Richard Weihe Weg des Vergessens Das Ende Unsere ... - Tubuk
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<strong>Richard</strong> <strong>Weihe</strong><br />
<strong>Weg</strong> <strong>des</strong> <strong>Vergessens</strong><br />
<strong>Das</strong> <strong>Ende</strong><br />
<strong>Unsere</strong> Liebe ging ins sechste Jahr, als wir ein weiteres geheimes Treffen vereinbarten.– Ja, ich<br />
gebrauche noch das Wort Liebe.– Marienbad war dein Vorschlag gewesen. Du warst zu einer Tagung<br />
nach Deutschland gereist, ich wohnte in der Schweiz, Mariánské Lázne? lag für uns beide etwa gleich<br />
weit entfernt. Wir treffen uns auf halbem <strong>Weg</strong>! Zudem trägt das Bad meinen Namen, der klingt so<br />
schön auf tschechisch– und wenn das kein Grund ist? schriebst du mir. Bei strömendem Regen<br />
schlenderte ich vom Bahnhof zum Hotel. Der Park war menschenleer, die Fassaden der Grandhotels<br />
bröckelten. Ungewöhnlich häufig war auf polierten Messingschildern an Hauseingängen das<br />
Wort Schönheitschirurgie zu lesen. Der Empfangschef hatte einen Zettel für mich. Die Handschrift<br />
war mir fremd, die paar Wörter waren nach Diktat geschrieben: Kann nicht kommen! Schade! Küsse<br />
Dich, M. Nichts weiter, das war alles. Mit dem Notizblatt in der Hand ließ ich mich in einen<br />
Sessel fallen. Wie gelähmt starrte ich durch die große verglaste Eingangstür auf die triefenden Bäume<br />
im Park gegenüber. Was fiel dir ein, nur diese wenigen Wörter? Ich konnte dich ja nicht erreichen!<br />
Unversehens ging die Tür auf, und von einem starken Luftzug begleitet, kamst du in die Halle. Dein<br />
offener Mantel bauschte sich auf, deine durchregnete rote Stofftasche schien zu bluten, deine sonst<br />
braunen Locken waren beinahe schwarz, naß und glatt. Deine Gesichtszüge erinnerten mich<br />
an den »Fragmentarischen Kopf einer Königin« aus gelbem Jaspis, den ich im Metropolitan Museum<br />
gesehen hatte. Deine Augen sprühten vor Freude.<br />
So habe ich dich gesehen, aber du warst es nicht. Die Erscheinung löste sich auf, nur ein feiner Duft<br />
blieb im Raum. Eine andere Frau war durch die Tür getreten, eine andere Frau hatte die Halle<br />
durchquert und war über den Teppich geräuschlos nach oben gegangen. Draußen regnete es noch<br />
immer.<br />
Ich merke, daß ich dich nicht richtig beschreiben kann. Ich konnte dich nie wirklich fassen, dich nur<br />
wie ein Spiegel aufnehmen. Allein diese Bilder von dir kann ich beschreiben, Bilder, die sich mir<br />
eingebrannt haben und die mir ständig vor Augen stehen.<br />
Oben im Hotelzimmer zog ich die Vorhänge zu. Ich setzte mich an den Schreibtisch und las wieder<br />
und wieder deine Nachricht, als gäbe es in den Worten einen heimlichen Wink. Alles kam mir auf<br />
einmal doppelsinnig und bedrohlich vor, als stecke irgendwas dahinter. Die Vorhänge, das Doppelbett,<br />
die Schlagermusik von irgendwoher, sogar das cremefarbene Papier mit dem übertrieben<br />
verschnörkelten goldenen Namenszug <strong>des</strong> Hotels in Reliefdruck.<br />
Oder war alles nur Inszenierung? Wolltest du mir ein Stichwort geben und zusehen, wie sich dein<br />
verzweifelter Geliebter vor passender Kulisse die Haare rauft? Wolltest du einen Beweis? Wir<br />
kannten uns seit über fünf Jahren. Doch was wußte ich eigentlich über dein anderes Leben, von dem<br />
ich ausgesperrt blieb? Du warst acht Jahre älter als ich. Du wohntest in der Auvergne in einem<br />
Landschloß, das inmitten eines Parks stand und in dem du umgeben von schönen Dingen lebtest. Du<br />
hattest Architektur und Kunstgeschichte studiert, dir in akademischenKreisen einen Namen gemacht<br />
und warst Denkmalpflegerin. Dein Mann war Politiker, er war zwanzig Jahre älter und mußte fast<br />
sechzig sein. Du hattest drei Stiefkinder und einen eigenen Sohn. Er ging auf eine Schule, in der er<br />
bereits mit zehn Jahren Latein und Griechisch lernte. Der eine Stiefsohn war im gleichen Alter wie<br />
du. Er war in Afghanistan gewesen, wo er auf der Seite der Partisanen kämpfte. Wenn er zuhause auf<br />
Urlaub war, tüftelte er an seinem Sportwagen und benutzte den Park für Testfahrten. Dein anderer<br />
Stiefsohn besuchte eine Landwirtschaftsschule, wo die Kinder aus besseren Kreisen untereinander<br />
blieben, bis sie so weit waren, das geerbte Anwesen zu leiten. Deine Stieftochter hatte eine<br />
Theatergruppe gegründet, die allein aus Frauen bestand. So viel wußte ich. Du hattest alles, was mir<br />
fehlte: Haus, Familie, Vermögen, Ansehen.
Verstört und mit aufgepeitschten Gedanken reiste ich aus Marienbad ab. Als ich zuhause ankam,<br />
befand sich ein wattiertes Couvert in meinem Briefkasten. In der Ecke stand der<br />
Name <strong>des</strong> Absenders. Es war der Name deines Mannes. Warum schrieb er mir ausgerechnet jetzt,<br />
zum allerersten Mal? Ich hatte ihn als distinguierten Herrn kennengelernt, allerdings wußte ich von<br />
dir, wie unberechenbar ihn seine Eifer sucht machte. Ich legte das Couvert auf den Küchentisch. Vor<br />
Angst konnte ich es lange nicht anrühren.<br />
Ich war überrascht. Es enthielt keinen Brief. Ich dachte schon, es sei leer. Als ich den Umschlag<br />
ausschüttelte, stockte mir der Atem.<br />
Eine Bleikugel fiel auf den Küchentisch, sprang zweimal auf und rollte mir entgegen. Seither sind fünf<br />
Monate vergangen. Jetzt sitze ich an diesem Tisch, wieder in einem Hotelzimmer, wieder in einem<br />
anderen Land, und die Kugel habe ich bei mir. Sie ist erstaunlich schwer. Sie bewegt sich nicht, meine<br />
Hand ist jetzt ganz ruhig. Aber ich sehe mich noch am Küchentisch sitzen mit der zitternden Kugel<br />
auf der Hand. Diese Kugel ...<br />
So habe ich folgen<strong>des</strong> beschlossen: Ich werde mir die Bilder von dir in Erinnerung rufen.<br />
Ich werde sie in Sprache auflösen– um sie Wort für Wort zu vergessen.<br />
Je<strong>des</strong> Hauptwort, das für dich steht.<br />
Je<strong>des</strong> Eigenschaftswort, das dich beschreibt.<br />
Je<strong>des</strong> Tätigkeitswort, das dich in meiner Erinnerung lachen und tanzen läßt.<br />
Sie alle müssen vergessen werden, bis das Blatt vor mir leer bleibt.