<br />

Moslems sah den anti-osmanischen <strong>und</strong> anti-muslimischen Kurs der serbischen<br />

Nationalbewegung als Bedrohung <strong>und</strong> orientierte sich an dem kroatischen Gegenstück.<br />

Einzelne Muslime identifizierten sich jedoch stärker mit der serbischen Nation. So<br />

unterstützte der bedeutende muslimische Großgr<strong>und</strong>besitzer Šerif Arnautović die<br />

serbische Forderung nach einem Anschluß <strong>Bosnien</strong>s an Serbien. 69<br />

Ähnlich wie bei Kroaten <strong>und</strong> Serben bildeten auch die Muslime in den ersten Jahren <strong>des</strong><br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts ihre ersten nationalen Vereine. Der bedeutendste war die Nationale<br />

Muslimische Organisation (Muslimanska narodna organizacija, MNO). <strong>Die</strong><br />

Forderungen dieser Organisation blieben jedoch weniger klar formuliert, als jene der<br />

serbischen oder kroatischen Nationalbewegungen. <strong>Die</strong> muslimische Identität war<br />

geringer ausgeprägt <strong>und</strong> kein Nachbarstaat oder Gebiet stand als Vorbild <strong>und</strong><br />

Unterstützung bereit. Auch war die nationale muslimische Bevölkerung in <strong>Bosnien</strong><br />

stärker sozial gespalten als die anderen beiden Nationen. 70<br />

<strong>Die</strong> Annexion<br />

Am 5. Oktober 1908 annektierte Österreich-Ungarn <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina. <strong>Die</strong><br />

internationale Reaktion auf diesen Schritt fiel weitaus heftiger aus, als die tatsächlichen<br />

Folgen für <strong>Bosnien</strong>. Durch die Annexion wurde lediglich der Status-Quo formalisiert,<br />

67<br />

68<br />

69<br />

70<br />

Malcolm, Bosnia, 139 f.; Babuna, <strong>Die</strong> Elite <strong>und</strong> die nationale <strong>Entwicklung</strong> der bosnischen Muslime,<br />

36-40.<br />

Tatsächlich traten zwischen 1879 <strong>und</strong> 1899 nur 32 Muslime zu einem anderen Glauben über, 29<br />

traten von anderen Religionen zum Islam über. <strong>Die</strong> katholische Kirche hingegen verlor mehr als<br />

doppelt so viele Gläubige (79) <strong>und</strong> konnte nur 36 Beitritte melden. s. Hauptmann, <strong>Die</strong><br />

Mohammedaner in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, 693 f.; Malcolm, Bosnia, 145 f.<br />

Babuna, <strong>Die</strong> Elite <strong>und</strong> die nationale <strong>Entwicklung</strong> der bosnischen Muslime, 126-137<br />

Zur Entstehungsgeschichte der Partei s. ebd. 238-250.<br />

25


doch sowohl auf serbischer Seite, als auch von den Großmächten kam Kritik an dem<br />

Schritt Österreich-Ungarns. 71 Das Osmanische Reich beschloß ein Warenboykott<br />

österreichisch-ungarischer Produkte. <strong>Die</strong> zwang Österreich-Ungarn zu einem<br />

Entgegenkommen gegenüber der Hohen Pforte. Das Sandžak Novi Pazar, das 1878<br />

zusammen mit <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina unter österreichisch-ungarische Verwaltung<br />

gefallen war, wurde dem Osmanischen Reich zurückgegeben. Weiterhin zahlte die<br />

k.u.k. Monarchie der Hohen Pforte 50 Millionen Kronen als Entschädigung für <strong>Bosnien</strong>-<br />

Herzegowina. 72<br />

In Folge der Annexion entstanden die serbischen Gruppen, die später am Attentat auf<br />

Kronprinz Franz Ferdinand beteiligt waren. Anstoß zu der Annexion gab die Besorgnis<br />

über serbische Bemühungen, alle Serben in einem Reich zu vereinen. Insbesondere seit<br />

dem Sturz der österreichfre<strong>und</strong>lichen Herrschaftsdynastie der Obrenović 1903 <strong>und</strong> der<br />

Machtübernahme der Familie Karadjordjević verschlechterten sich die Beziehungen<br />

zwischen beiden Staaten. Der erste Höhepunkt war der sogenannte Schweinekrieg 1906,<br />

bei dem Österreich-Ungarn Strafzölle auf serbische Schweine, eines der wichtigsten<br />

Exportprodukte <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, erhob. Daraus entwickelte sich eine wirtschaftliche<br />

Auseinandersetzung, die schon bald nationalistische Züge trug. 73<br />

Der direkte Auslöser für die Annexion war die Machtübernahme der Jungtürken in<br />

Istanbul, die eine selbstbewußtere <strong>und</strong> modernere Politik im Osmanischen Reich<br />

verfolgten (vgl. Kapitel <strong>2.</strong>1.1.). <strong>Die</strong> Regierung Österreich-Ungarns befürchtete erneute<br />

Ansprüche auf <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> stellte durch die Annexion die Jungtürken vor vollendete<br />

Tatsachen. Tatsächlich konzentrierten sich die Jungtürken stärker als die Sultane zuvor<br />

auf das Kerngebiet <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. Ein Jahr später kam es zu einem<br />

Abkommen zwischen beiden Reichen, in dem das Osmanische Reich die neuen<br />

Realitäten anerkannte <strong>und</strong> Ausgleichszahlungen Österreich-Ungarns für die Annexion<br />

vereinbarte.<br />

Zugleich kam es innerhalb <strong>Bosnien</strong>s zu einer Liberalisierung. 1910 wurde erstmals ein<br />

Landtag (Sabor) für <strong>Bosnien</strong> gewählt. Seine Kompetenzen waren größer als diejenigen<br />

der Landtage der österreichischen Kronländer. <strong>Die</strong> anderen Gebiete der Monarchie<br />

konnten jedoch auch den Reichsrat bzw. den Reichstag wählen, während die Einwohner<br />

<strong>Bosnien</strong>s nur den Landtag wählten. Weiterhin konnten die beiden Reichsregierungen<br />

<strong>und</strong> die gemeinsamen Ministerien ein Veto gegen Entscheidungen <strong>des</strong> bosnischen<br />

Landtages einlegen. <strong>Die</strong> wichtigste Auflage <strong>des</strong> Landtages war die Verabschiedung <strong>des</strong><br />

Budgets <strong>und</strong> die Kontrolle der Ausgaben. Das allgemeine Wahlrecht galt noch nicht,<br />

gewählt wurde nach dem Kurienwahlrecht, daß Großgr<strong>und</strong>besitzer <strong>und</strong> die<br />

Höchstbesteuerten überrepräsentierte. 74<br />

Im Sabor erhielten die Orthodoxen 37, die Moslems 29, die Katholiken 23 <strong>und</strong> die<br />

Juden einen Sitz. 75 Da die Sitze nach Konfession aufgegliedert waren, fand der<br />

71<br />

72<br />

73<br />

74<br />

75<br />

Für den Text der Annexionserklärung, sowie den Reaktionen Serbiens <strong>und</strong> <strong>des</strong> Osmanischen<br />

Reiches s. Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 106-113.<br />

Matuz, Das Osmanische Reich, 25<strong>2.</strong><br />

Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 75.<br />

<strong>Die</strong>s stärkte die Repräsentation der Muslime <strong>und</strong> trug zur muslimischen Akzeptanz der Annexion<br />

bei. s. Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />

Herzegowina, 49-59.<br />

Da hiervon 20 Abgeordneten ernannt werden, kommt es in der Literatur oft zu widersprüchlichen<br />

Angaben. Ohne die ernannten Abgeordneten ist Zusammensetzung wie folgt: Orthodoxe 31,<br />

Muslime 24, Katholiken 16 <strong>und</strong> Juden 1 Sitz, s. Malcolm, Bosnia, 150 f.; Friedman, The Bosnian<br />

26


Wahlkampf zwischen den Parteien der gleichen Religionszugehörigkeit statt. Alle Sitze<br />

der Orthodoxen <strong>und</strong> der Moslems gingen jeweils an deren wichtigsten Parteien, die<br />

SNO <strong>und</strong> die MNO. <strong>Die</strong> kroatischen Sitze teilten sich auf die CCA <strong>und</strong> die CNU.<br />

Ein Jahr später entstand eine Koalition aus muslimischen <strong>und</strong> den kroatischen<br />

Abgeordneten. Vor den Annexion war die Zusammenarbeit zwischen Serben <strong>und</strong><br />

Muslimen noch stärker gewesen. <strong>Die</strong> Agrarfrage, die im Landtag behandelt wurde,<br />

führte jedoch zu einer Annäherung zwischen Kroaten <strong>und</strong> Muslimen. 76<br />

<strong>Die</strong> unter Kállay bereits begonnene Trennung der Muslime von dem Islam außerhalb<br />

<strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> der Umma (der gesamten muslimischen Gemeinschaft) setzte sich nach<br />

der Annexion fort. So erhielten die Muslime 1909 ein Autonomiestatut, was<br />

muslimische Politiker seit Jahren gefordert hatten. Sie erhielten nun größere Rechte bei<br />

der Wahl <strong>des</strong> Reis-ul-Ulema. <strong>Die</strong>ser wurde von dem Kaiser auf Empfehlung durch die<br />

muslimische Gemeinde ernannt <strong>und</strong> vom Sultan in Istanbul bestätigt. Muslimische<br />

Kinder wurden in den Statuten dazu verpflichtet vor der allgemeinen Schule den Makteb<br />

(eine religiöse Schule) zu besuchen. 77<br />

Zugleich wandten sich die Muslime zunehmend von dem Osmanischen Reich ab. Nach<br />

der Ansicht vieler Muslime hatte das Reich sie durch die Hinnahme der Annexion<br />

verraten. <strong>Die</strong> Muslime bezeichneten sich nun seltener als Turčin (Türke) <strong>und</strong> mehr als<br />

Muslimani (Muslime). Das Vakufsystem wurde in Folge der Annexion wieder stärker<br />

muslimischen Forderungen angepaßt, was zu einer weiteren Annäherung zwischen<br />

Muslimen <strong>und</strong> Österreich-Ungarn führte. 78<br />

Insbesondere unter der serbischen Bevölkerung verhärtete sich der Widerstand gegen<br />

die Herrschaft der Habsburger. Unter anderen entstand die Mlada Bosna (Junges<br />

<strong>Bosnien</strong>), eine anti-klerikale, nationalistische Organisation, die sich gegen die<br />

Donaumonarchie wandte. Der Sieg Serbiens <strong>und</strong> Montenegros im ersten <strong>und</strong> zweiten<br />

Balkankrieg (1912 <strong>und</strong> 1913) stärkte deren Position. Durch den Versuch der SNO <strong>und</strong><br />

anderer moderater serbischer Parteien, die muslimischen Großgr<strong>und</strong>besitzer in ihre<br />

Parteien einzuschließen, wurden die gemäßigten Kräfte diskreditiert. <strong>Die</strong>s führte zu<br />

einer Radikalisierung <strong>des</strong> Parteienspektrums der bosnischen Serben. Obwohl bei diesen<br />

neuen Gruppen, wie Mlada Bosna, nationale Ziele im Vordergr<strong>und</strong> standen, lag die<br />

Ursache dieser <strong>Entwicklung</strong> Großteils in der Agrarfrage. 79 Der Landtag hatte zwar 1911<br />

die Kmetenablöse beschlossen, die Lösung wurde jedoch von serbischen Nationalisten<br />

abgelehnt. <strong>Die</strong> Ablöse bedeutete keine Abschaffung der Kmetenverhältnisse <strong>und</strong> führte<br />

zu einer finanziellen Belastung für die Kmeten. Somit wurde diese Lösung von<br />

serbischen Nationalisten abgelehnt. Kriegsbedingt wurde 1915 die Kmetenablöse<br />

unterbrochen. 80<br />

Der zunehmende Widerstand der serbischen Bevölkerung gegen die Herrschaft der<br />

k.u.k. Monarchie über <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> die Balkankriege führten zu Repressalien <strong>und</strong> zur<br />

partiellen Rücknahme der bosnischen Autonomie. So wurde 1913 die zivile<br />

76<br />

77<br />

78<br />

79<br />

80<br />

Muslims, 75 f.; Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-<br />

1918, 111.<br />

Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />

Herzegowina, 253-255, 281.<br />

Hauptmann, <strong>Die</strong> Mohammedaner in <strong>Bosnien</strong>-Herzegovina, 698 f.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 72, 74 f.<br />

Djordjević, <strong>Die</strong> Serben, 771 f.<br />

Wessely, <strong>Die</strong> Wirtschaftliche <strong>Entwicklung</strong> von <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina, 565 f.<br />

27


Administration mit der Militärverwaltung vereint <strong>und</strong> dem Kriegsministerium<br />

unterstellt. Der Ausnahmezustand betraf zwar die gesamte Bevölkerung, richtete sich<br />

jedoch in erster Linie gegen die bosnischen Serben. Der neue Gouverneur, General<br />

Ottokar von Potiorek, war damit nicht mehr dem k.u.k. Finanzministerium<br />

verantwortlich. Im selben Jahr wurde die Zivilverwaltung beseitigt, die meisten<br />

Kulturvereine verboten <strong>und</strong> Prozesse gegen Serben <strong>und</strong> andere Gegner der Herrschaft<br />

durchgeführt. Der Landtag konnte dennoch Ende 1913 erneut tagen 81<br />

In diesem angespannten Klima zwischen Serben <strong>und</strong> der Monarchie kam es zum Besuch<br />

<strong>des</strong> Kronzprinzen Franz Ferdinand in Sarajevo. Der Tag <strong>des</strong> Besuches fiel mit dem St.<br />

Veithstag zusammen, der aufgr<strong>und</strong> der legendären Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo<br />

Polje) 1389 den Beginn der osmanischen Herrschaft über Serbien symbolisiert, der<br />

bedeutendste Gedenktag Serbiens war. Somit war der Zeitpunkt <strong>des</strong> Besuchs denkbar<br />

schlecht gelegt, bzw. eine bewußte Provokation der Serben. Nur durch eine Reihe von<br />

Fehlern <strong>und</strong> Zufällen gelang es den schlecht vorbereiteten Attentätern den Kronprinz an<br />

diesem Tag zu ermorden. In allgemein bekannter Weise führten die folgenden<br />

Ereignisse binnen einen Monats zum 1. Weltkrieg. 82<br />

Nach wie vor ist der genaue Einfluß der serbischen Regierung auf die Attentäter unklar.<br />

Fest steht jedoch, daß sie vom Chef <strong>des</strong> militärischen Geheimdienstes, Dragutin<br />

Dimitrijević Apis Unterstützung erhielten. Apis war zugleich auch Anführer der<br />

großserbischen Geheimorganisation „Schwarze Hand“ <strong>und</strong> größter Widersacher <strong>des</strong><br />

serbischen Ministerpresidenten Pašić. 83<br />

Der 1. Weltkrieg<br />

Zwar begann der 1. Weltkrieg auf dem Balkan, doch die Region blieb nur ein<br />

Nebenschauplatz. <strong>Die</strong> Kriegsereignisse bilden jedoch die Gr<strong>und</strong>lage für das Entstehen<br />

Jugoslawiens. Auf dem Gebiet <strong>Bosnien</strong>s kam es kaum zu Kampfhandlungen, abgesehen<br />

von einigen kleineren Auseinandersetzungen in Ostbosnien. Trotzdem war der Krieg<br />

auch im restlichen <strong>Bosnien</strong> spürbar. Manche Kriegsfolgen betrafen die gesamte<br />

Bevölkerung, andere Maßnahmen richteten sich nur gegen eine Volksgruppe.<br />

Wie andere Einwohner der Monarchie wurden Bosnier als Soldaten Österreichs<br />

rekrutiert. Weiterhin wurde Getreide für den Krieg konfisziert. <strong>Die</strong> gesamte Herrschaft<br />

der Monarchie verschärfte sich mit Kriegsausbruch. In erster Linie litten jedoch die<br />

bosnischen Serben unter dem Krieg, da sie als Bedrohung der Integrität der Monarchie<br />

galten. Erstmals unterdrückte Österreich-Ungarn gezielt eine Nation <strong>Bosnien</strong>s. So wurde<br />

1915 die Benützung <strong>des</strong> kyrillischen Alphabets verboten <strong>und</strong> die meisten serbischen<br />

Vereine aufgelöst. Während <strong>des</strong> Krieges wurden etwa 5.000 serbische Familien aus<br />

<strong>Bosnien</strong> nach Serbien vertrieben. Zwischen 3.300 <strong>und</strong> 5.500 bosnische Serben wurden<br />

in Lagern, zumeist in Arad, interniert, 700 bis <strong>2.</strong>200 von ihnen starben dort. 84 Insgesamt<br />

250 Serben wurden wegen Spionage <strong>und</strong> ähnlichen Vergehen durch Militärgerichte zum<br />

Tode verurteilt <strong>und</strong> hingerichtet. 85<br />

81<br />

82<br />

83<br />

84<br />

85<br />

Čupić-Amrein, <strong>Die</strong> Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong>-<br />

Herzegowina, 333-335, 343; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 83 f.<br />

Malcolm, Bosnia, 154 f.<br />

Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 84.<br />

Malcolm, Bosnia, 158.<br />

<strong>Die</strong> meisten wurden jedoch später durch Kaiser Karl I. begnadigt.<br />

28


<strong>Die</strong> Reaktion der Serben war sehr unterschiedlich. Manche meldeten sich freiwillig, um<br />

im Krieg gegen Serbien ihre Loyalität zu beweisen, während andere nach Serbien<br />

flohen, um dort gegen die k.u.k. Monarchie zu kämpfen. Sie stellten auch den größten<br />

Anteil an russischen Freiwilligeneinheiten an der Ostfront. So umfaßt die 1. serbische<br />

Division 1916 15.000 Deserteure <strong>und</strong> ehemalige Kriegsgefangene. 86<br />

Zu Beginn <strong>des</strong> Krieges wandten sich zwar manche Muslime Serbien zu, doch die<br />

Mehrheit kämpfte für Österreich-Ungarn. Sie lehnten mehrheitlich die Annexion 1908<br />

nicht mehr ab <strong>und</strong> begrüßten die Liberalisierungen, die auf die Annexion folgten (u.a.<br />

Wahl zum Sabor). Weiterhin kämpfte man durch das Bündnis der Donaumonarchie mit<br />

dem Osmanischen Reich indirekt auch für die Hohe Pforte. <strong>Die</strong> anti-muslimische<br />

Haltung in Serbien tat ein Übriges. 87<br />

Noch 1918 unterstützten die bosnischen Kroaten eine neue staatliche Lösung innerhalb<br />

der Monarchie mit den Südslawen als dritter Säule <strong>des</strong> Staates. Auch Teile der<br />

bosnischen Serben unterstützten diese Lösung, da sie gegen Kriegsende explizit in diese<br />

Pläne einbegriffen wurden. <strong>Die</strong> Bosnischen Muslime waren gespalten, einige<br />

unterstützten sowohl eine derartige Lösung, als auch eine bosnische Autonomie<br />

innerhalb der ungarischen Reichshälfte. So trafen die muslimischen Politiker Šerif<br />

Arnautović <strong>und</strong> Safvetbeg Bašagić 1917 den Kaiser, um die letztere Lösung zu<br />

erreichen. Der Gr<strong>und</strong> für eine von Kroatien getrennte Lösung lag wohl in der<br />

Befürchtung der muslimischen Politiker, in einem mit Kroatien vereinigten <strong>Bosnien</strong> die<br />

Interessen ihrer Bevölkerung nicht durchsetzen zu können. Zugleich bemühte sich auch<br />

der Lan<strong>des</strong>chef <strong>Bosnien</strong>s Baron Sarkotić um eine Lösung innerhalb der Monarchie. Mit<br />

dem langsamen Zerfall der Monarchie verloren diese Konzepte zunehmend an<br />

Unterstützung. Im August 1918 versammelte der Slowene Korošec südslawische<br />

Politiker aus der Donaumonarchie. Sie gründeten einen Nationalrat, um die Bildung<br />

Jugoslawiens voranzutreiben.<br />

Während einige Muslime noch an einer Anbindung an Ungarn festhielten, trat Mehmed<br />

Spaho hervor, der später als Führer der Jugoslawischen Muslimischen Organisation<br />

(JMO) eine bedeutende Rolle in Jugoslawien spielen sollte. Er kritisierte die repressive<br />

Politik der Monarchie im Krieg <strong>und</strong> strebte einen jugoslawischen Staat an. Spaho<br />

meinte, daß der Krieg die ethnischen Gruppen <strong>Bosnien</strong>s einander näher gebracht habe.<br />

Am 29. Oktober 1918 stimmte das kroatische Parlament gegen die Herrschaft der<br />

Habsburger. Am 1. November trat der Lan<strong>des</strong>chef Sarkotić zurück, nur zwei Tage später<br />

entstand die erste nationale Regierung <strong>Bosnien</strong>s. <strong>Die</strong>ser rasche Niedergang der<br />

Monarchie in <strong>Bosnien</strong> sorgte insbesondere unter den Serben für Jubel, was sowohl auf<br />

Kroaten wie auch Muslime ernüchternd wirkte. 88 Mit dem Zerfall der staatlichen<br />

Autoritäten erklärten etliche serbische Bürgermeister einseitig den Anschluß an Serbien.<br />

Noch vor der offiziellen Staatsgründung, am 3. November 1918, kam es in <strong>Bosnien</strong> zu<br />

Bauernaufständen, die insbesondere gegen die muslimischen Großgr<strong>und</strong>besitzer<br />

gerichtet waren, woraufhin die serbischen Truppen zur Beruhigung der Lage ins Land<br />

gerufen wurden. Nur drei Tage später zogen sie unter Jubel der Bevölkerung in Sarajevo<br />

ein. <strong>Die</strong> Aufstände verdeutlichten die nationalistische Interpretation wirtschaftlicher<br />

Bruchlinien. Neben diesen wirtschaftlichen Ursachen wurden die Muslime auch eng mit<br />

86<br />

87<br />

88<br />

Djordjević, <strong>Die</strong> Serben, 772 f.; Robert J. Donia, John V.A. Fine, jr., Bosnia and Hercegovina: A<br />

Tradition betrayed (London 1994) 118 f.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 78.<br />

Malcolm, Bosnia, 160-16<strong>2.</strong><br />

29


vormaligen osmanischen Besatzern identifiziert. Viele Serben erinnerten sich auch an<br />

die Förderung der Muslime in der Donaumonarchie durch den k.u.k Finanzminister<br />

Kállay. Obwohl die serbischen Truppen die gewalttätigen Übergriffe auf die<br />

muslimische Bevölkerung beendeten, blieb das Klima gespannt <strong>und</strong> schon bald<br />

ersetzten Serben Muslime in führenden Positionen das Lan<strong>des</strong>. In Folge kam es 1918 zu<br />

einer größeren Emigrationswelle von Muslimen in die Türkei. 89<br />

Das Entstehen von ationalbewegungen in <strong>Bosnien</strong><br />

Im Laufe der 50 Jahre österreichische Herrschaft in <strong>Bosnien</strong> bildete sich erstmals eine<br />

muslimische Identität heraus. Robert Donia nennt vier Argumente, mit denen diese<br />

Identitätsfindung begründet wird <strong>und</strong> untersucht sie auf ihre Glaubwürdigkeit:<br />

1. Psychologische Entfremdung vom Osmanischen Reich. <strong>Die</strong> Entfremdung vom<br />

Osmanischen Reich sieht er als zutreffende Begründung. So wird in keiner Petition von<br />

Muslimen eine Wiederherstellung <strong>des</strong> Zustan<strong>des</strong> von vor der Besetzung durch<br />

Österreich-Ungarn gefordert.<br />

<strong>2.</strong> Opportunismus. <strong>Die</strong>ses Motiv hält Donia für wenig überzeugend. <strong>Die</strong> muslimische<br />

Bevölkerung war zwar sehr fragmentiert <strong>und</strong> die Interessen der Eliten deckten sich<br />

kaum mit jenen der Bauern. <strong>Die</strong>s ermöglichte eine Instrumentalisierung der<br />

muslimischen Bevölkerung durch die Eliten, stellte jedoch keinen Unterschied zur<br />

kroatischen <strong>und</strong> serbischen Nationalbewegung jener Jahre dar.<br />

3. Religiöser Fanatismus. Für Donia scheidet F<strong>und</strong>amentalismus als Faktor der<br />

Identitätsfindung aus. <strong>Die</strong> individuellen Interessen der Eliten sind nachzuvollziehen <strong>und</strong><br />

stehen nur selten im Zusammenhang mit der Religion. Der Islam diente bereits damals<br />

nicht nur als Religion, sondern als kulturelle Identifikation, die über Glauben<br />

hinausging.<br />

4. Sozio-ökonomische Interessen der Eliten. Innerhalb der muslimischen Bevölkerung<br />

haben in erster Linie die Eliten von der Identitätsfindung profitiert. Dementsprechend<br />

unterstützt das Parteiprogramm der MNO die Monarchie <strong>und</strong> stellte sich gegen eine<br />

Bodenreform. <strong>Die</strong> Eliten außerhalb von Sarajevo hatten jedoch weniger Einfluß <strong>und</strong><br />

man kann die Eliten nicht als einheitliche Gruppe sehen.<br />

<strong>Die</strong> muslimische Identität entstand also in der Habsburger Zeit durch eine Entfremdung<br />

vom Osmanischen Reich. <strong>Die</strong> muslimische Elite versuchte durch diese Identitätsfindung<br />

ihre privilegiere Stellung zu sichern. 90 Zwei Argumente ließen sich hinzufügen. Erstens<br />

fand die muslimische Identitätsfindung als einzige die aktive Unterstützung der<br />

Verwaltung. Zweitens zwang die nicht-muslimische Herrschaft die Muslime <strong>Bosnien</strong>s<br />

zu einer Auseinandersetzung mit der Rolle der Religion für die eigenen Identität.<br />

<strong>Die</strong> Herausbildung muslimischer Identität unter der Herrschaft der Habsburger teilt<br />

Mark Pinson in drei Stufen. Zuerst artikulierten sich die Muslime durch traditionelle<br />

Formen, wie Teilnahme an religiösen <strong>und</strong> kulturellen Veranstaltungen. In der zweiten<br />

Phase kam es zu Aufständen gegen <strong>und</strong> Petitionen an die christlichen Machthaber.<br />

Zuletzt artikulierte sich die muslimische Bevölkerung durch bereits eindeutig<br />

westeuropäische Institutionen, so wie die Gründung einer Partei <strong>und</strong> der Teilnahme an<br />

Wahlen. 91 <strong>Die</strong>se <strong>Entwicklung</strong> der Artikulation muslimischer Interessen geht einher mit<br />

89<br />

90<br />

91<br />

Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics (Ithaca, N.Y. 1992)<br />

360, 367 f.<br />

Donia, Islam <strong>und</strong>er the Double Eagle, 182-194.<br />

Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, 97.<br />

30


einer von Robert Donia beobachteten größeren Interkommunikation der Bevölkerung.<br />

Zu Beginn österreichischer Herrschaft war die Mobilisierung der muslimischen Eliten<br />

lokal begrenzt <strong>und</strong> betraf meist nur bestimmte Maßnahmen. Erst seit dem Aufbau einer<br />

Partei gelang es ihnen das gesamte Gebiet <strong>Bosnien</strong>s zu erreichen <strong>und</strong> langfristige Ziele<br />

anzustreben. 92<br />

<strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> der Nationalbewegung verlief auf der serbischen <strong>und</strong> kroatischen Seite<br />

zwar ähnlich, vollzog sich jedoch bereits früher <strong>und</strong> in erster Linie außerhalb <strong>Bosnien</strong>s<br />

in ihren jeweiligen Kernländern. <strong>Die</strong> Serben <strong>und</strong> Kroaten <strong>Bosnien</strong>s folgten meist mit<br />

Verzögerung der <strong>Entwicklung</strong> in Kroatien bzw. Serbien. <strong>Die</strong> serbische Forderung nach<br />

der Autonomie von Schulen <strong>und</strong> der Kirche kann jedoch als erste moderne politische<br />

Bewegung in <strong>Bosnien</strong> gewertet werden. Da es innerhalb der kroatischen Bevölkerung<br />

kaum einen Mittelstand gab, blieb die kroatische Nationalbewegung in <strong>Bosnien</strong>s lange<br />

Zeit sehr schwach. Ihr fehlte die soziale Infrastruktur, wie sie der serbischen<br />

Bevölkerung zu Verfügung stand. Als sich die Nationalbewegung zu formieren begann,<br />

bildeten sich zwei, oft konkurrierende Träger. Auf der einen Seite standen die klerikale<br />

<strong>und</strong> nationalistisch-konservative Bewegung, die von kirchlichen Würdenträgern, so zum<br />

Beispiel Erzbischof Josip Stadler, getragen wurden. Vom Mittelstand hingegen ging ein<br />

liberaleres <strong>und</strong> säkulares Programm aus. 93<br />

<strong>Die</strong> Bilanz der österreichisch-ungarischen Verwaltung <strong>Bosnien</strong>s ist gespalten. Einerseits<br />

waren die Fortschritte im Vergleich zum Osmanischen Reich enorm. Andererseits<br />

wurden Reformen nur zögerlich angegangen. Auch der Versuch die <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong><br />

Nationalismus in <strong>Bosnien</strong> aufzuhalten ist gescheitert. Für die nationale <strong>Entwicklung</strong><br />

stellt die Herrschaft Österreich-Ungarns eine bedeutsame Phase dar. Während vor 1878<br />

das zentrale Identifikationsmerkmal die Religion war, ersetzte die Nation das Millet.<br />

Zugleich hat das Millet-System das Entstehen von Nationalbewegungen parallel zu<br />

religiösem Bekenntnis begünstigt.<br />

<strong>2.</strong><strong>2.</strong><strong>2.</strong> <strong>Die</strong> Autonomie <strong>des</strong> Libanon<br />

Ähnlich wie in <strong>Bosnien</strong> begann mit der Autonomie <strong>des</strong> Libanon in der <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts eine Phase der Modernisierung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Der neue Status <strong>des</strong> Libanon<br />

war jedoch zwischen den Großmächten umstritten. Während Frankreich eine Rückkehr<br />

zu dem Zustand vor der ägyptischen Herrschaft forderte, wandten sich die Hohe Pforte<br />

<strong>und</strong> Großbritannien gegen eine Autonomie unter einem maronitischem Gouverneur<br />

(bzw. Emir). Als Kompromiß wurde im Juni 1861 schließlich ein règlement organique<br />

verabschiedet, das bis zum Ausbruch <strong>des</strong> 1. Weltkrieges in Kraft blieb.<br />

Das Autonomiestatut<br />

Der Gouverneur war der Hohen Pforte gegenüber verantwortlich <strong>und</strong> mußte die Steuern<br />

einziehen, für die innere Sicherheit sorgen <strong>und</strong> durfte Richter ernennen. Ein Rat aus<br />

zwölf gewählten Religionsvertretern sollte ihm dabei zur Seite stehen. <strong>Die</strong>ser Rat<br />

bestand ab 1864 aus jeweils drei Maroniten <strong>und</strong> Drusen, zwei Orthodoxen <strong>und</strong> einem<br />

griechisch-katholischen Mitglied, sowie einem „Muslimen“ (Sunniten) <strong>und</strong> einem<br />

anderen Christen (Art. 2). Der Mont Liban erhielt danach als Mutasarrifiyah die<br />

Autonomie zurück. Das Mutasarrifiyah wurde verkleinert. <strong>Die</strong> Autonomie erstreckte<br />

sich jedoch nur auf Kleinlibanon im Gebirge <strong>und</strong> die Küste zwischen Sidon <strong>und</strong> Tripoli,<br />

92<br />

93<br />

Donia, Islam <strong>und</strong>er the Double Eagle, 181.<br />

Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 101, 103 f.<br />

31


ohne Beirut <strong>und</strong> die beiden erstgenannten Städte (Art.3). Der Gouverneur mußte ein<br />

nicht-libanesischer Christ sein <strong>und</strong> durfte nicht aus dem Kernbereich <strong>des</strong> Osmanischen<br />

Reichs stammen. Er wurde vom Osmanischen Reich ausgewählt, mußte jedoch von den<br />

fünf europäischen Vertragsstaaten akzeptiert werden. <strong>Die</strong> sieben Distrikte <strong>des</strong><br />

Mutasarrifiyah wurden von einem Subgouverneur der stärksten Religion geleitet. So gab<br />

es drei maronitische <strong>und</strong> jeweils einen sunnitischen, drusischen, griechisch-orthodoxen<br />

<strong>und</strong> griechisch-katholischen Subgouverneur. Im Mont Liban wurden keine osmanischen<br />

Truppen stationiert, es gab auch keinen Militärdienst. 94 Ab 1867 kam Italien als sechste<br />

Garantiemacht hinzu. Kurz vor Verabschiedung <strong>des</strong> réglement zogen die französischen<br />

Truppen ab.<br />

In der Nationalität der Gouverneur <strong>des</strong> Libanons seit 1860 kommt der multinationale<br />

Charakter <strong>des</strong> osmanischen Reiches zum Ausdruck. Der erste Gouverneur war ein<br />

Armenier. Ihm folgten ein Araber aus Aleppo, ein italienischer Adeliger, ein Pole <strong>und</strong><br />

schließlich wieder ein Armenier.<br />

<strong>Die</strong> Zivilgesetzgebung blieb, wie im gesamten Osmanischen Reich zwischen den<br />

Konfessionen getrennt (Art. 8), alle Konfessionen wurden jedoch gleichgestellt (Art.5),<br />

ein Vorteil im Vergleich zur Regelung im restlichen osmanischen Reich.<br />

<strong>Die</strong> Steuern wurden zur lokalen Verwaltung verwandt, nur ein Überschuß mußte an<br />

Istanbul abgeliefert werden (Art. 15). <strong>Die</strong> zentrale Reform der Autonomie war die<br />

Abschaffung <strong>des</strong> Feudalismus (Art. 5) 95 im Libanon. Da dieser den Anlaß für die<br />

Auseinandersetzungen zwischen Maroniten <strong>und</strong> Drusen 1840 <strong>und</strong> 1886 darstellte,<br />

nahmen die Spannungen im Mont Liban ab. <strong>Die</strong> nächsten Konflikte fanden erst wieder<br />

nach 1914 statt. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen im autonomen Libanon beschränkten sich<br />

auf kleinere Proteste mancher Maroniten, die sich über die fremde Herkunft der<br />

Gouverneure beschwerten <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Vollmachten kritisieren. Bei Protesten der Drusen<br />

standen die hohen Steuern im Mittelpunkt. 96 Der erste Gouverneur hat mit folgender<br />

Illustration die Bemühungen um ein Ende der konfessionellen Auseinandersetzungen<br />

zum Ausdruck gebracht:<br />

„A doctor fell sick, and called in a fellow physician and said to him, “We<br />

are three, you, I, and the disease. If you will help me, we will conquer the<br />

disease. If you help the disease you will conquer me“. So we in Lebanon are<br />

three; you, the people, I, the ruler, and the traditional animosity of races in<br />

Lebanon. Help me and we shall conquer it. Help it, and you will ruin me and<br />

yourselves together.“ 97<br />

In Mont Liban waren Christen in deutlicher Mehrheit. In den Gebieten, mit<br />

Ausnahme von Beirut, die später Teil <strong>des</strong> libanesischen Staaten wurden, stellte die<br />

muslimische Bevölkerung hingegen die Mehrheit <strong>und</strong> blieb somit von der Autonomie<br />

ausgenommen (s. Tabelle 3). <strong>Die</strong>s bedeutete, daß die Autonomie de facto eine<br />

Privilegierung der Christen in der Region bedeutete.<br />

94<br />

95<br />

96<br />

97<br />

Zur rechtlichen Lage <strong>des</strong> autonomen Libanon s. Edmond Rabbath, La Formation du Liban Politique<br />

et Constitutionnel. Essai de synthèse (Beirut 1986) 226-239.<br />

Der Text der Autonomieregelung <strong>des</strong> Libanon (Réglement et Protocole relatifs à la réorganisation<br />

du Mont-Liban vom 9.6.1861 <strong>und</strong> Protocole et Règlement modifié relatifs au Liban vom 6.9.1864)<br />

ist abgedruckt bei Bruno Bilek, Der Libanon. <strong>Die</strong> historische <strong>Entwicklung</strong> zur Staatlichkeit<br />

(Diplomarbeit Wien 1987) 221-224.<br />

Kerr, Lebanon in the last years of feudalism, 26.<br />

Hitti, Lebanon in History, 445.<br />

32


Institutionelle <strong>und</strong> wirtschaftliche Modernisierung<br />

In dieser Zeit kam es auch zu den erwähnten gesamtosmanischen Reformen, die sich im<br />

Libanon auswirkten. So wurden die Gerichte weitgehend säkularisiert. 1863 stellte eine<br />

französische Firma die Straße zwischen Beirut <strong>und</strong> Damaskus fertig. Sie bildete das<br />

Rückgrat der libanesischen Infrastruktur. Trotz <strong>des</strong> beschränkten Zugangs zum Meer<br />

prosperierte der Libanon in den Jahren der Autonomie. 1863 wurde in Beirut der<br />

modernste Hafen zwischen Port Said <strong>und</strong> Izmir eröffnet. Zwei Jahre später wurde 1895<br />

neben der Straße auch eine Eisenbahn zwischen Damaskus <strong>und</strong> Beirut fertiggestellt.<br />

Durch Handel entwickelte sich Beirut von einem Küstendorf zu einer bedeutenden<br />

Hafenstadt, zwischen 1860 <strong>und</strong> 1914 wuchs Beirut von 60.000 auf 150.000 Einwohner<br />

an. 98 <strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> der Städte <strong>und</strong> <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> insgesamt dürfte durch das Fehlen<br />

jeglicher Nomaden, im Gegensatz zur restlichen arabischen Welt, erleichtert worden<br />

sein. Von der Modernisierung profitierten fast ausschließlich Christen. Der neuen<br />

Oberschicht (Bankiers, Händler, Seidenproduzenten <strong>und</strong> Schiffsmakler) gehörten nur<br />

wenige Muslime an. 99<br />

Trotz der Urbanisierung blieben die traditionellen Gesellschaftsstrukturen bestehen.<br />

Hitti nennt drei Merkmale der sozialen Struktur <strong>des</strong> Libanons:<br />

- die Loyalität zur Großfamilie,<br />

- die Treue zur Religion der Eltern <strong>und</strong><br />

- die enge Verwurzelung mit dem Boden.<br />

Durch den wachsenden ausländischen Einfluß geriet diese traditionelle<br />

Gesellschaftsstruktur zunehmend in Konflikt mit der Modernisierung. In Verbindung<br />

mit einer hohen Geburtenrate löste dies Ende <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die erste große<br />

Emigrationswelle aus. <strong>Die</strong> erste Emigrationswelle führte nach Ägypten, wo die<br />

englische Kolonialherrschaft <strong>und</strong> den Bau <strong>des</strong> Suez-Kanals zu einem wirtschafltichen<br />

Aufschwung führte. Später wanderten die Libanesen zunehmend nach Übersee aus.<br />

Allein zwischen 1900 <strong>und</strong> 1914 verließen schätzungsweise 100.000 Libanesen, ein<br />

Viertel der Gesamtbevölkerung, das Land. Während die Emigranten in erster Linie<br />

Christen waren, kam es bei den Drusen zu Bevölkerungsverschiebungen innerhalb <strong>des</strong><br />

Lan<strong>des</strong>. <strong>Die</strong> muslimischen Bevölkerung blieb hingegen am stärksten an ihren<br />

Wohnorten verwurzelt.<br />

<strong>Die</strong> Emigration führte einerseits zu einem „brain-drain“, andererseits trugen die<br />

Rücküberweisungen der Emmigranten erheblich zum Wohlstand <strong>des</strong> Libanon bei. In<br />

den Jahren 1951 <strong>und</strong> 1952 gelangten so 18 bzw. 22 Millionen Dollar ins Land. Hinzu<br />

kommen Investitionen in die Wirtschaft durch Auslandslibanesen. Rückkehrer brachten<br />

auch westliche Konzepte wie Nationalismus <strong>und</strong> Demokratie zurück in den Libanon. 100<br />

In der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand ein Schulwesen, das in erster Linie<br />

von europäischen <strong>und</strong> amerikanischen Missionaren aufgebaut wurde. So eröffnete 1846<br />

ein jesuitisches Seminar in Ghazir, 1875 zog es nach Beirut um <strong>und</strong> entwickelte sich zur<br />

französischsprachigen Universität <strong>des</strong> Libanons Saint-Joseph. 101<br />

<strong>Die</strong> amerikanische Regierung intervenierte im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert nicht in die Politik <strong>des</strong><br />

Osmanischen Reichs. Zugleich gab es schon früh eine amerikanische Mission, die 1866<br />

98<br />

99<br />

100<br />

101<br />

Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 24, 28.<br />

Hierzu s. die Vergleiche der konfessionellen Eliten in Labaki, Confessional Communities, 544 f.<br />

Hitti, Lebanon in History, 471-476.<br />

Es steht heute noch im christlichen Ost-Beirut nahe der ehemals "grünen Linie".<br />

33


das Syrian Protestant College gründete. <strong>Die</strong>se entwickelte sich zur American University<br />

in Beyrouth (AUB), die nach wie vor besteht. <strong>Die</strong> Universität wurde bald zur<br />

wichtigsten amerikanischen Bildungsstätte außerhalb der Vereinigten Staaten. Von<br />

dieser Universität profitierten in erster Linie Christen. So waren zwischen 1871 <strong>und</strong><br />

1882 nur 7,6 % der Absolventen <strong>des</strong> Syrian Protestant College Muslime, meist Drusen.<br />

Unter ihnen befand sich kein einziger Schiite <strong>und</strong> nur ein Sunnit. Am größten war der<br />

Anteil der Maroniten (29,4 %) unter den Absolventen. 102<br />

Insbesondere die Ausbildung von Mädchen wurde in den religiösen Schulen gefördert,<br />

da sie von der traditionellen osmanischen Ausblidung meist ausgeschlossen blieben. Ein<br />

Bericht <strong>des</strong> amerikanischen Konsulats 1869 stellt fest, daß vor 1860 nur 4 Mädchen<strong>und</strong><br />

15 Jungenschulen in Beirut bestanden. Neun Jahre später gab der bereits 23 Schulen<br />

für Mädchen <strong>und</strong> 29 für Jungen, somit gingen 6 % der beiruter Bevölkerung in der<br />

Schule. 103 Im Jahr 1914 gab es bereits 6.000 Mädchen in 30 Schulen im Mont Liban.<br />

Nach der Schätzung von Philip Hitti sollen zu dieser Zeit in Syrien, Libanon <strong>und</strong><br />

Palästina 500 französische Schulen für 50.000 Jungen <strong>und</strong> Mädchen bestanden haben.<br />

Gleichzeitig wurden Großbritannien <strong>und</strong> Preußen bzw. das Deutsche Reich im Libanon<br />

aktiv. <strong>Die</strong> Missionstätigkeit preußischer Orden förderte den Aufbau <strong>des</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitssystems (z.B. das Johanniter Krankenhaus). Da die meisten Einrichtungen<br />

von Missionaren gegründet wurden, profitierten in erster Linie libanesische Christen<br />

von diesen Schulen <strong>und</strong> Krankenhäusern. Später erlangten zunehmend Drusen <strong>und</strong><br />

andere Muslime Zugang. 104<br />

Konfession Mont Liban (1906) Beirut (1889) libanesische Gebiete<br />

(ohne Mont Liban)<br />

Maroniten 117.148 61,2 %<br />

Orthodoxe 25.579 13,3 %<br />

Katholiken<br />

(griechischkatholisch)<br />

18.689 9,7 %<br />

Christen 16<strong>2.</strong>478 84,2 % 70.300 65, 4 % 117.332 34,88 %<br />

Sunniten 3.788 1,9 %<br />

Schiiten 5.524 2,8 %<br />

Drusen 19.293 10,0 %<br />

Muslime 28.605 14,7 % 33.600 31,2 % 200.814 63,12 %<br />

Insgesamt 191.122 100 % 107.400 100 % 318.146 100 %<br />

Tabelle 3: Bevölkerungsverteilung nach Konfessionen für den Mont Liban, Beirut <strong>und</strong> die Gebiete<br />

außerhalb <strong>des</strong> Mont Liban, die später Teil <strong>des</strong> Libanon werden. 105<br />

In der Autonomiephase <strong>des</strong> Mont Liban kam es auch außerhalb <strong>des</strong> Bildungssystem zu<br />

einem Modernisierungsschub. Ähnlich wie in <strong>Bosnien</strong> entstanden nationale Vereine.<br />

102<br />

103<br />

104<br />

105<br />

Obwohl weniger als tausend Protestanten in der gesamten Region lebten, stellten sie immerhin 5,9%<br />

der Absolventen an der Syrian Protestant College, Labaki, Confessional Communities, 543.<br />

Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 29.<br />

Hitti, Lebanon in History, 445-451.<br />

Da andere Christen, Muslime, Juden <strong>und</strong> Ausländer hier nicht berücksichtigt werden, ergibt die<br />

Summe der genannten Konfessionen nicht immer 100 %. Boutros Labaki, Confessional<br />

Communities, Social Stratification and Wars in Lebanon, in: Social Compass, Nr. 4/1988, Jhrg.<br />

XXXV, 54<strong>2.</strong><br />

34


Am bedeutendsten war der Syrische Bildungsverein, der ab 1868 sowohl Drusen, als<br />

auch Christen <strong>und</strong> andere Muslime als Mitglieder hatte. Das arabische Zeitungswesen<br />

nahm seinen Ausgang im Libanon. So entstand 1858 Hadiqat al-Akhbar (Der Garten der<br />

Nachrichten) in Beirut. Zeitungen entwickelten sich aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> relativ liberalen<br />

Klimas im Libanon sehr gut, sogab es 1892 bereits 14 Zeitungen <strong>und</strong> Zeitschriften.<br />

Lediglich Kairo konnte sich neben Beirut als bedeutender Verlagsort etablieren. Da sich<br />

die britische Verwaltung gegenüber der Presse liberaler verhielt als das Osmanische<br />

Reich, übertraf Kairo am Ende <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bereits Beirut als Verlagsort. Beirut<br />

blieb jedoch im arabischen Raum einflußreich. 106<br />

Neben Freistellung vom Militärdienst im Osmanischen Reich genoß die Bevölkerung<br />

<strong>des</strong> Autonomiegebietes weitere Vorteile. Im Mont Liban mußten die Einwohner keinen<br />

Zehnten auf landwirtschaftliche Erzeugnisse bezahlen. Somit lag die durchschnittliche<br />

Einkommensbesteuerung mit 7,4 % um ein Viertel unterhalb der Steuerlast in den<br />

angrenzenden Regionen <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. <strong>Die</strong> Autonomie <strong>des</strong> Mont Liban<br />

vergrößerte somit den sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Abstand zum Umland. Da im Mont<br />

Liban überwiegend Christen lebten, während die angrenzenden Regionen mehrheitlich<br />

von Muslimen bevölkert waren, bevorteilte diese unterschiedliche <strong>Entwicklung</strong> die<br />

christliche Bevölkerung, mit Auswirkungen bis in die Gegenwart. 107<br />

Konkurrierende ationalbewegungen<br />

Alle diese Elemente einer Modernisierung ließen sowohl im Autonomiegebiet, wie auch<br />

in Beirut, einen Mittelstand entstehen. <strong>Die</strong>ser bestand aus wohlhabenden Bauern,<br />

Händlern, Vertretern ausländischer Handelsgesellschaften, Angestellten der öffentlichen<br />

Einrichtungen (Häfen, Straßen <strong>und</strong> Banken), Kleinindustriellen, Lehrern <strong>und</strong><br />

Redakteuren. 108 In diesem modernen Mittelstand entwickelten sich drei politische<br />

Konzepte als Alternativen zum Osmanischen Reich.<br />

<strong>Die</strong> erste war der Pan-Arabismus bzw. der arabische Nationalismus. <strong>Die</strong>se<br />

Nationalbewegung strebte den Zusammenschluß aller Araber in einem Staat an. Araber<br />

definierten sich hierbei sowohl ethnisch, wie auch durch die Sprache. <strong>Die</strong>se Bewegung<br />

lehnte eine Eigenständigkeit <strong>des</strong> Libanon ab. Da die Mehrheit der Araber dem<br />

islamischen Glauben anhingen, während Muslime im Libanon damals noch eine<br />

Minderheit waren, wurde der arabische Nationalismus überwiegend von Muslimen<br />

propagiert <strong>und</strong> stieß in dieser Phase nur auf begrenzte christliche Unterstützung, im<br />

Gegensatz zur <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Als wichtige Auslöser <strong>des</strong> Pan-Arabismus<br />

können sowohl der „Turkismus“ bzw. „Osmanismus“ der Jungtürken als auch der<br />

aufkeimende Zionismus gesehen werden. 109<br />

Ähnlich Ziele verfolgt der „Pan-Islamismus“, der im ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

seinen Anfang nimmt. Gr<strong>und</strong> hierfür ist der langsame Abstieg <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />

<strong>und</strong> die Tanzimat-Reformen, die Christen, Juden <strong>und</strong> Muslim gleichstellten. <strong>Die</strong><br />

Reformen widersprachen dem Anspruch <strong>des</strong> Osmanischen Reiches, ein islamischer<br />

Staat zu sein. Der Sultan war zugleich Kalif <strong>und</strong> somit Oberhaupt der sunnitischen<br />

106<br />

107<br />

108<br />

109<br />

Ebd., 461, 464 f.<br />

Labaki, Confessional Communities, 540 f.<br />

Issawi, The Historical Backgro<strong>und</strong> of Lebanese Emigration, 29.<br />

Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939 (London-Oxford-New York, 1970),<br />

260-323.<br />

35


Muslime. Der Pan-Islamismus lehnt die Nation gr<strong>und</strong>sätzlich ab, da sie die islamische<br />

Einheit spaltet. So war die Kernaussage von Jamal-al-Din al-Afghani, dem Wegbereiter<br />

<strong>des</strong> Pan-Islamismus, „Keine Nationalität (Wataniyah) im Islam.“<br />

Als dritte politische Richtung entwickelte sich der libanesische Nationalismus. Er wurde<br />

in erster Linie von den Christen, aber auch von den Drusen vertreten. Er hatte im<br />

Mutasarrifiyah viele Anhänger. In den anderen Gebieten, die keine so starke historische<br />

Bindung an den autonomen Libanon hatten, blieb der libanesische Nationalismus ohne<br />

Rückhalt. 110<br />

Der 1. Weltkrieg<br />

Obwohl der Libanon kein Kriegsschauplatz war, litt die Region stark unter den<br />

Kriegsfolgen. Mit dem Beginn <strong>des</strong> 1. Weltkrieges endete die Autonomie <strong>des</strong> Libanon.<br />

Aus Angst vor pro-französischer Agitation marschierten osmanische Truppen ein. Ein<br />

Jahr später wurde der Rat aufgelöst <strong>und</strong> 'Ali Munif, erst der zweite Türke in der<br />

Geschichte <strong>des</strong> Libanon, übernahm die Verwaltung <strong>des</strong> Gebietes. Der repressiven<br />

Herrschaft fielen nicht nur Christen, sondern auch Muslime zum Opfer. Zugleich führte<br />

der Krieg zu Hungersnöten im Libanon. Der Mittelstand verarmte, während viele<br />

Bauern <strong>und</strong> städtische Unterschichten verhungerten. Es kam zu Epidemien <strong>und</strong> in der<br />

zweiten Kriegshälfte strömten armenische <strong>und</strong> assyrische Flüchtlinge aus Anatolien<br />

nach Beirut <strong>und</strong> in das Umland. Insgesamt starben nach Schätzungen 100.000<br />

Menschen, ein Viertel der Bevölkerung. In Folge verfielen viele Gebäude <strong>und</strong> Dörfer. 111<br />

Trotz dieser katastrophalen Zustände kam es nicht zu nennenswerten Aufständen<br />

während <strong>des</strong> Krieges. Erst im Oktober 1918 mit einer französischen Invasion <strong>des</strong><br />

Libanon <strong>und</strong> dem Einzug arabischer <strong>und</strong> britischer Truppen in Syrien kam das letzte<br />

Kapitel osmanischer Herrschaft über den Libanon zu seinem Ende.<br />

Anders als in <strong>Bosnien</strong> litten alle Einwohner gleichermaßen unter den Kriegsfolgen, da<br />

Drusen (mit Großbritannien) <strong>und</strong> Christen (mit Frankreich) gleichermaßen der<br />

Kollaboration mit dem Gegner verdächtigt wurden. Nach Ende <strong>des</strong> Krieges bestand<br />

keine Nostalgie, auch nicht unter den Muslimen, für das Osmanischen Reich. <strong>Die</strong> neuen<br />

Optionen entsprachen vielmehr den drei führenden nationalen bzw. konfessionellen<br />

Konzepten:<br />

1. Ein großarabisches Reich,<br />

<strong>2.</strong> ein unabhängiger Libanon oder<br />

3. ein islamisches Reich.<br />

<strong>Die</strong> folgende französische Mandatsherrschaft entsprach am ehesten den Forderungen der<br />

meisten Maroniten nach einem selbständigen Land Libanon.<br />

110<br />

111<br />

Hitti, Lebanon in History, 477-480.<br />

Ebd., 483-486.<br />

36


<strong>2.</strong><strong>2.</strong>3. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns <strong>und</strong> <strong>des</strong> Osmanischen Reiches<br />

Mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns <strong>und</strong> <strong>des</strong> Osmanischen Reichs bei<br />

Kriegsende änderte sich das Umfeld <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> <strong>des</strong> Libanon. <strong>Bosnien</strong> hatte 400 Jahre<br />

zum Osmanischen Reich <strong>und</strong> 40 Jahre zu Österreich-Ungarn gehört, auch der Libanon<br />

stand 400 Jahre, mit kurzen Unterbrechungen, unter osmanischer Herrschaft. Das<br />

Osmanische Reich zerfiel etwas früher als Österreich-Ungarn bereits im Sommer 1918.<br />

Zwischen Juni <strong>und</strong> Oktober 1918 konnten die Alliierten große militärische Erfolge<br />

verzeichnen <strong>und</strong> reduzierten das Gebiet unter Kontrolle der Hohen Pforte dramatisch.<br />

<strong>Die</strong>s führte zu einem Rückzug der verbleibenden osmanischen Armeen auf das Gebiet<br />

Anatoliens um zumin<strong>des</strong>t den Kern <strong>des</strong> Reiches zu halten. Der Zusammenbruch war<br />

jedoch so vollständig, daß das Reich am 31. Oktober 1918 eine bedingungslose<br />

Kapitulation eingestehen mußte. <strong>Die</strong> Folge war die Besetzung Istanbuls <strong>und</strong> <strong>des</strong><br />

Bosporus. Istanbul wurde gemeinsam von Frankreich, Großbritannien <strong>und</strong> Italien<br />

verwaltet, während Griechenland große Teil der anatolischen Küste besetzte. 112<br />

Bereits während <strong>des</strong> Krieges hatten Großbritannien <strong>und</strong> Frankreich in der arabischen<br />

Welt eine doppelte Strategie verfolgt. Auf der einen Seite versuchten sie die arabische<br />

Bevölkerung mit dem Versprechen (insbesondere durch die Korrespondenz <strong>des</strong><br />

britischen Hochkommissars in Ägypten McMahon mit dem Sharif von Mekka Husayn)<br />

eines unabhängigen arabischen Reiches gegen das Osmanische Reich zur Rebellion zu<br />

bringen. Andererseits vereinbarten sie untereinander im Sykes-Picot Pakt vom Mai 1916<br />

eine Aufteilung der arabischen Gebiete in koloniale Einflußsphären. Schließlich<br />

versprach Großbritannien in der Balfour Deklaration 1917 die Errichtung eine<br />

nationalen „Heimstätte“ (homeland) für Juden in Palästina. Der Sharif von Mekka<br />

leitete als Hüter der heiligen Stätten <strong>des</strong> Islam (Mekka <strong>und</strong> Medina) eine Legitimation<br />

als gesamtarabischer Herrscher ab. Auf dieser Basis entstanden bereits bald nach<br />

Kriegsende Konflikte zwischen der arabischen Bevölkerung <strong>und</strong> den Mandatsmächten<br />

Frankreich <strong>und</strong> Großbritannien. 113<br />

Bei der im Januar 1919 beginnenden Friedenskonferenz in Paris sollte die zukünftige<br />

Gestalt der ehemaligen Gebiete <strong>des</strong> Osmanischen Reiches beschlossen werden. Der<br />

Vertrag von San Remo teilte die arabischen Teile <strong>des</strong> Reiches zwischen Frankreich <strong>und</strong><br />

Großbritannien auf. Der Friedensvertrag zu Anatolien wurde erst im August 1920 in<br />

Sèvres abgeschlossen, besaß jedoch keinen praktischen Wert mehr. Türkische Politiker<br />

<strong>und</strong> Soldaten unter Führung von Mustafa Kemal (später Atatürk) lehnten den Vertrag ab<br />

<strong>und</strong> begannen eine Krieg zur Rückeroberung ganz Anatoliens. Von Bedeutung für die<br />

Muslime außerhalb Anatolien war das Schicksal <strong>des</strong> Kalifats. Der letzte osmanische<br />

Herrscher, Abdülmecid II. (1922-1924) war nicht mehr Sultan, hielt jedoch den Titel <strong>des</strong><br />

Kalif inne <strong>und</strong> war somit formal Oberhaupt aller Muslime. Erst am 3.3.1924 schaffte die<br />

Türkei das Kalifat ab <strong>und</strong> beendete somit eine Einrichtung, die seit dem Tod<br />

Mohammed bestand. 114<br />

Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns schien lange Zeit nicht so wahrscheinlich wie<br />

das Ende <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. Während das Osmanische Reich bereits in den<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten vor dem 1. Weltkrieg zahlreiche Gebiete verloren hatte, dehnte sich der<br />

112<br />

113<br />

114<br />

Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 327-330.<br />

Albert Hourani, A History of the Arab Peoples (New York 1991) 318 f.<br />

Hierzu s. Paul Dumont, François Georgeon, La mort d'un empire (1908-1923), in: Robert Mantran<br />

(Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 633-647; Josef Matuz, Das Osmanische Reich,<br />

271-278.<br />

37


Einfluß Österreich-Ungarns in der <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts auf dem Balkan aus.<br />

Noch 1917 unterstützten die meisten politischen Führer der Nationen in Österreich-<br />

Ungarn ein Fortbestand einer, wenn auch reformierten, Monarchie. Gleichzeitig gelang<br />

es einigen nationalen Politikern (z.B. Beneš, Trumbić), für ihre Pläne zur Loslösung<br />

ihrer Nationen von Österreich-Ungarn die Unterstützung der Entente zu sichern.<br />

Militärische Niederlagen, so an der Front in Italien, beschleunigten den Zerfall <strong>des</strong><br />

Staates. Ende Oktober 1918 war die Monarchie bereits de facto in viele kleinere Staaten<br />

zerfallen. Mit dem Waffenstillstand am 3. November 1918 <strong>und</strong> der Friedenskonferenz<br />

1919/20 in St. Germain (für Österreich) <strong>und</strong> Trianon (für Ungarn) wurde dieser Zerfall<br />

bestätigt. Neben den Neugründungen Jugoslawien <strong>und</strong> Tschechoslowakei erhielt<br />

Rumänien Siebenbürgen. Südtirol fiel an Italien <strong>und</strong> Galizien wurde Teil <strong>des</strong><br />

wiederentstandenen Polen.<br />

Im Fall <strong>des</strong> Osmanischen Reiches herrscht weitgehende Einigkeit über die Gründe <strong>des</strong><br />

Zerfalls. <strong>Die</strong> völlige militärische Niederlage, verb<strong>und</strong>en mit dem langfristigen<br />

Staatszerfall machten einen Fortbestand <strong>des</strong> Reiches unmöglich. <strong>Die</strong> Gründe für das<br />

Ende Österreich-Ungarns sind nach wie vor umstritten. Einige Historiker führen den<br />

Zerfall auf den Einfluß nationaler Organisationen im Exil auf den amerikanischen<br />

Präsidenten Wilson <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Verbündete zurück. 115 Andere Autoren sehen in der<br />

Struktur Österreich-Ungarns die Ursachen: Ähnlich wie das Osmanische Reich sei die<br />

Donaumonarchie unfähig gewesen sich zu reformieren <strong>und</strong> den Vorstellungen der<br />

Bevölkerung anzupassen. Der zweite Ansatz vernachlässigt jedoch die<br />

Reformvorschläge von Karl Renner <strong>und</strong> anderer gemäßigter Politiker. Nachdem<br />

Österreich-Ungarn jedoch den 1. Weltkrieg mit der Kriegserklärung an Serbien begann,<br />

beschleunigte sie den Zerfall, anstatt die nationale Irredenta durch Serbien zu<br />

beenden. 116<br />

<strong>2.</strong><strong>2.</strong>4 Zusammenfassung<br />

Seit Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts sahen sich Österreich-Ungarn <strong>und</strong> das Osmanische<br />

Reich zunehmend durch das Entstehen von Nationalbewegungen bedroht. <strong>Die</strong>se<br />

Konzepte entwickelten sich vorrangig im europäischen Herrschaftsbereich beider<br />

Staaten, während Nationalismus in der arabischen Welt nur marginale Bedeutung besaß.<br />

Da die Nationalbewegungen die Errichtung von Staaten anstrebten, die eine Nation<br />

zusammenfassen, waren sie langfristig nicht mit dem Fortbestand multinationaler<br />

Reiche vereinbar. Nationalstaaten im französischen Sinne, die eine Nation auf einem<br />

bestehenden Territorium aufbauen, waren jedoch in Südosteuropa kaum mit der<br />

Bevölkerungsverteilung vereinbar. Das Ergebnis waren Nationalbewegungen, die um<br />

ein Territorium konkurrierten. Im Fall von <strong>Bosnien</strong> war dies der serbische <strong>und</strong> der<br />

kroatische Nationalismus, später auch der muslimische bzw. bosniakische<br />

Nationalismus. 117 In den arabischen Regionen <strong>des</strong> osmanischen Reiches konnte sich nur<br />

115<br />

116<br />

117<br />

So argumentiert Fejtö, daß die Monarchie von der Entente erhalten werden sollte <strong>und</strong> nur der<br />

Einfluß von Beneš <strong>und</strong> Masaryk das Ende der Monarchie herbeigeführt hat, s. François Fejtö,<br />

Requiem für die Monarchie. <strong>Die</strong> Zerschlagung Österreich-Ungarns (Wien 1991).<br />

Zum Ende Österreich-Ungarns <strong>und</strong> einer sehr ausgewogenen Argumentation über die Ursachen s.<br />

Robert A. Kann, Geschichte <strong>des</strong> Habsburgerreiches, 1526 bis 1918 (=Forschungen zur Geschichte<br />

<strong>des</strong> Donauraums 4, Wien/Köln/Weimar 1993) 445-465; A.J.P. Taylor, The Habsburg Monarchy,<br />

1809-1918 (London 1990) 250-28<strong>2.</strong><br />

Hierzu s. Harald Heppner, Modernisierung der Politik als Strukturproblem in Südosteuropa, in:<br />

Österreichische Ostheft, Nr. 3/95, Jhrg. 37, 717-735.<br />

38


im Libanon eine, wenn auch weniger ausgeprägte, konfessionelle Identität entwickeln.<br />

<strong>Die</strong>se Identitätsfindung beschränkte sich jedoch auf die Maroniten <strong>des</strong><br />

Autonomiegebietes.<br />

<strong>Die</strong> Autonomie <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> die österreichisch-ungarische Herrschaft über <strong>Bosnien</strong><br />

brachten den ersten Modernisierungsschub in beiden Ländern. Zuvor dominierte in<br />

beiden die Landwirtschaft <strong>und</strong> die soziale Struktur war weitgehend feudal geprägt. Ein<br />

Schulsystem <strong>und</strong> größere Städte bestanden kaum. <strong>Die</strong> Loslösung vom Osmanischen<br />

Reich bedeutete eine moderne Infrastruktur <strong>und</strong> das Entstehen von Zeitungen <strong>und</strong> ersten<br />

politischen Parteien.<br />

Mit der Besetzung <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina stand erstmals eine größere kompakte<br />

muslimische Bevölkerung unter der Herrschaft Österreich-Ungarns. Im Osmanischen<br />

Reich waren große christliche Bevölkerungsgruppen zwar keine Seltenheit, mit der<br />

formalen Autonomie <strong>des</strong> Mont Liban verband sich jedoch erstmals eine territoriale<br />

Selbstverwaltung mit einer dominanten nicht-muslimische Bevölkerungsgruppe, den<br />

Maroniten. Zuvor bestand die Autonomie nicht-muslimischer Religionen nur im<br />

Rahmen der Millets, die mit dem modernen Konzept der Personalautonomie<br />

vergleichbar sind <strong>und</strong> nicht territorial begrenzt waren.<br />

<strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> der Libanon stellten somit für Österreich-Ungarn <strong>und</strong> das Osmanische<br />

Reich gleichermaßen eine Neuheit dar. Beide Länder erhielten territoriale Autonomie.<br />

Im Fall von <strong>Bosnien</strong> begründete sich diese Eigenständigkeit aus der Uneinigkeit beider<br />

Reichshälften über die Herrschaft, sowie aus den Bemühungen <strong>Bosnien</strong> von den<br />

benachbarten Nationalbewegungen abzugrenzen. Der serbische Nationalismus stellte die<br />

größte Bedrohung für den Status-Quo dar, während der kroatische Nationalismus lange<br />

Zeit lediglich eine engere Anbindung <strong>Bosnien</strong>s an Kroatien innerhalb der Monarchie<br />

forderte. Im Libanon wurde die Autonomie dem Osmanischen Reich weitgehend von<br />

den europäischen Großmächten verordnet. Für die christliche Bevölkerung Libanon<br />

ermöglichte diese Selbstverwaltung eine Annäherung an Frankreich <strong>und</strong> Europa <strong>und</strong><br />

entzog das Gebiet de facto jeglicher Kontrolle <strong>des</strong> Osmanischen Reiches. Erst der<br />

Weltkrieg führte zu einer - katastrophalen - Wiedereingliederung in das Reich. In<br />

<strong>Bosnien</strong> bedeutete die Eigenständigkeit <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> keineswegs einen geringen Einfluß<br />

der Monarchie. Im Gegenteil, die direkte Verwaltung stärkte die Herrschaft <strong>und</strong><br />

ermöglichte eine stärkere Einbindung der muslimische Bevölkerung an Österreich-<br />

Ungarn.<br />

Während das Millet-System im Osmanischen Reich nur auf die nicht-muslimischen<br />

Konfessionen bezogen war, weitete sich dieses de facto unter der österreichischungarischen<br />

Verwaltung <strong>und</strong> der libanesischen Autonomie auch auf die Muslime aus.<br />

Insbesondere die Autonomiestatute <strong>des</strong> Mont Liban <strong>und</strong> die erfolgreichen serbische <strong>und</strong><br />

muslimische Autonomiebewegungen bewirkten eine große Eigenständigkeit aller<br />

Religionsgruppen in beiden Ländern. <strong>Die</strong>se religionsbezogene Selbstständigkeit<br />

beschränkte sich jedoch nicht nur auf religiöse Belange, sondern erstreckte sich auf die<br />

Ausbildung, sowie andere soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche Bereiche. <strong>Die</strong>se Trennung der<br />

Religionen bzw. Nationen in eigenständige <strong>und</strong> oftmals weitgehend von einander<br />

unabhängige Gruppen festigte die jeweilige Identität <strong>und</strong> verhinderte auch das Entstehen<br />

einer bosnischen bzw. libanesischen Identität.<br />

Obwohl Österreich-Ungarn versuchte, <strong>Bosnien</strong> von serbischen <strong>und</strong> kroatischen<br />

Nationalismus abzuschirmen, drangen diese neuen nationalen Ideen auch nach <strong>Bosnien</strong><br />

ein. In <strong>Bosnien</strong> entstanden klare Trennungslinien zwischen den Nationen. <strong>Die</strong><br />

39


Parteienlandschaft <strong>und</strong> die Aufgliederung der Landtagssitze nach<br />

Religionszugehörigkeit sind ein Ausdruck dieser <strong>Entwicklung</strong>.<br />

Im Libanon setzte sich der osmanische Konfessionalismus auch ohne Wahlen in der<br />

Verwaltung <strong>und</strong> insbesondere im Rat fort. <strong>Die</strong> bereits zuvor bestehende<br />

Eigenständigkeit <strong>des</strong> Libanon wurde durch die Autonomie rechtlich abgesichert. In<br />

dieser Phase festigte sich zudem die maronitische Vorherrschaft im Land. Neben dieser<br />

Konfession waren nur Drusen in größerer Zahl <strong>und</strong> ausreichender Konzentration im<br />

autonomen Libanon vertreten, um sich mit dem entstehenden Land zu identifizieren.<br />

Sunniten <strong>und</strong> Orthodoxe fühlten sich noch mehr mit ihren Glaubensbrüdern im<br />

restlichen Osmanischen Reich verb<strong>und</strong>en, während die Schiiten, kaum im autonomen<br />

Libanon vertreten, erst nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg ihre eigene Identität stärker bewußt<br />

wurden.<br />

<strong>Die</strong> <strong>2.</strong> Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts hat im Libanon nationale <strong>und</strong> konfessionelle<br />

Identitäten entstehen lassen, die sich in der gespalteten politischen Landschaft beider<br />

Länder niederschlägt.<br />

In <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> im Libanon herrschte unter den Bevölkerungsgruppen keineswegs<br />

Einigkeit über den Zerfall <strong>des</strong> Reiches oder über die zukünftige Staatsform. Theoretisch<br />

standen in <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> dem Libanon drei Positionen einander gegenüber:<br />

1. <strong>Die</strong> Bildung eines eigenen Staates<br />

Während im Libanon die Christen <strong>und</strong> insbesondere die Maroniten einen eigenen Staat<br />

anstrebten, gab es in <strong>Bosnien</strong> keine nennenswerten Bestrebungen für einen<br />

unabhängigen Staat, wie etwa in Kroatien.<br />

<strong>2.</strong> Verbleib bei der bestehenden Staatsform<br />

<strong>Die</strong> Kroaten unterstützten am stärksten von allen Nationen <strong>Bosnien</strong>s den Fortbestand<br />

der Monarchie. Weiterhin wurde die Herrschaft Österreich-Ungarns auch von der<br />

muslimischen Bevölkerung unterstützt. Weder im Mont Liban, noch in den anderen<br />

Gebieten der Region, die Teil <strong>des</strong> Mandatsgebietes „Grand Liban“ werden, gab es<br />

großen Rückhalt für das Osmanische Reich. Am stärksten dürfte die Unterstützung<br />

durch die Sunniten gewesen sein, die ihre Interessen am besten im Reich gesichert<br />

sahen.<br />

3. den Anschluß an einen neuen Staat.<br />

<strong>Die</strong> Bevölkerung der Mont Liban <strong>und</strong> Beiruts strebte jedoch neben der Schaffung eines<br />

libanesischen Staates entweder Großsyrien oder ein panarabisches Reich an. Als<br />

Alternative Staatsformen boten sich für <strong>Bosnien</strong> im wesentlichen Großserbien oder<br />

Jugoslawien an. Während Großserbien naturgemäß nur für die serbische Bevölkerung<br />

attraktiv war, erhielt die jugoslawische Bewegung im Krieg insbesondere von Kroaten<br />

regen Zulauf.<br />

Nach dem 1. Weltkrieg konnten die Einwohner <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> <strong>des</strong> Libanon jedoch nicht<br />

die neue Staatsform selbst bestimmen. Im Libanon begann die französische<br />

Mandatsherrschaft, die einen vergrößerten Libanon schuf. Der neue Staat wurde zwar<br />

von den meisten Maroniten begrüßt, die Mehrheit der anderen Konfessionen lehnten<br />

hingegen den Libanon unter französischer Verwaltung ab. In <strong>Bosnien</strong> wurde das<br />

Entstehen Jugoslawiens am stärksten von der serbischen Bevölkerung willkommen<br />

geheißen. Sowohl Kroaten, wie auch Muslime standen dem neuen Staat jedoch<br />

skeptisch gegenüber oder lehnten ihn später sogar offen ab.<br />

40


<strong>2.</strong>3. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>Bosnien</strong>s <strong>und</strong> <strong>des</strong> Libanon in der Zwischenkriegszeit <strong>und</strong> im <strong>2.</strong><br />

Weltkrieg<br />

<strong>2.</strong>3.1. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina als Teil <strong>des</strong> 1. Jugoslawien <strong>und</strong> <strong>des</strong> „Unabhängigen<br />

Staates Kroatien“<br />

Zwischen Auflösung der Monarchie <strong>und</strong> Konsolidierung Jugoslawiens<br />

Am 1. Dezember 1918 rief Prinzregent Alexander in Belgrad das Königreich der<br />

Serben, Kroaten <strong>und</strong> Slowenen (SHS) aus. 118 Ein wesentlicher Beitrag zur Entstehung<br />

<strong>des</strong> Staates leisteten pro-jugoslawische Politiker im Exil, die bei der Entente auf dieses<br />

Ziel hingearbeitet hatten. <strong>Die</strong> Rolle <strong>des</strong> serbischen Ministerpräsidenten Pašić <strong>und</strong> seiner<br />

Exil-Regierung ist hierbei nicht eindeutig. In erster Linie wollte Serbien einen<br />

großserbischen Staat mit allen Gebieten, in denen Serben lebten.<br />

In Serbien fühlte man sich aufgr<strong>und</strong> der Erfahrung als unabhängiger Staat <strong>und</strong> der<br />

Kriegsopfer Serbiens den anderen Nationen überlegen. Serbien wollte im neuen Staat<br />

dominieren. Weiterhin strebten die serbischen Politiker einen zentralistischen Staat an,<br />

während Slowenen, Bosnier <strong>und</strong> Kroaten im allgemeinen eine Föderation bevorzugten.<br />

Erst die schweren Niederlagen zwischen 1915-17 zwangen Pašić <strong>und</strong> seine Regierung<br />

zur Akzeptanz der jugoslawischen Staatsauffassung. <strong>Die</strong> unterschiedlichen<br />

Staatsauffassungen lassen sich bereits vor dem Weltkrieg in Schulbüchern nachweisen.<br />

In <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> Kroatien stellten die Schulbücher die anderen südslawischen Völker dar<br />

<strong>und</strong> propagierten zumin<strong>des</strong>t teilweise Jugoslawismus, während die serbischen<br />

Schulbücher nicht auf die kroatische Nation eingingen <strong>und</strong> sämtliche kroatischen<br />

Länder <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong> als Teile eines zu errichtenden Großserbiens darstellten. 119<br />

In den ersten Monaten nach der Schaffung <strong>des</strong> Staates gelang es beiden Seiten (wobei<br />

die Slowenen eine ähnliche Position wie die Kroaten hatten) nicht, eine Lösung für die<br />

zukünftige Gestalt <strong>des</strong> Staates zu finden. Ohne die Vorarbeit <strong>des</strong> kroatisch-dominierten<br />

Jugoslawischen Komitees wären andere staatliche Lösungen wahrscheinlicher gewesen.<br />

Man kann also Jugoslawien nicht als einen von außen aufgezwungenen Staat<br />

bezeichnen, doch genauso wenig bestand ein breiter Konsens für eine jugoslawische<br />

Ideologie. Obwohl der neue jugoslawische Staat ohne Zweifel in erster Linie aus sich<br />

selbst heraus entstand, wäre er ohne den Sieg der Entente <strong>und</strong> der fehlenden Bereitschaft<br />

Österreich-Ungarns zu einem getrennten Friedensvertrag mit der Entente Anfang 1918<br />

kaum denkbar gewesen. 120<br />

<strong>Die</strong> Gründung Jugoslawiens wurde in der kroatischen Bevölkerung mit Skepsis<br />

aufgenommen, von der serbischen <strong>und</strong> auch die muslimischen Bevölkerung dagegen<br />

weitgehend begrüßt. Während die serbische Bevölkerung auf eine mit dem neuen Staat<br />

verb<strong>und</strong>ene Landreform hoffte, versuchte die politische Führung der Muslime eine<br />

derartige Neuregelung zu verhindern, da sie, wie erwähnt, die bei weitem größten<br />

Landbesitzer in <strong>Bosnien</strong> stellten. 121<br />

118<br />

119<br />

120<br />

121<br />

Im folgenden Text wird das Königreich der Serben, Kroatien <strong>und</strong> Slowenen zur Vereinfachung als<br />

Jugoslawien bezeichnet, auch wenn der Staat erst nach 1929 offiziell diesen Namen trägt.<br />

Hierfür s. Charles Jelavich, South Slav nationalisms - textbooks and Yugoslav Union before 1914<br />

(Columbus, Oh. 1990) 138-243.<br />

Ivo J. Lederer, Nationalism and the Yugoslavs, in: Peter F. Sugar, Ivo J. Lederer (Hg.) Nationalism<br />

in Eastern Europe (Seattle/London 1969), 428-430; Mirjana Gross, Wie denkt man kroatische<br />

Geschichte? in: Österreichische Osthefte, Nr. 1/93, Jhrg. 35, 89.<br />

Zur Bodenreform vgl. Arnold Suppan, Jugoslawien <strong>und</strong> Österreich (Wien-München, 1996).<br />

41


<strong>Die</strong> Serben stellten den höchsten Anteil an der bosnischen Bevölkerung in der<br />

Zwischenkriegszeit. <strong>Die</strong> Bevölkerungsverteilung blieb im 1. Jugoslawien weitgehend<br />

stabil, da es keine größeren Emigrationsströme gab (s. Tabelle 4).<br />

1921 1931<br />

Orthodoxe 829.920 43,9 % 1.028.139 44,2 %<br />

Muslime 588.204 31,1 % 718.079 30,9 %<br />

Katholiken 444.308 23,5 % 547.949 23,6 %<br />

Andere 28.638 1,5 % 29.388 1,3 %<br />

Gesamt 1.890.440 100 % <strong>2.</strong>323.555 100 %<br />

Tabelle 4: Ergebnisse der Volkszählungen 1921 <strong>und</strong> 1931 122<br />

<strong>Die</strong> Parteien <strong>Bosnien</strong>s<br />

Bereits in dieser Anfangsphase Jugoslawiens entstand die JMO, die Jugoslawische<br />

Muslimische Organisation, die sich schon bald zur einzigen nennenswerten Partei der<br />

Muslime in <strong>Bosnien</strong> entwickelte. Sie wurde Anfang 1919 in Banja Luka gegründet. Der<br />

erste Präsident Ibrahim Maglajlić verschrieb sich noch ganz einem zentralistischen<br />

Jugoslawien. Schon bald übernahm der bereits erwähnte Mehmed Spaho die Führung.<br />

Im Gegensatz zu Maglajlić verlangte er eine Autonomielösung für <strong>Bosnien</strong>. Anderes als<br />

die kroatischen Bauernpartei wollte die JMO jedoch Jugoslawien als einheitlichen Staat<br />

erhalten. Dementsprechend befand sie sich meist in einer Koalition mit den serbischen<br />

Parteien. Zugleich bemühte sich die Partei um eine Vermittlung zwischen Kroaten <strong>und</strong><br />

Serben.<br />

<strong>Die</strong> führenden Politiker der JMO stammten aus der urbanen Mittelschicht, sie mußten<br />

jedoch eine äußerst heterogene Gruppe vertreten, wie auch die anderen neuen Parteien<br />

Jugoslawiens, die meist nach ethnischen Kriterien entstanden. <strong>Die</strong> JMO sah sich nicht<br />

als nationale Partei, obwohl sie nur Muslime vertrat. Gr<strong>und</strong> hierfür war, daß sich die<br />

muslimische Bevölkerung vor dem zweite Weltkrieg entweder als Serben, Kroaten oder<br />

Jugoslawen identifizierten. Eine muslimische Nation, wie sie in <strong>Bosnien</strong> unter Tito<br />

entstand, gab es damals noch nicht. Ivo Banac gibt hierfür sehr klare Beispiele: Von den<br />

24 Abgeordneten der JMO 1920 bezeichneten sich 15 als Kroaten, 2 als Serben, 5 gaben<br />

keine Nation an <strong>und</strong> nur einer sah sich als Bosnier. Auch Mehmed Spaho erklärte sich in<br />

seiner Jugend als Serbe, später verweigerte er eine Festlegung <strong>und</strong> bezeichnete sich<br />

Jugoslawe. Sein Bruder, der zwischen 1938 <strong>und</strong> 1942 auch Reis ul-ulema war, sah sich<br />

selber als Kroate, während sich der dritte Bruder als Serbe registrieren ließ. 123<br />

Der wichtigste kroatische Politiker <strong>Bosnien</strong>s, Josip Sunarić, folgte der Linie der<br />

kroatischen Bauernpartei von Stjepan Radić. Im Kern der Partei <strong>und</strong> der politischen<br />

Arbeit von Radić stand die Durchsetzung von größerer Autonomie für Kroatien. Irvine<br />

Gill teilt die <strong>Entwicklung</strong> der Bauernpartei bis zur Ausrufung der Königsdiktatur in drei<br />

Phasen. In der ersten Phase bis 1925 wies sie die neue politische Ordnung zurück, in der<br />

zweiten Phase 1925-26 bildete sie den Koalitionspartner der Radikalen Partei, während<br />

122<br />

123<br />

Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.<br />

Banac, The National Question in Yugoslavia, 371, 375; Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina,<br />

122-125; Malcolm, Bosnia, 163.<br />

42


sie in der 3. Phase erneut eine Oppositionspartei wurde, die jedoch den Staat<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich akzeptierte. 124<br />

<strong>Die</strong> Bauernpartei <strong>des</strong> kroatischen Volkes, die von Anton <strong>und</strong> Stjepan Radić 1903<br />

gegründet worden war, strebte ursprünglich eine Donauföderation an. Vor <strong>und</strong> während<br />

<strong>des</strong> Krieges trat die Bauernpartei für einen kroatischen Staat innerhalb Österreich-<br />

Ungarns ein (möglichst als dritter Teil <strong>des</strong> Staates). <strong>Die</strong>ses Ziel wurden durch das Ende<br />

der Monarchie 1918 unmöglich. Radić stand einer Union mit Serbien <strong>und</strong> Montenegro<br />

skeptisch gegenüber <strong>und</strong> erkannte die Monarchie nicht für Kroatien an. Vor der ersten<br />

Wahl 1920 spielte die Partei von Radić noch keine große Rolle. Erst nach den ersten<br />

Wahlen unter allgemeinem Wahlrecht in Kroatien <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong> wurde die Gefolgschaft<br />

der Partei unter den Bauern deutlich. 125<br />

<strong>Die</strong> kroatische Parteien versuchten die muslimische Bevölkerung anzusprechen <strong>und</strong><br />

strebten eine Einbeziehung <strong>Bosnien</strong>s in ein autonomes Kroatien an. Bis zum Ende <strong>des</strong> 1.<br />

Jugoslawiens gelang es den kroatischen Parteien nicht, Muslime in größerem Umfang<br />

zu integrieren.<br />

<strong>Die</strong> serbische Parteien bemühten sich kaum um die Muslime, die aufgr<strong>und</strong> der Kriege<br />

mit dem Osmanischen Reich <strong>und</strong> der Mythologisierung der Schlacht auf dem Kosovo<br />

Polje 1389 als potentielle Feinde gesehen wurden. Da die Serben in Jugoslawien die<br />

größte einzelne Nation bildeten, waren sie weniger als die Kroaten gezwungen andere<br />

Nationen einzubinden. <strong>Die</strong> serbischen Einwohner <strong>Bosnien</strong>s unterstützten neben der<br />

Radikalen Partei <strong>und</strong> der Demokratischen Partei die Serbische Bauernpartei, die sich für<br />

eine Landreform <strong>und</strong> die Belange der Bauern einsetzte. 126<br />

Von den ersten Wahlen bis zur Krise der Demokratie<br />

Am 20. November 1920 fanden die ersten relativ freien Wahlen zur<br />

Verfassungsversammlung statt. Neben der JMO traten noch andere muslimische<br />

Parteien zur Wahl in <strong>Bosnien</strong> an, diese erhielten jedoch weniger als 2 Prozent aller<br />

Stimmen <strong>und</strong> gingen bald in der JMO auf oder versanken in der politischen<br />

Bedeutungslosigkeit. <strong>Die</strong> JMO erhielt 6,9 Prozent in Gesamtjugoslawien, was 33,5<br />

Prozent der Stimmen in <strong>Bosnien</strong> entspricht. Somit wählte fast die gesamte muslimische<br />

Bevölkerung die Jugoslawische Muslimische Organisation. In etlichen Gemeinden<br />

erhielt die JMO mehr Stimmen, als sich Einwohner als Muslime deklariert hatten. 127<br />

Bei der serbischen Bevölkerung waren mehrere Parteien erfolgreich: So erhielten die<br />

Demokratische Partei (DS), die Radikale Partei (NRS) <strong>und</strong> die Bauernpartei die meisten<br />

Stimmen der serbischen Bevölkerung. <strong>Die</strong> in Kroatien starke „Kroatische Bauernpartei“<br />

trat bei den ersten Wahlen noch nicht in <strong>Bosnien</strong> an. <strong>Die</strong> eher lockere Gruppierung <strong>des</strong><br />

Nationalen Klubs <strong>und</strong> die „Kroatische Volkspartei“ (HPS) lagen 1920 in der Gunst der<br />

kroatischen Bosnier vorn. Lediglich die Kommunistische Partei (KPJ), die nur wenige<br />

Jahre später verboten wurde, konnte als multinationale Partei einen nennenswerten<br />

Stimmenanteil in <strong>Bosnien</strong> erzielen. Wobei die KP genauso wie anderen zumin<strong>des</strong>t<br />

124<br />

125<br />

126<br />

127<br />

Jill A. Irvine, The Croat Question (Boulder, Col. 1993) 40.<br />

Banac, The National Question in Yugoslavia, 226-229.<br />

Ebd., 189-192, 372 f.<br />

Muslime als religiöses <strong>und</strong> nicht nationales Bekenntnis, Ebd., 389, 370.<br />

43


teilweise multinationale Parteien (Sozialdemokraten <strong>und</strong> Bauernpartei) kaum<br />

muslimische Kandidaten für <strong>Bosnien</strong> aufstellten. 128<br />

DS NRS Nationalklub KPJ SLS/HSP 129 JMO Bauernpartei<br />

Serbisch Serbisch Kroatisch Jugoslawisch Kroatisch Muslimisch Serbisch<br />

5,59 % 17,96 % 11,6 % 5,46 % 6,28 % 33,5 % 16,65 %<br />

Tabelle 5: Ergebnis der Wahlen am 28.11.1920 in <strong>Bosnien</strong> in Prozent 130<br />

Wie deutlich die Parteienwahl <strong>und</strong> die nationale Zugehörigkeit zusammenhängen, läßt<br />

sich in Tabelle 6 erkennen. Hier werden die jeweiligen Parteien nach ihrer nationalen<br />

Orientierung zusammengefaßt <strong>und</strong> mit der Volkszählung von 1921 verglichen. Dabei<br />

fällt die große Übereinstimmung zwischen Wahlverhalten <strong>und</strong> nationaler Identität auf.<br />

Bevölkerungszählung 1921 Wahlergebnis 1920<br />

Muslimisch 31.1 % 33.5 %<br />

Serbisch (bzw. orthodox) 43.7 % 40.2 %<br />

Kroatisch (bzw. katholisch) 21.3 % 17. 88 %<br />

Jugoslawisch - 5.46 %<br />

Tabelle 6: Vergleich der Wahlergebnisse 1920 mit der Volkszählung (nach Religionszugehörigkeit)<br />

1921 131<br />

Im folgenden Jahr wurde die zentralistische Vidovdan Verfassung in Belgrad auf<br />

Vorschlag von Premierminister Pašić verabschiedet. Alle Abgeordnete der JMO<br />

stimmten für diese neue Verfassung <strong>und</strong> gewannen als Gegenleistung die territoriale<br />

Integrität <strong>Bosnien</strong>s. Das Land blieb nicht als einheitliche Provinz erhalten, da<br />

Jugoslawien in kleinere Bezirke (Oblast) aufgeteilt wurde. <strong>Die</strong> 6 Bezirke <strong>Bosnien</strong>s<br />

stimmten jedoch mit den Grenzen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> unter österreichisch-ungarischer<br />

Verwaltung überein. <strong>Die</strong> Verabschiedung der neuen Verfassung wurde durch die<br />

Mehrheit der kroatischen Abgeordneten unter der Führung der kroatischen Bauernpartei<br />

boykottiert, so daß der Verfassung von Anfang an die nötige Legitimität fehlte. Nur die<br />

Stimmen der JMO ermöglichten die Verabscheidung der Vidovan Verfassung. Auch<br />

später tat sich die JMO als wichtiger Partner in serbisch-zentralistischen Regierungen<br />

hervor.<br />

Der muslimischen Partei gelang es auch eine Abschwächung der Landreform zu<br />

erwirken. Das Dekret <strong>des</strong> Königs Alexander vom 25. Februar 1919 bedurfte 12 Jahre,<br />

bis es umgesetzt wurde. Es sah die Abschaffung der Kmetentums, die Aufteilung von<br />

Großgr<strong>und</strong>besitz <strong>und</strong> die Entschädigung der vormaligen Eigentümer vor. Insgesamt<br />

erhielten 150.000 Bauern Land, während die alten Eigentümer mit Geld <strong>und</strong><br />

Staatsanleihen entschädigt wurden. <strong>Die</strong> durchschnittliche Größe der neuen Felder war<br />

128<br />

129<br />

130<br />

131<br />

Ebd., 370-371, 389. Bei den Sozialdemokraten <strong>und</strong> der Bauernpartei waren weniger als 2 %<br />

Muslime, bei der KPJ immerhin fast 12 %.<br />

SLS steht für die Slowenische Volkspartei, die in Jugoslawien mit der HSP zusammen kandidierte.<br />

In <strong>Bosnien</strong> kann man das Ergebnis jedoch als Stimmen für die kroatische HSP werten, zur HSP, s.<br />

Ebd., 349-351.<br />

Ebd., 389.<br />

Ebd., 389; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.<br />

44


jedoch so klein, daß es zu keiner gr<strong>und</strong>legenden Verbesserung der Lage für Kleinbauern<br />

kam <strong>und</strong> auch die Produktivität nicht wesentlich erhöht werden konnte.<br />

<strong>Die</strong> fehlende Bereitschaft der regierenden serbischen Parteien <strong>und</strong> der Verwaltung, der<br />

kroatischen Bevölkerung durch Kompromisse entgegenzukommen, leitete den Beginn<br />

der großen Differenzen zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben ein. <strong>Die</strong>ser Konflikt verhinderte<br />

eine demokratische <strong>Entwicklung</strong> <strong>und</strong> führte 1929 zur Königsdiktatur. Im Juni 1928 kam<br />

es zu einer besonders hitzigen Sitzung im Parlament, bei der ein Abgeordneter der<br />

Radikalen Partei Stejpan Radić erschoß, woraufhin die Regierung aufgelöst wurde. Ein<br />

neues national „neutrales“ Kabinett unter dem Slowenen Korošec sollte die<br />

Unterstützung der Bauernpartei sicherstellen. <strong>Die</strong>ser politische Lösungsversuch schlug<br />

jedoch fehl. Sie boykottierte nach dem Zwischenfall das Parlament. Da somit das<br />

Parlament beschlußunfähig wurde, nützte König Alexander die Gelegenheit, um im<br />

Januar 1929 die Königsdiktatur auszurufen. Das Parlament wurde aufgelöst <strong>und</strong><br />

politischen Parteien wurden verboten. Mit dem Tod Radić's endete die erste<br />

demokratische Phase Jugoslawiens. 132<br />

<strong>Die</strong> Zeit nach dem 1. Weltkrieg hat neben einer neuen politischen Landschaft in<br />

<strong>Bosnien</strong> auch eine soziale Liberalisierung mit sich gebracht. Insbesondere unter den<br />

Muslimen kam es zu einer Modernisierung. So führte der religiöse Führer der Muslime,<br />

Reis ul-ulema Caušević, nachdem er bei einem Besuch der Türkei durch die Reformen<br />

Atatürks inspiriert wurde, eine Öffnung der muslimischen Gesellschaft ein. Frauen<br />

durften arbeiten <strong>und</strong> ihre Verschleierung wurde abgeschafft. Männer sollten nach<br />

türkischem Vorbild den Fez durch einen Hut ersetzen. 133<br />

<strong>Die</strong> Königsdiktatur<br />

Der Versuch König Alexanders, Jugoslawien, nunmehr der offizielle Name <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>,<br />

durch die Diktatur größere Stabilität zu verleihen, gelang nur in begrenzt. <strong>Die</strong><br />

allgemeinen politischen Aktivitäten wurden zwar vorerst eingedämmt, doch die<br />

Spannungen zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben innerhalb von Jugoslawien konnte er nicht<br />

lösen. Er teilte das Land in 9 Banschaften (Banovine) ein. Vier dieser Banovine<br />

verliefen durch <strong>Bosnien</strong>: Drina, Zeta, Primorska <strong>und</strong> Vrbas. Drina umfaßte<br />

Nordostbosnien mit dem Verwaltungszentrum Sarajevo, Zeta die Herzegowina <strong>und</strong><br />

Südostbosnien mit Cetinje (Montenegro) als Zentrum. In der Banovina Primorska lag<br />

das bosnische Hinterland der kroatische Küste mit Split als Sitz der Administration. Zu<br />

Vrbas gehörte Nordwestbosnien, mit Banja Luka als Verwaltungszentrum. <strong>Die</strong>se<br />

Maßnahmen bewirkten, daß die Muslime in keinem Verwaltungsbezirk die Mehrheit<br />

besaßen. <strong>Die</strong>se Gebiete wurden von einem Ban verwaltet, der vom König eingesetzt<br />

wurde. 134 Doch nicht nur auf der Ebene der Banovine hatte die Königsdiktatur<br />

Auswirkungen. Viele muslimische Bürgermeister wurden durch Serben ersetzt, die<br />

direkt vom König ernannt wurden. Trotz dieser Verwaltungsreform, stand die JMO der<br />

Königsdiktatur nicht gr<strong>und</strong>sätzlich ablehnend gegenüber. Sie stellte sich allerdings<br />

gegen die Aufteilung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> in Banovine. Nur ein Jahr später ordnete König<br />

Alexander per Dekret an, daß alle Muslime Jugoslawiens einen gemeinsamen Reis ululema<br />

erhalten sollen. Sein Sitz war Belgrad, was den zentralistischen Anspruch<br />

132<br />

133<br />

134<br />

Holm S<strong>und</strong>haussen, Geschichte Jugoslawiens, 1918-1980 (Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982) 50-<br />

7<strong>2.</strong><br />

Malcolm, Bosnia, 167.<br />

Law altering the appellation and administrative divisions of the Kingdom of the Serbs, Croats and<br />

Slovenes, Belgrade <strong>2.</strong>10.1929, in: Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 195 f.<br />

45


untermauerte. Daraufhin trat der bosnische Ulema Caušević zurück. Er wurde durch den<br />

proserbischen ersten Präsidenten der JMO Malajlić ersetzt. 135<br />

In der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre kam es zu einer vorsichtigen<br />

Redemokratisierung. Nach einer neuen Verfassung von 1931 entstand 1932 eine<br />

„neutrale“ Regierungspartei, die weitgehend der vormaligen Radikalen Partei entsprach<br />

<strong>und</strong> weiterhin die bosnische <strong>und</strong> kroatischen Kräfte ausschloß. Nach der Ermordung von<br />

König Alexander im Jahre 1934 durch einen mazedonischen Attentäter, der im Auftrag<br />

der kroatischen Ustaša-Bewegung agierte, kam es zu einer Entspannung der politischen<br />

Lage in Jugoslawien unter der Regentschaft von Prinz Paul. Ein Jahr später fanden<br />

Wahlen statt, die zwar manipuliert wurden, jedoch gewisse Freiheiten zuließen. In Folge<br />

wurde die JMO erneut an der Regierung beteiligt. 136<br />

Der Kroatisch-Serbische Ausgleich<br />

Ende der Dreißiger Jahre kam es zu einer Annäherung von Kroaten <strong>und</strong> Serben. Daraus<br />

ging die Regierung Cvetković-Maček hervor. Maček vertrat als Nachfolger Radić's in<br />

der Bauernpartei die kroatischen Interessen. Im Rahmen dieser Annäherung entstand<br />

1939 der Ausgleich (Sporazum), der Kroatien als einheitliches Banovina herstellte.<br />

<strong>Die</strong>ses Banovina umfaßte nicht nur die Sava-Banovina (Kroatien <strong>und</strong> Slawonien),<br />

sondern auch Primorska. Damit fielen große Teile <strong>des</strong> historischen <strong>Bosnien</strong>s an das<br />

kroatische Banovina. So kam Nordbosnien um Brčko <strong>und</strong> die Herzegowina, sowie<br />

Südbosnien an Kroatien. 137 <strong>Die</strong> beiden verbleibenden Banovine mit bosnischen<br />

Gebieten gelangten infolge <strong>des</strong> Sporazums verstärkt unter serbische Kontrolle.<br />

Mit dem Sporazum muß die Bauernpartei aber auch erstmals Regierungsverantwortung<br />

in umfangreichem Ausmaß übernehmen. Ab August 1939, weniger als eine Woche vor<br />

Beginn <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkrieges, erhielt Kroatien die Oberhoheit über Handel, Landwirtschaft,<br />

Industrie, Forstwirtschaft, Bauwesen, Bergbau, Soziale Fragen, Ges<strong>und</strong>heit, Justiz,<br />

Sporterziehung <strong>und</strong> innere Verwaltung. Zwei Jahre später, kurz vor Kriegsausbruch in<br />

Jugoslawien, erhält es auch die Kontrolle über die Gendarmerie. Im Lauf der Jahre hatte<br />

die Bauernpartei viele Oppositionsinstitutionen aufgebaut, die nun legalisiert <strong>und</strong> der<br />

Banovina angegliedert wurden. Am wichtigsten war hierbei der paramilitärische<br />

Verband der Partei. <strong>Die</strong>ser Erfolg der Bauernpartei führte zu Problemen, da sie ihre<br />

wichtigstes Programmziel erreicht hatte <strong>und</strong> nun innerparteiliche Differenzen über das<br />

weitere Vorgehen sichtbar wurden. 138<br />

Im Juni <strong>des</strong> selben Jahres starb Mehmed Spaho, der trotz seiner mehrmaligen<br />

Regierungsbeteiligung eine Aufteilung <strong>Bosnien</strong>s auf Kosten der Muslime nicht<br />

verhindern konnte. Sein Nachfolger Džafer Kulenović forderte, der Linie von Spaho<br />

folgend, eine eigene bosnische Banovina. 139<br />

In dieser Zeit wurde die Kommunistische Partei <strong>und</strong> die Ustaše aktiv. <strong>Die</strong> Ustaše<br />

nahmen bis kurz vor dem zweiten Weltkrieg eine marginale Rolle in der politischen<br />

135<br />

136<br />

137<br />

138<br />

139<br />

Malcolm, Bosnia, 170 f.<br />

S<strong>und</strong>haussen, Geschichte Jugoslawiens, 77-83.<br />

Interessant ist hierbei, daß sich ein Großteil der bosnischen Gebiete <strong>des</strong> Banovina<br />

Primorska/Kroatien mit den Anprüchen der kroatischen Bosnier <strong>und</strong> ihrer Republik Herceg-Bosna<br />

1993-94 deckt.<br />

Rudolf Kiszling, <strong>Die</strong> Kroaten. Der Schicksalsweg eines Südslawenvolkes (Graz/Köln 1956) 160-<br />

16<strong>2.</strong><br />

Malcolm, Bosnia, 172 f.<br />

46


Landschaft Kroatiens ein. Der Anführer Ante Pavelić war vorher Führer der Partei <strong>des</strong><br />

kroatischen Rechts <strong>und</strong> lehnte Jugoslawien vollkommen ab. Er ging 1929 ins<br />

italienische Exil <strong>und</strong> organisierte von dort aus Militärlager. 1932 gründete er offiziell<br />

die Ustaše - Kroatische Revolutionäre Organisation. Nach seiner Vorstellung sollte<br />

Kroatien neben den Gebieten der Banovina auch ganz <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina umfassen<br />

<strong>und</strong> politische Rechte nur Kroaten gewähren. Gleichzeitig mit der Ermordung von<br />

König Alexander organisierte er 1934 einen erfolglosen Aufstand in seiner<br />

Heimatregion Lika. <strong>Die</strong> Kampfverbände der Bauernpartei wurden von den Ustaše<br />

infiltriert <strong>und</strong> konnte <strong>des</strong>halb nicht gegen sie eingesetzt werden. Obwohl 1940 etliche<br />

Ustaše-Führer verhaftet wurden, konnte die Organisation weiter in Kroatien agieren.<br />

Auch die serbischen Oppositionsparteien versuchten nun, das Sporazum zu zerstören<br />

<strong>und</strong> forderten eine Neuverhandlung. Sie beanspruchten ganz <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina für<br />

Serbien. 140<br />

Am 25. März 1941 schloß die jugoslawische Regierung einen Bündnisvertrag mit<br />

Deutschland, der auf deutschen Druck hin zustande kam. Nur zwei Tage später kam es<br />

zu einem Putsch durch General Dušan Simović. <strong>Die</strong>ser Machtwechsel wurde von den<br />

meisten politischen Kräften begrüßt <strong>und</strong> die meisten Minister blieben im Amt. 141 So trat<br />

die kroatische Bauernpartei der neuen Regierung bei <strong>und</strong> auch die Muslime <strong>Bosnien</strong>s<br />

unterstützen einen Kurswechsel gegenüber Deutschland. Doch mit der Bombardierung<br />

Belgrads durch die deutsche Luftwaffe am 6. April 1941 <strong>und</strong> der folgenden Invasion<br />

endete diese Regierung <strong>und</strong> das erste Jugoslawien. Der königliche Generalstab floh<br />

zuerst nach Pale <strong>und</strong> Sarajevo <strong>und</strong> dann über Montenegro nach London. 142<br />

Trotz <strong>des</strong> Bestehens Jugoslawien unternahm niemand in der Zwischenkriegszeit den<br />

ernsthaften Versuch ein jugoslawisches Nationalgefühl aufzubauen. Obwohl dies den<br />

Erfolg <strong>des</strong> Staates stark behinderte, gab es vor dem zweiten Weltkrieg zumin<strong>des</strong>t nie<br />

eine wirkliche Gefahr, daß Jugoslawien zerbricht. Ivo Lederer führt dies darauf zurück,<br />

daß Jugoslawien von revanchistischen Staaten umgeben war, 143 die teilweise aggressiv<br />

territoriale Ansprüche stellten. <strong>Die</strong>ses Umfeld brachte sogar die Bauernpartei dazu, trotz<br />

ihrer ursprünglichen Ablehnung <strong>des</strong> Staates, diesen nicht mit allen Mitteln (oder mit<br />

Hilfe äußerer Unterstützung, z.B. <strong>des</strong> faschistischen Italiens) zu bekämpfen. 144<br />

Es ist jedenfalls den politischen Eliten in der Zwischenkriegszeit nicht gelungen, einen<br />

Staat aufzubauen, der von einem allgemeinen Konsens getragen wurde. <strong>Die</strong> fehlende<br />

Kompromißbereitschaft hatte schon während <strong>des</strong> Bestehens von Jugoslawien die<br />

Extreme gestärkt <strong>und</strong> die interne Stabilität zerstört. Hierin liegt auch die Erklärung für<br />

die schwache Verteidigung der jugoslawischen Armee 1941 <strong>und</strong> den nachfolgenden<br />

blutigen Bürgerkrieg. 145<br />

<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina im <strong>2.</strong> Weltkrieg<br />

Ähnlich wie auch andere Kriege <strong>und</strong> Bürgerkriege in multinationalen Staaten finden<br />

sich im Rahmen der Einbeziehung Jugoslawiens in den <strong>2.</strong> Weltkrieg mehrere parallele<br />

140<br />

141<br />

142<br />

143<br />

144<br />

145<br />

Irvine, The Croat Question, 47-53.<br />

Babara Jelavich, History of the Balkan, Bd. 2: Twentieth Century (Cambridge 1983) 236.<br />

Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 133-135.<br />

Er nennt Italien, Ungarn, Bulgarien <strong>und</strong> das italienisch dominierte Albanien. Man könnte in<br />

mancherlei Hinsicht auch Österreich hinzufügen.<br />

Lederer, Nationalism and the Yugoslavs, 432 f.<br />

Irvine, The Croat Question, 54-56.<br />

47


Konflikte. So unterscheidet Noel Malcolm fünf sich überlagerende Kriege in der Zeit<br />

zwischen 1941 <strong>und</strong> 1945. Der erste Krieg wurde von Deutschland <strong>und</strong> Italien gegen<br />

Jugoslawien geführt. Auf einer zweiten Ebene kämpften die Achsenmächte gegen die<br />

Alliierten. Im dritten Krieg standen Italien <strong>und</strong> Deutschland den Widerstandsgruppen in<br />

Jugoslawien gegenüber. Malcolm unterscheidet zwei weitere Bürgerkriege: Der Kampf<br />

der Ustaše gegen die serbische Bevölkerung <strong>und</strong> schließlich die Auseinandersetzungen<br />

zwischen den Partisanen <strong>und</strong> den Četnici. 146 <strong>Die</strong>ser Liste ließ sich noch der Krieg<br />

zwischen den Partisanen <strong>und</strong> den Ustaše hinzufügen.<br />

Noch vor Ende <strong>des</strong> Angriffskrieges Deutschlands gegen Jugoslawien wurde am 10.<br />

April der „Unabhängige Staat Kroatien“ (NDH) ausgerufen. Zu ihm gehörte ganz<br />

<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> Srem bis an den Zusammenfluß von Sava <strong>und</strong> Donau bei<br />

Belgrad. Einige dalmatinische Küstenstreifen fielen nicht an Kroatien, sondern an<br />

Italien. <strong>Die</strong>ser Staat war jedoch nicht unabhängig, wie es der Name versucht zu<br />

suggerieren, sondern stand unter deutschem <strong>und</strong> italienischem Einfluß. Er war in zwei<br />

Okkupationszonen geteilt. <strong>Die</strong> Gebiete entlang <strong>des</strong> Mittelmeers <strong>und</strong> das Hinterland<br />

kamen unter italienische Militärverwaltung, während der Rest von der deutschen Armee<br />

besetzt wurde. In zwölf Provinzen finden sich Teile <strong>Bosnien</strong>s, wobei in sieben das<br />

Zentrum dieser Provinzen in <strong>Bosnien</strong> selber liegt, während sich in den anderen fünf das<br />

Zentrum außerhalb <strong>Bosnien</strong>s befand. 147<br />

<strong>Die</strong> Ustaša Regierung, die eingesetzt wurde, besaß kaum eine breite Unterstützung in<br />

Kroatien oder <strong>Bosnien</strong>. Sie agierte zuvor in erster Linie aus dem Ausland. Nach<br />

Angaben von Noel Malcolm hatte sie nur 1<strong>2.</strong>000 Mitglieder in Kroatien. <strong>Die</strong> scheinbare<br />

Verwirklichung der weitverbreiteten Forderung nach einem unabhängigen kroatischen<br />

Staat, das in der Zwischenkriegszeit unter anderem von der kroatischen Bauernpartei<br />

gefordert wurde, brachte der Ustaša-Partei eine gewisse Unterstützung zu Beginn <strong>des</strong><br />

NDH. <strong>Die</strong> kroatische Bauernpartei lehnte jedoch eine Zusammenarbeit mit den<br />

Achsenmächten ab, so daß Maček auch das Angebot den NDH zu führen abschlug. 148<br />

Das Regime ging außerordentlich gewalttätig gegen die Zivilbevölkerung vor. Neben<br />

der Judenverfolgung, konzentrierten sich die Progrome auf die 1,9 Millionen Serben,<br />

fast ein Drittel der insgesamt 6,3 Millionen Einwohner. Hierbei kam es neben<br />

Vertreibungen <strong>und</strong> erzwungenen Konvertierungen auch zum Massenmord. So war es<br />

das Ziel von Ante Pavelić, dem Poglavnik (Führer) <strong>des</strong> NDH, ein Drittel aller Serben zu<br />

vertrieben, ein Drittel zu ermordet <strong>und</strong> ein Drittel zum Katholizismus zu<br />

konvertieren. 149 Während der Erzbischof von Zagreb Stepinac die erzwungenen<br />

Übertritte ablehnte, stieß die Vorgehensweise <strong>des</strong> Regimes auf die Unterstützung vom<br />

Erzbischof Šarić von Sarajevo. Insbesondere die Franziskaner beteiligten sich aktiv an<br />

der Politik der Ustaše. Viele von ihnen wurden in Italien in der Nähe <strong>des</strong> Hauptquartiers<br />

der Ustaše ausgebildet <strong>und</strong> noch vor dem Krieg rekrutiert. Kritische Geistliche <strong>und</strong><br />

Intellektuelle lehnten die Zusammenarbeit ab <strong>und</strong> gerieten nach dem Krieg oft in<br />

146<br />

147<br />

148<br />

149<br />

Malcolm, Bosnia, 174.<br />

Ivo Banac, Bosnian Muslims: From Religious Community to Socialist Nationhood and<br />

Postcommunist Statehood, 1918-1992, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina,<br />

Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993)<br />

141.<br />

Zur Struktur <strong>des</strong> „Unabhängigen Kroatien“ s. Holm S<strong>und</strong>haussen, Der Ustascha-Staat: Anatomie<br />

eines Herrschaftssystems, in: Österreichische Osthefte, Nr. 2/95, Jhrg. 37, 497-533.<br />

Malcolm, Bosnia, 174 f.<br />

48


Konflikt mit der kommunistischen Partei (vgl. Kapitel 3.4.1). 150 Insgesamt wurden über<br />

200.000 Serben konvertiert <strong>und</strong> 100.000 Serben ermordet. Symbol dieser Verfolgungen<br />

wurde das Lager Jasenovac in Westslawonien, in dem die meisten Serben im Krieg<br />

ermordet wurden. 151<br />

Der Terror ging so weit, daß sich bereits im Juli 1941 deutsche Armeeangehörige über<br />

die Brutalität beschwerten. <strong>Die</strong> Ustaše bemühten sich um die Unterstützung der<br />

Muslime. Der JMO-Vorsitzende Džafer Kulenović wurde im November 1941 zum<br />

kroatischen Vizepräsident. Auch zeigte sich Pavelić bei dem 1. Jahrestag der Ausrufung<br />

<strong>des</strong> „unabhängigen Kroatiens“ mit einem Fez <strong>und</strong> bezeichnete die Muslime als die<br />

„Reinsten aller Kroaten“. 152 <strong>Die</strong> Ustaše räumten jedoch den Muslimen trotz derartiger<br />

Deklarationen keine wirklichen Rechte ein. <strong>Die</strong> Rechte der Muslime verbesserten sich<br />

im Vergleich zum Vorkriegsjugoslawien kaum. Dagegen wurde der Druck auf die<br />

muslimische Bevölkerung durch die Četnici 153 größer. Da das kroatische Regime keine<br />

Sicherheit herstellen konnte, unterstützten die Muslime zunehmend die Partisanen. <strong>Die</strong><br />

Übergriffe der Četnici <strong>und</strong> die fehlende Repräsentation von Muslime in der<br />

jugoslawischen Exilregierung verhinderten eine Kooperation zwischen muslimischen<br />

Politikern <strong>und</strong> der serbischen Exilregierung. Es gab dementsprechend kaum Muslime,<br />

die sich serbischen Freischärlern anschlossen. Unter der muslimischen Bevölkerung<br />

bestanden Bemühungen, über den NDH-Staat hinweg mit den deutschen<br />

Besatzungstruppen ein Bündnis zu schließen. <strong>Die</strong>s mißlang <strong>und</strong> führte lediglich 1943 zu<br />

einer SS-Einheit (Handžar) aus bosnischen Muslimen. Der deutsch-fre<strong>und</strong>liche<br />

Großmufti von Jerusalem ermutigte die bosnischen Muslime, sich im Kampf gegen die<br />

Kolonialmächte den Deutschen anzuschließen. 154<br />

Neben kleineren, lokal begrenzten Aufständen gegen das Regime bauten zwei Gruppen<br />

ein weites Widerstandsnetz gegen das Ustaša-Regime auf: <strong>Die</strong> Četnici <strong>und</strong> die<br />

Partisanen der kommunistischen Partei. Zu Beginn <strong>des</strong> Krieges war der Erfolg der<br />

großserbisch-orientierten Četnici noch größer, unter anderem auch aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

internationalen Anerkennung. Sie wurden von einem serbischen Offizier der<br />

jugoslawischen Armee angeführt. Draža Mihailović erhielt die Rückendeckung der<br />

königlichen Regierung im Exil, die ihn zum General <strong>und</strong> 1942 schließlich zum<br />

Kriegsminister ernannte. <strong>Die</strong> Exilregierung sicherte den Četnici die Unterstützung durch<br />

die Alliierten. <strong>Die</strong>se relativ dezentrale Widerstandsgruppe setzte sich ursprünglich für<br />

eine Wiederherstellung <strong>des</strong> Vorkriegsjugoslawiens zum Ziel. Auch wenn dies offiziell<br />

angestrebt wurde, stand die Schaffung Großserbiens im Zentrum der Bemühungen der<br />

Četnici. Es sollte neben Serbien auch Montenegro, <strong>Bosnien</strong>, Slawonien, Dalmatien, <strong>und</strong><br />

150<br />

151<br />

152<br />

153<br />

154<br />

Fred Singleton, A Short History of the Yugoslav Peoples (Cambridge 1985) 179-181.<br />

Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 141 f. Bis heute bestehen keine gesicherten Zahlen über die<br />

serbischen Kriegsopfer. Serbische Historiker setzen die Zahl oftmals zu hoch bei über einer Million<br />

an (z.B. Vladimir Dedijer, Jasenovac - das jugoslawische Auschwitz <strong>und</strong> der Vatikan (Freiburg<br />

1988)). Kroatische Historiker (z.B. Franjo Tudjman, Nationalism in Contemporary Europe (New<br />

York 1981) 162-164) versuchen die Zahl nach unten zu korrigieren <strong>und</strong> schätzen weniger als<br />

100.000 serbische Opfer <strong>des</strong> NDH.<br />

Malcolm, Bosnia, 175 f.; Friedman, The Bosnian Muslims, 12<strong>2.</strong><br />

<strong>Die</strong> Četnici beziehen ihren Namen von anti-osmanischen Einheiten in Serbien zur Zeit der<br />

Herrschaft der Hohen Pforte. s. Castellan, Histoire <strong>des</strong> Balkans, 306 f.<br />

Malcolm, Bosnia, 189.<br />

49


sogar Teile Nordalbaniens umfassen, <strong>des</strong>sen nicht-serbische Bevölkerung, vergleichbar<br />

mit der Politik der Ustaše, entweder ermordet oder vertrieben werden sollte. 155<br />

<strong>Die</strong> Četnici folgten einer anderen Taktik als die siegreichen Partisanen. Sie bekämpften<br />

lediglich zu Anfang <strong>des</strong> Krieges, bis Ende 1941, offen die deutsche Besatzung. Im<br />

weiteren Kriegsverlauf folgten sie der Linie der Exilregierung, die einen Beginn <strong>des</strong><br />

Widerstan<strong>des</strong> gleichzeitig mit der alliierten Invasion anstrebte. Zugleich versuchten sie<br />

möglichst wenig in Konflikt mit den Besatzungsmächten zu kommen, um schwere<br />

Repressalien der deutschen Besatzer gegen die serbische Zivilbevölkerung zu<br />

verhindern <strong>und</strong> bereiteten statt<strong>des</strong>sen die erwartete Fronteröffnung durch die westlichen<br />

Alliierten auf dem Balkan vor. <strong>Die</strong>s war eine Reaktion auf die deutsche Anweisung für<br />

jeden durch den Widerstand getöteten Soldaten 100 Serben zu ermorden.<br />

Insbesondere kroatische <strong>und</strong> muslimische Zivilisten wurden zu Opfern der Četnici. <strong>Die</strong><br />

Muslime wurden von den Četnici eng mit dem alten Feindbild der Türken identifiziert.<br />

<strong>Die</strong>se Zurückhaltung gegenüber den Besatzern bewirkte jedoch, daß die<br />

Hauptaktivitäten sich auf die Partisanen oder auf die Zivilbevölkerung konzentrierte.<br />

<strong>Die</strong>se Linie brachte den Četnici die Kritik ein, durch ihre Politik den Besatzern sowohl<br />

indirekt, wie auch direkt geholfen zu haben. Tatsächlich griffen die Četnici später die<br />

Partisanen verstärkt an <strong>und</strong> machten die Zivilbevölkerung anderer Nationen zu den<br />

Hauptopfern ihrer Übergriffe. 156<br />

Im Zentrum der zweiten Widerstandsgruppe stand die kommunistische Partei. Sie war in<br />

der Zwischenkriegszeit sehr klein <strong>und</strong> wurde schon bald nach den ersten Wahlen 1920<br />

verboten. 1940 hatte sie lediglich 6.000 Mitglieder in ganz Jugoslawien. In <strong>Bosnien</strong><br />

besaß die KP ein Jahr zuvor nur 170 Mitglieder. Zeitweilige Allianzen mit den Četnici<br />

blieben von kurzer Dauer, da sich eine der beiden Gruppen besser mit dem<br />

gemeinsamen Feind arrangieren konnte, als mit der anderen Widerstandsgruppe.<br />

Während die Četnici in erster Linie in Serbien, Montenegro <strong>und</strong> in der Herzegowina<br />

ihre Basis hatten, etablierten sich die kommunistischen Partisanen in <strong>Bosnien</strong>.<br />

Der Parteivorsitzende (seit 1937) Josip Broz Tito wollte, im Gegensatz zu den Četnici,<br />

nicht den Vorkriegszustand wiederherstellen oder eine Nation bevorteilen, sondern ein<br />

sozialistisches Jugoslawien erschaffen. 157 Bereits 1935 schlug die KP eine<br />

Föderalisierung Jugoslawiens vor, während sie zuvor eine Zerschlagung <strong>des</strong><br />

„imperialistischen Gebilde“ Jugoslawien propagierte. <strong>Die</strong> Föderalisierung sollte mit<br />

einer Zentralisierung auf der politischen Ebene einhergehen <strong>und</strong> konnte somit kaum<br />

einen wirklich föderalen Staat hervorbringen, nach sowjetischem Vorbild. <strong>Die</strong><br />

Föderalisierung spiegelt sich auch im Motto der Partisanen wieder: Bratstvo i jedinstvo<br />

(Brüderlichkeit <strong>und</strong> Einigkeit). Gerade dieses Konzept zog viele Nichtkommunisten an.<br />

So gab es Religionsvertreter in den Einheiten der Partisanen, Nichtkommunisten hielten<br />

Posten bei den Partisanen <strong>und</strong> innerhalb der provisorischen Regierung inne. Allerdings<br />

sorgte die KP dafür, daß sie keine wirkliche Macht abzugeben hatte. So wurde im<br />

Herbst 1942 in Bihać der antifaschistische Rat zur Volksbefreiung Jugoslawiens<br />

(AVNOJ) gegründet, dem neben Kommunisten auch prominente Vertreter der<br />

Vorkriegsparteien angehörten. In Jajce wurde ein Jahr später Tito zum Präsidenten <strong>des</strong><br />

155<br />

156<br />

157<br />

Josef Manoschek, „Serbien ist judenfrei“ Militärische Besatzungspolitik <strong>und</strong> Judenvernichtung in<br />

Serbien 1941/1942 (=Beiträge zur Militärgeschichte 38, München 1993) 114-121.<br />

Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 143 f.<br />

In der Zwischenkriegszeit lehnte die KP auf Weisung Moskaus sogar zeitweise Jugoslawien<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich ab <strong>und</strong> forderte eine staatliche Neuordnung <strong>des</strong> Balkans.<br />

50


nationalen Befreiungskomitees (die Exekutive <strong>des</strong> AVNOJ) gewählt. <strong>Die</strong> Partisanen<br />

machten somit der Exilregierung in London die Vertretung Jugoslawiens streitig. 158<br />

Am Beginn der Partisanenkämpfe im Juli 1941 bestand die Gruppe in erster Linie aus<br />

Serben aus der Šumadija, doch schon bald wuchs die Zahl der Partisanen aus anderen<br />

Nationen stark an. Im Mai 1942 wurde die erste eigene Einheit für die Muslime<br />

geschaffen. 159 Im selben Jahr kontrollierten die Partisanen bereits ein größeres Gebiet in<br />

Nordwestbosnien. Während die italienischen Besatzung mit den Četnici teilweise<br />

zusammenarbeitete, bekämpfte die deutsche Armee sowohl die Partisanen, als auch die<br />

Četnici. 160 Der Erfolg der Partisanen <strong>und</strong> der Druck der Alliierten führte im September<br />

1944 zu einem Aufruf von König Peter, die Partisanen zu unterstützen. Bereits bei der<br />

Konferenz 1943 in Teheran beschlossen die Alliierten nur noch mit den Partisanen zu<br />

zusammenzuarbeiten, als deutlich wurde, daß die Četnici mit den Besatzern<br />

kollaborierten. 161 Zugleich brach die Herrschaft der Ustaše zusammen. Viele<br />

Angehörige <strong>des</strong>ertierten zu den Partisanen, auch der Waffenstillstand Italiens 1943<br />

begünstigte die Partisanen.<br />

<strong>Die</strong> Sympathien der bosnischen Kroaten, wie auch der Kroaten in Kroatien, waren<br />

gespalten. Viele schlossen sich entweder den Ustaše oder den Partisanen an. Zu Beginn<br />

<strong>des</strong> Krieges erfuhren die Ustaše noch Unterstützung, doch die Kombination der<br />

Terrorherrschaft <strong>und</strong> <strong>des</strong> Erfolges der Partisanen führte zu einer stärkeren Gefolgschaft<br />

der multinationalen Armee. <strong>Die</strong> Sympathien der serbischen Bevölkerung waren ähnlich<br />

zwischen den Partisanen <strong>und</strong> den Četnici gespalten. Auch hier gewann die erste Gruppe<br />

allmählich die Oberhand. Während jene Serben, die in Serbien selber oder im<br />

Grenzgebiet wohnten, eher die Četnici unterstützten, waren die Partisanen in der<br />

serbischen Bevölkerung in Zentral- <strong>und</strong> Westbosnien stärker verankert. <strong>Die</strong> Lage für die<br />

bosnischen Muslime stellte sich weitaus schwieriger dar. Wie im vorhergehenden<br />

Kapitel erwähnt, war in der Zwischenkriegszeit die Selbstidentifikation der Muslime<br />

noch nicht gefestigt. <strong>Die</strong>s wirkte sich auch auf die jeweiligen Sympathien während <strong>des</strong><br />

Krieges aus. So vertrat der Bruder von Mehmet Spaho, dem Parteivorsitzenden der<br />

JMO, eine prokroatischen Linie. Er war zugleich auch der Reis-ul-Ulema zwischen<br />

1938 <strong>und</strong> 194<strong>2.</strong> Während <strong>des</strong> Krieges kämpften Muslime auf fast allen Seiten mit; am<br />

wenigsten bei den Četnici, jedoch bei den Partisanen <strong>und</strong> in der Armee der Ustaše. <strong>Die</strong><br />

bosnischen Muslime erhalten in den Plänen der KP nicht den Status einer eigenen<br />

Nation, Kardelj beschreibt die Muslime <strong>Bosnien</strong>s 1936 als „besondere ethnische<br />

Gruppe“. Das Versprechen der Partisanen <strong>Bosnien</strong> als Republik wiederherzustellen hat<br />

zur muslimischen Unterstützung für ein sozialistisches Jugoslawien beigetragen.<br />

Insgesamt litt die muslimische Bevölkerung proportional gesehen am meisten. So<br />

starben während <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkrieges 75.000 Muslime, beziehungsweise 8,1 Prozent<br />

dieser Bevölkerungsgruppe. 162<br />

158<br />

159<br />

160<br />

161<br />

162<br />

S<strong>und</strong>haussen, Geschichte Jugoslawiens, 130-136.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 128 f.<br />

Einige Četnici-Einheiten wurden von den deutschen Besatzern legalisiert, indem sie sie formal dem<br />

serbischen Marionettenregieme von General Nedić unterstellt, s. Manoschek, „Serbien ist judenfrei“,<br />

116.<br />

„The Yugoslav partisans, <strong>und</strong>er the leadership of Marshall Tito, would be supported by the three<br />

powers 'to the greatest possible extent.'“ The Tehran Conference, in: Frederick H. Hartmann (Hg.)<br />

Basic Documents of International Relations (New York/Toronto/London 1951) 164.<br />

Malcolm, Bosnia, 180 f.<br />

51


Insgesamt setzten sich die Partisanen durch, da es ihnen gelang, gerade in <strong>Bosnien</strong> für<br />

alle drei Nationen attraktiv zu sein <strong>und</strong> nicht, wie die anderen beiden Gruppen, die in<br />

<strong>Bosnien</strong> aktiv wurden, einer repressiven nationalistischen Linie zu folgen.<br />

Es war nicht überraschend, daß <strong>Bosnien</strong> im Zentrum <strong>des</strong> Widerstan<strong>des</strong> stand. Mit Hilfe<br />

von Guerilla Taktik gelang es den Partisanen sieben deutsche Offensiven abzuwehren.<br />

Während die Partisanen Ende 1944 bereits die größten Teile <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong><br />

kontrollierten, gelang es ihnen erst am 6. April 1945 in Sarajevo einzuziehen, womit<br />

ihre Herrschaft über <strong>Bosnien</strong> gesichert wurde. Obwohl der größte Teil Jugoslawien<br />

durch die Partisanen befreit wurde, beteiligte sich die Rote Armee bei der Eroberung<br />

Serbiens Ende 1944. <strong>Die</strong> letzten Einheiten Deutschlands <strong>und</strong> <strong>des</strong> Ustaše-Regimes<br />

ergaben sich im Mai 1945, während einige kleine Četnici-Einheiten noch Jahre in<br />

abgelegenen Gegenden Jugoslawien aushielten. Draža Mihailović wurde erst 1946<br />

gefangengenommen <strong>und</strong> hingerichtet. Mit dem Sieg der Partisanen <strong>und</strong> der<br />

kommunistischen Vorherrschaft über Jugoslawien begann <strong>Bosnien</strong>s Geschichte als<br />

Republik <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Jugoslawien, die mehr als doppelt so lange, 46 Jahre, andauern sollte. 163<br />

<strong>2.</strong>3.<strong>2.</strong> Libanon als französisches Mandatsgebiet<br />

Bereits unter der osmanischen Herrschaft <strong>des</strong> Libanon war die französische Vormacht<br />

im Land größer, als der Einfluß einer einzelnen Großmacht in <strong>Bosnien</strong> vor 1878. <strong>Die</strong><br />

Übernahme <strong>des</strong> Mandats für den Libanon <strong>und</strong> Syrien nach Ende <strong>des</strong> 1. Weltkrieges<br />

instituionalisierte die französische Vorherrschaft über den Libanon. Zuvor waren die<br />

Beziehungen Frankreichs zum Libanon in erster Linie mit den Maroniten verb<strong>und</strong>en.<br />

Nun mußte Frankreich gegenüber den anderen Konfessionen eine politische Linie<br />

definieren.<br />

<strong>Die</strong> Konsolidierung der französischen Herrschaft<br />

Anfang Oktober 1918 landeten französische Einheiten in Beirut. Im selben Monat zogen<br />

die Einheiten von Faysal mit britischen Truppen in Damaskus ein. Damit endete die<br />

osmanische Herrschaft Bereich der Levante. Zwei Jahre später, im April 1920, teilen<br />

sich Frankreich <strong>und</strong> Großbritannien den Mashrik 164 gemäß <strong>des</strong> Sykes-Picot Abkommens<br />

auf. Irak <strong>und</strong> Palästina (mit Transjordanien) fielen unter britische Herrschaft, während<br />

Libanon <strong>und</strong> Syrien von Frankreich verwaltet werden sollten. Lediglich die arabische<br />

Halbinsel blieb nominell unabhängig. Im Vertrag von Sèvres, einem der „Pariser<br />

Vorortverträge“, mußte die Türkei dieser Aufteilung zustimmen. <strong>Die</strong> französisch <strong>und</strong><br />

englisch besetzten Gebiete wurden zwei Jahre später offiziell in Mandate <strong>des</strong><br />

neugegründeten Völkerb<strong>und</strong>es umgewandelt. Gegen die französische Besatzung<br />

formierte sich jedoch schon bald Widerstand von der Bevölkerung. <strong>Die</strong> syrischlibanesischen<br />

Aufständischen wurde bei einer Schlacht in Maysaloun, in der Nähe von<br />

Damaskus, 1920 besiegt. 165<br />

<strong>Die</strong> Begründung für die Kolonialisierung <strong>des</strong> Libanons <strong>und</strong> der anderen ehemaligen<br />

Gebiete <strong>des</strong> Osmanischen Reiches war der fehlen<strong>des</strong> <strong>Entwicklung</strong>sstand der Länder. Sie<br />

sollten fremder Verwaltung unterstellt werden, bis sie sich selbst regieren können. <strong>Die</strong>se<br />

Rechtfertigung findet sich in Artikel 22 der Satzung <strong>des</strong> Völkerb<strong>und</strong>es:<br />

163<br />

164<br />

165<br />

Siehe Jelavich, History of the Balkans, Bd. 2, 270-273<br />

<strong>Die</strong> arabischen Gebiete in Asien ohne die arabische Halbinsel.<br />

Hitti, Lebanon in History, 486 f.<br />

52


„Certain communities formerly belonging to the Turkish Empire have<br />

reached a stage of development where their existance as independent nation<br />

can be provisionally recognized subject to the rendering of administrative<br />

advice and assistance by a Mandatory until such time as they are able to<br />

stand alone.“ 166<br />

<strong>Die</strong> Formulierung bringt den Anspruch zum Ausdruck, nur im besten Interesse <strong>des</strong><br />

Lan<strong>des</strong> die Verwaltung zu übernehmen. Zusätzlich wird von unabhängigen Nationen<br />

gesprochen, die im Nahen Osten kaum zu diesem Zeitpunkt bestanden. So erhielt der<br />

heutige Libanon seine jetzigen Grenzen erst 1920.<br />

<strong>Die</strong> französische Kolonialpolitik war auf die Assimilation der lokalen Bevölkerung<br />

bedacht <strong>und</strong> versuchte französische Kultur so zu verbreiten, daß zumin<strong>des</strong>t Teile der<br />

Kolonialvölker zu französischen Bürgern wurden. In der Kolonialpolitik Frankreichs<br />

kommt somit weniger die französische Demokratie, als deren Zentralismus zum<br />

Ausdruck. David Thomson beschreibt diese Politik folgendermaßen: „This policy had<br />

the more limited aim of transforming a native élite into full French citizens, and at<br />

taking this élite into partnership in administration.“ 167 <strong>Die</strong>se zentralistischen <strong>und</strong><br />

étatistischen Tendenzen wurden im Mandatsgebiet Libanon zwar nicht mehr so stark<br />

wie in früheren Kolonien praktiziert, doch insbesondere auf die maronitische<br />

Bevölkerung hatte diese Linie Einfluß. <strong>Die</strong>se Politik hatte den Nachteil für den Libanon<br />

die maronitische Elite zu diskreditierten <strong>und</strong> der Bevölkerung eine einheitliche<br />

politische Klasse vorzuenthalten. Zugleich führte dies dazu, daß ein großer<br />

Bevölkerungsteil, die Maroniten, die französische Herrschaft nicht als Fremdherrschaft<br />

empfand.<br />

Der Status von Syrien <strong>und</strong> dem Libanon wurde am 24. Juli 1922 geregelt. <strong>Die</strong>ses<br />

Dokument ist sehr knapp gefaßt <strong>und</strong> unausgewogen. So setzt sich ein unproportional<br />

großer Teil <strong>des</strong> Textes mit archäologischen Bestimmungen (Art. 14) auseinander. Im<br />

Statut verpflichtet sich Frankreich binnen drei Jahren eine Verfassung für die beiden<br />

Mandatsgebiete zu verabschieden (Art.1). Nach <strong>des</strong>sen Inkrafttreten konzentrierten sich<br />

die Kompetenzen der Mandatsmacht auf die außenpolitische Vertretung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />

(Art. 3) <strong>und</strong> die Anwesenheit von französischen Truppen zur Verteidigung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong><br />

(Art.2). Weiterhin wurden die Menschenrechte <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>freiheiten (Art. 6 & 8), sowie<br />

die Autonomie der Konfessionen (Art. 9 &10) mit dem Vertrag zugesichert. Neben dem<br />

Arabischen wird Französisch als Amtssprache eingeführt (Art. 16). 168 <strong>Die</strong><br />

Mandatsregelung erweckt den Eindruck, als sollte der Einfluß Frankreichs in die<br />

internen Angelegenheit <strong>des</strong> Libanon (<strong>und</strong> Syrien) nach der Verabschiedung der<br />

Verfassung minimal sein. Frankreich kontrollierte die Politik <strong>des</strong> Libanon jedoch bis zu<br />

<strong>des</strong>sen Unabhängigkeit nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg.<br />

In den ersten Jahren der französischen Mandatszeit wurden neue Gesetze eingeführt, die<br />

Währung an den französischen Franken geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> eine neue Verwaltung aufgebaut.<br />

Auch wurde eine provisorische Verfassung verabschiedet, die die neuen Grenzen <strong>des</strong><br />

166<br />

167<br />

168<br />

Convenant of the League of Nations, Article 2<strong>2.</strong>3, in: Hartmann (Hg.) Basic Documents of<br />

International Relations, 59.<br />

David Thomson, Democracy in France since 1870 (New York/London 1964) 167.<br />

Der Text der Mandatsregelung findet sich in Stephen Hemesley Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er<br />

French Mandate (London/New York/Toronto 1958) 376-380.<br />

53


„Etat du Grand Liban“ 169 festlegte. In seiner Fläche ist dieser libanesische Staat doppelt<br />

so groß wie das autonome Gebiet „Mont Liban“ der osmanischen Zeit.<br />

Bevölkerungszahl vergrößerte sich um 50 Prozent. <strong>Die</strong> Küstenstädte kamen hinzu<br />

(Beirut, Tripoli, Sidon <strong>und</strong> Tyrus), sowie einige Gebiete im Hinterland (Baalbek, Bekaa,<br />

Hasbaïya, Rachaïya <strong>und</strong> Marj'uyun). Im Jahr 1913 lebten im Mont Liban 414.800<br />

Einwohner, von ihnen waren 329.482 Christen (24<strong>2.</strong>308 Maroniten). Zehn Jahre später<br />

hatte das neue Libanon 628.863 Einwohner (150.000 in Beirut, 30.000 in Tripoli <strong>und</strong><br />

13.000 in Sidon) (vgl. Tabelle 7). 170 Obwohl die Maroniten in diesem neuen Staat<br />

dominierten, hießen nicht alle Maroniten diese Vergrößerung <strong>des</strong> Libanons<br />

willkommen, da sie um ihre Vormachtstellung im neuen Staat fürchteten. Der Status der<br />

Mandatsherrschaft berücksichtigte nicht den Widerstand von breiten Teilen der<br />

Bevölkerung gegen die französische Herrschaft <strong>und</strong> gegen den neuen Staat an sich.<br />

Im Rahmen <strong>des</strong> 14 Punkte Programmes (u.a. Selbstbestimmungsrecht der Völker) <strong>des</strong><br />

amerikanischen Präsidenten beauftrage Woodrow Wilson die King-Crane Kommission<br />

die Unterstützung der Bevölkerung an den verschiedenen möglichen staatlichen<br />

Lösungen zu bestimmen. Frankreich <strong>und</strong> Großbritannien versuchten vergeblich die<br />

Arbeit der Kommission zu behindern. Der Bericht über Palästina, Syrien, Libanon,<br />

sowie Mesopotamien (bzw. Irak) analysierte die Probleme der neuen Lage aus der Sicht<br />

der lokalen Eliten (ca. <strong>2.</strong>000 Personen wurden befragt). Im Zentrum dieses Berichts<br />

stand Syrien. 171 <strong>Die</strong> elfköpfige Kommission, bestehend aus amerikanischen Politikern,<br />

Delegierten der Friedenskonferenzen <strong>und</strong> Historikern kam zum Schluß, daß Großsyrien<br />

am meisten Unterstützung findet. <strong>Die</strong> historische Autonomie <strong>des</strong> Libanon könnte, so der<br />

King-Crane Bericht, auch in einem gemeinsamen Staat mit Syriens gewahrt bleiben.<br />

<strong>Die</strong> Kommission befragte die Eliten auch nach ihrer bevorzugten Mandatsmacht. Über<br />

60 % von ihnen sprachen sich, kaum überraschend im Hinblick auf die Autoren, für eine<br />

amerikanische Mandatsherrschaft aus. Gleichviele lehnten eine französische Herrschaft<br />

strikt ab. Englische <strong>und</strong> französische Politiker protestierten naturgemäß gegen diese<br />

Schlußfolgerungen. Das zentrale Gegenargument war die potentielle Bedrohung <strong>des</strong><br />

Islam für die Christen <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> die Juden Palästinas. Somit erhoben die beiden<br />

Mandatsmächte den Anspruch Palästina <strong>und</strong> den Libanon getrennt von Syrien zu<br />

verwalten.<br />

<strong>Die</strong> Positionen der Bevölkerung unterschieden sich jedoch nach Konfessionen. Drusen<br />

<strong>und</strong> Muslime forderten meist ein gesamtarabisches Reich, wie es von Großbritannien<br />

versprochen worden war. Neben vielen Muslimen wünschten sich viele Orthodoxe <strong>und</strong><br />

die winzige protestantische Religionsgemeinschaft einen Zusammenschluß mit Syrien.<br />

Zu diesem Zeitpunkt hat sich die schiitische Gemeinschaft noch kaum artikuliert <strong>und</strong><br />

folgte meist den politischen Führer der sunnitischen Muslime. 172<br />

169<br />

170<br />

171<br />

172<br />

Der Name steht in keinem Verhältnis zur geringen Größe <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> mit etwas mehr als 600.000<br />

Einwohnern <strong>und</strong> ca. 10.000 km 2 Gesamtfläche (vergleichbar mit Oberösterreich).<br />

Hitti, Lebanon in History, 488-490.<br />

Syrien hier nicht im Sinne <strong>des</strong> Staates Syrien, sondern der geographischen Region, die auch den<br />

Libanon <strong>und</strong> Palästina umfaßt.<br />

Da die Schiiten sowohl in Großsyrien, wie auch in einem arabischen Reich, eine kleinere Minderheit<br />

als im Libanon darstellen würden, kann man davon ausgehen, daß ihre Unterstützung für den<br />

Libanon größer als unter den Sunniten war. Michael Kuderna, Libanon, in: Udo Steinbach, Robert<br />

Rüdiger (Hg.) Der Nahe <strong>und</strong> Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte <strong>und</strong><br />

Kultur, Bd. 2: Länderanalysen (Opladen 1988) 239; Michael Kuderna, Christliche Gruppen im<br />

Libanon: Kampf um Ideologie <strong>und</strong> Herrschaft in einer unfertigen Nation (Wiesbaden 1983) 24.<br />

54


<strong>Die</strong> Präferenzen wurden jedoch nicht nur durch die Konfessionszugehörigkeit, sondern<br />

durch die Region geprägt. So fanden sich die meisten Befürworter eines unabhängigen<br />

Libanon im Mont Liban, welches traditionell große Autonomie besaß. Im Bekaa <strong>und</strong> im<br />

Südlibanon war die Identifikation mit dem Libanon jedoch historisch kaum verankert. 173<br />

Der Bericht sah bereits viele zukünftige Probleme voraus. So urteilte die Kommission,<br />

daß sich Syrien ohne den Libanon in einer geographisch schwierigen Lage befindet, die<br />

beide Ländern für einen französischen Einfluß anfällig machen. Zudem befürchtete sie<br />

Schwierigkeiten für das Gleichgewicht zwischen Christen <strong>und</strong> Muslimen in einem<br />

selbständigen Libanon. 174<br />

Selbst ein hoher französischer Kolonialbeamter, Robert de Caix, warnte vor einem<br />

Großlibanon. Nach seiner Meinung würde Beirut das Gleichgewicht zwischen Stadt <strong>und</strong><br />

Land stören <strong>und</strong> sich zu einer überproportional großen Hauptstadt entwickeln. Tripoli<br />

sah er wiederum als Zentrum der Gegner <strong>des</strong> Libanons, so daß der Anschluß der Stadt<br />

einen zukünftigen Unruheherd darstellte. Er sollte mit beiden Vermutungen recht haben,<br />

wenn auch erst 40 Jahre später. 175<br />

<strong>Die</strong> Republik Libanon<br />

Am 23. Mai 1926 wurde der Libanon zu einer Republik erklärt. Zugleich wurde die<br />

neue Verfassung verabschiedet. Sie führte die parlamentarische Demokratie als<br />

Regierungssystem ein. <strong>Die</strong> Verfassung wurde von einem repräsentativen Rat auf<br />

Anweisung <strong>des</strong> ersten zivilen Hochkommissars für den Libanon, Henri de Jouvenel,<br />

ausgearbeitet. Sie sah einen vom Parlament gewählten Präsidenten, ein Kabinett mit<br />

Ministerpräsident <strong>und</strong> ein Parlament mit zwei Kammern (Abgeordnetenkammer <strong>und</strong><br />

Senat) vor. Der Senat, <strong>des</strong>sen Mitglieder vom französischen Hochkommissar ernannt<br />

wurden, bestand nur 17 Monate. 176<br />

Der wichtigste Autor der Verfassung, Michel Chiha, ein maronitischer Geschäftsmann,<br />

war darum bemüht, den politischen Wettbewerb von der interkonfessionellen auf die<br />

intrakonfessionelle Ebene zu verlegen. Trotzdem lebten in einem Wahlkreis stets<br />

mehrere Konfessionen, so daß der jeweilige Wahlgewinner auch auf die Interessen der<br />

anderen Konfessionen eingehen mußte. Durch dieses Gleichgewicht hoffte man die<br />

Spannungen zwischen den Konfessionen zu mindern. Das Verhältnis der<br />

Ämterverteilung zwischen Christen <strong>und</strong> Muslimen lag bis zu den Reformen 1989 bei<br />

6:5, sowohl im Parlament, wie auch in der Verwaltung (zur Funktionsweise der<br />

Institutionen s. Kapitel 3.1.<strong>2.</strong>). 177<br />

Trotz mehrfacher Änderungen <strong>und</strong> zeitweiliger Suspendierung ist die Verfassung nach<br />

wie vor in Kraft. <strong>Die</strong> umfassenden Verfassungsänderungen nach Ende <strong>des</strong><br />

Bürgerkrieges können jedoch als Totalrevision gelten, so daß seit 1989/90 im Libanon<br />

die „<strong>2.</strong> Republik“ besteht.<br />

Der spätere Präsident Emile Eddé reformierte als Premierminister 1929/1930 den Staat.<br />

Durch diese Reform erhielt der Libanon fünf Provinzen (muhafadha): Nordlibanon,<br />

Mont Liban, Südlibanon, Bekaa <strong>und</strong> Beirut. <strong>Die</strong>se Provinzen besaßen keine Autonomie<br />

173<br />

174<br />

175<br />

176<br />

177<br />

Theodor Hanf, <strong>Die</strong> drei Gesichter <strong>des</strong> Libanonkrieges, in: Friedensanalysen 8 (Frankfurt 1978) 67.<br />

Corm, L'europe et l'orient, 131-138, 146-149.<br />

Itamar Rabinovich, The War for Lebanon, 1970-1983 (Ithaca, N.Y./London 1984) 21.<br />

Adnan Ansawi, Libanon, Vereinigte Arabische Republik, Irak (=<strong>Die</strong> Staatsverfassungen der Welt 2,<br />

Frankfurt/Berlin 1960) 21.<br />

David C. Gordon, The Republic of Lebanon, Nation in Jeopardy (Boulder, Col 1983) 20.<br />

55


<strong>und</strong> unterstanden der Zentralregierung. <strong>Die</strong>se Gliederung besteht bis heute. Eddé schloß<br />

weiterhin 100 öffentliche Schulen. In einem Land mit einem schwachen öffentlichen<br />

Schulwesen <strong>und</strong> großen Bildungsdifferenzen zwischen Konfessionen war die<br />

Schließung ein schwerer Rückschlag. In erster Linie wurde die muslimische<br />

Bevölkerung hierdurch benachteiligt, da die christlichen Kinder meist Missionsschulen<br />

besuchten. <strong>Die</strong>se <strong>und</strong> weitere Reformen in der französischen Mandatszeit begründeten<br />

die Tradition geringer staatlicher Intervention in das in das Sozialsystem, sowie das<br />

Bildungs <strong>und</strong> das Ges<strong>und</strong>heitswesen.<br />

Im Mai 1932 wurde erstmals die Verfassung durch den französischen Hochkommissar<br />

außer Kraft gesetzt <strong>und</strong> das Parlament aufgelöst. <strong>Die</strong> konfessionell dominierte Politik<br />

lähmte das System, das durch die Weltwirtschaftskrise bereits in eine Krise geraten war.<br />

Der ernannte Präsident Charles Debbas (1926-1933) blieb im Amt <strong>und</strong> verabschiedete<br />

Gesetze per Dekret mit der Zustimmung <strong>des</strong> Kommissars. In der zweijährigen Periode<br />

ohne Verfassung entwickelten sich zwei politische Strömungen im Libanon. <strong>Die</strong> eine<br />

forderte eine Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Herrschaft. <strong>Die</strong>se Gruppe stand<br />

in Opposition zu Präsident Debbas ab, da er die Suspendierung der Verfassung<br />

akzeptiert hatte. Zugleich strebte die Gruppe ein Ende der Mandatsherrschaft an.<br />

Hingegen befürwortete ein Großteil der maronitischen Bevölkerung die direkte<br />

französische Herrschaft. Während das Parlament aufgelöst war, wurden wirtschaftliche<br />

Reformen verabschiedet, die die Befürworter der Herrschaft durch Präsident <strong>und</strong><br />

Hochkommissar bestätigte. Zugleich stärkte die Ausschaltung <strong>des</strong> Parlament die<br />

Maroniten, die ihre Interessen besser durch Frankreich <strong>und</strong> den Präsidenten vertreten<br />

sahen, als in einem Parlament, wo ein Kompromiß mit den anderen Konfession nötig<br />

war. 178 <strong>Die</strong>se Reaktion zeigte, daß die französische Herrschaft von vielen Maroniten<br />

weniger als „fremd“ gesehen wurde, als die Teilung der Macht mit den anderen<br />

Konfessionen im eigenen Land. Hierin liegt eine der gr<strong>und</strong>legenden Probleme für einen<br />

unabhängigen Libanon.<br />

In den frühen Jahren der Republik etablierte sich, noch unter französischer<br />

Oberherrschaft, ein Aufteilungsschlüssel zwischen den Religionsgruppen, der später im<br />

Pact national Bekräftigung erfuhr. Demzufolge ist der Präsident stets ein maronitischer<br />

Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiite <strong>und</strong> der<br />

Verteidigungsminister ein Druse. 179 Im Vergleich zu den Bevölkerungszahlen (Tabelle<br />

7) wurden somit nur etwas drei Viertel der Bevölkerung berücksichtigt. Doch selbst<br />

dieser Repräsentationsgrad innerhalb der Elite dürfte zu hoch gegriffen sein: Zum einen<br />

überschätzt die Volkszählung die Zahl der Maroniten, zum anderen verfügte der<br />

Parlamentspräsident nur geringen politischen Einfluß. Praktisch wurden die wichtigsten<br />

Machtpositionen (Präsident <strong>und</strong> Ministerpräsident) zwischen zwei Konfessionen, die<br />

nur die Hälfte der Bevölkerung stellen, aufgeteilt.<br />

Der Nachfolger von Debbas, Habib al-Sa'd (1934-1936), wurde noch vom französischen<br />

Hochkommissar ernannt <strong>und</strong> gehörte der griechisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft<br />

an. Der nächste Präsident wurde bereits vom Parlament gewählt. In der Amtszeit <strong>des</strong><br />

ersten gewählten Präsidenten, Emile Eddé (1936-1941) zog sich die französische<br />

Mandatsmacht auf „Beraterposten“ zurück. Allerdings reichte der faktische Einfluß weit<br />

178<br />

179<br />

Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er French Mandate, 202-205.<br />

Nur in der Mandatszeit bekamen die Drusen den Posten <strong>des</strong> Verteidigungsministers zugesichert. Im<br />

unabhängigen Libanon erhielten die Drusen in den meisten Kabinetten einen bedeutenden<br />

Ministerposten.<br />

56


über eine „Beratung“ hinaus. Das erklärt sich unter anderem daraus, daß die<br />

französische Armee die einzige Militärmacht auf libanesischem Boden darstellte. 180<br />

Im November 1936 unterzeichneten Präsident Eddé <strong>und</strong> der Hochkommissar Damien de<br />

Martel einen auf 25 Jahre begrenzten Fre<strong>und</strong>schaftsvertrag zwischen dem Libanon <strong>und</strong><br />

Frankreich, der dem Mandatsgebiet Unabhängigkeit in allen Bereichen, mit der<br />

Ausnahme der Außen- <strong>und</strong> Verteidigungspolitik, einräumt. Auch sollte der Libanon<br />

dem Völkerb<strong>und</strong> beitreten können. <strong>Die</strong> französische Armee blieb im Libanon. <strong>Die</strong>ser<br />

Vertrag wurde jedoch aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Widerstan<strong>des</strong> der französischen<br />

Nationalversammlung nicht ratifiziert. Der Beginn <strong>des</strong> Weltkrieges schob eine Einigung<br />

vorerst weiter auf.<br />

Am 24. Januar 1937 wurde schließlich die Verfassung wieder in Kraft gesetzt. Trotzdem<br />

kann von einer vollständigen Demokratisierung keine Rede sein. Nur zwei Drittel der<br />

Abgeordneten wurden gewählt, das restliche Drittel wurde vom Präsidenten ernannt.<br />

<strong>Die</strong> Wahlen im gleichen Jahr brachten größere Unruhen <strong>und</strong> eine Zersplitterung der<br />

politischen Landschaft mit sich. Für die vierzig Sitze (von sechzig) bewarben sich fast<br />

600 Kandidaten. <strong>Die</strong> Opposition kam zu einer ungewöhnlichen Einigung mit Präsident<br />

Eddé. Ihr wurden 25 Sitze im Parlament „gestattet“. <strong>Die</strong> Möglichkeit, Wahlen durch ein<br />

Abkommen zwischen Präsident <strong>und</strong> Opposition derart zu manipulieren bringt die<br />

Mängel <strong>des</strong> Wahlrechts <strong>und</strong> <strong>des</strong> politischen Systems insgesamt zum Ausdruck. 181<br />

1922 1932 1943<br />

Maroniten 199.182 32,7 % 226.378 28,8 % 318.201 30,4 %<br />

griechischorthodox<br />

griechischkatholisch<br />

81.409 13,4 % 76.522 9,8 % 106.658 10,2 %<br />

4<strong>2.</strong>426 7,0 % 46.000 5,9 % 61.956 5,9 %<br />

andere Christen 1<strong>2.</strong>651 2,1 % 53.463 6,8% 64.603 6,2 %<br />

Christen 335.668 55,1 % 40<strong>2.</strong>363 51,2 % 551.418 52,7 %<br />

Sunniten 124.786 20,5 % 175.925 22,4 % 22<strong>2.</strong>594 21,3 %<br />

Schiiten 104.947 17,2 % 154.208 19,6 % 200.698 19,2 %<br />

Drusen 43.633 7,2 % 53.047 6,8 % 71.711 6,9 %<br />

Muslime 273.366 44,9 % 383.180 48,8 % 495.003 47,3 %<br />

Insgesamt 609.070 785.543 1.046.428<br />

Tabelle 7: <strong>Die</strong> Bevölkerungszahlen in der französischen Mandatszeit 182<br />

Eddé bemühte sich darum, den Libanon wieder zu verkleinern. Nach seinen<br />

Vorstellungen sollte der Staat die Grenzen <strong>des</strong> alten Autonomiegebiets mit Beirut<br />

umfassen. Er trat sogar mit dem Vertreter der jüdischen Verwaltung Palästinas, Chaim<br />

Weizman, in Kontakt, um diesem den Südlibanon anzubieten. Nachdem diese Pläne am<br />

180<br />

181<br />

182<br />

Hitti, Lebanon in History, 490-49<strong>2.</strong><br />

Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er French Mandate, 252 f.<br />

1943 fand lediglich eine Schätzung der Bevölkerung statt. Courbage, Fargues, La Situation<br />

Démographique au Liban, 21.<br />

57


französischen Widerstand scheiterten, bemühte sich die christliche Elite um eine<br />

Vorherrschaft innerhalb der bestehenden Grenzen. 183<br />

Zur gleichen Zeit gab es in der politischen Elite Syriens Bemühungen, den Libanon an<br />

Syrien anzuschließen. Insbesondere in Tripoli, wo es in der Zwischenkriegszeit öfter zu<br />

Aufständen gegen die Zugehörigkeit zum Libanon gekommen war, stieß dies auf<br />

fruchtbaren Boden. Der libanesische Präsident wurde dort 1937 mit Steinen empfangen.<br />

<strong>Die</strong> Stadt erhielt daraufhin eine, wenn auch begrenzte, Autonomie.<br />

<strong>Die</strong> Unabhängigkeit <strong>des</strong> Libanon erschien aus syrischer Sicht weniger selbstverständlich<br />

als aus der Perspektive der politischen Elite <strong>des</strong> Libanon. Syrien wurde unter der<br />

französischen Verwaltung in verschiedene Gebiete zerteilt. An der Küste Nordsyriens<br />

entstand ein alawitischer Staat, im Süden schuf Frankreich den Jabal al-Duruz, ein<br />

selbständiges Drusengebiet, im Nordosten bestand kurzzeitig die kurdisch-christlicharabische<br />

Provinz Jazira. Auch das Sandjak Alexandretta-Antiochia an der westlichen<br />

Grenze zwischen der Türkei <strong>und</strong> Syrien entzog sich der Kontrolle Syriens. Syrien war<br />

bemüht, alle diese Gebiete - einschließlich <strong>des</strong> Libanon - wieder in den Staat zu<br />

integrieren. 184<br />

Der <strong>2.</strong> Weltkrieg<br />

Als Reaktion auf den Kriegsbeginn verhängte der französische Hochkommissar am 9.<br />

September 1939 den Ausnahmezustand über den Libanon. Wiederum wurde die<br />

Verfassung außer Kraft gesetzt, das Parlament aufgelöst <strong>und</strong> die Macht <strong>des</strong> Präsidenten<br />

begrenzt. Kurzzeitig stand der Libanon unter Kontrolle von Vichy-Frankreich (1940-<br />

1941). Wie auch in anderen Kolonien stellte sich die Verwaltung zu Anfang <strong>des</strong> Krieges<br />

auf die Seite der Vichy-Regierung, nicht zuletzt auch wegen einer latenten traditionellen<br />

Antipathie gegenüber Großbritannien. Im Juni 1941 wurde der Libanon von englischen<br />

Truppen mit freien französischen Verbänden erobert. In Folge <strong>des</strong>sen kam der Libanon,<br />

ebenso wie Syrien, vorläufig unter britische Verwaltung.<br />

<strong>Die</strong> freien französischen Verbände entsandten einen Generalvertreter in den Libanon,<br />

der am 26. November 1941 mit britischem Einverständnis die Mandatsherrschaft<br />

beendete. Großbritannien <strong>und</strong> die Vereinigten Staaten erkannten die Unabhängigkeit<br />

sogleich an. Jedoch erst im September 1943 kehrte das Land mit einem neuen Parlament<br />

zu seiner verfassungsmäßigen Ordnung zurück. <strong>Die</strong> Mehrheit der Abgeordneten waren<br />

pro-arabisch oder nationalistisch ausgerichtet. Bishara al-Khuri, ein in Frankreich<br />

ausgebildeter Anwalt, wurde Präsident <strong>und</strong> Riyad al-Sulh wurde Ministerpräsident. 185<br />

Beide vereinbarten in dieser Zeit den Nationalpakt, der den bereits erwähnten<br />

Verteilungsschlüssel für die höchsten Staatsämter zwischen den Konfessionen festlegte.<br />

<strong>Die</strong>ser erkannte zwar den arabischen Charakter <strong>des</strong> Libanon an, sprach dem Land aber<br />

auch eine speziellen Status zu. Der Ministerpräsident beschrieb den Charakter<br />

folgendermaßen: „Le Liban est une patrie au visage arabe, qui puise dans la culture<br />

occidentale ce qui lui est bon et utile.“ 186<br />

183<br />

184<br />

185<br />

186<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 2<strong>2.</strong><br />

Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er French Mandate, 207 f., 25<strong>2.</strong><br />

Hitti, Lebanon in History, 492-495.<br />

Zitiert nach: Programme de l'Independence (Déclaration ministeriélle de Riad Solh du 7-10-1943),<br />

in: Harald Vocke, Der umstrittene Krieg im Libanon. Samisdats, Zeitungsberichte, Dokumente<br />

(=Aktueller Informationsdienst Moderner Orient Sondernr. 6, Hamburg 1980) 246.<br />

58


An sich stand der Nationalpakt im Widerspruch zur Verfassung, die in Artikel 7 <strong>und</strong> 12<br />

einen gleichberechtigten Zugang zu allen Ämtern vorsah. <strong>Die</strong>ser Konflikt wurde jedoch<br />

hingenommen, da der Nationalpakt nur als Provisorium galt. Er sollte später durch<br />

freien Zugang für alle ersetzt werden. <strong>Die</strong>ser Kompromiß zwischen muslimischen <strong>und</strong><br />

christlichen Spitzenpolitikern wurde mündlich vereinbart, er findet lediglich in der Rede<br />

<strong>des</strong> Ministerpräsidenten vom 7. Oktober 1943 seinen Ausdruck. 187 <strong>Die</strong> Rede kann eher<br />

als Absichtserklärung gesehen werden <strong>und</strong> weniger als konkrete Beschreibung <strong>des</strong><br />

Nationalpakts. Aufgr<strong>und</strong> der fehlenden schriftlichen Festlegung zeigten sih in<br />

Krisenzeiten verschiedene Interpretationen <strong>des</strong> Nationalpaktes. 188<br />

Trotz der formalen Unabhängigkeit <strong>des</strong> Libanon kam es erneut zum Konflikt mit<br />

Frankreich. Der Generalvertreter kontrollierte nach wie vor eine französische<br />

Verwaltung, spezielle Truppen <strong>und</strong> die Administration in Bereichen „gemeinsamen<br />

Interesses“ <strong>des</strong> Libanons <strong>und</strong> Syriens (Grenzkontrollen, Zölle, Tabakmonopol <strong>und</strong><br />

Firmenkonzession). Auch versuchte das Parlament alle Artikel, die sich auf den<br />

Mandatsstatus bezogen, abzuschaffen. <strong>Die</strong>ser Konflikte führte schließlich Ende 1943<br />

dazu, daß der französische Generalvertreter, Jean Helleu, die Verfassung außer Kraft<br />

setzte, den Präsidenten <strong>und</strong> das Kabinett verhaftete <strong>und</strong> sie ins „Exil“ nach Rachaïya<br />

schickte. Der Ausnahmezustand wurde wiederhergestellt <strong>und</strong> eine strenge Zensur<br />

eingeführt. Internationaler Druck auf das freie Frankreich <strong>und</strong> Unruhen im Libanon<br />

zwangen Frankreich zu einer Rücknahme <strong>des</strong> Eingriffs, so daß die Regierung nach nur<br />

21 Tagen zurückkehren konnte. Ende 1944 endete die französische Verwaltung <strong>und</strong> die<br />

Sonderrechte gingen an den Libanon über, die Truppen verließen erst am 31. Dezember<br />

1946 das Land. Libanon war jedoch Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, so daß<br />

man von einer schrittweisen Unabhängigkeit ausgehen kann, die mit dem Abzug<br />

fremder Truppen auf libanesischem Boden vollständig wurde. 189<br />

Durch die französische Mandatszeit vergrößerte sich die Vormacht der Christen <strong>und</strong><br />

insbesondere der Maroniten gegenüber den Muslimen im politischen System, in Bildung<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft. <strong>Die</strong> Bevorzugung der Maroniten wirkte jedoch nachteilig auf das<br />

Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen aus. Im gleichen Sinne wirkte die<br />

Dominanz der französischen Sprache in Schulen <strong>und</strong> Verwaltung vom Staat. 190<br />

<strong>Die</strong> französische Mandatszeit besaß jedoch nicht nur schlechte Seiten. An positiven<br />

<strong>Entwicklung</strong>en sind der Aufbau der Infrastruktur, die Rationalisierung der<br />

Besitzregistrierung <strong>und</strong> die Einführung einer modernen Verwaltung <strong>und</strong> Armee<br />

hervorzuheben. Es gab auch mittelbare Vorteile für das Land. So vereinte der<br />

Widerstand gegen die französische Besatzung gegen Ende der Mandatszeit die<br />

Bevölkerung <strong>des</strong> Libanon über konfessionelle Grenzen hinweg. Zur Ablehnung der<br />

Mandatsherrschaft trugen der Niedergang der Seidenindustrie, die militärischen<br />

Maßnahmen gegen Aufstände in Damaskus 1925 <strong>und</strong> 1945 <strong>und</strong> der widerwillige Abzug<br />

Frankreichs gegen Ende <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkrieges bei, den David Gordon als „graceless and<br />

even humiliating“ beschreibt. 191 Gleichwohl beurteilten die meisten Maroniten die<br />

französische Herrschaft insgesamt positiv, doch sie isolierten sich dadurch von den<br />

anderen Konfessionen.<br />

187<br />

188<br />

189<br />

190<br />

191<br />

Für den gesamten Text s. Ebd.<br />

Kuderna, Libanon, 239; Gordon, The Republic of Lebanon, 20 f.<br />

Hitti, Lebanon in History, 495 f.<br />

Hanf, <strong>Die</strong> drei Gesichter <strong>des</strong> Libanonkrieges, 68.<br />

Gordon, The Republic of Lebanon, 21 f.<br />

59


Bereits 1957, noch vor dem 1. Bürgerkrieg, wurden die Bemühungen Frankreichs im<br />

Libanon als Fehlschlag gesehen:„..the French effort, so eagerly <strong>und</strong>ertaken, so<br />

tenacioulsy pursued, was <strong>des</strong>tined to an outcome which has been assessed by the world<br />

as one of unhappy failure in the most conspicous sphere, that of state-building and<br />

politics.“ 192 <strong>Die</strong> Konsequenz aus diesem Urteil ist nicht minder radikal: „The adoption<br />

in 1920 of a unitary Syria (containing, no doubt, a mildly priviledged Mont Lebanon)<br />

would have saved a whole multitude of later troubles, and if, at the time of writing<br />

(1957), it may be felt that Lebanon was lucky in its freedom from Syrian foreign policies<br />

of the mid-1950's, with their leaning to Russia, it may equally be believed that a Syria<br />

strengthend by a more westward-looking Lebanon, with a stronger sense of political<br />

(and commercial) realities, might well have been saved from courses thought by many<br />

of her friends to be gravely dangerous to her.“ 193<br />

<strong>2.</strong>3.3. Zusammenfassung<br />

Während <strong>Bosnien</strong> nach Ende Österreich-Ungarns in Jugoslawien aufging <strong>und</strong> als<br />

Verwaltungseinheit erst nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg wiederentstand, erhielt der Libanon<br />

seine Grenzen in der Zwischenkriegszeit. <strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> im Libanon blieb, abgesehen<br />

von den ersten Jahren französischer Herrschaft weitgehend autonom von seinem<br />

Umfeld. <strong>Bosnien</strong> hingegen wurde von Belgrad <strong>und</strong> mit dem Sporazum 1939 teilweise<br />

auch von Zagreb aus regiert. <strong>Die</strong>se Machtzentren waren eng mit der Vorherrschaft der<br />

jeweiligen Nation verknüpft. <strong>Die</strong> serbische Dominanz bis 1939/41 <strong>und</strong> die kroatische<br />

Herrschaft ab 1941 verschärften die Beziehungen zwischen allen drei Nationen<br />

<strong>Bosnien</strong>s. <strong>Die</strong> muslimische Identität, die sich in diesen Jahren formierte, wurde von der<br />

größeren serbisch-kroatischen Auseinandersetzung geprägt <strong>und</strong> kann als<br />

Abwehrreaktion gegen den serbischen <strong>und</strong> kroatischen Nationalismus gesehen werden.<br />

Der <strong>2.</strong> Weltkrieg führte schließlich zum ersten bewaffneten Konflikt zwischen Serben<br />

<strong>und</strong> Kroaten. Trotz nationaler Spannungen, die ins 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückreichen gab es<br />

zuvor keine Kämpfe zwischen beiden Nationen.<br />

Im Libanon dominierten die Maroniten mit französischer Unterstützung. <strong>Die</strong> Drusen,<br />

die zuvor im autonomen Libanon großen Einfluß genossen hatten, wurden durch die<br />

Gebietsvergrößerungen in eine Nebenrolle verdrängt. <strong>Die</strong> wichtigsten Partner im neuen<br />

vergrößerten Libanon wurden die Sunniten, deren Unterstützung erst durch den<br />

Nationalpakt gesichert werden konnte. <strong>Die</strong> französische Regierung war sich aufgr<strong>und</strong><br />

der Mandatsregelung <strong>des</strong> Völkerb<strong>und</strong>es bewußt, daß die Herrschaft über den Libanon<br />

zeitlich begrenzt sein würde. Frankreich bemühte sich daher um die Etablierung eines<br />

Staates, <strong>des</strong>sen enge Beziehungen zur ehemaligen Kolonialmacht über das Ende <strong>des</strong><br />

Mandats hinaus dauern sollten. <strong>Die</strong> enge, historisch f<strong>und</strong>ierte, Bindung der Maroniten<br />

sollte Frankreich helfen, die Kontrolle über den Staat aufrecht zu erhalten. Der<br />

Nationalpakt erschwerte jedoch eine ausschließliche Anlehnung <strong>des</strong> Libanon an die<br />

ehemalige Besatzungsmacht. Am Ende der französischen Herrschaft war im Libanon ein<br />

konfessioneller Proporzstaat entstanden, <strong>des</strong>sen Wurzeln auf den autonomen Mont<br />

Liban zurückgehen.<br />

Der Libanon wurde von den Kämpfen <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkriegs kaum betroffen, so daß die<br />

Zwischenkriegszeit fast nahtlos in die Nachkriegsära überging. In <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong><br />

Jugoslawien hingegen ist das katastrophale Ergebnis der Zeit zwischen 1918 <strong>und</strong> 1945<br />

192<br />

193<br />

Longrigg, Syria and Lebanon <strong>und</strong>er French Mandate, 368.<br />

Ebd., 367.<br />

60


zu einer vermeintlichen Lehre geworden. <strong>Die</strong> kommunistische Vorherrschaft beruhte<br />

nach dem Krieg Großteils auf dem unausgesprochenen Konsens, eine einseitige<br />

nationale Dominanz zu verhindern.<br />

Mit diesen sehr unterschiedlichen Erfahrungen begann somit die Nachkriegszeit <strong>des</strong><br />

wiederhergestellten <strong>Bosnien</strong>s als Republik <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Jugoslawien <strong>und</strong> <strong>des</strong> unabhängigen<br />

Libanon.<br />

61


<strong>2.</strong>4. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> Libanon nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg<br />

<strong>2.</strong>4.1. <strong>Bosnien</strong> im <strong>2.</strong> Jugoslawien<br />

Der Krieg in Jugoslawien endete mit der absoluten Herrschaft der kommunistischen<br />

Partei, die ihre Macht teilweise mit Gewalt konsolidierte. Gegner <strong>des</strong> neuen Regimes<br />

flohen nach Österreich, wo sie von der britischen Armee auf Druck Tito<br />

zurückgeschickt wurden. Von den 18.000 Flüchtlingen wurden die meisten bei ihrer<br />

Rückkehr ermordet. Insgesamt fielen bis zu 250.000 Jugoslawen der Gewalt in den<br />

ersten Nachkriegsjahren zum Opfer. Der politischen <strong>und</strong> militärischen Macht der KP<br />

konnte keine der Vorkriegsparteien ein gesamtjugoslawisches Konzept entgegensetzen,<br />

das für alle Nationen Jugoslawiens attraktiv gewesen wäre. <strong>Die</strong> Partikularinteressen der<br />

jeweiligen Nationalparteien machten es ihnen unmöglich, nach dem Krieg eine<br />

Alternative zu den Partisanen zu formulieren. <strong>Die</strong> Exzesse der Ustaše <strong>und</strong> Četnici<br />

trugen weiterhin dazu bei, extremen Nationalismus zumin<strong>des</strong>t vorläufig zu<br />

diskreditieren.<br />

In den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft verfolgte die KP eine Linie in der<br />

Nationalitätenpolitik, die jener der Sowjetunion entsprach. <strong>Die</strong> drei Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />

sind Selbstbestimmung, territoriale Autonomie <strong>und</strong> Gleichberechtigung der Nationen.<br />

Bei all diesen Rechten muß jedoch auch die kommunistische Ideologie berücksichtigt<br />

werden. So würde die Selbstbestimmung <strong>des</strong> Proletariats einer Nation nie zu einer<br />

Loslösung von einem sozialistischen Staat führen. Entsprechend ist die Wirkung <strong>des</strong><br />

Selbstbestimmungsrecht im Kontext kommunistischer Ideologie zu relativieren. In<br />

einem System, das dem einzelnen Individuum das Selbstbestimmungsrecht verweigert,<br />

ist es im übrigen kaum möglich eine wirkliche Selbstbestimmung einer Nation<br />

einzuräumen. 194<br />

Nicht nur in Nationalitätenfragen folgte die Politik Titos bis zum Bruch mit der UdSSR<br />

1948 Stalins Vorbild. So war die erste Verfassung von 1946 eine Kopie der<br />

Sowjetverfassung von 1936. Im Rahmen dieser rigiden kommunistischen Politik wurden<br />

insbesondere die Religionen unterdrückt. <strong>Die</strong> katholische Kirche war das Hauptopfer, da<br />

sie mit der Ustaše-Herrschaft in Verbindung gebracht wurde. Auch der Islam kam<br />

wegen der Struktur der Religion unter starken Druck, denn viel stärker als die anderen<br />

Religionen stellte der Islam in <strong>Bosnien</strong> auch eine soziale <strong>und</strong> kulturelle Einrichtung dar.<br />

<strong>Die</strong> serbisch-orthodoxe Kirche erlitt insgesamt weniger Nachteile als die anderen beiden<br />

Religionen, wurde aber in den ersten Nachkriegsjahren auch zum Objekt von<br />

Verfolgungen. (vgl. Kapitel 3.4.1.) 195<br />

Während dieser Zeit dominierte die serbische Bevölkerung in <strong>Bosnien</strong>. Infolge<strong>des</strong>sen<br />

wurde auch die Frage nach einer eigenen muslimischen Nation in den Hintergr<strong>und</strong><br />

gedrängt <strong>und</strong> erst in den sechziger Jahren wieder aktuell. Ausdruck der Unterdrückung<br />

<strong>des</strong> Islam waren die Prozesse gegen die „Jungen Muslime“ (Mladi Muslimani) zwischen<br />

1946 <strong>und</strong> 1949. 196 <strong>Die</strong> Gruppe entstanden 1939 mit dem Ziel den Islam in <strong>Bosnien</strong> zu<br />

fördern. Ähnlich wie die gesamte muslimische Bevölkerung folgten sie während <strong>des</strong><br />

Krieges verschiedenen Konfliktparteien. Nach dem Krieg bekämpften sie den säkularen<br />

194<br />

195<br />

196<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 146-148.<br />

Malcolm, Bosnia, 194 f.<br />

Ivo Banac, Bosnian Muslims: From Religious Community to Socialist Nationhood and<br />

Postcommunist Statehood, 1918-1992, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina,<br />

Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993)<br />

144 f.<br />

62


Kurs der Partisanen. Einer der Führer der Mladi Muslimani wurde war der spätere<br />

Präsident <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong>, Alija Izetbegović. Er wurde bei den Prozessen zu<br />

sechs Jahren Haft verurteilt. 197<br />

1946 wurde das islamische Sakralrecht verboten, vier Jahre später auch das Tragen vom<br />

Schleier <strong>und</strong> der Besuch von Koranschulen untersagt. Das Verbot erstreckte sich auch<br />

auf islamische Kulturorganisationen. <strong>Die</strong> Vakufs wurden entweder verstaatlicht oder<br />

zumin<strong>des</strong>t der Kontrolle der Religionsgemeinschaft entzogen. Im gleichen Jahr blieben<br />

199 Moscheen in <strong>Bosnien</strong> unbenutzt.<br />

Bei der Volkszählung 1948, der ersten nach dem Krieg, hatten die Muslime drei<br />

Möglichkeiten sich zu deklarieren: Entweder als muslimische Serben, muslimische<br />

Kroaten oder als Muslime mit „unbestimmter“ oder „nicht deklarierter“<br />

Nationszugehörigkeit. <strong>Die</strong> Gelegenheit sich nicht Serben oder Kroaten zuordnen zu<br />

müssen, wurde von vielen Muslimen genützt. So standen 778.000 „unbestimmte“<br />

Muslime nur 7<strong>2.</strong>000 serbischen <strong>und</strong> 25.000 kroatischen Muslimen gegenüber. Bei der<br />

nächsten Zählung 1953 konnte sich die Bevölkerung <strong>Bosnien</strong>s nicht mehr als Muslime<br />

deklarieren. Statt<strong>des</strong>sen fand die Identifizierung als „Jugoslawe“ in die Volkszählung<br />

Eingang. 891.800 Bosnier wählten diese Bezeichnung, wovon die überwiegende<br />

Mehrheit dem islamischen Glauben anhing.<br />

Mitte der fünfziger Jahre verbesserte sich die Stellung der Religionen in Jugoslawien.<br />

So garantierte ein Gesetz von 1954 die Religionsfreiheit <strong>und</strong> unterstellte die Kirchen<br />

<strong>und</strong> Moscheen staatlicher Kontrolle. Der Islam erfüllte eine politische Funktion bei der<br />

jugoslawischen Außenpolitik im Rahmen der Blockfreienbewegung. So waren einige<br />

Muslime führende Diplomaten in arabischen Staaten <strong>und</strong> Indonesien. 198<br />

<strong>Die</strong> Stärkung der Muslime<br />

Am Anfang der sechziger Jahre bahnte sich ein Konflikt zwischen zwei Konzepten der<br />

jugoslawischen Staatsführung an. Auf der einen Seite stand der Serbe Aleksander<br />

Ranković, der sich für einen zentralistischen Staat <strong>und</strong> einen „integralen<br />

Jugoslawismus“ stark machte. Dem stand Edvard Kardelj gegenüber, der die Wirtschaft<br />

modernisieren <strong>und</strong> den Staat dezentralisieren wollte. Der Slowene Kardelj strebte eine<br />

Politik an, die allen Nationen gleiche Rechte zuspricht. Weiterhin war er Architekt der<br />

sozialistischen Selbstverwaltung (vgl. Kapitel 3.3.1.) <strong>und</strong> hoffte durch wirtschaftlichen<br />

Fortschritt Nationalitätenkonflikte zu lösen. 199 Beide Politiker gehörten seit dem <strong>2.</strong><br />

Weltkrieg zum engen Kreis um Tito. Erst mit dem Ausschluß Aleksander Ranković's<br />

aus dem Zentralkomitee der Partei 1966 konnte sich die liberale Linie durchsetzten.<br />

Zugleich änderte sich die Lage für die einzelnen Nationen in <strong>Bosnien</strong>. Aleksander<br />

Ranković hatte eine repressive Politik im Kosovo, aber auch in <strong>Bosnien</strong> verfolgt. Sie<br />

richtete sich in erster Linie gegen die nicht-serbische Bevölkerung. Zugleich hoffte er<br />

auf die Schaffung einer jugoslawischen Nation <strong>und</strong> glaubte in den Bosnischen<br />

Muslimen einen Kern dieser zukünftigen Nation zu finden. 200 Er vertrat zwar eine proserbischen<br />

Linie, lehnte jedoch großserbische Strömungen ab. <strong>Die</strong> Geheimpolizei, die<br />

197<br />

198<br />

199<br />

200<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 150 f.<br />

Malcolm, Bosnia, 195-198.<br />

Siehe Carole Rogel, Edvard Kardelj's Nationality Theory and Yugoslav Socialism, in: Canadian<br />

Review of Studies in Nationalism, Fall 1985, Nr. 2, Jhrg. XII, 343-357.<br />

Sabrina P. Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 1962-1991 (Bloomington, Ind. 1992)<br />

7<strong>2.</strong><br />

63


unter seiner Kotrolle stand, ging radikal gegen Anhänger der Četnici <strong>und</strong> Draža<br />

Mihailović's vor. Ranković verkörpert die zentralistische Linie <strong>des</strong> serbischen<br />

Nationalismus, die sich in kommunistischen Zeiten gut ins System integrieren konnten.<br />

<strong>Die</strong> großserbische Linie hingegen wurde selbst von Zentralisten nicht geduldet. Erst mit<br />

der Herrschaft Milošević verbanden sich beide Linie <strong>des</strong> serbischen Nationalismus<br />

wieder. 201<br />

Ab 1965/1966 setzte sich in Jugoslawien auf Betreiben Titos eine Föderalisierung<br />

durch. 202 <strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> ging einher mit einer Aufwertung der Muslime zur Nation.<br />

Schon vier Jahre vorher konnten sich die Muslime bei der Volkszählung als „Muslime<br />

im ethnischen Sinne“ deklarieren. <strong>Die</strong>s führte dazu, daß die zuvor hohe Zahl an<br />

„Jugoslawen“ stark absank. Trotzdem kamen 87 Prozent jener 275.883 „Jugoslawen“<br />

aus <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina. Von diesen waren wiederum 84 Prozent Muslime. Somit<br />

stellte gemäß der Volkszählung 1961 die muslimische Bevölkerung nach wie vor den<br />

bei weitem größten Anteil der „Jugoslawen“. 203<br />

Auch führt die bosnische Verfassung von 1963 die Muslime neben Serben <strong>und</strong> Kroaten<br />

auf. <strong>Die</strong>s impliziert eine Gleichstellung mit den anderen beiden Nationen. 204 Während<br />

zuvor die serbische Bevölkerung <strong>Bosnien</strong>s in der Republik die KP <strong>und</strong> die staatlichen<br />

Organe dominierte, wurden nach dieser Kursänderung Muslime in der Führung der<br />

Republik gefördert. Auch stiegen Muslime vermehrt in der Politik Gesamtjugoslawiens<br />

auf. So amtierte von 1971 bis zu seinem Tod 1977 der bosnische Muslim Džemal<br />

Bijedić als Premierminister. 205<br />

Im bosnischen Zentralkomitees der KP setzte sich 1968 die Aufwertung der<br />

muslimischen Bevölkerung zur Nation fort. Bereits 1965 war der Vorsitzende der<br />

kommunistischen Partei <strong>Bosnien</strong>s, der Serbe Djuro Pucar, zurückgetreten. In der<br />

Sitzung wurde festgestellt, daß die Muslime sich als eigene Nation erwiesen haben.<br />

<strong>Die</strong>se Feststellung wirkte sich auf die Volkszählung 1971 aus, in der sich die Muslime<br />

erstmals als „Muslime im nationalen Sinn“ erklären konnten. 206 Bei dieser<br />

Volkszählung wählten 1,7 Millionen Einwohner in ganz Jugoslawien diese Kategorie,<br />

womit die Muslime nach Serben <strong>und</strong> Kroaten die größte Nation in Jugoslawien waren.<br />

Weiterhin dürften sich viele Muslime nach wie vor als Jugoslawen deklariert haben, so<br />

daß die Gruppe der Muslime in Jugoslawien bzw. in <strong>Bosnien</strong> noch größer sein dürfte<br />

(für die Bevölkerungszahlen <strong>Bosnien</strong>s s. Tabelle 8). 207<br />

<strong>Die</strong> Aufwertung der muslimischen Bevölkerung ging jedoch nicht mit einer Aufwertung<br />

<strong>des</strong> Islam als Religion einher. <strong>Die</strong> „Nationalisierung“ kann als eine der Religion<br />

201<br />

202<br />

203<br />

204<br />

205<br />

206<br />

207<br />

Für eine detaillierte Beschreibung <strong>des</strong> Sturz von Ranković's <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Politk s. Slobodan<br />

Stankovic, Titos Erbe. <strong>Die</strong> Hypothek der alten Richtungskämpfe ideologischer <strong>und</strong> nationaler<br />

Fraktionen (=Untersuchungen zur Gegenwartsk<strong>und</strong>e Südosteuropa 18, München 1981) 111-130.<br />

Ivo Banac setzt den Wandel von Titos Politik zum Föderalismus auf 1962 an. s. Separating History<br />

from Myth, Interview with Ivo Banac, in: Rabia Ali, Lawrence Lifschultz (Hg.) Why Bosnia? (Stony<br />

Creek, Conn. 1993) 141.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 155.<br />

Viktor Meier, <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> seine Muslime als Sonderproblem <strong>des</strong> Vielvölkerstaates, in: Roland<br />

Schönfeld (Hg.) Nationalitätenprobleme in Südosteuropa (=Untersuchungen zur Gegenwartsk<strong>und</strong>e<br />

Südosteuropas 25, München 1987) 130.<br />

Banac, Bosnian Muslims, 144 f.<br />

Malcolm, Bosnia, 199.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 160.<br />

64


entgegengesetzte Bewegung gesehen werden. <strong>Die</strong>s erklärt sich durch die Träger der<br />

muslimischen Nationalbewegung in den Nachkriegsjahren. Sie waren Mitglieder <strong>und</strong><br />

Funktionäre der kommunistischen Partei <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb meist nicht religiös, bis hin zur<br />

Religionsfeindlichkeit. 208 Auch die geringe Religiosität der bosnischen Muslime<br />

während der Zwischenkriegszeit <strong>und</strong> davor gab den Funktionären der KP das Gefühl,<br />

eine Nationswerdung der Muslime von einer Stärkung der Rolle <strong>des</strong> Islams trennen zu<br />

können. <strong>Die</strong> bosnische Republikführung war dennoch Hauptgeldgeberin der islamischen<br />

Gemeinde (IVZ), die sie so unter ihrer Kontrolle behalten wollte. 209<br />

Das Ergebnis ist ein Paradox, da man durch die Aufwertung eine Nation geschaffen hat,<br />

die sich in erster Linie durch die Religion von den anderen Bevölkerungsgruppen in<br />

<strong>Bosnien</strong> unterscheidet. Zugleich war man bemüht der Religion selbst keine größere<br />

Rolle einzuräumen. Das Entstehen der muslimischen Nation in dieser Zeit erklärt sich in<br />

erster Linie aus dem Unwillen der Muslime sich als Serben oder Kroaten zu definieren.<br />

<strong>Die</strong> Alternative, sich als Jugoslawe zu erklären war nicht attraktiv, da diese Gruppe<br />

sowohl Kroaten wie auch Serben umfaßt <strong>und</strong> somit den Unterschied zu den beiden<br />

anderen Nationen nicht zum Ausdruck bringt. Zudem läßt sich kaum eine klare<br />

„jugoslawische“ Identität feststellen, mit der sich die Muslime hätten identifizieren<br />

können. Weiterhin stand der Islam, <strong>des</strong>sen Basis die Umma, die Gemeinschaft aller<br />

Muslime ist, dem Nationalismus feindlich gegenüber, da er als Spalter der muslimischen<br />

Einheit gesehen wird. <strong>Die</strong>ser Widerspruch zeigt sich später noch deutlicher mit dem<br />

Aufkommen der nationalen Parteien Ende der achtziger Jahre. <strong>Die</strong> Religion <strong>und</strong> die<br />

damit verb<strong>und</strong>ene Kultur war bei den bosnischen Muslimen ein derart integraler Teil der<br />

Identität, daß eine säkulare Definition der Muslime durch den B<strong>und</strong> der Kommunisten<br />

nicht möglich war. Wolfgang Höpken weist jedoch darauf hin, daß die Anerkennung<br />

eine Lernfähigkeit der KP im Vergleich zum 1. Jugoslawien belegt. 210<br />

Muslime Serben Kroaten Jugoslawen Gesamt<br />

1948 788.403 1.136.116 614.142 - <strong>2.</strong>563.764<br />

1953 - 1.264.372 654.229 891.800 <strong>2.</strong>847.459<br />

1961 84<strong>2.</strong>248 1.406.057 711.665 275.883 3.277.948<br />

1971 1.48<strong>2.</strong>430 1.393.148 77<strong>2.</strong>491 43.796 3.746.111<br />

1981 1.629.924 1.320.644 758.136 326.280 4.10<strong>2.</strong>783<br />

1991 1.905.829 1.369.258 755.892 239.845 4.364.574<br />

Tabelle 8: <strong>Die</strong> Volkszählungen in <strong>Bosnien</strong> zwischen 1948 <strong>und</strong> 1991 211<br />

Francine Friedman sieht vier Gründen aus denen der B<strong>und</strong> der Kommunisten die<br />

Muslime förderte:<br />

Erstens sollte hierdurch die nationale Argumentation (von Kroaten <strong>und</strong> Serben) von<br />

regional- <strong>und</strong> wirtschaftspolitischen Themen getrennt werden, da die Partei in <strong>Bosnien</strong><br />

208<br />

209<br />

210<br />

211<br />

Malcolm, Bosnia, 200 f.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 162 f.<br />

Wolfgang Höpken, <strong>Die</strong> jugoslawischen Kommunisten <strong>und</strong> die bosnischen Muslime, in: Andreas<br />

Kappeler, Gerhard Simon, Georg Brunner (Hg.) <strong>Die</strong> Muslime in der Sowjetunion <strong>und</strong> in<br />

Jugoslawien (=Nationalitäten- <strong>und</strong> Regionalprobleme in Osteuropa 3, Köln 1989) 195.<br />

<strong>Die</strong> Kategorie "Muslime" war 1948 als Muslime mit unbestimmter Nationszugehörigkeit definiert.<br />

Auch die Kategorie der "Jugoslawen" 1953 definierte sich als Jugoslawen unbestimmter<br />

Nationszugehörigkeit. aus: Friedman, The Bosnian Muslims, 155.<br />

65


eine Balance zwischen den verschiedenen Nationen finden mußte. Entsprechend stand<br />

der BdK <strong>Bosnien</strong>s nationalistischen Strömungen am ablehnendsten gegenüber.<br />

Zweitens war die Förderung der muslimischen Nation eine Reaktion auf die<br />

zunehmende Religiosität der Muslime sein. Der muslimische Nationalismus in <strong>Bosnien</strong><br />

sollte das Erstarken <strong>des</strong> Islam abwehren.<br />

Drittens brachte die Förderung der Muslime in <strong>Bosnien</strong> Jugoslawien außenpolitisches<br />

Kapital, insbesondere in der Bewegung der Blockfreien. Muslime dienten, wie erwähnt,<br />

in Botschaften in der arabischen Welt. Besucher aus muslimischen Ländern wurden<br />

nach <strong>Bosnien</strong> gebracht <strong>und</strong> trafen mit bosnischen Muslimen zusammen.<br />

Viertens sollte die Anerkennung der Muslime die jeweiligen Ansprüche von Serben <strong>und</strong><br />

Kroaten auf <strong>Bosnien</strong> entkräften. <strong>Die</strong> Ansprüche beider Nationalbewegungen auf<br />

<strong>Bosnien</strong> verstärkten die Spannungen. Eine Stärkung der Eigenständigkeit <strong>Bosnien</strong>s<br />

sollte eine Vereinnahmung durch Kroatien <strong>und</strong> Serbien entgegenwirken. 212 Im<br />

Vordergr<strong>und</strong> stand die Abwehr der serbischen <strong>und</strong> kroatischen Nationalismen <strong>und</strong> nicht<br />

die Förderung der Muslime an sich. <strong>Die</strong>ses Motiv deckt sich mit der Förderung der<br />

bosnischen Identität, <strong>des</strong> Bošnjaštvo, durch Kállay in der österreichisch-ungarischen<br />

Zeit. (s. Kapitel <strong>2.</strong><strong>2.</strong>1.)<br />

Der letzte Gr<strong>und</strong> erscheint am glaubhaftesten. Das zweite Argument der zunehmenden<br />

Religiösität der Muslime ist jedoch fragwürdig. Eine Stärkung <strong>des</strong> Glaubens in den<br />

sechziger Jahren unter den Muslimen nicht nachweisbar. Nach der Aufwertung der<br />

Muslime in <strong>Bosnien</strong> kam es zu einer weltweiten Renaissance <strong>des</strong> Islam. Durch die<br />

verstärkte Rolle der bosnischen Muslime konnte dieser Aufschwung der Religion<br />

leichter von den bosnischen Muslimen übernommen werden. Somit läßt sich ein<br />

umgekehrter kausaler Zusammenhang zwischen Religiosität <strong>und</strong> Stärkung der Muslime<br />

herstellen, als in Friedman beschreibt. 213<br />

Der „Kroatische Frühling“<br />

Das Ende der politischen Karriere von Aleksander Ranković bedeutete einen Auftakt<br />

zur Liberalisierung in ganz Jugoslawien. <strong>Die</strong>se ermöglichte ein verstärktes Auftreten<br />

von Nationalismen, insbesondere in Kroatien. Der kroatische Nationalismus findet<br />

seinen Ursprung bei Intellektuellen. Eine „Deklaration über die Benennung <strong>und</strong> Stellung<br />

der kroatischen Sprache“ wurde im März 1967 von 19 Kulturorganisationen <strong>und</strong> auch<br />

von dem bekannten kroatischen Schriftsteller Miroslav Krleža unterzeichnet. Sie<br />

provozierte eine Debatte über die angebliche Unterdrückung der kroatischen Sprache<br />

durch das Serbische. Eine Reaktion serbischer Intellektueller ließ nicht lange auf sich<br />

warten. 45 serbische Schriftsteller gestanden der kroatischen Sprache die<br />

Eigenständigkeit zu, forderten aber zugleich die Schaffung von serbischen Schulen in<br />

Kroatien für die dortigen Serben. Sie sollten dementsprechend nur in kyrillisch<br />

unterrichtet werden.<br />

Zunächst folgte der B<strong>und</strong> der Kommunisten <strong>und</strong> die Republiksführung Kroatiens unter<br />

der Führung von Mika Tripalo <strong>und</strong> Savka Dabčević-Kučar einer liberale Position, ohne<br />

den nationalen Forderungen der Intellektuellen nachzugeben. <strong>Die</strong> Deklaration wurde als<br />

„übereilt“ bezeichnet, nicht jedoch abgelehnt. 214 Erst später formierte sich eine<br />

Verbindung zwischen dem BdK Kroatien <strong>und</strong> der kroatischen Kulturorganisation<br />

212<br />

213<br />

214<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 164-168.<br />

Hierzu s. Meier, <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> seine Muslime als Sonderproblem <strong>des</strong> Vielvölkerstaates, 131.<br />

Stankovic, Titos Erbe, 154-159.<br />

66


Matica Hrvatska. Zuerst forderte die kroatische Partei lediglich, Jugoslawien in eine<br />

Konföderation zu verwandeln <strong>und</strong> die Partei zu föderalisieren. <strong>Die</strong>se Politik erfuhr noch<br />

die Unterstützung Sloweniens <strong>und</strong> Mazedoniens. <strong>Die</strong> liberale Linie schwenkte bereits<br />

1969 zu einer nationalistischen Politik über. <strong>Die</strong>se Zeit wird als der „Kroatische<br />

Frühling“, in Anlehnung an den „Prager Frühling“ 1968, bezeichnet. Bei dieser<br />

Bezeichnung werden die liberalen Motive der Bewegung überbewertet <strong>und</strong> die nationale<br />

Komponente vernachlässigt. <strong>Die</strong> Kritik Kroatiens konzentrierte sich auf vier zentrale<br />

Punkte: Erstens wurde die Dominanz serbischer Banken <strong>und</strong> Import-Export Firmen<br />

(insbesondere Genex) in der kroatischen Tourismusindustrie <strong>und</strong> der daraus folgende<br />

Profitabfluß nach Serbien kritisiert. Zweitens mißfiel der kroatischen Führung die<br />

Immigration von Serben nach Kroatien. Drittens beschuldigten Kroatien Serbien, eine<br />

Loslösung Dalmatiens von Kroatien zu betreiben. Schließlich sprach Kroatien den<br />

Vorwurf aus, daß die kroatische Sprache „serbisiert“ würde. 215<br />

<strong>Die</strong> politische Führung folgte dem Druck der Bevölkerung <strong>und</strong> der Matica Hrvatska.<br />

Letztere ist die bedeutendste kroatische Kulturorganisation. <strong>Die</strong> anderen Nationen<br />

Jugoslawiens, außer den Muslimen, besaßen auch vergleichbare Einrichtungen. 216 Zu<br />

Beginn der siebziger Jahre revitalisierte die Matica Hrvatska nationale Symbole <strong>und</strong><br />

arbeitete eine eigene kroatische Grammatik aus. Weiterhin reduzierte das kroatische<br />

Fernsehen die Ausstrahlung anderer jugoslawischer Sendungen. 217<br />

Muslime Kroaten Serben<br />

Anteil in % Bevölkerung BdK Bevölkerung BdK Bevölkerung BdK<br />

1971 39,6 28,3 20,6 11,1 37,2 55,2<br />

1981 39,7 35,5 18,5 12,3 32,2 44<br />

Tabelle 9: Vergleich zwischen dem Anteil der ationen im B<strong>und</strong> der Kommunisten <strong>und</strong> dem Anteil an der<br />

Gesamtbevölkerung <strong>Bosnien</strong>s 218<br />

Der „Kroatische Frühling“ sprang mit Beginn der siebziger Jahre nach <strong>Bosnien</strong> über.<br />

Zuerst expandierte die Matica Hrvatska nach <strong>Bosnien</strong>. Eine kroatische Zeitung<br />

analysierte 1971 die nationale Zusammensetzung der bosnischen Verwaltung (Banken,<br />

Medien, Verwaltung <strong>und</strong> BdK) <strong>und</strong> kam zu dem Ergebnis, daß die Kroaten<br />

unterrepräsentiert sind. <strong>Die</strong>se Behauptung ist, wie aus Tabelle 9 ersichtlich, wahr, doch<br />

auch die Muslime waren unterrepräsentiert. <strong>Die</strong>se Kritik sollte Forderungen nach einem<br />

Anschluß an Kroatien unterstreichen. Nur so könnten die Rechte der kroatischen<br />

Bevölkerung ausreichend gesichert werden. Durch diese expansionistische Rhetorik<br />

weckte Kroatien Ängste in den anderen Republiken <strong>und</strong> ermöglichte eine geschlossene<br />

Front gegen die kroatische Politik. Statt <strong>Bosnien</strong>s Integrität zu verteidigen, erhoben<br />

serbische Politiker daraufhin Gebietsforderungen an Ostbosnien. 219 Anfang 1971<br />

beschloß Tito schließlich, die Liberalisierung <strong>und</strong> Nationalisierung der Politik in<br />

215<br />

216<br />

217<br />

218<br />

219<br />

Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 92-101.<br />

<strong>Die</strong> serbische Kulturorganisation hieß Prosveta.<br />

Ebd., 108-121.<br />

Vor der Volkszählung 1971 läßt sich die genaue Anzahl der Muslime nicht bestimmen, da sie sich<br />

zwischen der Kategorie "Muslime <strong>und</strong> "Jugoslawen" aufteilte. <strong>Die</strong> prozentuelle Abnahme der<br />

kroatischen <strong>und</strong> serbischen Bevölkerung zwischen 1971 <strong>und</strong> 1981 läßt sich durch das starke<br />

Anwachsen der "Jugslawischen" Bevölkerung im gleichen Zeitraum erklären, Ebd., 125.<br />

Ebd. 108-128.<br />

67


Jugoslawien insgesamt <strong>und</strong> insbesondere in Kroatien, zu beenden. Im April 1971<br />

verurteilten die Vertreter <strong>des</strong> BdK <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> die „zunehmend<br />

nationalistisch-hegemonistischen Forderungen, daß <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina Serbien bzw.<br />

Kroatien angehören sollte, weil die Muslime Kroaten bzw. Serben sind.“ 220 Ende 1971<br />

mußte die kroatische Führung schließlich zurücktreten <strong>und</strong> es folgte eine<br />

Säuberungswelle, der nicht nur in Kroatien führende Liberale zum Opfer fielen. <strong>Die</strong><br />

Matica Hrvatska wurde vorübergehend geschlossen <strong>und</strong> etwa 10.000 Mitglieder <strong>des</strong><br />

B<strong>und</strong>es der Kommunisten wurden ausgeschlossen. 221 Das Ende <strong>des</strong> „Kroatischen<br />

Frühling“ verlief relativ friedlich. Trotzdem bestand die Gefahr einer gewaltsamen<br />

Konfrontation. Im Dezember 1971 kam es in Kroatien zu Studentenprotesten <strong>und</strong><br />

Streiks gegen die Säuberungswelle. <strong>Die</strong>se Proteste hätten möglicherweise größer <strong>und</strong><br />

erfolgreicher gewesen sein können, hätten sie einige Wochen später, in den<br />

Weihnachtsferien stattgef<strong>und</strong>en. Dann wären viele Gastarbeiter für die Ferien in<br />

Kroatien gewesen. Viele von ihnen unterstützten die Forderungen <strong>des</strong> „Kroatischen<br />

Frühlings“ <strong>und</strong> hätten sich wahrscheinlich an den beteiligt. Matica Hrvatska hatte in den<br />

vorangehenden Jahren über 30 Zweigstellen im Ausland, überwiegend in Deutschland,<br />

eröffnet. Hierdurch wurden Emigrantenorganisationen <strong>und</strong> Gastarbeiter in den neuen<br />

kroatischen Nationalismus eingeb<strong>und</strong>en. 222<br />

Nicht nur in Kroatien war das Ende <strong>des</strong> „Kroatischen Frühlings“ von Parteiausschlüssen<br />

begleitet, auch in <strong>Bosnien</strong> kam es zu Säuberungen. Sie richteten sich gegen<br />

„Unitaristen“ <strong>und</strong> Anhänger einer Teilung <strong>Bosnien</strong>s zwischen Kroatien <strong>und</strong> Serbien.<br />

1974 rechtfertigte der BdK die Parteiausschlüsse mit einer Bedrohung für die Muslime<br />

<strong>und</strong> die Integrität der Republik. Muslime blieben dementsprechend von den<br />

Säuberungen weitgehend verschont. 223<br />

Der „Kroatische Frühling“ beschleunigte die Identitätsbildung der bosnischen Muslime.<br />

<strong>Die</strong> Gebietsansprüche gegenüber <strong>Bosnien</strong> verdeutlichten den Muslimen den kroatischen<br />

(<strong>und</strong> auch serbischen) Druck auf die Republik. In Folge bauten die Muslime verstärkt<br />

eigene nationale Einrichtungen auf. Zuvor konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf<br />

die Stärkung der gesamten Republik <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina. 224<br />

<strong>Die</strong> Föderalisierung Jugoslawiens<br />

Trotz der Unterdrückung <strong>des</strong> „Kroatischen Frühlings“ wurden viele Forderungen später<br />

durch Tito erfüllt. Mitte der siebziger Jahre wird die kommunistische Partei<br />

föderalisiert; 1974 erhält Jugoslawien weiterhin eine neue Verfassung. Obwohl die<br />

föderale Verfassung <strong>und</strong> einige zentrale Forderungen <strong>des</strong> „Kroatischen Frühling“<br />

erfüllte, blieb diese Zeit durch eine große Illiberalität auf der personellen Ebene geprägt.<br />

Viele Intellektuelle wurden aus der Partei ausgeschlossen oder ins innere Exil gedrängt.<br />

Statt ihnen gelangten politische Opportunisten in hohe Ämter: „...Tito's cultural<br />

revolution purged the League of Communists of all liberal and pragmatic reformers and<br />

gave precedence in all professions to opportunists and poorly educated followers of the<br />

220<br />

221<br />

222<br />

223<br />

224<br />

Stankovic, Titos Erbe, 178.<br />

Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 129 f.<br />

Singleton, A Short History of the Yugoslav Peoples, 258.<br />

Stankovic, Titos Erbe, 197 f.<br />

Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 186.<br />

68


official line.“ 225 Tito konnte bis zu seinem Tod im Mai 1980 als Schiedsrichter<br />

zwischen den Republiken <strong>und</strong> Nationen wirken. Durch das Fehlen einer zentralen<br />

Persönlichkeit nach ihm herrscht schon bald nach Tito's Tod Unklarheit über die Ziele<br />

der Politik. <strong>Die</strong> Phase leitete <strong>des</strong> Ende Jugoslawiens ein.<br />

<strong>2.</strong>4.<strong>2.</strong> Der unabhängige Libanon<br />

<strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> unabhängigen Libanon wurde von zwei Gegensätzen bestimmt.<br />

Auf der einen Seite stand die arabische Identität <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen muslimische<br />

Bevölkerung <strong>und</strong> auf der anderen Seite lag die christliche Bevölkerung mit ihrer<br />

Orientierung nach Westen, insbesondere hin zu Frankreich. <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>linien der Politik<br />

<strong>des</strong> Libanons beruhten dementsprechend auf drei Säulen: Der Erhaltung der<br />

Souveränität, 226 den guten Beziehungen mit anderen arabischen Ländern <strong>und</strong> enge<br />

fre<strong>und</strong>schaftliche <strong>und</strong> kulturelle Verbindungen mit dem Westen. 227 Da sich in der<br />

französischen Mandatszeit lokale Eliten etabliert hatten, deren Erfolg von dem<br />

Fortbestand <strong>des</strong> Staates abhing, nahm die anti-libanesische Strömung in den ersten<br />

Nachkriegsjahren ab. Erst mit der Machtübernahme Nassers in Ägypten bildete sich eine<br />

neue panarabische Politikergeneration, die das Aufgehen <strong>des</strong> Libanons in einem<br />

größeren, meist sozialistisch geprägtem, arabischen Staat propagierten. 228<br />

Das außenpolitische Umfeld<br />

<strong>Die</strong> innere <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon ist stark von den <strong>Entwicklung</strong>en in Israel geprägt.<br />

Seit der Unabhängigkeit <strong>des</strong> Libanon bestimmt der Israelkonflikt das Umfeld <strong>des</strong><br />

Staates. So stimmte der Libanon, wie die anderen arabischen Länder auch, 1948 gegen<br />

den Teilungsplan für Palästina <strong>und</strong> schickte 5.000 Soldaten in den folgenden 1.<br />

Arabisch-Israelischen Krieg. Das Engagement im Krieg war jedoch sehr viel geringer<br />

als das der anderen arabischen Nachbarländer Israels. <strong>Die</strong> Waffenstillstandslinie von<br />

1949 legt die Grenze zwischen dem Libanon <strong>und</strong> Israel fest. Der Konflikt mit Israel<br />

bestimmte auch die Beziehungen zu den Großmächten. So verschlechterten sich die<br />

Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten <strong>und</strong> Libanon. Philip Hitti beschreibt<br />

sehr prägnant die Bestürzung der arabischen Welt über die zunehmende amerkianische<br />

Unterstützung Israels: „In all these lands [arabische Länder], where the mental picture of<br />

an American had been that of an idealistic, altruistic Christian gentleman in his best<br />

S<strong>und</strong>ay clothes and manners, the feeling of disappointment took the form of a shock<br />

from which the people have not yet [1962] recovered.“ 229<br />

Libanon trat 1949 einem kollektiven Sicherheitsbündnis bei, das aus Ägypten, Syrien,<br />

Saudi-Arabien <strong>und</strong> Jemen bestand. <strong>Die</strong> Niederlage im Krieg gegen Israel <strong>und</strong> die<br />

Staatsstreiche gegen die Monarchen in Ägypten <strong>und</strong> Syrien nur wenige Jahre später<br />

machten dieses Bündnis obsolet.<br />

225<br />

226<br />

227<br />

228<br />

229<br />

Vojin Dimitrijević, The 1974 Constitution as a Factor in the Collapse of Yugoslavia or as a Sign of<br />

Decaying Totalitarianism (= EUI Working Papers RSC 94/9, Florenz 1994) 10 f.,33.<br />

Während die Soveränität im westlichen Staatsbegriff fast automatisch Teil einer jeden Politk ist,<br />

bestehen aufgr<strong>und</strong> <strong>des</strong> Islam <strong>und</strong> der arabischen Bevölkerung in vielen Ländern stets Bestrebungen<br />

gegen den Staat <strong>und</strong> für eine größere Einheit (Panarabismus <strong>und</strong> Panislamismus).<br />

Hitti, Lebanon in History, 497 f.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 25.<br />

Hitti, Lebanon in History, 499.<br />

69


<strong>Die</strong> Beziehungen zu Syrien blieben lange Zeit gespannt. Während <strong>des</strong> französischen<br />

Mandats wurden einige Bereiche der Wirtschaftspolitik gemeinsam verwaltet. 230 In<br />

dieser Zeit wollte Syrien hohe Zölle einführen, der Libanon hingegen vertrat eine freie<br />

Handelspolitik. Dadurch gerieten beide Staaten in Konflikt. Infolge<strong>des</strong>sen lehnte Syrien<br />

nach Ende der französischen Mandatsherrschaft die Fortsetzung der gemeinsame<br />

Verwaltung ab <strong>und</strong> schloß in den fünfziger <strong>und</strong> sechziger Jahren oftmals die Grenze<br />

oder verhängte ein Wirtschaftsembargo. 231 Lange Zeit wurde von Syrien die<br />

Unabhängigkeit <strong>des</strong> Libanons zwar offiziell, jedoch nicht de facto anerkannt, wie es sich<br />

im Verlauf <strong>des</strong> libanesischen Bürgerkrieges öfters zeigte. Bis in die Gegenwart<br />

unterhalten der Libanon <strong>und</strong> Syrien keine diplomatischen Beziehungen, somit gibt keine<br />

Botschaften in dem jeweils anderen Land. 232<br />

<strong>Die</strong> Konsolidierung <strong>des</strong> Staates<br />

Bishara al-Khuri, der noch unter französischer Herrschaft sein Amt als Präsident antrat,<br />

wurde 1948 für weitere 6 Jahre gewählt. Doch schon bald stieß sein von Korruption,<br />

Willkür <strong>und</strong> Privilegienwirtschaft geprägter Regierungsstil auf Kritik. Nachdem die<br />

Parti Populaire Syrien (PPS) seinen Hauptverbündeten, Ministerpräsident Riad as-Solh,<br />

im Sommer 1951 ermordet hatte, kam es zu einer politischen Krise, von der sich al-<br />

Khuri nicht mehr erholte. Zwei Jahre vor dem Auslaufen der Amtszeit, am 18.<br />

September 1952 mußte er schließlich zurücktreten. 233 Obwohl diese Machtübergabe<br />

nicht spannungsfrei ablief, kam es zu keinen Auseinandersetzungen. Auf Al-Khuri<br />

folgte der pro-westliche Camille Chamoun als Präsident. <strong>Die</strong>ser friedliche<br />

Regierungswechsel stellte damals in der arabischen Welt eine Neuheit dar, die auch<br />

heute noch Seltenheitswert hat.<br />

Der neue Präsident erwies sich jedoch nicht als viel erfolgreicher als sein Vorgänger.<br />

Reformen der Verwaltung <strong>und</strong> <strong>des</strong> Wahlrechts wurden aufgeschoben. Auch kam er mit<br />

dem zunehmenden arabischen Nationalismus in Konflikt, der insbesondere seit der<br />

Machtübernahme Gamal Abdel Nasser 1953 in Ägypten stärker wurde. 234<br />

Das Parlament führte 1952 das passive <strong>und</strong> aktive Frauenwahlrecht ein 235 <strong>und</strong> versuchte<br />

erfolglos, den konfessionellen Schlüssel <strong>des</strong> Wahlrechts abzuschaffen. Genaue Zahlen<br />

über die konfessionelle Verteilung lagen bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor.<br />

<strong>Die</strong> letzte Volkszählung fand 1932 statt. Aus politischen Gründen wurde bis heute keine<br />

weitere durchgeführt. Insbesondere die Maroniten befürchteten einen Machtverlust,<br />

wenn neue Zahlen bekannt würden, so daß nur noch unzuverlässige „Schätzungen“<br />

stattfanden. Entsprechend ist auch die Gesamtzahl der Bevölkerung seit 1932 stets nur<br />

eine Schätzung. Bereits die Zählung 1932 war von Frankreich manipuliert wurden, so<br />

daß sie als Basis für spätere Schätzungen kaum zuverlässig ist (s. Tabelle 10). 236 <strong>Die</strong><br />

konfessionelle Gliederung <strong>des</strong> Parlamentes wurde 1959 formal auf die Verwaltung<br />

230<br />

231<br />

232<br />

233<br />

234<br />

235<br />

236<br />

Zölle, Grenzkontrollen, Tabakmonopol <strong>und</strong> Firmenkonzession für Unternehmen, die in beiden<br />

Ländern aktiv sind.<br />

Hitti, Lebanon in History, 500.<br />

Kuderna, Libanon, 235.<br />

Helena Cobban, The making of modern Lebanon (London 1985) 83.<br />

Hitti, Lebanon in History, 506-508<br />

Zugleich mußten Frauen, im Unterschied zu Männern, die Elementarbildung abgeschlossen haben,<br />

um wählen zu dürfen, s. Ansawi, Libanon, 21 f.<br />

Kuderna, Libanon, 236.<br />

70


übertragen. Bereits zuvor wurden Posten informell nach dem gleichen Prinzip verteilt,<br />

wobei Maroniten <strong>und</strong> Sunniten bis zum Ausbruch <strong>des</strong> Bürgerkrieges bevorzugt blieben.<br />

So waren 1955 40 Prozent der Beamten Maroniten, 27 Prozent Sunniten <strong>und</strong> nur 3,6<br />

Prozent Schiiten. 237<br />

237<br />

Gordon, The Republic of Lebanon, 83.<br />

71


Christen<br />

Muslime<br />

Maroniten 423.000 30,0 % Sunniten 286.000 20,3 %<br />

griechischorthodox<br />

griechischkatholisch<br />

149.000 10,6 % Schiiten 250.000 17,7 %<br />

91.000 6,5 % Drusen 88.000 6,2 %<br />

Andere 238 12<strong>2.</strong>000 8,7 % Insgesamt 1.409.000 100 %<br />

Tabelle 10: <strong>Die</strong> letzte offizielle Schätzung der Bevölkerung 1956 239<br />

Das Wahlrecht (vgl. Kapitel 3.1.<strong>2.</strong>) verhinderte den Aufstieg von neuen Politikern.<br />

Somit blieb das Parlament hinter der gesellschaftlichen <strong>Entwicklung</strong> zurück <strong>und</strong> schloß<br />

neue politische Strömungen aus dem System aus. <strong>Die</strong>se entwickelten sich in Folge<br />

außerhalb <strong>des</strong> politischen Establishment. Zu ihnen zählte die muslimische Bevölkerung,<br />

die sich durch das System nur unzureichend repräsentiert sah, linke Gruppen, die sich<br />

gegen das konfessionelle System wandten <strong>und</strong> ausländische Mächte, insbesondere die<br />

Sowjetunion, Syrien <strong>und</strong> Ägypten, die sich aus verschiedenen Gründen am Libanon<br />

interessierten.<br />

Gegen Ende der fünfziger Jahre gewann diese außerparlamentarische Opposition an<br />

Bedeutung. <strong>Die</strong> Bedrohung <strong>des</strong> Systems wurde erstmals beim Bürgerkrieg 1958<br />

deutlich. 240<br />

Der 1. Bürgerkrieg 1958<br />

Der größte Gegner Chamouns war Kamal Jumblat, der die Wahl Chamouns (gegen<br />

Bishara al-Khuri) zwar zunächst unterstützte, sich dann jedoch gegen ihn wandte.<br />

Chamoun versuchte Jumblat zu entmachten, da beide aus der gleichen Region (Chouf)<br />

stammten <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb regionale Konkurrenten waren. So förderte er Drusen, der<br />

anderen “Fraktion“ innerhalb der Konfession (vgl. Kapitel 3.4.<strong>2.</strong>) <strong>und</strong> regierte mit<br />

Sunniten, die nicht der politischen Elite entstammten. Chamoun versucht seine<br />

innenpolitischen Gegner durch Manipulationen der Wahl 1957 auszuschalten. So verlor<br />

Jumblat <strong>und</strong> andere wichtige muslimische Politiker ihren Sitz im Parlament. 241<br />

Rabinovich bezeichnet den Erfolg dieser Manipulation als einen „Pyrrhussieg“, da die<br />

Opposition nun außerparlamentarisch gegen Chamoun agierte. <strong>Die</strong> Spannungen spitzten<br />

sich zu, als Chamoun trotz Kritik den prowestlichen Ministerpräsidenten al-Sulh im<br />

Amt behielt <strong>und</strong> eine zweite Amtszeit anstrebte <strong>und</strong> somit die Gr<strong>und</strong>sätze <strong>des</strong><br />

staatlichen Konsens in Frage stellte. 242<br />

<strong>Die</strong> Bedrohung verstärkte sich, als Syrien <strong>und</strong> Ägypten sich 1958 zur Vereinten<br />

Arabischen Republik zusammenschlossen. Präsident Chamoun, nahm wohl auch als<br />

Reaktion darauf, die von den USA im Rahmen der „Eisenhower-Doktrin“ angebotene<br />

Unterstützung in der Höhe von 20 Millionen Dollar als einziges arabisches Land an. <strong>Die</strong><br />

238<br />

239<br />

240<br />

241<br />

242<br />

Andere sind neben Juden auch kleinere christliche <strong>und</strong> muslimische Gruppen.<br />

Marcel Pott, Renate Schimkoreit-Pott, Beirut. Zwischen Kreuz <strong>und</strong> Koran (Braunschweig 1985)<br />

34<strong>2.</strong><br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 26 f.<br />

Cobban, The making of modern Lebanon , 84 f.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 27 f.<br />

72


„Eisenhower-Doktrin“ bot jedem Staat im Nahen Osten Hilfe an, der durch Aggression<br />

<strong>des</strong> „internationalen Kommunismus“ bedroht wurde. 243<br />

Nach dem Mord an einem maronitischen Journalisten, der dem Präsidenten kritisch<br />

gegenüberstand, brachen in Tripoli, Sidon <strong>und</strong> im Chouf-Gebirge Unruhen aus. <strong>Die</strong>ser<br />

Aufstand ging von der nun außerparlamentarischen Opposition <strong>und</strong> auch von<br />

ehemaligen Ministern <strong>und</strong> Abgeordneten aus, die sich durch den Klientelismus <strong>des</strong><br />

Präsidenten benachteiligt fühlten. <strong>Die</strong>se Allianz von traditioneller muslimischer Elite<br />

mit neuen panarabischen Kräften stellte eine besonders große Bedrohung für den<br />

Präsidenten dar. Durch den kurzen Bürgerkrieg starben <strong>2.</strong>000 bis 4.000 Menschen. Das<br />

öffentliche Leben im Libanon war gelähmt. Im Juli 1958 betrieb die Vereinte Arabische<br />

Republik (Syrien <strong>und</strong> Ägypten) einen Putsch im Irak. <strong>Die</strong>ser führte zu einem<br />

Hilfsgesuch von Chamoun an den amerikanischen Präsidenten Eisenhower, da er eine<br />

gewaltsame Machtübernahme nun auch im Libanon befürchtete. <strong>Die</strong> Vereinigten<br />

Staaten schickten daraufhin 10.000 Marines in den Libanon. Sie griffen jedoch nicht in<br />

den Konflikt ein, als sie erkannten, wie wenig Rückhalt Chamoun besaß. So sah<br />

Präsident Eisenhower die Sinnlosigkeit eines Eingriffs ein: „I felt we were backing up a<br />

government with so little popular support that we probably should not be there.“ 244<br />

Auch die libanesische Armee erklärte sich für neutral. Da der Präsident von keiner Seite<br />

Unterstützung erhielt <strong>und</strong> zugleich seine reguläre Amtszeit auslief, blieb ihm nur der<br />

Rücktritt. <strong>Die</strong>s entschärfte die Lage.<br />

Der kurze Bürgerkrieg zeigte Muslimen <strong>und</strong> Christen das fragile Gleichgewicht <strong>des</strong><br />

libanesischen Systems. Politik, die sich von dem Konsens zu weit entfernt, führte<br />

unweigerlich zum Krieg. <strong>Die</strong>se Krise zeigte jedoch nicht nur die Zerbrechlichkeit<br />

sondern auch die Fähigkeit zum Ausgleich. <strong>Die</strong> Jahre nach 1958 brachten ein Mäßigung<br />

beider Seiten mit sich. 245 Der Bürgerkrieg verdeutlichte drei Bruchlinien in der Politik.<br />

Der vorrangige Konflikt bestand zwischen „Nasseristen“ <strong>und</strong> Vertretern eine prowestlichen<br />

Politik. Auf der zweiten Ebene fand eine Auseinandersetzung zwischen<br />

Christen <strong>und</strong> Muslimen statt. Der dritte Gegensatz war zwischen einer alten Elite <strong>und</strong><br />

einer neuen, radikaleren Gruppe von Politikern. Alle drei Ebenen spielen beim<br />

Ausbruch <strong>des</strong> Bürgerkrieges 1976 erneut die wichtigste Rolle.<br />

Der Shihabismus<br />

Der Armeechef Fu'uad Shihab (1958-1964) wurde der Nachfolger von Chamoun. Er<br />

bemühte sich darum, die gut organisierte maronitische Kata'ib Partei einzubinden. Auch<br />

mit der muslimischen Opposition pflegte er Kontakte, um die Gefahr eines neuen<br />

Bürgerkrieges abzuwenden. 246 <strong>Die</strong> Stärke der Präsidentschaft von Shihab lag, neben<br />

seinem guten Ruf wegen seiner Unparteilichkeit im Bürgerkrieg 1958, in der<br />

einflußreichen Stellung seiner Familie <strong>und</strong> dem Rückhalt in der Armee. Shihab konnte<br />

sich somit als Retter <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> präsentieren.<br />

Shihab setzte den wirtschaftsliberalen Kurs fort, versuchte jedoch zugleich<br />

benachteiligte Regionen fördern <strong>und</strong> die Sozialpolitik zu stärken. Doch auch Shihab<br />

gelang es nicht, eine umfassende Reform durchzusetzen. Er konnte jedoch den<br />

243<br />

244<br />

245<br />

246<br />

Stephen E. Ambrose, Rise to Globalism. American Foreign Policy since 1938 (New York 1988)<br />

164.<br />

Ebd., 165.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 29.<br />

Gordon, The Republic of Lebanon, 26-28.<br />

73


Staatsapparat stärken <strong>und</strong> manche großen Ungerechtigkeiten ausgleichen. Zugleich<br />

baute er das Deuxième Bureau, die militärische Geheimpolizei, auf. Nach dem Ende<br />

seiner Amtszeit wurde deutlich, daß die Stärkung <strong>des</strong> Staates nur vorübergehend war.<br />

Der schwache Präsident Charles Hélou (1964-1970) stand unter dem Einfluß Shihab's,<br />

der versuchte durch seinen Nachfolger weiter die Politik zu bestimmen. Da Hélou<br />

jedoch eine klare Mehrheit im Parlament fehlte, wurden Reformen <strong>des</strong> politischen<br />

Systems weiter aufgehalten. Seine Amtszeit wurde zudem von innen- <strong>und</strong><br />

außenpolitischen Krisen geprägt. So brach 1966 die Intra-Bank zusammen (vgl. Kapitel<br />

3.3.<strong>2.</strong>) <strong>und</strong> im folgende Jahr folgte die katastrophale Niederlage der arabischen Länder<br />

im Krieg gegen Israel. Obwohl der Libanon am Krieg nicht beteiligt war schwächte der<br />

Sieg Israels die panarabischen Bewegungen <strong>und</strong> das Selbstvertrauen der arabischen<br />

Welt. Für den Libanon bedeutete der Sechs-Tage-Krieg in erster Linie eine weitere<br />

palästinensische Flüchtlingswelle. 247<br />

<strong>Die</strong> Palästinenser im Libanon<br />

Seit dem 1. Arabisch-Israelischen Krieg 1948 lebten zwischen 75.000 <strong>und</strong> 200.000<br />

Palästinenser im Libanon. Etwa 20 Prozent von ihnen (meist Christen) wurden in die<br />

Gesellschaft integriert <strong>und</strong> erhielten teils auch die libanesische Staatsbürgerschaft. Viele<br />

von ihnen waren Maroniten <strong>und</strong> andere Christen, die erst nach Ende <strong>des</strong> 1. Weltkrieges<br />

vom Libanon nach Palästinas ausgewandert sind. <strong>Die</strong> Mehrheit der Palästinenser mußte<br />

jedoch in Flüchtlingslagern bleiben. <strong>Die</strong> Lager sollten sicher stellen, daß die Flüchtlinge<br />

möglichst bald nach Palästina zurückkehren. <strong>Die</strong> Palästinenser aus den Lagern wurden<br />

nicht in die Gesellschaft integriert, um Druck auf Israel aufrecht erhalten. Weiterhin<br />

befürchtete die christliche politische Elite bei der Integration der mehrheitlich<br />

muslimischen Palästinenser die Vorherrschaft zu verlieren. 248 Bis zum Ende der<br />

sechziger Jahre wurden die Palästinenser im Libanon in erster Linie als<br />

Flüchtlingsproblem betrachtet. Sie dominierte bereits zuvor die außerparlamentarische<br />

Opposition. Da ihnen libanesische Verbündete fehlten wurde die palästinensische<br />

Ablehnung <strong>des</strong> politischen Systems <strong>des</strong> Libanon kaum wahrgenommen. 249<br />

Ab 1965 verstärkten sich die Konflikte zwischen libanesischen Christen <strong>und</strong><br />

Palästinensern. Neben den neuen Flüchtlingen nach dem Sechs-Tage-Krieges 1967 gab<br />

es zwei weitere Gründe: <strong>Die</strong> linken <strong>und</strong> überwiegend muslimischen Parteien unter<br />

Führung <strong>des</strong> Drusen Jumblat bildeten mit der PLO eine oppositionelle Allianz. <strong>Die</strong><br />

politische Führung der Palästinenser, die PLO mußten schließlich 1970 ihre Basis<br />

Jordanien verlassen.<br />

<strong>Die</strong> meisten palästinensischen Flüchtlinge kamen entweder von der Westbank oder aus<br />

Gaza, die in Folge <strong>des</strong> Krieges von 1967 Israel besetzt wurden. Je nach Schätzung<br />

wuchs die Zahl der Palästinenser im Libanon auf 200.000 bis 300.000 an. 65 % von<br />

ihnen lebten in Lagern. Somit blieben im Libanon fast 10 % der Bevölkerung<br />

ausgegrenzt <strong>und</strong> verarmten. 250<br />

<strong>Die</strong> palästinesischen Flüchtlinge <strong>und</strong> Widerstandsgruppen führten dazu, daß der<br />

Libanon in den Konflikt mit Israel hineingezogen wurde. Als Vergeltungsmaßnahme<br />

247<br />

248<br />

249<br />

250<br />

Rabbath, La Formation du Liban Politique et Constitutionnel, 573-575.<br />

Gordon, The Republic of Lebanon, 91; D. Th. Schiller, Der Bürgerkrieg im Libanon. Entstehung,<br />

Verlauf, Hintergründe (München 1979) 94-96.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 40.<br />

Schiller, Der Bürgerkrieg im Libanon, 96 f.<br />

74


gegen eine palästinensische Aktion gegen Israel zerstörten israelische Einheiten im<br />

Dezember 1968 alle Flugzeuge am Beiruter Flughafen. Israel brachte somit deutlich<br />

zum Ausdruck, daß es den Libanon für die Aktivitäten von Palästinensern<br />

verantwortlich hielt. <strong>Die</strong>ser Angriff führte zu einer ungewohnten einhelligen<br />

Verurteilung aller Konfessionen Israels. Studenten protestierten gegen die Angriffe <strong>und</strong><br />

forderten die Einführung der Wehrpflicht im Land. <strong>Die</strong>se allgemeine Sympathie für die<br />

Palästinenser hielt jedoch nicht lange an. Proteste <strong>und</strong> Ausschreitungen in Sidon von<br />

Palästinensern <strong>und</strong> sunnitischen Libanesen gegen die Passivität der Regierung im<br />

Angesicht der israelischen Bedrohung verdeutlichte der maronitischen Elite, daß ihre<br />

Vormacht durch die Palästinenser bedroht werden könnte. <strong>Die</strong> Reaktion der meisten<br />

maronitischen Parteien war jedoch nicht eine Stärkung <strong>des</strong> Staates, sondern die<br />

Aufrüstung der Parteimilizen. 251<br />

Eine Konferenz in Kairo 1969 unter Vermittlung <strong>des</strong> ägyptischen Präsidenten Nasser<br />

sollte die Beziehungen zwischen dem Libanon <strong>und</strong> der PLO regeln. Der Vertrag<br />

untersagte Palästinensern Waffen außerhalb der Lager zu tragen <strong>und</strong> von libanesischen<br />

Boden aus Israel zu bombardieren. Der Zugang nach Israel wurde auf bestimmte<br />

Grenzgebiete beschränkt. Zugleich mußte der Libanon die militärische Präsenz der PLO<br />

im Land anerkennen. Das Abkommen besiegelte einen Souveränitätsverlust der<br />

libanesischen Regierung. Ein bedenkliches Licht warf der Ratifizierungsprozeß <strong>des</strong><br />

Abkommens auf die libanesische Demokratie: Dem Parlament lag der Vertrag nicht vor,<br />

so daß es über einen unbekannten Text abstimmte. Trotz der Ablehnung der meisten<br />

maronitischen Politikern, verabschiedete das libanesische Parlament das Abkommen.<br />

<strong>Die</strong>s führte zu einer Verschärfung der konfessionellen Spannungen <strong>und</strong> trug reduzierte<br />

die Legitimität <strong>des</strong> Abkommens. Trotzdem wurden die palästinensischen Gruppen<br />

erstmals libanesischen Gesetzen unterworfen. 252 <strong>Die</strong>ses Abkommen kann als Versuch<br />

gewertet werden, Unvereinbares zu verbinden. Der Schutz der Autonomie der PLO <strong>und</strong><br />

die Sicherung libanesischer Souveränität schließen einander aus. Der Vertrag stellte<br />

somit nur ein Provisorium dar, daß die gr<strong>und</strong>legenden Konflikte zwischen dem Staat<br />

<strong>und</strong> der PLO nicht lösen konnte.<br />

Während der Amtszeit von Shihab <strong>und</strong> Hélou erfolgte eine enge Anlehnung an Ägypten<br />

(bzw. die Vereinigte Arabische Republik, VAR). So wurde der Botschafter der VAR im<br />

Libanon oft als der neue “Hochkommissar“ <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> bezeichnet. Trotzdem war die<br />

Zeit von einer Stärkung staatlicher Strukturen geprägt. 253 <strong>Die</strong> ägyptenfre<strong>und</strong>liche Politik<br />

<strong>und</strong> Spannungen den Palästinensern führten zu einer oppositionellen Allianz der<br />

maronitischen Parteien. Bei den Parlamentswahlen 1968 schlossen sich die Kata'ib, die<br />

National-Liberale Partei <strong>und</strong> der Nationale Block gegen Shihab zusammen <strong>und</strong><br />

bestimmten die politische Richtung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. <strong>Die</strong>se Koalition förderten die Wahl<br />

Sulaiman Franjiyya (1970-1976) zum Präsidenten zwei Jahre später. 254<br />

<strong>2.</strong>4.3. Zusammenfassung<br />

<strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>des</strong> Libanon <strong>und</strong> <strong>Bosnien</strong>s nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg ist von einer relativ<br />

langen friedlichen Phase gekennzeichnet. In <strong>Bosnien</strong> war die Stabilität nach 1945 das<br />

251<br />

252<br />

253<br />

254<br />

Rabbath, La Formation du Liban Politique et Constitutionnel, 576-579.<br />

Gordon, The Republic of Lebanon, 93. Für den Text <strong>des</strong> Abkommen von Kairo <strong>und</strong> den <strong>2.</strong> Vertrag<br />

mit der PLO vom Mai 1973 (Melkart Abkommen) s. Votzke, Der umstrittene Krieg im Libanon,<br />

229-238.<br />

Cobban, The making of modern Lebanon, 93 f.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 31.<br />

75


Ergebnis der kommunistischen Diktatur <strong>und</strong> der großen Leiden aller Nationen <strong>Bosnien</strong>s<br />

<strong>und</strong> Jugoslawiens. Der Libanon erlebte keine Katastrophe wie <strong>Bosnien</strong>. In der<br />

Zwischenkriegszeit <strong>und</strong> im <strong>2.</strong> Weltkrieg kam es im Libanon zwar zu Aufständen <strong>und</strong><br />

Unruhen, die jedoch in keinem Verhältnis zum Bürgerkrieg in Jugoslawien standen. <strong>Die</strong><br />

Stabilität <strong>des</strong> Libanon beruhte vor allem auf den im Nationalpakt gef<strong>und</strong>en Konsens <strong>und</strong><br />

der allgemein akzeptierten staatlichen Eigenständigkeit <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. Zugleich wurde das<br />

Land seit der Unabhängigkeit Kriegen <strong>und</strong> internen Krisen der Nachbarstaaten<br />

ausgeliefert, was die friedliche <strong>Entwicklung</strong> im Libanon noch erstaunlicher scheinen<br />

läßt.<br />

<strong>Die</strong> Stabilität nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg beruhte im Libanon <strong>und</strong> in Jugoslawien allgemein,<br />

insbesondere in <strong>Bosnien</strong>, auf einem fragilen Gleichgewicht. Der Nationalpakt im<br />

Libanon sicherte einen Ausgleich zwischen Sunniten <strong>und</strong> Maroniten, die jeweils den<br />

Anspruch erhoben alle Muslime bzw. Christen zu repräsentieren. <strong>Die</strong>ser Pakt<br />

bevorzugte die Maroniten, die aufgr<strong>und</strong> französischer Unterstützung ihre Vorherrschaft<br />

absichern konnten. Trotzdem stellte die garantierte Machtbeteiligung von Sunniten <strong>und</strong><br />

Schiiten ein Gleichgewicht her, das trotz fehlender Ausgewogenheit dreißig Jahre lang<br />

funktionierte. Im <strong>2.</strong> Jugoslawien schuf die kommunistische Partei ein ähnliches<br />

Gleichgewicht zwischen den Serben <strong>und</strong> den anderen Nationen. Während die<br />

Zwischenkriegszeit von einer serbischen Dominanz geprägt war, bemühte sich Tito <strong>und</strong><br />

die neue kommunistische Elite um einen Ausgleich zwischen den Nationen. <strong>Die</strong>s hatte<br />

Einfluß auf die Strukturierung der Republiken <strong>und</strong> trug zur Schaffung <strong>Bosnien</strong>s als<br />

eigenständige Republik bei. Nachdem <strong>Bosnien</strong> weder in der Zwischenkriegszeit, noch<br />

im faschistischen Kroatien bestand, war es nicht selbstverständlich, <strong>Bosnien</strong>-<br />

Herzegowina wiederherzustellen. Da der Krieg die größten Bruchlinien zwischen<br />

Kroaten <strong>und</strong> Serben aufzeigte, bemühte sich die KP darum, durch <strong>Bosnien</strong> einen<br />

„Puffer“ zwischen beiden Republiken zu schaffen. Zudem sollte die Eigenständigkeit<br />

<strong>Bosnien</strong>s Neid <strong>und</strong> territoriale Ansprüche von Serben <strong>und</strong> Kroaten gegeneinander<br />

aufheben. Innerhalb <strong>Bosnien</strong>s selber herrscht ein ähnliches Gleichgewicht vor. Trotz der<br />

formalen Ausgewogenheit der drei Nationen ist jedoch in Erinnerung zu rufen, daß in<br />

<strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong> anderen Republiken die serbische Bevölkerung, insbesondere in den ersten<br />

20 Jahren Jugoslawiens, überrepräsentiert waren.<br />

Weder im Libanon, noch in <strong>Bosnien</strong>, besaß die Balance ein stabiles F<strong>und</strong>ament. In<br />

<strong>Bosnien</strong> wurde dies durch das Verdrängen der Kriegsgeschichte <strong>und</strong> eine<br />

kommunistische Diktatur erreicht, die die nationale Frage für lange Zeit für „gelöst“<br />

hielt. 255 Im Libanon war zwar eine freie Diskussion über den Nationalpakt möglich, eine<br />

Neuverhandlung der Bedingungen dieses Gleichgewichts bedrohte jedoch, wie in<br />

Jugoslawien auch, den Bestand <strong>des</strong> Staates.<br />

Aus dem Versuch der Benachteiligten, das Gleichgewicht der Nationen bzw.<br />

Konfessionen neu zu bestimmen, entstanden im Rahmen <strong>des</strong> „kroatischen Frühling“<br />

1969-1971 <strong>und</strong> <strong>des</strong> 1. libanesischen Bürgerkrieges 1958 Staatskrisen, die nicht nur eine<br />

Bedrohung für die Kooperation der einzelnen Gruppen darstellten, sondern den Staat<br />

insgesamt gefährdeten.<br />

Bei beiden Krisen verbanden sich integrierte Vertreter <strong>des</strong> jeweiligen Systems (die<br />

kroatische KP in Jugoslawien <strong>und</strong> traditionelle muslimische Politiker im Libanon) mit<br />

255<br />

Der Partisanen-Mythos <strong>und</strong> die Darstellung <strong>des</strong> <strong>2.</strong> Weltkrieges nahm zwar einen breiten Raum in<br />

Jugoslawien seit 1945 ein, zu einer wirklich freien Diskussion über die Kriegsereignisse kam es<br />

jedoch erst seit Mitte der achtziger Jahre - unter nationalistischem Vorzeichen.<br />

76


adikaleren Politikern <strong>und</strong> Intellektuellen, die sich gegen das System richteten (Matica<br />

Hrvatska <strong>und</strong> kroatische Nationalisten in Jugoslawien <strong>und</strong> Nasseristen im Libanon).<br />

<strong>Die</strong>se Verbindung stellte eine besondere Bedrohung für die beiden Länder, dar, da die<br />

Neuordnung <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> auf zwei Ebenen vorangetrieben wurde: Innerhalb der<br />

Institutionen <strong>des</strong> politischen Systems <strong>und</strong> durch Druck von nicht-staatlicher Seite<br />

(Demonstrationen, Kulturinstitute <strong>und</strong> Medien).<br />

<strong>Die</strong>se Krise zeigen in beiden Staaten die Bruchlinien auf, die sich später im blutigen<br />

Krieg ausdrückten. Interessant ist eine Betrachtung der Akteure die zur Beendigung der<br />

Krise in Libanon 1958 <strong>und</strong> in Jugoslawien/<strong>Bosnien</strong> 1971 beigetragen haben. In<br />

Jugoslawien endete der „Kroatische Frühling“ mit einer Säuberungswelle in Partei <strong>und</strong><br />

Staat. Alle Akteure außerhalb <strong>des</strong> politischen Systems, wie Matica Hrvatska, wurden<br />

unterdrückt. <strong>Die</strong> Änderungsvorschläge <strong>und</strong> Kritik <strong>des</strong> neuen kroatischen Nationalismus<br />

wurden jedoch nicht leichtfertig ignoriert. <strong>Die</strong> Reformen von Staat <strong>und</strong> Partei Mitte der<br />

siebziger Jahre berücksichtigen die moderaten Positionen <strong>des</strong> „Kroatischen Frühlings“.<br />

Nicht berücksichtigt wurden jedoch die Rufe nach Demokratisierung <strong>und</strong> Öffnung <strong>des</strong><br />

politischen Systems. Im Libanon war die Oppositionsbewegung von 1958 personell<br />

erfolgreicher. Der Präsident trat zurück <strong>und</strong> die folgende politische <strong>Entwicklung</strong><br />

integrierte einige Politiker der Opposition in das politische System. Im Gegensatz zu<br />

Jugoslawien wurde der Staat weder reformiert, noch wurden die wesentlichen<br />

Forderungen der Oppositionellen erfüllt.<br />

Sowohl im Libanon, wie auch in Jugoslawien konnte die Konfrontation nur durch eine<br />

Person oder Institution beigelegt werden, die nicht für eine der beiden Konfliktparteien<br />

durch die Auseinandersetzung diskreditiert war. In Jugoslawien stand Tito über der<br />

kroatischen Kritik, so daß seine Unterdrückung <strong>des</strong> „Kroatischen Frühlings“ nicht als<br />

großserbische oder eine ähnliche Reaktion interpretiert wurde. Eine weitere Zuspitzung<br />

konnte so vermieden werden. Im Libanon blieb nur die schwache Armee <strong>und</strong> ihr<br />

Oberbefehlshaber an 1. Bürgerkrieg unbeteiligt. Sie waren somit die einzige für beide<br />

Konfliktparteien akzeptable Institutionen.<br />

<strong>Die</strong> im Libanon geprägte Formel von dem Bürgerkrieg ohne Sieger <strong>und</strong> Besiegte ließe<br />

sich auch für den „Kroatischen Frühling“ anwenden. <strong>Die</strong>s gilt zwar nicht auf<br />

personeller, wohl aber auf inhaltlicher Ebene. In beiden Ländern führte die<br />

Konfrontation nicht zu der nötigen Gr<strong>und</strong>satzdiskussion über die erwünschte<br />

Staatsform, so daß die Elite beider Länder eine weitere Auseinandersetzung um das<br />

politisches System nur aufschoben. Als dieses Thema erneut in Jugoslawien/<strong>Bosnien</strong><br />

<strong>und</strong> im Libanon auf der Tagesordnung stand, fehlten in beiden Ländern die<br />

ausgleichenden Elemente, die eine Konfrontation entschärfen konnten.<br />

<strong>2.</strong>5. <strong>Die</strong> Zeit vor dem Bürgerkrieg<br />

<strong>Die</strong> Zeit vor dem Bürgerkrieg läßt sich im Fall von <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> den<br />

Libanon nicht klar von der <strong>Entwicklung</strong> beider Länder nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg trennen.<br />

Mit dem Tod Titos 1980 <strong>und</strong> der Kairoer Konferenz zwischen Libanon <strong>und</strong> der PLO<br />

1969 beginnt in beiden Staaten jedoch eine Periode, in der die innerstaatlichen<br />

Spannungen zunahmen <strong>und</strong> ein Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher wurde. <strong>Die</strong>se<br />

Periode steht in Kapitel 3 im Vorgr<strong>und</strong>, <strong>des</strong>halb entfällt hier die Zusammenfassung.<br />

<strong>2.</strong>5.1. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina<br />

Mit dem Tod von Tito im Mai 1980 ging Jugoslawien der einzige „Schiedsrichter“<br />

zwischen den Republiken <strong>und</strong> Nationen verloren. Im Lauf der achtziger Jahre kommt<br />

der Gesamtstaat auf verschiedenen Ebenen zunehmend in eine Krise, die von den<br />

77


Politikern nicht mehr bewältigt werden konnten. Das oberste Organ <strong>des</strong> Staats ist seit<br />

1980 das Staatspräsidium mit einem jährlich wechselnden Präsidenten. Immer weniger<br />

Autorität geht jedoch von den Organen <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es aus <strong>und</strong> die Republiken führen am<br />

Ende <strong>des</strong> Jahrzehnts eine weitgehend eigenständige Politik (vgl. Kapitel 3.1.1.)<br />

<strong>Die</strong> Politik der Republiken Anfang der achtziger Jahre gliedert sich an zwei Achsen. <strong>Die</strong><br />

erste Achse bestimmt, ob die Republiken eine Konföderation bzw. eine Beibehaltung<br />

der föderalen Verfassung von 1974 anstreben oder eine Rezentralisierung verlangen. An<br />

der zweiten Achse gliedern sich die Republiken nach ihrer politischen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Zielen. <strong>Die</strong> eine Gruppe strebte eine Liberalisierung <strong>des</strong> Systems an,<br />

während eine zweite eine konservative Linie vertritt. Liberal Republiksparteien<br />

forderten eine Reform <strong>des</strong> Wirtschaftssystems <strong>und</strong> politische Diskussionen. <strong>Die</strong>se Art<br />

<strong>des</strong> Liberalismus ist jedoch nicht unbedingt mit Pluralismus <strong>und</strong> Demokratie<br />

gleichzusetzen.<br />

Serbien<br />

Liberal<br />

Vojvodina<br />

Slowenien<br />

Zentralistisch<br />

<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina Kroatien<br />

Montenegro<br />

Mazedonien<br />

Kosovo<br />

Konservativ<br />

Föderal<br />

Graphik 1: <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>positionen der Republiken <strong>und</strong> Provinzen Anfang der achtziger Jahre 256<br />

<strong>Bosnien</strong> strebte eine zentralistisches System an, da die Führung erneute Ansprüche auf<br />

bosnisches Gebiet von kroatischer oder serbischer Seite im Rahmen einer weiteren<br />

Föderalisierung befürchtete.<br />

<strong>Die</strong> Konföderalisierung in den siebziger Jahren hat zu einer neuen Politikergeneration in<br />

Jugoslawien geführt. Nach dem Tod der ersten Generation (meist ehemalige Partisanen,<br />

u.a. Kardelj 1979, Tito 1980, Ranković 1983) übernahmen Politiker die Macht in<br />

Jugoslawien, die ihre Machtbasis in erster Linie in einer jeweiligen Republik besaßen.<br />

Ohne Rückhalt in einer Republik ließ sich nach Titos Tod kaum noch Politik machen.<br />

Nicht zuletzt das Scheitern von Ante Marković als letzter jugoslawischer<br />

Premierminister ist hierfür ein Indiz. Während in den anderen Republiken somit eine<br />

zunehmend national orientierte Politik ermöglicht wurde, mußten in <strong>Bosnien</strong><br />

multinationale Koalitionen gebildet werden. 257<br />

<strong>Die</strong> Rolle der Muslime in den achtziger Jahren<br />

Der in sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren begonnene Prozeß der muslimischen<br />

Identitätsbildung setzte sich im Jahrzehnt nach Titos Tod fort. In <strong>Bosnien</strong> etablierte sich<br />

ein informelles Rekrutierungssystem der Elite nach einem nationalen Schlüssel.<br />

Hierdurch verringerte sich das serbische Übergewicht in der Verwaltung <strong>und</strong> Partei;<br />

1985 waren die Muslime in der Partei proportional zur Bevölkerung vertreten. Lediglich<br />

256<br />

257<br />

Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 217.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 188.<br />

78


in der Spitzenpositionen der Republik <strong>und</strong> <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es blieben Muslime<br />

unterrepräsentiert. Weiterhin blieben Kroaten <strong>und</strong> Muslime in der Polizei <strong>und</strong> Armee<br />

zugunsten der Serben unterrepräsentiert (vgl. Kapitel 3.1.1.).<br />

Neben dem muslimischen Nationalismus kommt verstärkt ein politisierter Islam zu<br />

Vorschein. <strong>Die</strong> politische Elite wehrte sich gegen die religiöse Wiedergeburt <strong>des</strong> Islam<br />

als politisches Konzept. Im Zentrum der staatlichen Bekämpfung eines politischen Islam<br />

sind die Prozesse 1983 zu sehen. 258 Zur gleichen Zeit fanden Gerichtsverfahren gegen<br />

serbische <strong>und</strong> kroatische Nationalisten in <strong>und</strong> außerhalb <strong>Bosnien</strong>s statt. Franjo Tudjman<br />

wurde wegen seiner nationalistischen Äußerungen zwei Jahre zuvor verurteilt.<br />

<strong>Die</strong>se Welle der Verurteilungen spiegelt den Versuch der politischen Elite wieder, die<br />

Liberalisierung nach dem Tod Titos unter Kontrolle zu bringen. Weiterhin zeigte sich<br />

das nationale Gleichgewicht auch in den Prozessen. Wenn ein muslimischer<br />

„Nationalist“ verurteilt wurde, muß auch ein serbischer Nationalist bestraft werden.<br />

Der serbische ationalismus<br />

Im Sinne <strong>des</strong> „Gleichgewichts“ zwischen den Nationen kam es 1984 zu einem Prozeß<br />

gegen einen serbischen Nationalisten. Der bosnische Serbe, Vojislav Šešelj, der damals<br />

an der Universität Sarajevo als Lektor tätig war, wurde beschuldigt gegen „die<br />

verfassungsmäßige Ordnung verstoßen <strong>und</strong> feindliche Propaganda“ verbreitet zu haben.<br />

Šešelj lehnte in einem Artikel, den er für die Parteizeitung Kommunist geschrieben<br />

hatte, die bisherige Nationalitätenpolitik ab <strong>und</strong> schlug eine Aufteilung <strong>Bosnien</strong>s<br />

zwischen Serbien <strong>und</strong> Kroatien vor. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Das harte<br />

Urteil wurde durch Druck von Amnesty International <strong>und</strong> die internationale<br />

Aufmerksamkeit in Folge der Olympischen Spiele in Sarajevo reduziert, so daß er im<br />

März 1986 freigelassen wurde. Später stieg Šešelj zum Vorsitz der Radikalen Partei<br />

Serbiens auf <strong>und</strong> gründete die Četnici neu, die während <strong>des</strong> Krieges in <strong>Bosnien</strong> <strong>und</strong><br />

Kroatien im Krieg einen Teil der grausamsten Kriegsverbrechen begingen. Zudem<br />

wurde seine Partei Koalitionspartner der Sozialistischen Partei Serbiens, so daß Šešelj<br />

1997 zum Vize-Premierminister Serbiens aufstieg. 259<br />

Ende der achtziger Jahre lockerte sich die strenge anti-nationale Politik in <strong>Bosnien</strong>.<br />

Nachdem der serbische Nationalismus de facto zur offiziellen Politik der<br />

Nachbarrepublik Serbien wurde (vgl. Kapitel 3.6.1), gestaltete es sich für <strong>Bosnien</strong><br />

schwierig, den serbischen Nationalismus in <strong>Bosnien</strong> aufzuhalten. In <strong>Bosnien</strong> diente die<br />

relativ hohe Geburtenrate der Muslime als Motiv, um Angst vor einer islamischen<br />

Repbulik zu schüren. So ging die Geburtenrate bei allen drei Nationen zwischen 1981<br />

<strong>und</strong> 1990 stark zurück, die Rate der Muslime blieb jedoch die Höchste. <strong>Die</strong> serbische<br />

Rate fiel von 7,7 auf 3,8 pro Tausend <strong>und</strong> die kroatische von 8,9 auf 7. <strong>Die</strong> muslimische<br />

Geburtenrate lag 1981 bei 14,8, während sie 1990 immer noch bei 11,3 lag. Neben der<br />

niedrigeren Geburtenrate wanderten auch mehr Kroaten <strong>und</strong> Serben in die jeweilige<br />

Republik ab. 260 Aus diesen Zahlen leiteten serbische Nationalisten eine islamische<br />

258<br />

259<br />

260<br />

<strong>Die</strong> Islamisten sind keine Nationalisten. Da sich ihre Vorstellung in <strong>Bosnien</strong> jedoch nur auf eine<br />

Nation in <strong>Bosnien</strong> beruft, sind sie mit Nationalisten zu vergleichen. s. Kapitel 6.4.1. Islam.<br />

Slobodan Inić, Vojislav Šešelj: A Demon Comes of Age, in Sonja Biserko, Seška Stanojlović<br />

(Hrsg.), Radicalisation of the Serbian Society. Collection of Documents (Belgrad 1997) 170-179.<br />

Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 124. <strong>Die</strong>se Tendenz läßt sich auch in den anderen<br />

Republiken Jugoslawiens feststellen. <strong>Die</strong> Migration in die jeweilige national Republik stand im<br />

Zusammenhang mit der zunehmenden Wahrnehmung nationaler Interessen der Republiken <strong>und</strong><br />

Provinzen.<br />

79


Bedrohung durch eine absolute Mehrheit Muslime in <strong>Bosnien</strong> ab. <strong>Die</strong> Nutzung der<br />

Geburtenrate bei den Muslimen als Mobilisierungsinstrument der Serben kommt bei<br />

einem Interview mit dem Vorstizenden der SDS, Radovan Karadžić, zum Ausdruck: „If<br />

they [die Muslime] did not want to live in Yugoslavia in which the Serbs totaled 40<br />

percent, why should we live in a Bosnia where [the Muslims] total 44 percent? In a<br />

while, they will be 50 percent and a Muslim state will emerge.“ 261 <strong>Die</strong>se Ängste wurden<br />

zunehmend von dem BdKS, später Sozialistischen Partei Serbiens, unter Sloban<br />

Milošević mobilisiert. Verb<strong>und</strong>en hiermit war die Angst der serbischen Bevölkerung<br />

vor einer kroatisch-muslimschen Koalition. <strong>Die</strong>ses Mißtrauen führte zu Aktivitäten der<br />

serbischen Geheimpolizei in <strong>Bosnien</strong> - ohne Wissen der Republiksführung - die 1989<br />

bekannt wurden. 262 In diesem Klima entstand die Serbische Demokratische Partei<br />

(SDS), die gezielt diese Ängste ansprach <strong>und</strong> einen Großteil der serbischen Stimmen bei<br />

der ersten Wahl 1990 auf sich vereinen konnte (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong>1.).<br />

Muslime Serben Kroaten Jugoslawen andere<br />

1981 39,5 32,0 18,4 5,3 3,0<br />

1991 43,7 31,4 17,3 4,0 3,7<br />

Tabelle 11: Ergebnisse der Volkszählung für <strong>Bosnien</strong> 1981 <strong>und</strong> 1991 263<br />

Krise <strong>und</strong> Ende <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es der Kommunisten<br />

Ein großer Skandal schwächte in den späten achtziger Jahren die Kommunistische<br />

Partei <strong>Bosnien</strong>s. Führende Politiker <strong>Bosnien</strong>s ließen sich Anfang der achtziger Jahre<br />

ihre Sommerhäuser in Neum, dem einzigen bosnisch-herzegowinischen Dorf an der<br />

Adria, bauen. <strong>Die</strong> Preise für die Gr<strong>und</strong>stücke lagen weit unter dem Marktwert <strong>und</strong> das<br />

Baumaterial für die Luxusvillen stammte oftmals von einem Hotelbau. Neum war noch<br />

in den siebziger Jahren ein kleines Dorf, dem mit dem Hotel- <strong>und</strong> Villenbau eine<br />

Infrastruktur errichtet wurde, die sogar an der touristischen Adriaküste eine Seltenheit<br />

darstellte. <strong>Die</strong> Modernisierung wurde aus B<strong>und</strong>esmitteln zur Förderung<br />

unterentwickelter Gebiete finanziert. Zum Bau der Villen erteilten Banken an die<br />

Funktionäre günstige Kredite, so daß die aufgr<strong>und</strong> der hohen Inflationsrate bald hinfällig<br />

waren.<br />

Im Februar 1988 versuchte die serbische Illustrierte Svet darüber zu berichten. <strong>Die</strong><br />

bereits ausgelieferte Nummer wurde jedoch wieder eingezogen. Bereits wenige Tage<br />

später wurde der Skandal in der kroatischen Zeitschrift Danas veröffentlicht. <strong>Die</strong> Folge<br />

war eine Säuberungswelle in der bosnischen Partei <strong>und</strong> Verwaltung. Neben anderen<br />

Politikern mußte auch Mato Andrić, der Präsident der Republik, sein Amt niederlegen.<br />

Der Rücktritt <strong>des</strong> jugoslawischen Premierministers Branko Mikulić war neben<br />

wirtschaftlichen Problemen auch das Ergebnis <strong>des</strong> Bauskandals von Neum. Insgesamt<br />

hatten 76 von 130 Mitgliedern <strong>des</strong> bosnischen ZK Villen in Neum. 264 <strong>Die</strong> Folgen dieses<br />

Skandals waren zweierlei: Erstens wurde die Partei <strong>und</strong> die Verwaltung geschwächt.<br />

Zweitens führte er zu einer Diskreditierung <strong>des</strong> B<strong>und</strong>es der Kommunisten in <strong>Bosnien</strong>. In<br />

261<br />

262<br />

263<br />

264<br />

Zitiert nach: Radovan Karadžić, Karadzic: 'I am a nationalist', in: Transition, 30.6.1995, Nr.11, Jhrg.<br />

1, 54.<br />

Friedman, The Bosnian Muslims, 19<strong>2.</strong><br />

Herbert Büschenfeld, Ergebnisse der Volkszählung 1991 in Jugoslawien, in: Osteuropa, Dezember<br />

1992, Jhrg. 42, 1100.<br />

Thomas Brey, <strong>Die</strong> Logik <strong>des</strong> Wahnsinns. Jugoslawien - von Tätern <strong>und</strong> Opfern<br />

(Freiburg/Basel/Wien 1993) S. 55 f.<br />

80


einer armen Republik, in der große Wohnungsnot bestand, stieß ein derartiger<br />

Mißbrauch auf wenig Verständnis. Der Vorwurf der reicheren Republiken, daß die von<br />

ihnen aufgebrachten Förderungen für unterentwickelte Gebiete verschwendet werden,<br />

erhielt durch den Bauskandal auftrieb. Im Skandal um Neum ist nicht zuletzt ein Gr<strong>und</strong><br />

zu sehen, warum die kommunistische Partei bei den Wahlen 1990, nur zwei Jahre<br />

später, das schlechteste Ergebnis in allen Republiken erlangte.<br />

Noch im März 1989 erklärte das Staatspräsidium, daß die Gründung von Parteien<br />

verfassungswidrig sei. Mit dem Verfall der Kommunistischen Partei nach dem<br />

abgebrochenen Parteikongreß im Januar 1990 war die Pluralisierung der politischen<br />

Landschaft nicht mehr aufzuhalten (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong>1). Das Parlament Jugoslawien<br />

beschloß <strong>des</strong>halb Anfang 1990 die Einführung eines Mehrparteiensystems. Statt der<br />

geplanten B<strong>und</strong>eswahlen im April 1990 kam es lediglich zu Wahlen in allen<br />

Republiken. <strong>Die</strong> Absage der B<strong>und</strong>eswahl ist Ausdruck der unterschiedlichen Interessen<br />

über die Zukunft <strong>des</strong> Staates <strong>und</strong> <strong>des</strong> dominanten Eiflusses der Republiken. 265<br />

Zuerst versuchte der B<strong>und</strong> der Kommunisten in <strong>Bosnien</strong> eine Parteienlandschaft nach<br />

nationalen Kriterien zu verhindern <strong>und</strong> untersagte die Bildung von nationale Parteien.<br />

Der Verfassungsgerichtshof hob jedoch vor den Wahlen das Verbot auf <strong>und</strong> ermöglichte<br />

somit das Entstehen der drei nationalen Parteien (SDA, SDA, HDZ). 266<br />

Am 18. November <strong>und</strong> <strong>2.</strong> Dezember 1990 fanden die ersten freien Wahlen in <strong>Bosnien</strong>-<br />

Herzegowina seit Ende der zwanziger Jahre statt. Sowohl die Wahl für die beiden<br />

Parlamentskammern, wie auch für das Präsidium (vgl. Kapitel 3.1.1.) konnten die drei<br />

nationalen Parteien überlegen gewinnen (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong>1.). So stimmten 86,5 % aller<br />

Muslime für die SDA, 84,6 % aller Serben für die SDS <strong>und</strong> 84 % der Kroaten für die<br />

HDZ. 267 Bürgerkammer Gemeindekammer<br />

Partei in % Sitze Sitze<br />

SDA 31,5 41 45<br />

SDS 26,1 34 38<br />

HDZ 16,0 20 24<br />

SKBiH-SDP 12,3 18 1<br />

SRSJ-BiH 8,9 12 1<br />

MBO 1,1 2 -<br />

andere Parteien 3,9 3 1<br />

insgesamt 100 130 110<br />

Tabelle 12: Ergebnis der Wahlen in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina 268<br />

265<br />

266<br />

267<br />

268<br />

Jens Reuter, Jugoslawien: Zerfall <strong>des</strong> B<strong>und</strong>esstaates. Systemwechsel <strong>und</strong> nationale<br />

Homogeniesierung in den Teilrepuliken, in: Magareta Mommsen (Hg.) Nationalismus in Osteuropa.<br />

Gefahrvolle Wege in die Demokratie (München 1992) 131.<br />

Lenard J. Cohen, Broken Bonds: The Disintegration of Yugoslavia (Boulder, Col. 1993) 143.<br />

Robert M. Hayden, Constitutional Nationalism and the Logic of the Wars in Yugoslavia, in:<br />

Problems of Post-Communism, September/October 1996, Nr. 5, Jhrg. 43, 31 f.<br />

John B. Allcock, Yugoslavia, in: Bogdan Szajkowski (Hg.) New Political Parties of Eastern Europe<br />

and the Soviet Union (Harlow 1991) 31<strong>2.</strong><br />

81


Bei einem Vergleich <strong>des</strong> Wahlergebnisses mit der Volkszählung fällt der enge<br />

Zusammenhang zwischen den Ergebnissen auf, so daß etliche Kommentatoren die<br />

Wahlen als aufwendige Volkszählung bezeichneten (vgl. 1. Wahlen im Jugoslawien der<br />

Zwischenkriegszeit, Kapitel <strong>2.</strong>3.1.). Der größte Unterschied findet sich zwischen<br />

„Jugoslawen“ in der Volkszählung <strong>und</strong> pro-jugoslawischen Parteien. Bei dem besseren<br />

Abschneiden der pro-jugoslawischen Parteien muß bedacht werden, daß die beiden<br />

Parteien der Kategorie, der B<strong>und</strong> der Kommunisten <strong>und</strong> der B<strong>und</strong> der Reformkräfte,<br />

neben der pro-jugoslawischen Orientierung ein wirtschaftliches <strong>und</strong> ideologisches<br />

Programm angeboten haben. Zugleich waren sie auch die einzigen größeren gesamtbosnischen<br />

Parteien. <strong>Die</strong>se Punkte erklären die sehr viel höheren Wahlergebnisse der<br />

beiden Parteien als die Zahl der „Jugoslawen“ in <strong>Bosnien</strong>. <strong>Die</strong> stärkste Korrelation bei<br />

den nationalen Parteien findet sich bei der HDZ. Unter den Muslimen gab es wiederum<br />

die verhältnismäßig niedrigste Unterstützung für die beiden nationalen Parteien (SDA,<br />

MBO).<br />

Unter den Abgeordneten (vgl. Tabelle 13) fällt auf, daß die Zahl der „Jugoslawen“<br />

genauso niedrig wie bei der Volkszählung lag. Ansonsten waren Serben <strong>und</strong> Kroaten im<br />

Parlament leicht überrepräsentiert.<br />

Das überragende Wahlergebnis für die nationalen Parteien war nicht das Ergebnis der<br />

nationalistischen Politik der Nachbarrepubliken Kroatien <strong>und</strong> Serbien, sondern auch ein<br />

sogenanntes „prisonners dilemma“. Aus Angst das die Angehörigen der anderen<br />

Nationen ihre nationale Parteien wählen, die deren Interessen stärker wahrnehmen,<br />

haben viele Bosnier für die jeweils eigene nationale Partei gestimmt.<br />

Muslime Serben Kroaten Jugoslawen bzw. andere<br />

Wahlen 32,6 26,1 16,0 21,2<br />

Abgeordnete 41,25 35,41 20,41 2,93<br />

Volkszählung 43,7 31,4 17,3 4,0<br />

Tabelle 13: Das Wahlergebnis 1990, die ationszugehörigkeit der Abgeordneten <strong>und</strong> die Volkszählung<br />

1991 im Vergleich 269<br />

<strong>Die</strong> drei Parteien hatten bereits vor den Wahlen beschlossen, im Falle eines Wahlsieges<br />

eine Koalition einzugehen. <strong>Die</strong> Zusammenarbeit beruhte auf einem Proporzsystem<br />

zwischen den Parteien <strong>und</strong> demzufolge auch zwischen den drei Nationen <strong>Bosnien</strong>s. Der<br />

Vorsitzende der SDA, Alija Izetbegović, wurde Vorsitzender <strong>des</strong> Staatspräsidiums. Ein<br />

Kroate, Jure Pelivan, wurde Premierminister <strong>und</strong> ein Serbe, Momčilo Krajišnik,<br />

übernahm das Amt <strong>des</strong> Parlamentspräsidenten. <strong>Die</strong>se Regelung ähnelt dem Nationalpakt<br />

im Libanon, wobei auffällt, daß die zweitgrößte Nation, die Serben, nur ein<br />

unbedeuten<strong>des</strong> Amt zugeteilt bekamen. <strong>Die</strong>s könnte auf zwei Ursachen zurückgehen.<br />

Erstens war die Zusammenarbeit zwischen der HDZ <strong>und</strong> der SDA enger als mit der<br />

SDS. So könnten sich beide Parteien gegenüber der serbischen Partei durchgesetzt<br />

haben. Zweitens läßt sich vermuten, daß die SDS bereits zu diesem Zeitpunkt kein<br />

einheitliches <strong>Bosnien</strong> mehr anstrebte <strong>und</strong> sich <strong>des</strong>halb nicht für ein hohes Amt in der<br />

Republik einsetzte. Insgesamt wurden die wichtigsten Posten von Muslimen<br />

kontrolliert. So gehörten der Innen- <strong>und</strong> Außenminister der SDA an. Weiterhin erhielt<br />

der Krisenstab (Krisni stab), der dem muslimischen 270 Präsidiumsmitglied Ejup Ganić<br />

unterstand, weitgehende Vollmachten. Aufgr<strong>und</strong> seiner Rückendeckung unter<br />

269<br />

270<br />

Für die Nationszugehörigkeit der Abgeordneten: Allcock, Yugoslavia, 313.<br />

Der Muslime <strong>und</strong> Mitglied der SDA Ganić wurde als "Jugoslawe" ins Präsidium gewählt.<br />

82


muslimischen Bevölkerung konnte der auf ein Jahr (seine Amtszeit wurde 1991 um ein<br />

Jahr verlängert) gewählte Vorsitzende <strong>des</strong> Staatspräsidiums, Alija Izetbegović, seine<br />

Machtposition bedeutend stärken. 271<br />

ation Präsidiumsmitglied Partei %<br />

Muslime Fikret Abdić SDA 44<br />

Alija Izetbegović SDA 37<br />

Serben Nikola Koljević SDS 25<br />

Bilijana Plavšić SDS 24<br />

Kroaten Stjepan Kljuić HDZ 21<br />

Franjo Boras HDZ 19<br />

Yugoslawen Ejup Ganić SDA<br />

Tabelle 14: Wahlergebnis <strong>des</strong> Präsidiums der <strong>2.</strong> R<strong>und</strong>e, <strong>2.</strong>1<strong>2.</strong>1990 272<br />

Bemühungen um ein neues Jugoslawien<br />

Kroatien <strong>und</strong> Slowenien betrieben nach den Wahlen 1990 immer offener eine Loslösung<br />

von Jugoslawien, während Serbien <strong>und</strong> Montenegro eine Rezentralisierung anstrebten.<br />

<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> Mazedonien bemühten sich hingegen um eine ausgleichende<br />

Position. Sie schlugen die Umwandlung Jugoslawiens in eine „Gemeinschaft der<br />

jugoslawischen Republiken“ vor. <strong>Die</strong>se Konföderation sollte nur noch die<br />

Wirtschaftspolitik, die Außenpolitik <strong>und</strong> die Verteidigung bestimmen. In dem Entwurf<br />

wird explizit auf die EG als Vorbild hingewiesen. Zugleich sollte sich dieses neue<br />

Jugoslawien auch der EG annähern (z.B. Anbindung an den ECU). <strong>Die</strong><br />

Entscheidungsstrukturen folgen den Verfahren der EG. So sollen die meisten<br />

Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Nur Kernfragen<br />

(Verteidigung, völkerrechtliche Verträge) hätten Einstimmigkeit benötigt. 273 <strong>Die</strong>ser Plan<br />

scheiterte jedoch am Widerstand Serbien <strong>und</strong> seiner Verbündeten. Durch die<br />

zunehmend eigenständige Politik der drei nationalen Parteien in <strong>Bosnien</strong> konnte bereits<br />

Anfang 1991 von einer einheitlichen bosnischen Position keine Rede mehr sein. 274 Mit<br />

Kriegsbeginn in Slowenien <strong>und</strong> Kroatien Ende Juni 1991 wurde deutlich, daß<br />

Jugoslawien, auch in geänderter Form nicht fortbestehen konnte.<br />

271<br />

272<br />

273<br />

274<br />

Hier ist zu bedenken, daß der Einfluß auf die Zentralregierung zwar größer wurde, die Kontrolle auf<br />

große Teile der Republik jedoch schwanden. Paul Shoup, The Bosnian Crisis in 1992, in: Sabrian<br />

Petra Ramet, Ljubiša S. Adamovich (Hg.) Beyond Yugoslavia. Politics, Economic and Culture in a<br />

Shattered Community (Boulder, Col/San Francisco/Oxford 1995) 158 f. <strong>und</strong> Sahil Zvizdić, Na<br />

poznatom kolosijeku [Auf bekanntem Gleis], in: Vjesnik, panorama subotam, 5.1.1991, 4 f. zitiert<br />

nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A272-A276.<br />

Allcock, Yugoslavia, 31<strong>2.</strong><br />

Alija Izetbegović, Kompromis kao uspjeh [Kompromiß als Erfolg], in: Borba, 18.1.1991, zitiert<br />

nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A276 f.; <strong>Die</strong> Plattform <strong>des</strong> Präsidiumsvorsitzenden der SR<br />

<strong>Bosnien</strong> Hercegovina <strong>und</strong> <strong>des</strong> Präsidium der Republik Mazedonien über die zukünftige<br />

jugoslawische Gemeinschaft, in: Internationale Politik, 20. Juni 1991, Nr. 989, Jhrg. 42, 22-24. In<br />

der gleichen Ausgabe finden sich die entsprechenden Stellungnahmen der jugoslawischen<br />

Regierung, Sloweniens, Serbiens <strong>und</strong> Kroatiens.<br />

Tri stava iz Bosne o novoj Jugoslaviji [Drei Standpunkte aus <strong>Bosnien</strong> über ein neues Jugoslawien]<br />

in: Politika, 10.1.1991, zitiert nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A280.<br />

83


Der Krieg in Kroatien <strong>und</strong> der drohende Krieg in <strong>Bosnien</strong><br />

<strong>Die</strong> Krise in <strong>Bosnien</strong> wurde mit dem Beginn der kroatisch-serbischen<br />

Auseinandersetzungen in Kroatien deutlich. Dort begann die SDS nach den Wahlen mit<br />

einer Loslösung der Gebiete unter ihrer Kontrolle. Polizei <strong>und</strong> Armeewaffenlager wurde<br />

geplündert <strong>und</strong> erste Milizen entstanden. Sie befanden sie teils unter der Kontrolle der<br />

serbischen Bürgermeister, teils agieren sie autonom. Bereits Ende 1990 entstanden<br />

„Autonome Gebiete“, die sich der kroatischen Verwaltung entzogen. Durch fragwürdige<br />

Referenden wurde diese abgesichert. Das genaue Territorium dieser Gebiete wurde noch<br />

nicht festgelegt, sondern lediglich durch die „ethnisch <strong>und</strong> historischen vom serbischen<br />

Volk bewohnten Gebiete Kroatiens“ definiert.<br />

Im September 1991 folgt die SDS in <strong>Bosnien</strong> dem Vorbild ihrer Schwesterpartei in<br />

Kroatien <strong>und</strong> ruft „Serbische Autonome Gebiete“ aus. Neben Bosanska Krajina<br />

entzogen sich Romanija (östlich von Sarajevo) <strong>und</strong> Ostdalmatien bosnischer<br />

Verwaltung <strong>und</strong> riefen die jugoslawische Volksarmee um „Unterstützung“ an. Damit<br />

beginnt der Zerfall <strong>Bosnien</strong>s bereits vor <strong>des</strong>sen Unabhängigkeit. Während <strong>des</strong> Krieges<br />

in Kroatien kam es öfters zu Grenzübertretungen durch kroatische Einheiten. Zugleich<br />

war <strong>Bosnien</strong> durch den Rückzug Jugoslawischen Volksarmee (JNA) aus Slowenien <strong>und</strong><br />

großen Teilen Kroatien bereits hoch militarisiert. <strong>Die</strong> JNA setzte ihre Truppen in den<br />

neu ausgerufenen serbisch autonomen Gemeinden ein. Mitte 1991 wurden bereits offen<br />

Übungen serbischer Milizen in <strong>Bosnien</strong> durchgeführt. <strong>Die</strong> JNA zog sich zugleich<br />

weitgehend aus den Städten zurück <strong>und</strong> zerstörte zahlreiche Stützpunkte, um eine<br />

Übernahme durch die kroatische Armee oder bosnische Polizei zu verhindern. 275<br />

Während die SDS auf lokaler Ebene bereits die Integrität <strong>Bosnien</strong>s zerstörte, bestand die<br />

Koalitionsregierung in Sarajevo fort. Nun zeigte sich jedoch eine deutlichere Allianz<br />

von HDZ <strong>und</strong> SDA gegen die SDS. Letztere Partei lehnte eine Abstimmung über die<br />

Souveränität der Republik ab. Der letzte Versuch im Juni 1991 einen Ausgleich im<br />

Staatspräsidium zu finden wurde durch den Kriegsausbruch in Kroatien verhindert. Im<br />

Oktober 1991 bemühten sich muslimische <strong>und</strong> kroatische Abgeordnete nicht mehr die<br />

SDS umzustimmen <strong>und</strong> stimmten für die Souveränität der Republik. In diesem<br />

Memorandum wird weiterhin festgelegt, daß <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina nur in Jugoslawien<br />

bleiben würde, wenn sowohl Kroatien, also auch Serbien diesem Staat weiterhin<br />

angehören. Da dies zu diesem Zeitpunkt bereits unvorstellbar geworden war,<br />

bek<strong>und</strong>eten die Abgeordneten somit de facto die Absicht, sich von Jugoslawien<br />

loszulösen. Bei der gleichen Sitzung erklärte sich <strong>Bosnien</strong> für neutral im Krieg<br />

zwischen Kroatien <strong>und</strong> der Jugoslawischen B<strong>und</strong>esarmee. <strong>Die</strong>se Entscheidungen <strong>des</strong><br />

bosnischen Parlaments repräsentierten nur noch Kroaten <strong>und</strong> Muslime, da die Sitzung<br />

bereits zuvor vom serbischen Parlamentspräsidenten abgebrochen wurde <strong>und</strong> alle<br />

Abgeordneten der SDS die Abstimmung boykottierten. <strong>Die</strong> bosnischen Institutionen<br />

sind somit bereits Ende 1991 zerfallen. 276<br />

Am 21. Dezember 1991 rief die SDS die „Republika Srpska i Bosna-Hercegovina“<br />

(später nur noch Republika Srpska/Serbische Republik) aus. Anfang 1992 begannen die<br />

ersten Verhandlungen um die zukünftige Gestaltung der Republik unter der<br />

275<br />

276<br />

Laura Silver, Allan Little, The Death of Yugoslavia (London 1995) 98-11<strong>2.</strong><br />

Jens Reuter, <strong>Die</strong> politische <strong>Entwicklung</strong> in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina, in: Südosteuropa, Nr. 11-<br />

12/1992, Jhrg. 41, 67<strong>2.</strong><br />

84


Schirmherrschaft der EG. 277 Am 29. Februar <strong>und</strong> 1. März fand schließlich die<br />

Volksabstimmung über die Unabhängigkeitserklärung <strong>Bosnien</strong>s statt. <strong>Die</strong> SDS <strong>und</strong> die<br />

Armee riefen zum Boykott <strong>des</strong> Referendums auf. Somit nahmen nur 64,31 % der<br />

Wahlberechtigten an der Abstimmung teil. Von ihnen stimmten 99,4 % für die<br />

Unabhängigkeit. Während der Abstimmung kam es bereits zu gelgentlichen<br />

Schießereien <strong>und</strong> zwei Tage später wurde Bosanski Brod von serbischen Milizen<br />

bombardiert - der ersten größere Waffeneinsatz in <strong>Bosnien</strong>. Am 27. März<br />

verabschiedete die „Republika Srpska“ ihre eigene Verfassung, während die<br />

jugoslawische Armee gegen die restlichen Gebiete vorging. Noch vor der Anerkennung<br />

der Unabhängigkeit am 6. April 1991 durch die EG hatte der Krieg in <strong>Bosnien</strong><br />

begonnen. 278<br />

<strong>2.</strong>5.<strong>2.</strong> Libanon<br />

Anfang der siebziger Jahre hatte sich im Libanon die soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche Lage<br />

seit der Unabhängigkeit gr<strong>und</strong>legend geändert. <strong>Die</strong> alte Elite <strong>und</strong> das politische System<br />

kontrollierten jedoch unverändert den Staat <strong>und</strong> stand somit zunehmend in Konflikt mit<br />

neuen politischen Strömungen. <strong>Die</strong> Wahl <strong>des</strong> Präsidenten Sulaiman Franjiyya 1970<br />

beendete den Shihabismus. Statt<strong>des</strong>sen besaß er seine Machtbasis bei den maronitischen<br />

Parteien (insbesondere bei der Kata'ib), die ihn 1970 wählten. 279<br />

Um die eigenen Position zu stärken entließ der neue Franjiyya Anhänger vom<br />

ehemaligen Präsidenten Shihab. <strong>Die</strong>se Säuberungswelle betraf vorrangig die Armee, wo<br />

Shihab die größte Unterstützung genoß. <strong>Die</strong> Entlassung Oberkommandierenden der<br />

Armee führte zur Ablehnung <strong>des</strong> Präsidenten durch die Armee <strong>und</strong> schwächte den<br />

Präsidenten Franjiyya. Zugleich erhöhte es <strong>des</strong>sen Abhängigkeit von maronitischen<br />

Politikern <strong>und</strong> Milizen. 280<br />

Konflikte mit Palästinensern<br />

In Jordanien kam es im September 1970 zu einem kurzen Krieg (bekannt als „schwarzer<br />

September“) zwischen palästinensischen Milizen <strong>und</strong> der jordanischen Regierung. Nach<br />

der Niederlage der PLO <strong>und</strong> anderer palästinensischer Gruppen mußten sie das Land<br />

verlassen <strong>und</strong> eine neue Basis finden. Nur im Libanon konnte die PLO frei gegen Israel<br />

agieren, da die Flüchtlinge in Ägypten <strong>und</strong> Syrien unter strenger staatlicher Kontrolle<br />

standen. Ein Kleinkrieg gegen Israel scheiterte an den Grenzen dieser Staaten. <strong>Die</strong><br />

Liberalität <strong>und</strong> Offenheit <strong>des</strong> Libanon ermöglichte es den Palästinensern <strong>und</strong> anderen<br />

Gruppen hingegen diesen Staat als Aktionsgebiet zu nützen. Damit wurde der Libanon<br />

in die Auseinandersetzungen mit Israel hineingezogen. <strong>Die</strong> libanesische Regierung<br />

bemühte sich die palästinensischen Angriffe auf Israel vom Libanon aus zu verhindern.<br />

So wurden Kommandos der PLO oft verhaftet. Auch Jassir Arafat wurde kurzzeitig<br />

277<br />

278<br />

279<br />

280<br />

Zwischen Anfang 1991 <strong>und</strong> Ende 1995 wurden eine Vielzahl von territorialen <strong>und</strong> institutionellen<br />

Kompromissen bei derartigen Konferenzen diskutiert. Meist können sie als Ausdruck der<br />

tatsächlichen Machtkonstellation in <strong>Bosnien</strong> gesehen werden. Im Rahmen dieser Arbeit können<br />

diese Konferenzen nicht behandelt werden. Hierfür s. Marie-Janine Calic, Krieg <strong>und</strong> Frieden in<br />

<strong>Bosnien</strong>-Herzegowina (Frankfurt 1996) 186-216.<br />

<strong>Die</strong> beste Analyse der <strong>Entwicklung</strong> <strong>Bosnien</strong>s zwischen den Wahlen <strong>und</strong> Kriegsausbruch findet sich<br />

bei Shoup, The Bosnian Crisis in 1992, 155-187.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 40.<br />

Nadine Picaudou, La déchirure libanaise (Brüssel 1992) 117 f.<br />

85


festgehalten. <strong>Die</strong> Schwäche <strong>des</strong> Staates <strong>und</strong> der Armee (vgl. Kapitel 3.1.<strong>2.</strong>) verhinderte<br />

jedoch eine offensive Politik <strong>des</strong> Libanon gegenüber der PLO.<br />

<strong>Die</strong> PLO stellte seit 1969 nicht die einzige bewaffnete Einheit im Libanon dar. Fast alle<br />

Parteien besaßen ihre eigenen Milizen, die unter Waffen standen. <strong>Die</strong>se Milizen waren<br />

jedoch durch die zugehörigen Parteien in das politische System <strong>des</strong> Libanon integriert,<br />

während die PLO außerhalb <strong>des</strong> Systems stand <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer nicht-libanesischen<br />

Ziele nicht konfliktfrei integriert werden konnte. <strong>Die</strong> ideologische Nähe zur Linken<br />

führte dazu, daß die PLO die progressiven Parteien im Libanon stärkte. <strong>Die</strong>se<br />

überschätzten in Folge oftmals ihre libanesische Gefolgschaft. <strong>Die</strong> allgemeine<br />

Krisenstimmung <strong>und</strong> die Allianz zwischen linken Parteien <strong>und</strong> der PLO führte zu einem<br />

Anwachsen der christlichen Milizen, die verstärkt mit dem Anspruch auftraten, die<br />

christliche Bevölkerung zu schützen. 281 Der große Spielraum für alle politischen<br />

Strömungen im Libanon kann auf die Zersplitterung <strong>des</strong> Staates in große Zahl der<br />

Konfessionen zurückgeführt werden. <strong>Die</strong>se Freiheit führte jedoch dazu, daß Parteien<br />

<strong>und</strong> andere Gruppierungen staatliche Aufgaben übernahmen (Milizen, soziale <strong>Die</strong>nste<br />

etc.). Hierdurch wurde der Staat „porös“ <strong>und</strong> die Liberalität <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> drohte in<br />

Anarchie überzugehen. 282<br />

Das außenpolitische Umfeld<br />

<strong>Die</strong> arabischen Ölförderländer, allen voran Saudi-Arabien, konnten in den Jahrzehnten<br />

nach dem <strong>2.</strong> Weltkrieg ihren Einfluß steigern. Während sie zu Anfang Beirut als<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Handelszentrum nützen, bauten sie mit der Zeit eine eigene<br />

Infrastruktur auf. Beirut blieb jedoch das wichtigste Handelszentrum der arabischen<br />

Welt. Spätestens mit dem Ölembargo im Oktober 1973 wurde die Macht der<br />

Ölförderländer deutlich. In der arabischen Welt nahm die neue Rolle Saudi-Arabien<br />

einen islamischen Unterton an. Muslimsche Gegner <strong>des</strong> politischen Systems <strong>des</strong><br />

Libanon erhielten hierdurch Unterstützung.<br />

Zugleich zeigte die USA nur geringes Interesse am Libanon. <strong>Die</strong> schmerzhafte<br />

Erfahrung in Vietnam ließ in diesen Jahren wenig Appetit an einem Engagement in<br />

anderen Ländern aufkommen. Spätestens nach der Invasion 1958 sah die USA das<br />

politische System <strong>des</strong> Libanon als veraltet an <strong>und</strong> zeigt somit wenig Interesse am<br />

Land. 283<br />

<strong>Die</strong> erwähnte Offenheit <strong>des</strong> Libanon brachte eine starke Aktivität anderer arabischer<br />

Staaten im Land mit sich. <strong>Die</strong>se Aktivitäten trugen zum Ausbruch <strong>des</strong> Krieges 1975 bei<br />

(vgl. Kapitel 3.6.<strong>2.</strong>). Da sich der Libanon durch den Nationalpakt bei innerarabischen<br />

Spannungen neutral verhielt, diente das Land oftmals als Austragungsort dieser<br />

Konflikte. Fast alle arabischen Staaten besaßen eine Zeitung im Libanon <strong>und</strong> einige<br />

unterstützen eine Partei. Sowohl Parteien, wie auch Zeitungen dienten zu dieser<br />

Konfliktaustragung. So wurde die PLO Großteils vom Irak <strong>und</strong> Libyen finanziert,<br />

während Ägypten <strong>und</strong> Saudi-Arabien (später Israel) die Status-Quo orientierten Kräfte<br />

unterstützten (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong><strong>2.</strong>; 3.5.<strong>2.</strong>).<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung der amerikanische Universität in Beirut steigerte den Einfluß anderer<br />

arabischer Länder weiterhin So kam in Beirut zahlreiche Intellektuelle aus dem<br />

arabischen Raum zusammen. Somit spielten Nichtlibanesen in der Universität <strong>und</strong> in<br />

281<br />

282<br />

283<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 36 f., 41 f.<br />

Gordon, The Republic of Lebanon, 29 f.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 35.<br />

86


der Presse eine wichtige Rolle. <strong>Die</strong> Parteien <strong>und</strong> später die Milizen erhielt die<br />

finanzielle <strong>und</strong> ideologische Hilfe anderer Länder. All diese Element trugen dazu bei,<br />

daß im Libanon interne Bruchlinien oft externe Gründe hatten oder zumin<strong>des</strong>t durch<br />

äußere Faktoren verstärkt wurden. 284<br />

Zuspitzung der Krise<br />

<strong>Die</strong> alte muslimische (meist sunnitische) Elite wurde Anfang der siebziger Jahre<br />

zunehmend verdrängt. <strong>Die</strong> neue Generation war radikaler <strong>und</strong> lehnte die alten<br />

Loyalitätsverhältnisse ab. <strong>Die</strong>s zeigte sich bei den Parlamentswahlen 197<strong>2.</strong> Dort gewann<br />

unter anderem ein 26-jähriger Nasserist, Najjah Wakim, einen Parlamentssitz in Beirut<br />

der zuvor von einem traditionellen Notablen gehalten wurde.<br />

Syrien beeinflußte die Wahlen 1972 <strong>und</strong> macht somit seinen Anspruch deutlich. Durch<br />

den Tod von Nasser 1970 spielte Ägypten nicht mehr eine führende Rolle in der<br />

arabischen Welt. In Folge suchten libanesische Politiker zunehmend Rat <strong>und</strong><br />

Unterstützung in Damaskus. Keine Partei konnte mehr auf die Vermittlerrolle Syriens<br />

verzichten. Das Regime von Assad war jedoch keineswegs neutral. Es übte vielmehr<br />

über loyale libanesische Politiker Druck auf das System aus. <strong>Die</strong> wichtigsten<br />

Verbündeten zu diesem Zeitpunkt waren der pro-syrische Flügel der Baath-Partei, ein<br />

Großteil der schiitische Bevölkerung <strong>und</strong> einige Palästinensergruppen (vgl. Kapitel<br />

3.6.<strong>2.</strong>). 285<br />

<strong>Die</strong> nächste große Krise nach 1958 entstand im April 1973. Ein israelisches Kommando<br />

ermordete im Zentrum von Beirut einen palästinensischen Politiker. Da sich die Armee<br />

weigerte einzugreifen, forderte der Ministerpräsident den Rücktritt <strong>des</strong> Stabschefs der<br />

Armee. Nachdem der Präsident dem nicht entsprach, trat die Regierung von<br />

Ministerpräsident Salam zurück. Der Rücktritt brachte den Bruch zwischen der<br />

maronitischen <strong>und</strong> sunnitischen Elite zum Ausdruck. Während die Maroniten sich gegen<br />

ein stärkeres Vorgehen gegen die israelischen Angriff wehrten, näherten sich<br />

Palästinenser <strong>und</strong> sunnitische Politiker einander an. 286<br />

Als der Präsident Franjiyya einen Sunniten, Amin al-Hafiz, ohne Rückdeckung seiner<br />

Konfessiongemeinschaft zum Nachfolger ernannte, protestierte der schiitische Iman <strong>und</strong><br />

der sunnitische Großmufti. Kurze Zeit später, im Mai 1973, versuchte Franjiyya die<br />

Macht der PLO zu brechen, indem er palästinensische Flüchtlingslager bombardieren<br />

ließ. Syrien schloß daraufhin die Grenze <strong>und</strong> eine syrisch-kontrollierte palästinensische<br />

Miliz marschierte an der Grenze auf. Der Angriff schwächte die PLO jedoch keineswegs<br />

<strong>und</strong> trug nur zu einer weiteren Anspannung der innenpolitischen Lage bei. <strong>Die</strong> Lage<br />

konnte nur durch ein neues Abkommen mit der PLO <strong>und</strong> einen neunen<br />

Ministerpräsidenten entschärft werden. Das Melkart Abkommen, das die Regierung mit<br />

der PLO in Folge schloß, bestätigte den Vertrag von Kairo 1969. Der Konflikt um dem<br />

Ministerpräsidenten konnte beigelegt werden, indem Hafiz, der noch nicht von<br />

Parlament bestätigt worden war, seine Kandidatur zurückzog <strong>und</strong> Takieddin Sulh, ein<br />

prominenter sunnitischer Politiker zum neuen Ministerpräsident ernannt wurde. 287<br />

Erstmals spielten die Palästinenser eine Rolle in der libanesischen Innenpolitik.<br />

284<br />

285<br />

286<br />

287<br />

Hanf, <strong>Die</strong> drei Gesichter <strong>des</strong> Libanonkrieges, 89 f.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 36 f.<br />

Picaudou, La déchirure libanaise, 119 f.<br />

Ebd. 120 f.; Gordon, The Republic of Lebanon, 79.<br />

87


Zugleich zeigte sich, daß die Macht <strong>des</strong> Präsidenten auf muslimischen Widerstand stieß,<br />

die sich zunehmend auf die Seite der PLO stellten.<br />

Der Kleinkrieg der PLO mit Israel an der Südgrenze brachte größere<br />

Bevölkerungsbewegungen mit sich. Überwiegend Schiiten aus dem Süden, deren Leben<br />

durch diese Auseinandersetzung mit Israel bedroht wurde, zogen nach Beirut. In Folge<br />

entstand ein riesige Slums im Süden Beiruts. <strong>Die</strong>se Armenviertel befanden sich oft in<br />

direkter Nachbarschaft mit den Flüchtlingslagern der Palästinenser. <strong>Die</strong> Lager <strong>und</strong><br />

Armenviertel standen in krassem Kontrast zum Reichtum Beiruts durch das Ölgeschäft<br />

(vgl. Kapitel 3.3.<strong>2.</strong>). Das Aufeinandertreffen dieser großen Unterschiede zwischen<br />

armen <strong>und</strong> reichen Libanesen erhöhte das Konfliktpotential. <strong>Die</strong>se sozialen Spannungen<br />

kam im Programm <strong>des</strong> schiitischen Politikers <strong>und</strong> Geistlichen Sadr zum Ausdruck (vgl.<br />

Kapitel 3.<strong>2.</strong><strong>2.</strong>). Bei einer Versammlung 1974 in Baalbek vor 100.000 Schiiten ruft er zu<br />

einen Aufstand der Armen auf. 288<br />

<strong>Die</strong>sen neuen Problemen war das politische System <strong>und</strong> viele Politiker nicht gewachsen.<br />

Neue Politiker waren oftmals radikal <strong>und</strong> konnten keine überkonfessionelle Basis für<br />

ihre politischen Ziele finden. <strong>Die</strong> alte Elite besaß noch genug Macht, um neue Politiker<br />

von staatlichen Funktionen fernzuhalten. Junge Politiker wichen in Folge zunehmend<br />

auf politische Aktivitäten außerhalb <strong>des</strong> Systems aus. 289 Ähnlich wie in <strong>Bosnien</strong><br />

verlagerten sich die politischen Aktivitäten von den bestehenden Strukturen auf den<br />

Aufbau von Parallelstrukturen, die den Staat gefährdeten. <strong>Die</strong>s bedeutete, daß die Macht<br />

nicht mehr durch Wahlen, sondern durch Stärke der Bewaffnung <strong>und</strong> den<br />

Mobilisierungsgrad bestimmt wurde.<br />

1975 1984<br />

Christen insgesamt 1.199.000 37,4 % 1.525.000 42,7 %<br />

Maroniten 496.000 15,5 % 900.000 25,2 %<br />

griechisch-orthodox 230.000 7,2 % 250.000 7 %<br />

griechisch-katholisch 213.000 6,6 % 150.000 4,2 %<br />

Muslime insgesamt <strong>2.</strong>008.000 62,6 % <strong>2.</strong>050.000 57,3 %<br />

Sunniten 690.000 21,5 % 750.000 21 %<br />

Schiiten 970.000 30,2 % 1.100.000 30,8 %<br />

Drusen 348.000 10,9 % 200.000 5,6 %<br />

Insgesamt 3.207.000 3.575.000<br />

Tabelle 15: Bevölkerungsschätzungen 1975 <strong>und</strong> 1984 290<br />

288<br />

289<br />

290<br />

Picaudou, La déchirure libanaise, 130 f.<br />

Rabinovich, The War for Lebanon, 35, 40.<br />

Picaudou, La déchirure libanaise, 267. <strong>Die</strong> Schätzung von 1975 beruht auf der französischen<br />

Enzyklopädie "Universalis", jene für 1984 auf den Financial Times.<br />

88


<strong>2.</strong>6 Der Krieg<br />

Der Krieg in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> im Libanon kann in dieser Arbeit nur kurz<br />

erwähnt werden. Da sich die Arbeit auf die <strong>Entwicklung</strong> vor Kriegsausbruch<br />

konzentriert, soll nur auf die Gr<strong>und</strong>struktur der Kriege hingewiesen werden. Auf weitere<br />

Literatur zum Krieg wird verwiesen. 291<br />

<strong>2.</strong>6.1. <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina<br />

Der Krieg in <strong>Bosnien</strong> stellt keinen monolithischen Block dar. Vielmehr sind durch den<br />

Ausbruch der Kämpfe Anfang 1992 verschiedene Konflikte entstanden, die teils parallel<br />

<strong>und</strong> teils hintereinander ausgefochten wurden. <strong>Die</strong> unterschiedlichen Kriege werden sehr<br />

verschieden kategorisiert. 292 Wenn man bei der Einteilung von den Konfliktparteien<br />

ausgeht, lassen sich vier Kriege definieren:<br />

Der serbisch-kroatische Krieg, Anfang 1992- Anfang 1993, Mitte-Ende 1995,<br />

Der serbisch-muslimische Krieg, Anfang 1992- Ende 1995,<br />

Der muslimisch-kroatische Krieg, Anfang 1993- Anfang 1994,<br />

Der innermuslimische Krieg, <strong>Die</strong> autonome Provinz Westbosnien, Ende 1993- Ende<br />

1994.<br />

291<br />

292<br />

Im Internet finden sich etliche Quellen zum Krieg in beiden Ländern. Von Interesse sind<br />

insbesondere die Positionen der jeweiligen Konfliktparteien:<br />

Für <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina: <strong>Die</strong> Sicht der SDA <strong>und</strong> Zentralregierung (Aufsätze von<br />

Wissenschaftlern, Zeitungsartikel, Dokumente): „Bosnia Homepage“<br />

http://www.cco.caltech.edu/~bosnia, zur serbischen Sichtweise (inkl. SRNA, Tanjug <strong>und</strong> proserbische<br />

Aufsätze): „Serbian Unity Congress“ http://www.suc.org <strong>und</strong> für die Position von Herceg-<br />

Bosna (Artikel, Literaturlisten): „Na Predak-Croatian Homepage“ http://www.hrnet.org/~napredak.<br />

<strong>Die</strong> beste Archivsammlung findet sich bei: „Open Media Research Institute“ http://www.omri.cz/.<br />

Ein sehr detaillierte Studie der Kriegsführung der bosnisch-serbischen Armee <strong>und</strong> der Vertreibungen<br />

findet sich in: Final report of the Commission of Experts (S/1994/674) United Nations Security<br />

Council, 27.5.1994, http://www.emse.fr/~maillot/html/perso/e/yugo/onu/experts/, zu den<br />

Menschenrechtsverletzungen s. Tadeusz Mazowiecki, Report on the situation of human rights in the<br />

terriory of former Yugoslavia (E/CN.4/1992/S-1/9) United Nations Economic and Social Council,<br />

28.8.199<strong>2.</strong>, http://www.emse.fr/~maillot/html/perso/e/yugo/mazowiecki/e.cn.4-1992-s-1-9.html#tire.<br />

Für den Libanon: <strong>Die</strong> Sicht der Maroniten (Zeitungsartikel, Kongressberichte): „Maronet“<br />

http://www.primenet.com/~maronet, die Forces Libanaises (Programm, Geschichte <strong>des</strong> Krieges):<br />

„Lebanese Forces Homepage“ http://www.lebanesef.com/, General Aoun (Reden, Programm):<br />

„General Aoun Hompage“ http://hudson.idt.net/aoun/aoun.html <strong>und</strong> für die Sicht der Hizbollah<br />

(Kontaktadressen, Programm): „Association for supporting the Islamic Resistance“<br />

http://www.moqwama.org/home<strong>2.</strong>html. <strong>Die</strong> beste allgemeine Übersicht über Quellen vom Libanon<br />

findet sich bei: „Almashriq“ http://www.hiof.no/almashriq/lebanon.<br />

So gliedert Susan Woodward den Krieg in fünf Sub-Konflikte: 1. Der Krieg der bosnischen Serben<br />

gegen die Loslösung <strong>Bosnien</strong>s von Serbien/Montenegro, <strong>2.</strong> Der Krieg der bosnischen Kroaten um<br />

Westherzegowina, 3. Der Selbbehauptungskrieg der jugoslawischen Volksarmee, 4. Der Krieg der<br />

bosnischen Regierung zur Eroberung serbisch <strong>und</strong> kroatisch besetzter Gebiete <strong>und</strong> 5. Krieg<br />

zwischen der Land- <strong>und</strong> Stadtbevölkerung (starke gegen schwache nationale Identität), s. Susan L.<br />

Woodward, Bosnia and Herzegowina, in: Leokadia Drobizheva, Rose Gottemoeller, Catherine<br />

McAdrle Kelleher, Lee Walker (Hg.) Ethnic Conflict in the Post-Soviet World. Case Studies and<br />

Analysis (Armonk, N.Y./London 1996) 25-28.<br />

89


Der serbisch-kroatische Krieg, Anfang 1992- Anfang 1993<br />

Bereits vor dem offenen Krieg in <strong>Bosnien</strong> begann ein Kleinkrieg zwischen bewaffneten<br />

Einheiten der serbischen SDS <strong>und</strong> der kroatischen Armee zusammen mit bosnischen<br />

Kroaten. <strong>Die</strong>se Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf die Herzegowina <strong>und</strong><br />

Posavina (an der Grenze zu Slawonien). Sie begannen bereits als Schießereien mit dem<br />

serbischen Krieg in Kroatien im Juli 1991. Obwohl in Mostar, der Hauptstadt der<br />

Herzegowina, die Muslime den größten Bevölkerungsanteil stellten, wurde die Stadt<br />

<strong>und</strong> die Region am Anfang <strong>des</strong> Krieges in erster Linie serbisch-kroatischen Kämpfen<br />

ausgesetzt. Der Neretva Fluß teilt die Region. In der Westherzegowina dominierte die<br />

kroatische Bevölkerung. In dieser Region waren auch die meisten kroatischen Truppen<br />

konzentriert. In der Ostherzegowina hingegen war die SDS sehr stark <strong>und</strong> besaß durch<br />

die jugoslawische Volksarmee, die sich Anfang 1992 in eine bosnisch-serbische Armee<br />

verwandelte (vgl. Kapitel 3.1.1.) ausreichende militärische Unterstützung. Bereits im<br />

März 1992 kam es zu Kämpfen zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben in Neretva Tal <strong>und</strong> in<br />

Bosanski Brod in der Posavina. Im folgenden Monat begann die Belagerung von Mostar<br />

durch JNA. Beide Gebiete besaßen eine große strategische Bedeutung. <strong>Die</strong> schmale<br />

Posavina verbindet Serbien mit dem größten serbischen Siedlungsgebiet in <strong>Bosnien</strong> um<br />

Banja Luka. Auch im weiteren Kriegsverlauf blieben diese beiden Gebiete im Zentrum<br />

serbisch-kroatischer Kämpfe. <strong>Die</strong> Herzegowina war für die serbische Seite von<br />

Bedeutung, weil es das Hinterland der kroatischen Küste bildete. Für die bosnischen<br />

Kroaten war dies Region wiederum das wichtigste Siedlungsgebiet.<br />

Zwischen 1993 <strong>und</strong> 1994 flauten die Kämpfe ab, da beide Seiten in erster Linie gegen<br />

die muslimischen Einheiten kämpften. Erst im August 1995, als die kroatische Armee in<br />

einem Angriff die serbische Krajina eroberte, kam es erneut zu größeren Gefechten<br />

zwischen bosnisch-kroatischen <strong>und</strong> bosnisch-serbischen Einheiten. <strong>Die</strong>se Kämpfe<br />

konzertierten sich jedoch auf das bosnische Grenzgebiet zur Krajina <strong>und</strong> führten zu<br />

einem großen Erfolg der kroatischen Truppen. 293<br />

Der serbisch-muslimische Krieg, Anfang 1992- Ende 1995<br />

Der zentrale Konflikt, der während <strong>des</strong> gesamten Krieges andauerte war der serbischmuslimische<br />

Krieg. Am 4. April 1992 beginnt der Krieg in vollen Umfang. Serbische<br />

Milizen <strong>und</strong> die Armee legten ihre Angriff auf die größeren bosnischen Städte mit der<br />

Zusage auf internationalen Anerkennung <strong>Bosnien</strong>-<strong>Herzegowinas</strong> am 7. April<br />

zusammen, um somit ein Rechtfertigung für die Attacken zu besitzen. Noch am 4. April<br />

ordnete Alija Izetbegović die Generalmobilmachung der Territorialverteidigung an. Vier<br />

Tage später verhängte Izetbegović den Ausnahmezustand: Das Parlament wurde<br />

aufgelöst <strong>und</strong> eine bosnischen Armee wurde geschaffen. In Folge erobern serbischer<br />

Einheiten von der serbischen Grenze aus weite Gebiete <strong>Bosnien</strong>s. Zugleich beginnt die<br />

Belagerung Sarajevos, die bis zum Ende <strong>des</strong> Krieges im Dezember 1995 die Stadt<br />

weitgehend von der Außenwelt abschneidet. Den Eroberungen bosnischer Städte (u.a.<br />

Bijeljina, Zvornik) folgt die sogenannte „ethnische Säuberung“, die Vertreibung <strong>und</strong><br />

Ermordung der muslimischen <strong>und</strong> kroatischen Bevölkerung. Im Lauf <strong>des</strong> Krieges gelang<br />

es der serbischen Armee so etwa 70 % <strong>des</strong> bosnischen Territoriums zu erobern. <strong>Die</strong><br />

293<br />

Zarko Puhovski, Der Krieg in <strong>Bosnien</strong>-Herzegowina <strong>und</strong> der serbisch-kroatische Konflikt, in:<br />

Dialog. Beiträge zur Friedensforschung, Nr. 1-2/94, Jhrg. 26, 301-311; Misha Glenny, The Fall of<br />

Yugoslavia (London 1993) 156-161, 167 f. Zur Annäherung zwischen Kroaten <strong>und</strong> Serben s.<br />

Branislav Radivojša, Da li je na pomolu prekretnics [Ob ein Wendepunkt bevorsteht], in: Politika,<br />

2<strong>2.</strong>6.1993, zitiert nach: Osteuropa , November 1993, Jhrg. 43, A 644 f.<br />

90


Aufrüstung der kroatischen <strong>und</strong> der muslimischen Armee führte erst 1994 <strong>und</strong> 1995 zu<br />

erfolgreichen Gegenoffensiven. Unter dem Eindruck dieser Niederlagen <strong>und</strong> den<br />

stärkeren Engagement der NATO <strong>und</strong> der Vereinigten Staaten kam es Ende 1995 zu<br />

Verhandlungen in Dayton, die schließlich zu einem Friedensvertrag <strong>und</strong> der<br />

Stationierung von NATO-Truppen in <strong>Bosnien</strong> führte. 294<br />

Der muslimisch-kroatische Krieg, Anfang 1993-Anfang 1994<br />

<strong>Die</strong> Allianz zwischen Muslimen <strong>und</strong> Kroaten wurde mit dem Kriegsausbruch brüchig.<br />

In der politischen Führung der bosnischen Kroaten setzten sich der radikalere Flügel um<br />

Mate Boban aus der Herzegowina durch, der offen einen Anschluß an Kroatien forderte<br />

(vgl. 3.1.1.,3.<strong>2.</strong>1.,3.6.1.). Ähnlich wie die serbische Armee versuchte die kroatische<br />

Armee <strong>Bosnien</strong>s (HVO) große Gebiete zu erobern. Es folgten Vertreibungen. Zugleich<br />

nahmen innerhalb der SDA religiöser Politiker eine größere Rolle ein. <strong>Die</strong>s führte in der<br />

ersten Jahreshälfte 1993 zu intensiven Kämpfen in Zentralbosnien <strong>und</strong> in Mostar.<br />

<strong>Die</strong> USA übte Druck auf Kroatien aus, um die Allianz von Kroaten <strong>und</strong> Muslimen<br />

wiederherzustellen. Anfang 1994 wurde Boban abgesetzt <strong>und</strong> im April 1994 eine<br />

muslimisch-kroatische Föderation abgeschlossen. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen hörten<br />

zwar nicht gänzlich auf, sie beschränkten sich jedoch auf lokale Gefechte. 295<br />

1991 1995 (geschätzt) Tote <strong>und</strong> Vermisste Im Exil außerhalb<br />

<strong>Bosnien</strong><br />

Muslime 1.903.000 43 % 1.275.000 44 % 218.000 66 % 460.000 37 %<br />

Serben 1.366.000 31 % 987.000 34 % 83.000 25 % 330.000 26 %<br />

Kroaten 761.000 17 % 468.000 16 % 21.000 6 % 290.000 23 %<br />

Jugoslawen 243.000 6 % 116.000 4 % 5.000 2 % 129.000 10 %<br />

andere 104.000 2% 5<strong>2.</strong>000 2% <strong>2.</strong>000 1% 50.000 4 %<br />

Insgesamt 4.377.000 <strong>2.</strong>898.000 329.000 1.259.000<br />

Tabelle 16: Geschätzte Zahl der Bevölkerungsveränderungen durch den Krieg 296<br />

Der innermuslimische Krieg, Ende 1993- Ende 1994<br />

In Westbosnien um die Stadt Bihać <strong>und</strong> Velika Kladuša befindet sich ein relativ<br />

kompaktes Siedlungsgebiet bosnischer Muslime. Da sie von der kroatischen <strong>und</strong><br />

bosnischen Kraijna mit einer mehrheitlich serbischen Bevölkerung umgeben ist,<br />

entwickelte sich der Krieg anders als im restlichen Land. Der Spitzenpolitiker der SDA,<br />

Fikret Abdić, kontrollierte dieses Gebiet (zu Abdić s. Kapitel 3.<strong>2.</strong>1.,3.3.1.) unabhängig<br />

von der Regierung in Sarajevo. Im September 1993 ruft er in dieser Region die<br />

„Autonome Provinz Westbosnien“ aus <strong>und</strong> schließt einen Monat später einen<br />

Separatfrieden mit den bosnischen Serben <strong>und</strong> Kroatien. Zwischen der bosnischen<br />

294<br />

295<br />

296<br />

Hierzu s. Richard Holbrooke, To End a War (New York 1998), Silver, Little, The Death of<br />

Yugoslavia, 245-322; Malcolm, Bosnia, 234-251. Zu militärischen Aspekten <strong>des</strong> <strong>Bosnien</strong>krieges s.<br />

Anton Zabkar, The Drama in former Yugoslavia - The beginning of the end or the end of the<br />

beginning? (=National Defence Academy Series Studies and Reports 3/95, Wien 1995) 1-10, 99-<br />

119.<br />

Hierzu s. Silver, Little, The Death of Yugoslavia, 323-335, 354-359; Cohen, Broken Bonds, 275-<br />

282, 302-305.<br />

Murat Praso, Demographic Consequences of the 1992-95 War, in: Bosnia Report, July-October<br />

1996, Nr. 16, 5.<br />

91


Armee in Bihać <strong>und</strong> den Einheit Abdić's kommt es daraufhin zu heftigen Kämpfen, die<br />

Ende 1994 mit einer Niederlage von Fikret Abdić enden. <strong>Die</strong> „Autonome Provinz<br />

Westbosnien“ hatte nur etwas mehr als ein Jahr bestanden. 297<br />

<strong>2.</strong>6.<strong>2.</strong> Libanon<br />

Der Krieg im Libanon zwischen 1975 <strong>und</strong> 1990 wird von verschiedenen Autoren in eine<br />

Vielzahl von Phasen <strong>und</strong> Stufen der Intensität eingestuft. Einige Autoren (z.B.<br />

Rabinovich) beschreiben die Konflikte zwischen 1977 <strong>und</strong> 1982 nur als Krisen <strong>und</strong><br />

nicht als Bürgerkrieg. 298<br />

Um den Krieg im Libanon kategorisieren, ohne zu vereinfachen, lohnt es sich zwei<br />

Ebenen zu unterschieden. Auf der ersten Ebene lassen sich die Stufen <strong>des</strong> Krieges<br />

einordnen, gemessen an ihrer Intensität <strong>und</strong> der geographischen Ausdehnung. Während<br />

dieser einzelnen Phasen änderten sich die Konfliktparteien <strong>und</strong> ihre Gegner.<br />

1. Bürgerkrieg, Anfang 1975-Ende 1976,<br />

<strong>2.</strong> Kämpfe im Süden , Ende 1976- Anfang 1982<br />

3. <strong>Die</strong> Israelische Invasion, Anfang 1982-Anfang 1984,<br />

4. Aufstieg der Schiiten, Anfang 1984-Ende 1988,<br />

5. Das Auseinanderbrechen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, Ende 1988 bis Ende 1990.<br />

Der Bürgerkrieg, Anfang 1975-Ende 1976<br />

Der Krieg begann am 14. April 1975 als zwei Leibwächter von Pierre Gemayel, dem<br />

Vorsitzenden der Kata'ib, erschossen werden. Als Vergeltung wurden St<strong>und</strong>en später<br />

Palästinenser in einem Bus erschossen. Der Krieg beginnt somit mit einem Kampf<br />

zwischen maronitischen Milizen <strong>und</strong> Palästinensern, denen sich die linken Parteien<br />

anschließen. Beirut steht im Zentrum der Kämpfe, bei denen die Stadt in einen Westteil<br />

unter Kontrolle der PLO <strong>und</strong> den Ostteil unter maronitischer Vorherrschaft zerfällt. <strong>Die</strong><br />

Bevölkerung der anderen Konfliktparteien werden aus dem jeweiligen Einflußbereich<br />

vertrieben. Während die Armee am Anfang passiv blieb, kam es im März zu einer<br />

Spaltung der Armee. Muslimische Teile <strong>des</strong> Militärs gemeinsam mit linken Parteien <strong>und</strong><br />

palästinensischen Truppen griffen christliche Gebiete im Libanon Gebirge an <strong>und</strong> hatten<br />

großen Erfolg gegen die maronitischen Milizen.<br />

<strong>Die</strong>s führte zu einer syrischen Invasion <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> zugunsten der Christen (vgl. Kapitel<br />

3.6.<strong>2.</strong>). Nachdem die palästinensischen Truppen schwere Verluste erlitten hatten, trennt<br />

die syrische Armee das Land in eine palästinensiche Enklave im Süden <strong>und</strong> eine<br />

maronitische Zone im Gebiet <strong>des</strong> alten Mont Liban. Dazwischen <strong>und</strong> in den Städten<br />

übernahm Syrien die Herrschaft. Arabische Friedenskonferenzen in Riad <strong>und</strong> Kairo<br />

wandelten die syrischen Truppen in einer arabische „Friedensstreitmacht“ um, der sich<br />

297<br />

298<br />

Hierzu s. Glenny, The Fall of Yugoslavia, 152-154; Silver, Little, The Death of Yugoslavia, 339,<br />

387<br />

Theodor Hanf gliedert den Krieg bis 1987 in 14 Konflikte. Theodor Hanf, Libanon-Konflikt, in: in:<br />

Udo Steinbach, Robert Rüdiger (Hg.) Der Nahe <strong>und</strong> Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft,<br />

Wirtschaft, Geschichte <strong>und</strong> Kultur, Bd. 1: Gr<strong>und</strong>lagen, Strukturen <strong>und</strong> Problemfelder (Opladen<br />

1988) 668-677.<br />

92


kleine Kontingente anderer arabischer Länder anschlossen. Der prosyrische Präsident<br />

Sarkis wurde im Oktober 1976 gewählt. 299<br />

Kämpfe im Süden , Ende 1976- Anfang 1982<br />

Südlich <strong>des</strong> Litani Flusses übernahmen die PLO <strong>und</strong> verbündete linke Parteien die<br />

Kontrolle. Bei einer relativen ruhigen <strong>Entwicklung</strong> im Rest <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> setzt sich hier<br />

der Kleinkrieg zwischen Israel <strong>und</strong> der PLO fort. Im März 1978 marschieerte Israel<br />

erstmals bis zum Litani Fluß im Libanon ein. <strong>Die</strong> Palästinenser konnten jedoch<br />

rechtzeitig nach Norden fliehen, so daß diese Invasion erfolglos blieb. Nach dem<br />

Rückzug wurde von der UNO die Friedenstruppe UNIFIL stationiert (vgl. Kapitel<br />

3.6.<strong>2.</strong>).<br />

Gleichzeitig verschärften sich die Spannungen zwischen der syrischen Besatzung <strong>und</strong><br />

den maronitischen Milizen. <strong>Die</strong> Maroniten erhofften eine Entwaffnung der PLO. Syrien<br />

folgte dieser Forderung nicht. Schließlich versuchten im Winter 1980 maronitische<br />

Einheiten die Stadt Zahlé am Rande <strong>des</strong> Bekaa-Tals zu besetzten. In Folge kam es zu<br />

Kämpfen zwischen Syrern <strong>und</strong> maronitischen Milizen. <strong>Die</strong>ser Konflikt brachte einen<br />

Annäherung zwischen Maroniten <strong>und</strong> Israel, was wiederum die syrisch-israelischen<br />

Spannungen verstärkte. 300<br />

<strong>Die</strong> Israelische Invasion, Anfang 1982-Anfang 1984<br />

<strong>Die</strong> israelische Invasion im Juni 1982 war offiziell die Reaktion auf ein Attentat auf den<br />

israelischen Botschafter in London. <strong>Die</strong> Invasion bis nach Beirut <strong>und</strong> die anschließende<br />

Belagerung der PLO in Westbeirut dauerte ein halbes Jahr <strong>und</strong> brachte fast alle<br />

Bevölkerungsgruppen <strong>des</strong> Südlibanons gegen Israel auf. Jedoch lediglich die<br />

Palästinenser <strong>und</strong> die verbündete Amal leisteten der Invasion offenen Widerstand. Nach<br />

der Niederlage der PLO mußte sie den Libanon verlassen, während amerikanische,<br />

französische <strong>und</strong> italienische Truppen in Beirut eintrafen, um den Rückzug der PLO <strong>und</strong><br />

anderer palästinensische Milizen zu organisieren.<br />

Während der vorgehende Präsident Sarkis unter syrischer Vorherrschaft gewählt wurde,<br />

wurde Bashir Gemayels, der Führer der Kata'ib (vgl. Kapitel 3.<strong>2.</strong><strong>2.</strong>), unter israelischer<br />

Präsenz zum Präsidenten gewählt. Nach seiner Ermordung durch ein Bombenattentat<br />

kam es zu den Massakern maronitischer Milizen an palästinensischen Zivilisten in den<br />

Lagern Shatila <strong>und</strong> Sabra. <strong>Die</strong>se Massaker verschärften die Spannungen <strong>und</strong> trugen zur<br />

Unbeliebtheit Israels bei, da israelische Truppen die Lager für die Massaker abriegelten.<br />

Präsident <strong>des</strong> Libanons wurde schließlich der Bruder von Bashir, Amin Gemayel (vgl.<br />

Kapitel 3.6.<strong>2.</strong>). Der Widerstand gegen die israelische Okkupation führte zu einem<br />

schrittweisen Rückzug Israels, der neue Kämpfe zwischen Drusen <strong>und</strong> Maroniten<br />

herbeiführte. <strong>Die</strong> Anschläge der Hizbollah auf die amerikanischen <strong>und</strong> französischen<br />

Truppen führten zu einem Rückzug der internationalen Truppen. Zugleich konnte Syrien<br />

seinen Einfluß auf das Land erneuern, so daß Amin Gemayel den Vertrag mit Israel<br />

aufkündigen mußte. Der Einmarsch der Amal-Miliz <strong>und</strong> der verbündeten Drusen unter<br />

Waldi Jumblat in Beirut führten zu einem Ende <strong>des</strong> israelischen Einflusses auf den<br />

299<br />

300<br />

Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 668-670; Rabinovich, The War for Lebanon, 43-56; Picaudou, La<br />

déchirure libanaise, 133-152; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 149-164; René Chamussy, Chronique<br />

d'un guerre. Liban 1975-1977 (Paris 1978).<br />

Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 670-671; Rabinovich, The War for Lebanon, 108-120; Picaudou,<br />

La déchirure libanaise, 153-175; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 8-138..<br />

93


Libanon nördlich <strong>des</strong> Litani-Flusses. <strong>Die</strong> Zentralregierung, die einen Wiederaufbau<br />

begonnen hatte, wurde geschwächt <strong>und</strong> die durch Israel gestärkte libanesische Armee<br />

zerfiel erneut. 301<br />

Konfliktparteien<br />

Front Libanaises/<br />

Forces Libanaises<br />

Stärke der<br />

Miliz<br />

Konfliktparteien<br />

ationalbewegung<br />

Kata'ib 10.000-15.000 Progressive Sozialistische<br />

Partei<br />

National-Liberale Partei<br />

<strong>Die</strong> Wächter der Zedern<br />

Zgharta Befreiungsarmee<br />

Maronitische Mönchsorden<br />

Al-Tabzim<br />

„Befreiter Libanon“ <strong>2.</strong>000-<strong>2.</strong>500<br />

Sozial-Nationalistische<br />

Syrische Partei<br />

Libanesische KP<br />

irakische Baath Partei<br />

Al-Murabitun<br />

Kommunistische Aktion<br />

Stärke der<br />

Miliz<br />

Insgesamt 1<strong>2.</strong>000-20.000 Insgesamt 5.000-7.000<br />

andere libanesische Einheiten<br />

externe Einheiten<br />

syrische Baath Partei Syrische Armee 2<strong>2.</strong>000-30.000<br />

Amal UNIFIL 4.000-6.000<br />

Reguläre libanesische Armee 5.000-20.000 Palästinensische Einheiten<br />

Fath, PFLP, PDFLP, Saiq etc.<br />

1<strong>2.</strong>000<br />

Israel 20.000-25.000<br />

Tabelle 17: <strong>Die</strong> größten Milizen <strong>und</strong> Truppen im Libanon zwischen 1975 <strong>und</strong> 1980 302<br />

Aufstieg der Schiiten, Anfang 1984-Ende 1988<br />

Nachdem Syrien <strong>und</strong> die verbündeten Milizen wieder die Oberhand gewonnen hatten,<br />

kam eine neue Regierung zustande. Ein Gleichgewicht zwischen den größten<br />

Konfessionen schien wieder hergestellt zu sein. In Sidon kam es jedoch erneut zu<br />

Kämpfen zwischen Palästinensern, gemeinsam mit islamistischen Sunniten, <strong>und</strong><br />

maronitischen Milizen. <strong>Die</strong> Amal versuchte einige christliche Dörfer vor dem<br />

Vormarsch der sunnitischen Milizen zu schützen. <strong>Die</strong>s führte erstmals zu einen Krieg<br />

zwischen Schiiten <strong>und</strong> Sunniten, die Drusen verhielten sich neutral. Im Oktober 1985<br />

versuchte Syrien zu vermitteln, da sich nun syrische Verbündete gegenseitig<br />

bekämpften. <strong>Die</strong> jeweiligen Führer konnten jedoch ihre eigenen Gruppen nicht mehr<br />

kontrollieren, so daß die Kämpfe weiter gingen. Zugleich kam es zu einem innermaronitischen<br />

Krieg zwischen pro-syrischen <strong>und</strong> anti-syrischen Einheiten. <strong>Die</strong> Milizen<br />

der Drusen blieben 1987 auch im schiitisch-palästinensischen Konflikt nicht mehr<br />

neutral <strong>und</strong> griffen die Amal an. <strong>Die</strong> Amal sah sich gleichzeitig von der erstarkten<br />

301<br />

302<br />

Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 671-674; Nadine Picaudou, La déchirure libanaise, 175-197;<br />

Friedman 126-222; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 8-138, 169-216.<br />

Lebanon <strong>und</strong>er Arms, in: The Middle East, May 1978, Nr. 43, 34; Gordon, The Republic of<br />

Lebanon, 105.<br />

94


islamistischen Hizbollah bedroht, so daß im Südlibanon 1988 ein inner-schiitischer<br />

Krieg ausgefochten wurde. 303<br />

Das Auseinanderbrechen <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>, Ende 1988-Ende 1990<br />

<strong>Die</strong> Amtszeit von Amin Gemayel endete im September 1988. Über seine Nachfolge<br />

herrschte jedoch eine Pattsituation zwischen der syrischen Armee <strong>und</strong> den Forces<br />

Libanaises. Syrien konnte eine Wahl verhindern, die FL konnte genug Stimmen im<br />

Parlament kontrollieren, um die Wahl eines ihr unangenehmen Kandidaten zu<br />

verhindern. Gemayel ernannt entgegen dem Nationalpakt den christlichen General Aoun<br />

zum Übergangspremierminister, während sein Vorgänger, Salim al-Hoss, die Entlassung<br />

nicht annahm <strong>und</strong> die Gegenregierung unter syrischer Vorherrschaft übernahm. Das<br />

Land war erneut zweigeteilt: In der christlichen Enklave zwischen Beirut <strong>und</strong> Tripoli<br />

herrschte Aoun, während Hoss <strong>und</strong> der syrischen Armee der Rest <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> unterstand.<br />

Um die Regierung zu finanzieren griff Aoun die Forces Libanaises an, die in der<br />

christlichen Enklave Steuern einhoben <strong>und</strong> die Häfen kontrollierten. Sein Beschuß<br />

Westbeiruts zerstörte die letzte Gelegenheit in der muslimischen Bevölkerung<br />

Unterstützung zu finden. Zugleich stieß die Vormacht Syriens im Libanon zunehmend<br />

auf Kritik der Arabischen Liga. Ein Lösung für den Libanon schien nötiger als je zuvor.<br />

Um die Wahl eines Präsidenten zu ermöglichen wurde beschlossen, das Parlament<br />

außerhalb <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> einzuberufen. Ein Waffenstillstand ermöglichte dann<br />

Verhandlungen in der saudi-arabischen Stadt Ta'if. Neben der Präsidentenwahlen sollte<br />

das Parlament eine Reform <strong>des</strong> politischen Systems verabschieden <strong>und</strong> die zukünftigen<br />

Beziehungen zu Syrien bestimmen. <strong>Die</strong> Reformen von Ta'if stellen ein politisches Ende<br />

<strong>des</strong> Bürgerkrieges dar. Das militärische Ende folgte erst ein Jahr später.<br />

Während Aoun auf einen syrischen Abzug bestand, vereinbarte das Parlament lediglich<br />

eine Rückzug über zwei Jahre in das Bekaa-Tal. Das Parlament wählte Ende 1989 René<br />

Moawad zum Präsidenten. Er starb drei Wochen später bei einem Anschlag. Elias Hrawi<br />

wurde als Ersatz gewählt. Der Einfluß Aouns verringerte sich weiter, als er den Krieg<br />

gegen die FL fortführte <strong>und</strong> zunehmend an Boden verlor. Im Oktober 1990 beendete die<br />

libanesische <strong>und</strong> die syrische Armee die Herrschaft Aouns, der in die französische<br />

Botschaft flüchtete. <strong>Die</strong>ser Sieg Syriens wurde durch den Einmarsch <strong>des</strong> Iraks in Kuwait<br />

erleichtert. Erstens war der Libanon das Zugeständnis der USA an Syrien für <strong>des</strong>sen<br />

Teilnahme an der Allianz gegen den Irak. Zweitens erhielt Aoun Unterstützung vom<br />

Irak. Das Wirtschaftsembargo gegen den Irak ließ diese Hilfe für Aoun versiegen. 304<br />

303<br />

304<br />

Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 674-676; Nadine Picaudou, La déchirure libanaise, 197-219;<br />

Arnold Hottinger, 7mal Naher Osten (München-Zürich 1991) 138-147.<br />

Hierzu s. Ronald D. McLaurin, Lebanon: Into or Out of Oblivion?, in: Current History, January<br />

1992, Nr. 561, Jhrg. 91, 30 f.<br />

95

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