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Beacurs und Gramoflanz (722,1 - 724,30)<br />

Zur Wahrnehmung der Liebe und der Geliebten in<br />

Wolframs Parzival<br />

I<br />

Zur Geschichte von Gramoflanz und Itonje, die für die späteren<br />

Bücher (XII – XIV) von Wolframs Parzival von zentraler<br />

Bedeutung ist, hat Helmut Brackert 1989 bemerkt, daß „deren<br />

differente Behandlung durch Wolfram bisher weder zum<br />

Problem gemacht noch erklärt worden ist“. 1 Das trifft im speziellen<br />

Sinne wohl immer noch zu, auch wenn man andererseits<br />

gern konstatiert, daß für das Verständnis der Joflanze-Handlung in<br />

den letzten Jahren, nach langjähriger relativer Vernachlässigung,<br />

wichtige Fortschritte erzielt worden sind. Grundlegend war die<br />

Einsicht, die vor allem wohl in den Aufsätzen von Wolfgang<br />

Mohr (1979) 2 und Horst Brunner (1983) 3 Ausdruck fand, daß die<br />

Neugestaltung der Rolle von König Artus als überlegener<br />

Diplomat und Friedenstifter als bedeutende und originelle<br />

Leistung des nun nicht mehr an die Vorlage des Conte du Graal<br />

gebundenen Wolfram zu buchen sei. Kennzeichnend für die<br />

Arbeiten der letzten Jahre ist die gemeinsame Beschäftigung mit<br />

1 Helmut Helmut Brackert, Brackert, „ der lac „ der an riterschefte lac an riterschefte tôt. Parzival tôt. Parzival und das Leid und der das<br />

Leid Frauen“, der Frauen“, in: „Ist in: zwîvel „Ist zwîvel herzen herzen nâchgebûr“. nâchgebûr“. Günther Günther Schweikle Schweikle zum. zum. 60.<br />

Geburtstag, 60. Geburtstag, hg. v. hg. Rüdiger v. Rüdiger Krüger, Krüger, Jürgen Kühnel, Jürgen Kühnel, Joachim Joachim Kunolt, Stuttgart Kunolt,<br />

1989, Stuttgart S. 143-163; 1989, S. 143-163; hier: S. 155. hier: S. 155.<br />

2 Wolfgang Mohr, „König Artus und dieTafelrunde. Politische Hintergründe<br />

in Chrétiens Perceval und Wolframs Parzival“ in: Wolfgang Mohr, Wolfram<br />

von Eschenbach. Aufsätze, Göppingen 1979 (Göppinger Arbeiten zur<br />

Germanistik 275), S.170-222; hier S. 217-222.<br />

3 Horst Brunner, ‚Artus der wise höfsche man’. Zur immanenten Historizität<br />

der Ritterwelt im Parzival Wolframs von Eschenbach“ in: Germanistik in<br />

Erlangen. Hundert Jahre nach der Gründung des Deutschen Seminars, hg. v.<br />

D. Peschel, Erlangen 1983, S. 61-73.


170 Timothy McFarland<br />

weiter entwickelten Modellen des adligen Zusammenlebens, wie<br />

z. B. mit der „höfischen Interaktion“ in den gesellschaftlichen<br />

Umgangsformen. 4 Es wird gezeigt, wie die Figuren sich, das<br />

heißt auch ihre eigenen Körper, im Rahmen des aufwendig entfalteten<br />

höfischen Zeremoniells in Szene setzen, 5 und wie sie<br />

sich auf der Bühne des großen politischen Theaters nach den vor<br />

allem von Gerd Althoff ausgearbeiteten Spielregeln der hochmittelalterlichen<br />

Politik verhalten. 6 Daß man beim Versuch,<br />

diese Arbeiten zu charakterisieren, dazu neigt, vor allem Bilder<br />

aus dem Bereich des Theaters zu verwenden, ist kein Zufall. 7 Es<br />

hängt in erster Linie mit der dargestellten Handlung zusammen,<br />

die sich in diesem Abschnitt des Romans zum größten Teil in der<br />

großen höfischen Öffentlichkeit entfaltet. Es geht um die sorgfältigen<br />

Vorbereitungen für den Zweikampf vor großem Publikum;<br />

um die aus der zweimaligen Verschiebung desselben Zweikampfes<br />

resultierenden Friedensverhandlungen; um das Versöhnungsfest;<br />

und dann weiter am nächsten Tag um die Veranstaltung der<br />

Tafelrunde, die Aufnahme von Feirefiz und schließlich um die<br />

Ankunft und Botschaft von Cundrie la surziere. Nur die<br />

Begegnung und Kampf von Parzival und Feirefiz finden abseits<br />

vom Hoflager von Joflanze statt.<br />

4 Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen<br />

Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der<br />

älteren deutschen Literatur 10).<br />

5 Elke Brüggen, „Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion<br />

am Beispiel der Joflanze-Handlung in Wolframs Parzival“, in: ‚Aufführung’<br />

und ‚Schrift’ in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Jan-Dirk Müller,<br />

Stuttgart u. Weimar 1996, S. 205-221<br />

6 Monika Unzeitig-Herzog, „Artus mediator. Zur Konfliktlösung in<br />

Wolframs Parzival Buch XIV“, in: Frühmittelalterliche Studien, 32 (1998), S.<br />

196-217.<br />

7 Zu den Begriffen der Theatralität und der Szenographie vgl. den Beitrag<br />

von Ingrid Kasten, „Wahrnehmung als Kategorie der Kultur-und Literaturwissenschaft”<br />

(in diesem Band).


Beacurs und Gramoflanz 171<br />

Für diese Welt mit ihren farbig agierenden Bühnenfiguren<br />

stellen sich die Fragen nach dem Verhältnis von Außen- und<br />

Innenwelt, nach der Gestaltung von Wahrnehmung und<br />

Erkenntnis, etwas anders akzentuiert als in den Episoden der<br />

Parzival-Handlung, die im Zentrum der Studie Joachim Bumkes<br />

zu diesem Thema stehen. 8 In diesem Beitrag soll eine Episode<br />

aus dieser höfisch-zeremoniell gefärbten Joflanze-Handlung besprochen<br />

werden, die uns auch erlaubt, einen signifikanten<br />

Wahrnehmungsvorgang im Kopfe einer der vielen wichtigen<br />

Nebenfiguren im Parzival etwas genauer zu betrachten. Weiter<br />

bietet die Figur von Gramoflanz ein geeignetes Beispiel für die<br />

Behauptung, daß es bei anderen Figuren der Handlung außer den<br />

Hauptprotagonisten Parzival, Gawan und Gahmuret sich auch<br />

lohnt, Fragen der Wahrnehmung, der Identitätskonstitution und<br />

des Weiterwirkens von Erlebnismaterial nachzugehen. 9 Im folgenden<br />

soll zuerst die Episode der Begegnung von Gramoflanz<br />

und Beacurs kommentierend kontextualisiert werden; 10 im<br />

Zentrum steht die Gedankenrede von König Gramoflanz (722,<br />

14-28), als ihm von Bene erklärt wird, daß der schöne junge<br />

8 Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und<br />

Erkenntnis im ‚Parzival’ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea<br />

N.F.94). Der kurze „skizzierende Ausblick“, den Bumke der Gawan-Handlung<br />

widmet (S. 157-164) soll ausdrücklich zu weiteren Analysen anregen, die dem<br />

eigenen Charakter der Gawan-Bücher Rechnung tragen. Er behandelt in erster<br />

Linie die Gawan-Figur selbst und das Verhältnis zwischen Parzival- und<br />

Gawanbüchern.<br />

9 Vgl. hierzu den Beitrag von Walter Haug in diesem Band und die Aufsätze<br />

von Klaus Ridder, „Parzivals schmerzliche Erinnerung“ in: LiLi, 29 (1999), S.<br />

21-41, und von Edith Feistner, „Bewußtlosigkeit und Bewußtsein: Zur<br />

Identitätskonstitution des Helden bei Chrétien und Hartmann“ in: Archiv, 236<br />

(1999), S. 241-264.<br />

10 Text zitiert nach: Wolfram von Eschenbach. Parzival. hg. v. Karl<br />

Lachmann, revidiert u. kommmentiert v. Eberhard Nellmann. Übertragen v.<br />

Dieter Kühn. 2 Bände, Frankfurt 1994 (Bibliothek des Mittelalters, 8/1–2).


172 Timothy McFarland<br />

Ritter, der ihm zur Begrüßung entgegen reitet, mit Namen<br />

Beacurs heißt, und daß er der Bruder der von Gramoflanz geliebten<br />

und umworbenen, aber bis jetzt noch nie gesehenen,<br />

Itonje ist. In einem zweiten Hauptteil wird versucht, eine<br />

Deutung der Figur von Gramoflanz zu skizzieren, die dieser<br />

Episode den ihr m. E. gebührenden Platz einräumt. Im Schlußteil<br />

soll kurz überlegt werden, warum Gawans jüngerer Bruder bei<br />

Wolfram Beacurs heißt.<br />

II<br />

Gramoflanz kommt ins Lager seiner Feinde auf Einladung von<br />

König Artus, der den Brief gelesen hat, den Gramoflanz Itonje<br />

durch Bene überreichen ließ. Der Brief hat König Artus von der<br />

Aufrichtigkeit der Liebe von Gramoflanz und Itonje überzeugt, obwohl<br />

die beiden sich noch nie gesehen haben. 11 Gramoflanz ist also<br />

gleichzeitig Feind und Freund: als Gegner von Gawan und Feind<br />

der Artussippe bekannt, aber auch Liebhaber von Gawans<br />

Schwester Itonje. Auf diese für ihn charakteristische Doppelrolle<br />

gehen wir unten weiter ein. Artus verlangt, daß er ‚mit wênec liuten<br />

komn’ soll (720,11) und er will ihn nicht selber begrüßen; andererseits<br />

verspricht er ihm sicheres Geleit und einen seinem königlichen<br />

Status entsprechenden würdigen Empfang: ‚ich lâze in werde liute<br />

sehn’ (720,20). Artus’ Schwestersohn Beacurs soll Gramoflanz auf<br />

halbem Wege entgegenkommen und ins Lager begleiten.<br />

Die zwei Gruppen begegnen sich in der feuchten<br />

Flußuferlandschaft, die in den späten Gawan-Büchern immer<br />

wieder als Schauplatz der Handlung fungiert. 12 Gramoflanz<br />

11 Zur politisch-diplomatischen Situation, vgl. Unzeitig-Herzog (Anm. 6),<br />

hier: S. 207-214. Zum höfischen Zeremoniell und zu den Verhaltensformen,<br />

vgl. Brüggen (Anm. 5), hier: S. 216-217.<br />

12 In der westlichen Erzählliteratur seit der Spätantike sind Ufer, Strand,<br />

Sumpf und andere Grenzbereiche und Übergangszonen zwischen Land und


Beacurs und Gramoflanz 173<br />

kommt nicht als bewaffneter Krieger, wie am frühen Morgen<br />

desselben Tages (703,10-17), sondern eher als Jäger, der von seinen<br />

Falknern begleitet wird: dâ reit der künec peizen her, / und<br />

mêre durch der minne ger. (721, 27-28). Daß die Falkenjagd in<br />

feuchten und sumpfigen Landschaften gefährlich für Jäger und<br />

Beizvögel sein kann, weiß man vom Unfall des Königs<br />

Vergulaht vor Schampfanzun (400,19-401,4) und aus dem großen<br />

Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. 13 Aber Gramoflanz erleidet<br />

keinen solchen Unfall; die Jagdszenerie hat ihren Anteil an der<br />

großen Inszenierung des höfischen Lebens und am poetischen<br />

Reiz dieser Episode. Sie stellt den Rahmen für die freudige<br />

Begrüßung, die jetzt erfolgt.<br />

Die zwölf Ritter, die zur Gruppe von Gramoflanz gehören<br />

sind wohl alle adlig – ein zweiter König (Brandelidelin) und<br />

mindestens ein Graf (Bernout) sind dabei – aber der Erzähler<br />

lenkt unsere Aufmerksamkeit durch seine Frage: welch der rîter<br />

kleider möhten sîn? (721,15) darauf, daß sie in erster Linie durch<br />

ihre Kleidung glänzen, vor allem durch einen mit Gold durchwirkten<br />

Seidenstoff: pfellel, der vil liehten schîn / gab von des<br />

goldes swaere (721,16-17). Für Gramoflanz selbst wird der goldene<br />

Glanz seines Rocks noch einmal betont, als er an das<br />

Festzelt heranreitet (723,26-30).<br />

Ganz anders die Gruppe, die ihn empfängt: Sie besteht aus<br />

Beacurs und mehr als fünfzig Pagen, die alle junge Herzöge,<br />

Grafen oder Königssöhne sind. Aber in deutlichem Gegensatz<br />

zur heranreitenden Gruppe ist ihre Ausstrahlung nicht eine Sache<br />

der festlichen Bekleidung, sondern durch Adel und Jugend,<br />

Wasser von Bedeutung für Erlebnisse, die das Leben neu bestimmen und begründen;<br />

vgl. dazu Margaret Anne Doody, The True Story of the Novel, New<br />

Brunswick, New Jersey 1996, ch. 14, „Marshes, Shores and Muddy Margins“,<br />

S. 319-336.<br />

13 Rüdiger Schnell, „Vogeljagd und Liebe im 8. Buch von Wolframs<br />

Parzival“ PBB, 96 (1974),S. 246 -269.


174 Timothy McFarland<br />

durch Abkunft und art, bedingt – also durch die persönliche<br />

Schönheit: Mit Bêâkurs komen sint / mêr danne fünfzec clâriu kint,<br />

/ die von art gâben liehten schîn, / herzogen unde graevelîn: / dâ reit<br />

ouch etslîch küneges suon. (722,1-4). Sie werden aber alle überstrahlt<br />

von Beacurs selbst, der mit den Adjektiven lieht (dreimal:<br />

721,21; 722,9; 722,30) und clâr (zweimal: 722,12; 722,29) bezeichnet<br />

wird. Der charismatische Körper von Beacurs, von seinem<br />

jugendlichen Gefolge umgeben, bildet also den Mittelpunkt und die<br />

Hauptquelle von Licht und Glanz in dieser festlichen Szene.<br />

In diesem höfisch-festlichen Rahmen erfolgt nun die<br />

Wahrnehmung von Beacurs durch Gramoflanz:<br />

Bêâkurs pflac varwe lieht:<br />

der künec sich vrâgens sûmte nieht,<br />

Bêne im sagete maere,<br />

wer der clâre rîter waere,<br />

‚ez ist Bêâkurs Lôtes kint.’<br />

dô dâhter ‚herze, nuo vint<br />

si diu dem gelîche,<br />

der hie rît sô minneclîche.<br />

si ist für wâr sîn swester,<br />

diu geworht in Sinzester<br />

mit ir spärwaer sande mir den huot.<br />

op si mir mêr genâde tuot,<br />

al irdischiu rîcheit,<br />

op d’erde waer noch alsô breit,<br />

dâ für naem ich si einen.<br />

si solz mit triwen meinen.<br />

ûf ir genâde kum ich hie:<br />

si hât mich sô getroestet ie,<br />

ich getrûwe ir wol daz si mir tuot<br />

dâ von sich hoehert baz mîn muot.’<br />

in nam ir clâren bruoder hant<br />

in die sîn: diu was ouch lieht erkant. (722, 9-30)


Beacurs und Gramoflanz 175<br />

Der außergewöhnliche Wahrnehmungsakt erfolgt in zwei<br />

Etappen. Erstens sorgt die erzählte Inszenierung dafür, daß der<br />

Leser oder Hörer von Parzival die sinnliche, d.h. visuelle<br />

Wahrnehmung des schönen jungen Mannes mitvollziehen kann.<br />

Aber für Gramoflanz muß noch die von Bene beigesteuerte verbale<br />

Mitteilung von den verwandtschaftlichen Verhältnissen dazukommen,<br />

nämlich daß es sich um Lôtes kint handelt.<br />

Zusammen erwirken das visuell Erschaute und das verstandesmäßig<br />

Begriffene eine sofortige, mächtige Reaktion, die in der<br />

Form eines an das eigene Herz erteilten Befehls ausgedrückt<br />

wird. Der überwältigende Wunsch, Itonje zu sehen, paart sich<br />

mit der festen Überzeugung, daß die bisher nie erblickte Geliebte<br />

ihrem schönen Bruder ähnlich, sogar identisch aussehen muß. 14<br />

Das Motiv der Geschwisteridentität hat hier etwas irrational<br />

Märchenhaftes. 15 Als es Gramoflanz bei seiner ersten Begegnung<br />

mit Gawan zuerst klar wird, daß er Lôtes kint vor sich hat,<br />

denkt er nur an seinen unverkornen haz (609,28) und an den bevorstehenden<br />

Zweikampf, und überhaupt nicht an eine solche<br />

Ähnlichkeit wie in diesem Falle, obwohl Gawan auch nicht häßlich<br />

ist und genau so sehr der Bruder von Itonje ist wie Beacurs<br />

14 Nicht teilen kann ich die Ansicht von Unzeitig-Herzog (Anm. 6), S. 211,<br />

daß Gramoflanz hier nur „sich erhofft“ die gleiche Schönheit bei Itonje zu finden.<br />

15 Das Motiv der Geschwisterähnlichkeit, das Wolfram hier einsetzt, ist mit<br />

dem antiken Lustspielmotiv der Verwechslung von identischen Zwillingen verwandt,<br />

das auch bei Shakespeare vorkommt. Interessanter in unserem<br />

Zusammenhang als die Plautusadaptation The Comedy of Errors ist die<br />

Behandlung des Motivs in Twelfth Night. Hier verwechselt die verliebte Gräfin<br />

Olivia die identischen Zwillinge Viola und Sebastian miteinander, und kann die<br />

als Pagen verkleidete Viola, in die sie sich verliebt hat, von dem totgeglaubten<br />

und nun wiederauftauchenden Sebastian nicht unterscheiden. Erst nachdem<br />

Olivia sich mit Sebastian vermählt hat, wird sie über die eigene Verwirrung und<br />

deren Ursache, die Geschwisterähnlichkeit, aufgeklärt.


176 Timothy McFarland<br />

(609,21-30). Ebenso undenkbar wäre es, daß er ein wenig später<br />

im Zelt von Artus (723,11-16) unter den hundert schönen Frauen<br />

die andere junge Schwester Cundrie ausgesucht und geküßt<br />

hätte, obwohl sie genau so sehr die Schwester von Beacurs ist<br />

wie Itonje selbst.<br />

Beacurs, der hie r î t so m i n n e c l î c h e (722,16;<br />

Sperrung von mir), vereinigt in seiner eigenen Gestalt die<br />

Ritterlichkeit von Gawan mit der Schönheit von Itonje; er stellt<br />

also eine Art Symbiose von Bruder und Schwester dar. Wie<br />

Harald Haferland beobachtet hat, läßt Beacurs „durch seine<br />

bloße Präsenz die Mitte zwischen Liebe und Kampf, die für<br />

Gramoflanz mit den Namen Itonjes und Gawans assoziert sind,<br />

anklingen. Und weil die Einladung in friedlicher Absicht ergangen<br />

ist, denkt Gramoflanz dann auch eher an die Liebe Itonjes,<br />

deren Kennenlernen die Einladung gilt. [...] Der ausgewählte<br />

Abgesandte ist allemal feinsinnig ins Protokoll eingepaßt.“ 16<br />

Daß Gramoflanz an Itonje und nicht an Gawan denkt, liegt demnach<br />

in der Erzählsituation wie in der Schönheit von Beacurs begründet.<br />

Der unter diesen Umständen stattfindende Wahrnehmungsakt<br />

bewirkt bei Gramoflanz eine folgenschwere Änderung<br />

seines Lebens, auf die wir noch zurückkommen werden.<br />

Der nächste Satz in seiner Gedankenrede macht klar, mit<br />

welchen bildhaften Vorstellungen Gramoflanz bis zu diesem<br />

Zeitpunkt Itonje assoziert hat. Dazu dienten nämlich die beiden<br />

schönen Liebesgeschenke, die kleinoete (607,2), die er von<br />

Itonje früher empfangen hat: einen Sperber und einen Hut aus<br />

Sinzester. Diese Gaben sind dem Leser von Parzival von der ersten<br />

Begegnung von Gramoflanz und Gawan her schon vertraut.<br />

Dort erschien der hochmütige König Gramoflanz (604,12) in rei-<br />

16 Haferland (Anm. 4), S. 319, Anm. 65.


Beacurs und Gramoflanz 177<br />

cher Bekleidung; offenbar als eitler Mann dargestellt, 17 mit<br />

Sperber, Hut und überlangem Mantel (605,2-14). Aus der späteren<br />

Rede erfahren wir, daß außer dem Sperber auch noch der Hut<br />

zum Geschenk gehört; vom Mantel hören wir nichts mehr.<br />

In dem zwischen Gramoflanz und Itonje bestehenden<br />

Verhältnis der Fernliebe, wo die beiden sich von Angesicht zu<br />

Angesicht nie gesehen haben, spielen die ausgetauschten<br />

Geschenke als Metonymien der geliebten Person eine wichtige<br />

Rolle. Für diese Funktion als Ersatzgegenstände der sinnlichen<br />

Wahrnehmung sind der mit Pfauenfedern geschmückte Hut und<br />

der lebende Beizvogel besonders geeignet, weil sie nicht nur von<br />

hohem visuellen Reiz sind sondern auch den anderen sinnlichen<br />

Wahrnehmungsorganen viel bieten, vor allem durch das Betasten<br />

beider Geschenke, im Falle des Sperbers wohl auch durch das<br />

Hören und Riechen des beweglichen Vogels. 18 Fetischhaft verehrte<br />

Gegenstände können in anderen Erzählsituationen auf<br />

wirklich gekannte und geliebte Menschen zurückverweisen, wie<br />

z.B. das blutgetränkte Hemd von Gahmuret und den Speer, der<br />

ihm den Tod gab (111,14 -112,4); Herzeloyde will das Hemd anziehen,<br />

aber ihre Fürsten nehmen es ihr aus der Hand und bestatten<br />

beide Gegenstände im Münster, sô man tôten tuot (112,2).<br />

Sehr im Gegensatz dazu leisten die Gaben von Itonje bei<br />

Gramoflanz Ersatzdienst, aber seine Reaktion beim Anblick von<br />

Beacurs zeigt, mit welcher Faszination sie seine geistige<br />

Vorstellung von Itonje bisher besetzt haben. Der Augenblick der<br />

Begegnung mit Beacurs bringt sie ihm sofort wieder ins<br />

Bewußtsein, aber nur um sie durch die mächtigere Vorstellung<br />

des Bruders zu ergänzen, wenn nicht gar zu überlagern.<br />

17 Vgl. Nellmann (Anm.10), Stellenkommentar zu 605,12f., S. 731.<br />

18 Es erübrigt sich hier, auf die Geschenke selbst näher einzugehen. Im<br />

Rahmen einer ausführlicheren Interpretation der Gramoflanzhandlung wäre auf<br />

die Gestaltung der Geber- und Nehmerrollen und auf die vielen motivlichen<br />

Verknüpfungen zu verweisen, die sich hier im Hinblick auf Beizvögel,<br />

Kleidungsstücke und den Ortsnamen Sinzester ergeben.


178 Timothy McFarland<br />

Im weiteren Verlauf seiner Rede denkt Gramoflanz an vergangene<br />

und zukünftige Gnade und Trost, die er sich von der<br />

Schwester erhofft. Dann erlaubt er dem Bruder, seine Hand zu<br />

ergreifen: in nam ir clâren bruoder hant / in die sîn: diu was<br />

ouch lieht erkant (722,29-30). Es ist die kulminierende öffentliche<br />

Geste der Episode. Seine Annahme, daß die Geschwister ähnlich<br />

aussehen, bestätigt sich, als er ein wenig später in das Zelt von<br />

König Artus tritt, und sofort in der Lage ist, auf Aufforderung<br />

von König Artus Itonje zu erkennen und mit einem Kuß zu begrüßen:<br />

im sagte, wer sîn friundin was,<br />

ein brief den er ze velde las:<br />

ich mein daz er ir bruoder sach,<br />

diu im vor al der werlde jach<br />

ir werden minne tougen.<br />

Gramoflanzes ougen<br />

si erkanten, diu im minne truoc (724,19-25)<br />

Beacurs ist also auch der ‚Brief’, den Artus geschickt hat, gewissermaßen<br />

als Gegenleistung für den Brief, den Gramoflanz<br />

an Itonje geschickt hatte, und der König Artus veranlaßt hat, die<br />

Einladung an Gramoflanz gehen zu lassen. Dadurch wird der<br />

Leser darauf aufmerksam gemacht, daß Beacurs in dieser Szene<br />

gewissermaßen eine Doppelrolle spielt. Einerseits kommt er als<br />

Stellvertreter der Familie von König Lot, der Gramoflanz ein<br />

neues visuelles Bild seiner Schwester übermitteln soll. Wir sind<br />

aber auch aufgefordert, diesen Brief im Sinne der höfischen<br />

Kultur als ‚Metonymie des Briefschreibers’ aufzufassen. 19<br />

19 Allgemein zum Thema: Horst Wenzel, „Boten und Briefe. Zum Verhältnis<br />

körperlicher und nicht-körperlicher Nachrichtenträger“ in: Gespräche – Boten<br />

– Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, hg. v. Horst


Beacurs und Gramoflanz 179<br />

Briefschreiber ist hier König Artus; streng genommen kommt<br />

Beacurs nicht als Bote, weil er selber die Botschaft und der<br />

Botschafter ist, der als Stellvertreter von seinem Mutterbruder<br />

Artus den gleichrängigen König von Rosche Sabbins standesgemäß<br />

empfangen und begleiten soll. Alles, was Gramoflanz mitgeteilt<br />

worden ist, hat seinen vorgesehenen Platz im<br />

Versöhnungsplan des großen Friedensstifters. Nach diesem<br />

Versuch, den Inhalt des Briefes Beacurs ein wenig zu entschlüsseln,<br />

soll jetzt die Wirkung des Briefes auf den Empfänger etwas<br />

näher untersucht werden.<br />

III<br />

Das erste Gespräch zwischen Gawan und Gramoflanz nach dem<br />

herausfordernden Kranzraub ist für die Erfassung der Handlung<br />

und Erzählstruktur der späteren Gawan-Handlung (Bücher X-<br />

XIV) von großer Bedeutung, indem es als Bindeglied oder<br />

Scharnier dient, und zwar zwischen der nun fast abgeschlossener<br />

Geschichte von Schastel Marveile und Gawans Werbung um<br />

Orgeluse einerseits und der folgenden Joflanze-Handlung andererseits,<br />

die nach der Ankunft von König Artus und unter seiner<br />

Ägide stattfindet. Es mag damit zusammenhängen, daß König<br />

Gramoflanz weniger als eigenständig handelnde Person gesehen<br />

wird denn als ein Element in der außerordentlich verwickelten<br />

Erzählsituation, um deren Auflösung es in diesen Büchern geht.<br />

Vielleicht lohnt sich der Versuch, diese vielleicht am meisten<br />

vernachlässigte Gestalt des ganzen Romans wieder als Figur mit<br />

eigener Geschichte und eigener Identität zu sehen.<br />

Dazu bietet sich als geigneter Ansatz die in der Parzival-<br />

Forschung seit langem geübte Methode, die Figuren im Roman<br />

Wenzel, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 86-105. Zum<br />

Brief als Metonymie des Schreibers vgl. Haferland (Anm. 3), S. 228-230, hier:<br />

S. 229.


180 Timothy McFarland<br />

miteinander zu vergleichen und, v.a. im Falle der Nebenfiguren,<br />

typologisch in Gruppen zu ordnen. So ist es durchaus möglich,<br />

Gramoflanz gleich drei solchen bereits bestehenden Kategorien<br />

zuzuordnen, die alle weitgehend negativ bewertet werden.<br />

Erstens durch seinen festen Vorsatz, nur mit zwei Gegnern oder<br />

mehr zugleich zu kämpfen (604,12-18), gehört er als dritter neben<br />

Lischoys Gwelljus und dem Turkoyten Florant zu der<br />

Gruppe der verstiegenen, absurden Ritter in der Umgebung von<br />

Orgeluse, zu den „Pedanten der ritterlichen Prinzipien“ wie sie<br />

Wolfgang Mohr nannte. 20 Zweitens wird uns von der Erzählstruktur<br />

der Gawanhandlung schon nahegelegt, Gramoflanz neben<br />

Melianz von Liz und Vergulaht zu den unzulänglichen oder problematischen<br />

Königen zu stellen, mit denen Gawan in jedem Teil<br />

seiner Geschichte zu tun hat, und schließlich, und wohl am gravierendsten,<br />

reiht er sich durch die Tötung von Cidegast neben<br />

Orilus und Lähelin, Meljakanz und Urjans, unter die hochmütigen<br />

und gewalttätigen Ritter ein, eine Kategorie die als immer<br />

wiederkehrendes Motiv im Verlauf des ganzen Romans eine<br />

wichtige Rolle spielt, und deren Vertreter als Feinde des<br />

Artushofs wie auch der Gralgemeinschaft agieren und einen großen<br />

Teil der Verantwortung tragen für das Leid der Frauen (aber<br />

nicht nur der Frauen), das leitmotivisch das ganze Werk durchzieht.<br />

Gramoflanz befindet sich also in schlechter Gesellschaft.<br />

Dabei kann man leicht übersehen, daß Gramoflanz nicht nur<br />

anderen Menschen Leid zufügt, sondern daß er selber ein<br />

Mensch ist, dem Leid zugefügt worden ist. Von Gawan nach seinem<br />

Namen gefragt, identifiziert er sich in erster Linie dynastisch<br />

als Sohn eines ermordeten Vaters:<br />

‚irn sult ez niht für laster doln,’<br />

sprach der künec, ‚mîn name ist unverholn.<br />

20 Wol f gang Mohr, „Parzival und Gawan“, in: Euphorion, 52 (1958), S. 1-22;<br />

hier S. 13-14.


Beacurs und Gramoflanz 181<br />

mîn vater der hiez Irôt:<br />

den ersluoc der künec Lôt.<br />

ich pinz der künec Gramoflanz[...]’ (608, 9-13)<br />

Die Bedeutung von diesem ungesühnten Mord und der daraus<br />

resultierenden Verpflichtung zur Blutrache für das Königshaus<br />

von Rosche Sabbins soll nicht unterschätzt werden. Obwohl<br />

Gawan sich gegen die Verleumdung seines toten Vaters zur Wehr<br />

setzt, ist er offensichtlich nicht imstande, die Unschuld seines<br />

Vaters zu beweisen; und ist bereit, die Konsequenzen auf sich zu<br />

nehmen:<br />

hêrre, ich heize Gâwân.<br />

swaz iu mîn vater hât getân,<br />

daz rechet an mir: er ist tôt.<br />

ich sol für sîn lasters nôt,<br />

hân ich werdeclîchez lebn,<br />

ûf kampf für in ze gîsel gebn. (609,21-26)<br />

Weder von Gawan, noch von König Artus noch vom Erzähler<br />

wird jemals eindeutig behauptet, daß die Beschuldigung falsch<br />

ist - anders als im Parallelfall des Gawan von Kingrimursel irrtümlich<br />

zur Last gelegten Mordes am Vater von Vergulaht (503,<br />

16-20).<br />

Ein weiterer versteckter Hinweis ist vielleicht in der<br />

Darstellung der versammelten Adelsgesellschaft beim Turnier<br />

von Kanvoleis im zweiten Buch von Parzival zu finden. Die<br />

Reichweite und Bedeutung der hier vermittelten Information<br />

über die Mutter von Artus und den zauberkundigen Kleriker<br />

wird vom Leser von Parzival erst sehr viel später voll erfaßt, und<br />

einem in diesem Sinne zurückblickenden Leser der Gawan-<br />

Handlung fällt es auch auf, daß der Vater von Gramoflanz in<br />

Kanvoleis fehlt. Das gestattet nicht ohne weiteres die<br />

Schlußfolgerung, daß er zu diesem Zeitpunkt schon tot sei, aber


182 Timothy McFarland<br />

sein Fehlen gewinnt an Bedeutung angesichts des Befundes, daß<br />

die anderen für Gramoflanz wichtigen Vertreter der älteren<br />

Generation alle anwesend sind. Unter den Teilnehmern befindet<br />

sich erstens Irots Schwager Brandelidelin von Punturtoys (zuerst<br />

67,17-18), dem als Mutterbruder von Gramoflanz (726,10ff.) die<br />

Verpflichtung oblag, an die Stelle des toten Vaters zu treten, und<br />

deswegen für seine Rolle bei den Friedensverhandlungen in<br />

Joflanze gut geeignet ist. Anwesend sind ferner Irots<br />

Territorialnachbar Cidegast von Logroys (67,15), der später von<br />

Irots Sohn Gramoflanz getötet wird, aber in Kanvoleis mit<br />

Brandelidelin verbündet auftritt, und schließlich auch der von<br />

Gramoflanz beschuldigte Mörder König Lot (66,9-14). Erst<br />

durch ihre Anwesenheit wird die leere Stelle bemerkbar, die für<br />

Gramoflanz später immer noch von Bedeutung sein wird.<br />

Zur Zeit der Joflanze-Handlung ist er „genau im rechten<br />

Alter“: 21 dem wâren sîner zîte jâr / weder ze kurz noch ze lanc.<br />

Jung ist er nicht mehr; die Tötung von Cidegast muß um etwa<br />

acht oder zehn Jahre zurückliegen, denn Anfortas wurde schon<br />

im Dienste der rachsüchtigen Orgeluse verwundet. Bestimmend<br />

und identitätskonstituierend für ihn sind die zwei Mordtaten von<br />

großem Gewicht, die am Anfang seiner erzählten Lebensgeschichte<br />

stehen: der ungerächte heimtückische Tod des Vaters,<br />

der für ihn eine ungerächte Beleidigung darstellt, und der in keinem<br />

erkennbaren Zusammenhang damit stehender Tod von<br />

Cidegast, der die fortdauernde Blutfehde mit Orgeluse und also<br />

auch mit Gawan begründet.<br />

Zu Gramoflanz ist grundsätzlich festzustellen, daß ein<br />

Prinzip der gegensätzlichen oder widerspruchsvollen Doppelung<br />

bei ihm vorherrscht. Daß er immer nur mit zwei Gegnern gleichzeitig<br />

kämpfen möchte, sollte vielleicht einen Hinweis in diese<br />

Richtung geben. Seine gewalttätige minne zu Orgeluse, die den<br />

21 Kühn (Anm. 10), 2, 45.


Beacurs und Gramoflanz 183<br />

Totschlag des Rivalen Cidegast und die ein Jahr dauernde<br />

Gefangenschaft der Geliebten unbedenklich als Mittel einsetzt,<br />

bildet den extremen Gegensatz zur anscheinend hingebungsvollen<br />

Fernliebe, die auf alle Gewalt verzichtet und am Anfang sogar<br />

ohne jede sinnliche Wahrnehmung auskommt. (In dieser<br />

Hinsicht hat Wolfram der Quelle gegenüber den Kontrast noch<br />

gesteigert, denn bei Chrétien im Perceval haben sich<br />

Guiromelant und Clarissant immerhin schon gesehen, wenn<br />

auch nur aus der Ferne und über den Fluß hinweg.) 22 Der<br />

Kontrast der zwei Liebesarten von Gramoflanz läßt sich weiter<br />

auf die politische Dimension übertragen, denn bei jedem herrschenden<br />

König hat die durch Minne und Ehestreben bestimmtes<br />

Handeln ihre machtpolitischen Konsequenzen. Das deutet<br />

einerseits auf eine kriegerische Politik der lokalen Gebietserweiterung<br />

und des Machtzuwachses, denn die erzwungene Ehe<br />

von Orgeluse und Gramoflanz hätte zur Annexion des<br />

Herzogtums Logroys geführt, und andererseits auf eine friedlich-diplomatische<br />

Politik der Eheallianzen, die schließlich zur<br />

Einbindung des Königshauses von Rosche Sabbins in den weitverzweigten<br />

Verwandtschaftsverband der Artussippe und zur<br />

Aufnahme in die Tafelrunde führen sollte. In den aufeinanderfolgenden<br />

Phasen seiner Ehepolitik scheint die zweite<br />

Alternative an die Stelle der ersten getreten zu sein. Aber in der<br />

erzählten Gegenwart des Romans wird uns der doppelte widerspruchsvolle<br />

Gramoflanz in seinen ersten zwei Auftritten anschaulich<br />

vor Augen geführt: erstens als verträumter Liebhaber,<br />

der in kostbarer Kleidung mit den Geschenken seiner Geliebten<br />

allein im Freien reitet (605,1-21), und zweitens, ganz anders, als<br />

der mit prunkvoller Waffenrüstung und großem Gefolge strot-<br />

22 Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou le Conte du Graal.<br />

Altfranzösisch / Deutsch, übersetzt u. hg. v. Felicitas Oleg-Krafft, Stuttgart<br />

1991 (RUB 8649), vv. 9015-9026, S. 502-503.


184 Timothy McFarland<br />

zender Kraftprotz, der sich in seinem Heerlager auf den<br />

Zweikampf mit Gawan vorbereitet (683,11-23; 687,1-688,3).<br />

Erst unter dem Aspekt dieser doppelten Persona von<br />

Gramoflanz wird das wichtige auslösende Moment der Joflanze-<br />

Handlung verständlich, nämlich der befremdliche und eigentlich<br />

unbegreifliche Umstand, daß er der Familie von König Lot mit<br />

zwei unvereinbaren Forderungen entgegentritt. Einerseits liebt<br />

er Itonje, die Tochter von König Lot, die er nie gesehen hat, und<br />

bittet Gawan in seiner Eigenschaft als neuer Schloßherr auf<br />

Schastel marveil um Hilfe und Beistand (606,21-607,6); andererseits<br />

hält er den gleichen König Lot für den Mörder seines<br />

Vaters und er will diesen Mord an Gawan, dem Sohn von Lot, rächen<br />

(608,9-30). Nicht nur dem heutigen Leser sondern auch<br />

Gawan (609,1-20) und Bene (694,9-18) ist es sofort klar, daß es<br />

mit der triuwe unvereinbar ist, eine Familie mit der Absicht der<br />

Blutrache zu verfolgen und gleichzeitig mit dieser Familie eine<br />

Eheallianz mit den Mitteln der Fernliebe anzustreben. 23 Aber<br />

nach dem bisher Gesagten soll es deutlich sein, daß sowohl die<br />

sanktionierte Gewalttätigkeit der Blutrache wie auch die<br />

Fernliebe, mit der er um Itonje wirbt, im Rahmen dieser doppelten<br />

Persona von Gramoflanz zu sehen sind. Seine widerspruchsvolle<br />

Haltung gegenüber dem Geschwisterpaar Gawan-Itonje ist<br />

nicht nur ein wichtiges Problem der Erzählung sondern gehört<br />

auch im grundsätzlichen Sinne zum Wesen dieser Figur.<br />

23 Daß Gramoflanz und Itonje „sich lieben, ohne zu wissen, daß ihre Ehe eine<br />

Sippenfehde außer Kraft setzen wird“, wie die Situation von Elisabeth Schmid,<br />

(Familiengeschichten und Heilsmythologie. Die Verwandtschaftsstrukturen in<br />

den französischen und deutschen Gralromanen des 12. und 13. Jahrhunderts,<br />

Tübingen 1986, S. 194) formuliert wird, stimmt für Itonje, aber scheint mir für<br />

Gramoflanz nach seinen Aussagen im Gespräch mit Gawan ausgeschlossen zu<br />

sein. Er weiß genau um die Verwandtschaftsverhältnisse, und gerade sein „ausgeprägtes<br />

Prestigedenken“ und sein „Insistieren auf Einhaltung von<br />

Vereinbarungen und Regeln“ (Unzeitig-Herzog [Anm. 6], hier: S. 210) legen<br />

den Schluß nahe, daß er genau weiß, worum es geht.


Beacurs und Gramoflanz 185<br />

Für heutige Leser stellt sich die Frage, wie die Fernliebe von<br />

Gramoflanz zu bewerten sei. Ist sie als Motiv des humoristischen<br />

Gawanromans einzustufen, als weiteres Indiz der verstiegenen,<br />

verkrampften Ritterlichkeit wie sein Prinzip, nur mit zwei<br />

Gegnern gleichzeitig zu kämpfen? Oder ist sie als der Beweis einer<br />

Wende zur edleren, spiritualisierten Form der Minne zu sehen,<br />

die in deutlichem Gegensatz zu seinem früheren gewalttätigen<br />

Vorgehen gegen Cidegast und Orgeluse steht?<br />

Als Liebhaber einer Königstochter, die er noch nie gesehen<br />

hat, hat Gramoflanz weniger Ähnlichkeit mit den Protagonisten<br />

der Artusromane in der Tradition von Chrétien als mit den<br />

Helden der großen Brautwerbungsgeschichten – mit König<br />

Rother, mit Sivrit und Gunther im Nibelungenlied, mit Hartmut<br />

und Hetel in der Kudrun, die sich alle auf Grund der lobenden<br />

Erzählungen anderer Menschen, d.h. vom Hörensagen, sich verlieben,<br />

d.h. sie entschließen sich, um eine königliche Braut zu<br />

werben. Horst Wenzel hat für dieses Phänomen ein Erklärungsmodell<br />

vorgeschlagen, wonach die geistesgeschichtlichen<br />

Bedingungen die Entstehung einer literarischen Konvention begünstigen,<br />

die der Praxis dynastisch-feudaler Eheschließung<br />

Rechnung trägt. 24 Hier hatten sich die Ehepartner vor der offiziellen<br />

Verlobung oft nicht gesehen, und sie mußten auch weite<br />

Entfernungen und beträchtliche kulturelle Unterschiede überwinden,<br />

bevor sie zueinander fanden. Das geschah aber in einer<br />

24 Horst Wenzel, „Fernliebe und Hohe Minne. Zur räumlichen und zur sozialen<br />

Distanz in der Minnethematik” in: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen<br />

Dichtung in Deutschland, hg. v. Rüdiger Krohn, München 1983, S. 187-<br />

208. Vgl. Rüdiger Schnell, ‚Causa Amoris’. Liebeskonzeption und<br />

Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern u. München 1985, S.<br />

275-286, für eine Darstellung der Fernliebe, die auf die sozialgeschichtliche<br />

Dimension verzichtet, und besonders S. 285-286, Anm. 351a, für kritische<br />

Anmerkungen zu Wenzels These.


186 Timothy McFarland<br />

Welt, wo seit dem späten 12. Jahrhundert in der höfischen<br />

Erzählkunst „eine Ehe ohne Minne schlecht zu propagieren<br />

sei.“ 25 Wie dem auch sei, die Fernliebe von Gramoflanz für Itonje<br />

entspricht in ihrer Entstehung den anderen erwähnten literarischen<br />

Beispielen und scheint für die anderen Figuren im Werk<br />

unproblematisch zu sein. Konstitutiv für die literarische<br />

Fernliebe, wo Schönheit und Tugend der königlichen Braut vorausgesetzt<br />

werden, ist die Ebenbürtigkeit. 26 Gawan demonstriert<br />

seine Vertrautheit mit der Konvention, als er nach seinem ersten<br />

Gespräch mit Gramoflanz sich mit Itonje unterhält. Ungeachtet<br />

seiner eigenen Probleme mit dem König hatte er versprochen,<br />

sein Liebesbote zu sein; er hält dieses Verhältnis der Fernliebe<br />

und die angebahnte Ehe für unterstützungswert, wobei die für<br />

dynastische Eheallianzen wünschenswerte Ebenbürtigkeit eine<br />

wichtige Rolle spielt: künec durch küneginne / sol billîche enpfâhen<br />

nôt (633,10-11), und er will sie fördern: ‚ob ir triwe kunnet<br />

tragn, / sô sult ir wenden im sîn klagn. / beidenthalp wil ich<br />

des bote sîn’ (633,17-19).<br />

Bei Gramoflanz und Itonje, wie in den genannten<br />

Brautwerbungsgeschichten, wird die Minne nicht durch die<br />

Augen entzündet, wie sonst in der Liebesdichtung, und auch bei<br />

Wolfram üblich, 27 sondern durch die Ohren, d.h. durch<br />

Hörensagen. Itonje deutet gegenüber Artus an, daß Bene hier die<br />

Hauptrolle spielte: ‚sist hie diu daz zesamene truoc’ (716,17).<br />

Den theoretischen Erkenntnislehren des 12. Jahrhunderts ist die<br />

Wahrnehmung durch das gesprochene und gehörte Wort durchaus<br />

vertraut, vor allem in der Religion, sowohl in der Predigt wie<br />

auch in der Bibellektüre. Das Gehörte wird genau so gut von der<br />

25 Wenzel (Anm. 24), hier: S.187.<br />

26 Ebd., S.189.<br />

27 Schnell (Anm.24), S. 219.


Beacurs und Gramoflanz 187<br />

imaginatio aufgenommen und bearbeitet wie das Gesehene. 28<br />

Nur ist das in der Minne eher die Ausnahme. Dem auf diese Weise<br />

entstehenden Minnestreben ohne die sinnliche Wahrnehmung<br />

durch die Augen wohnt eine besondere Spannung inne, die<br />

Wenzel so beschreibt: „Fernliebe ist zunächst, wenn auch nur<br />

übergangsweise, völlig spiritualisierte Liebe, ist unaufgelöste<br />

Spannung und derart motivierend für besondere Anstrengungen.<br />

Für den epischen Entwurf ist die Auflösung dieser Spannung, die<br />

Überwindung der Distanz, vielfach die Voraussetzung für die<br />

Entfaltung der Erzählung insgesamt.“ 29<br />

Wie diese Spannung im Falle von Gurnemanz aufgelöst<br />

wird, wie die geistige Distanz der Fernliebe zwischen ihm und<br />

Itonje überwunden wird, wird im weiteren Verlauf seiner<br />

Geschichte dargestellt. Man kann sie als eine nach innen verlegte<br />

und verkleinerte Brautwerbungsgeschichte auffassen. Der<br />

Erkenntnisweg, den er dabei zurücklegt, stellt sich als vierstufiger<br />

Wahrnehmungsvorgang dar. Als erste Stufe begreifen wir<br />

den Entschluß, die nie gesehene Königstochter auf Schastel marveile<br />

zur Geliebten zu erheben. Die zweite Stufe setzt mit dem<br />

Empfang der aufwendigen Geschenke ein, worauf die<br />

Begegnungen mit Beacurs und bald darauf mit Itonje selbst als<br />

dritte und vierte Stufe folgen.<br />

Die erste Stufe gehört noch zur Vorgeschichte der erzählten<br />

Gawan-Handlung und ist im vorigen schon besprochen worden.<br />

Kommt hier die Liebe noch ohne die sinnliche Wahrnehmung<br />

aus, so gehört doch dazu die geistige Arbeit der imaginatio, die<br />

das Gehörte verarbeitet. Später betont Gramoflanz selbst im<br />

Gespräch mit Gawan den Kontrast mit seinen Erfahrungen mit<br />

Orgeluse, mit der er sich nach wie vor im Kriegszustand befindet<br />

(606,1-607,16). Was die zweite Stufe betrifft, so ist das<br />

Wesentliche bei der Kommentierung der Gedankenrede schon<br />

28 Wenzel (Anm. 24), hier: S. 190-194.<br />

29 Ebd., S. 194.


188 Timothy McFarland<br />

gesagt worden. Jetzt spielt die sinnliche Wahrnehmung eine<br />

Rolle, aber nur in bezug auf Geschenke, die als metonymische<br />

Ersatzgegenstände für die Geliebte einstehen müssen.<br />

Für das Verständnis der Gramoflanz-Figur ist es wichtig,<br />

daß der Leser von Parzival diese zweite Stufe im großen<br />

Gespräch mit Gawan unmittelbar erlebt. Auf diese Weise bekommt<br />

er nicht nur eine lebendige Darstellung des hochmütigen<br />

und selbstgefälligen Königs mit seinen Liebesgeschenken, sondern<br />

es wird ihm auch seine widersprüchliche doppelte Persona<br />

deutlich vor Augen geführt. Am Handgelenk und auf dem Kopf<br />

stellt er zur Schau die zwei Geschenke, die er von Itonje empfangen<br />

hat, aber dieser demonstrative Liebhaber ist auch derjenige,<br />

der seinen festen haz auf Lotes Sohn Gawan bekräftigt und<br />

die Herausforderung zum gerichtlichen Zweikampf auch dann<br />

noch aufrechterhält, nachdem Gawan ihn nachdrücklich auf die<br />

Unvereinbarkeit seiner beiden Hauptziele aufmerksam gemacht<br />

hat (609,1-610,24). Diese doppelte Persona manifestiert sich<br />

noch an dem für den Zweikampf festgelegten Tag, indem der<br />

aufwendig bewaffnete Gramoflanz sich auf den bevorstehenden<br />

Kampf mit Gawan freut und seine Liebe zu Itonje bekräftigt<br />

(685,1-10).<br />

Der nächste Tag bringt die entscheidende Wende, die mit<br />

der Begegnung von Gramoflanz und Beacurs auch die dritte<br />

Wahrnehmungsstufe herbeiführt. Am Vormittag unterliegt<br />

Gramoflanz im Kampf mit Parzival, den er für Gawan hält.<br />

Gleich darauf schickt er seine Boten zu Artus, um den Kampf<br />

mit Gawan sicherzustellen. Seiner Doppelnatur immer noch gemäß<br />

handelnd gibt er den Boten seinen Liebesbrief für Itonje mit<br />

auf den Weg. Es ist der Brief, der den zur Vermittlung entschlossenen<br />

Artus veranlaßt, Gramoflanz ins Hoflager einzuladen<br />

und ihm seinen Neffen Beacurs zur Begrüßung und zum sicheren<br />

Geleit entgegenzuschicken.<br />

Wir können jetzt die Bedeutung der Beacurs-Episode ermessen.<br />

Die unerwartete Konfrontation mit der charismatischen


Beacurs und Gramoflanz 189<br />

Erscheinung des jungen Mannes in der festlich-höfischen Menge<br />

in der Landschaft gewährt Gramoflanz eine durch die Geschwisteridentität<br />

besiegelte Vorstellung der Geliebten, die weit<br />

über alles hinausgeht, was er bisher erlebt hat. Aber darüber hinaus<br />

wird er in der symbiotischen Gestalt des Bruders, der nicht<br />

nur seine Schwester Itonje sondern auch seinen Bruder Gawan<br />

vertritt, mit den beiden widersprüchlichen Aspekten der eigenen<br />

Identität konfrontiert. Hatte er selber schon in seiner freiwilligen<br />

Wahl einer Geliebten aus der Familie von König Lot, den er für<br />

den Tod seines Vaters verantwortlich hält, diese beiden Aspekte<br />

in eine bedenkliche Nähe zueinander gebracht, so wird ihm jetzt<br />

klar vor Augen geführt, daß die doppelte und widersprüchliche<br />

Haltung der Familie gegenüber, die er noch am Morgen desselben<br />

Tages gezeigt hatte, nicht mehr aufrechtzuerhalten sei. Nach<br />

der Theorie der Blutrache könnte er den Tod seines Vaters auch<br />

an Beacurs rächen, der genau so sehr der Sohn von Lot ist wie<br />

Gawan. Aber diese Möglichkeit kommt ihm gar nicht mehr in<br />

den Sinn, weil er im Bruder jetzt nur noch die Schwester sieht.<br />

Damit vollzieht er die entscheidende Ablösung von der eigenen<br />

Vergangenheit. Die vierte und letzte Wahrnehmungsstufe wird<br />

damit erreicht, daß seine Augen Itonje sofort erkennen, wie der<br />

Erzähler bemerkt (724,24). Damit ist er am Ziel seiner<br />

Brautwerbungsgeschichte. Aber genau so wichtig für die<br />

Lebensgeschichte von Gramoflanz ist es, daß die verhandelnden<br />

Könige keine Schwierigkeit haben, ihn von seinen Forderungen<br />

abzubringen, den Kranzraub zu vergelten und den Tod des Vaters<br />

zu rächen. Denn sein Haß auf Lot ist wie Schnee im<br />

Sonnenschein verschmolzen: der zergienc, als in der sunnen snê<br />

(728,15).<br />

IV<br />

Zum Schluß möchte ich kurz auf die Frage eingehen, warum der<br />

jüngere Bruder von Gawan bei Wolfram Beacurs heißt. Eine erste<br />

Erwähnung in der Gahmuret-Vorgeschichte, wo die noch un-


190 Timothy McFarland<br />

geborenen schönen Männer Parzival und Beacurs, Lôtes kint, mit<br />

Kaylet verglichen werden (39, 22-28) muß für das Publikum ein<br />

Rätsel gewesen sein, auch wenn sein Vater Lot von Norwegen<br />

kurz danach am Turnier von Kanvoleis (66,11ff.) in Person anwesend<br />

ist. Beacurs tritt selber zweimal auf, also nur einmal vor<br />

der besprochenen Szene im vierzehnten Buch, und zwar in beiden<br />

Episoden am Hofe seines Mutterbruders König Artus. In der<br />

ersten ergreift Beacurs das Wort, nachdem Kingrimursel Gawan<br />

beschuldigt hat, Vergulahts Vater Kingrisin heimtückisch getötet<br />

zu haben, und ihn zum gerichtlichen Zweikampf gefordert hat<br />

(319,20-322,12). Der jüngere Bruder, der für Gawan bei diesem<br />

Zweikampf einspringen möchte (323,1-324,30), ist im Parzival<br />

Beacurs, aber bei Chrétien im Perceval heißt er Agrevain oder<br />

Engrevain li orgueillous as dures mains: ‚der Stolze, mit den<br />

starken Händen’. 30 Unter dem Namen Agrevain ist er in der französischen<br />

Artusliteratur auch sonst bekannt; vor allem in La<br />

Mort le Roi Artu spielt er eine unheilvolle Rolle beim Untergang<br />

der Tafelrunde. Das hat mit Wolfram nichts zu tun, und die<br />

Episode am Plimizoel im sechsten Buch bietet auch keine<br />

Erklärung dafür, warum Wolfram den neuen Namen wählte.<br />

Es muß aber in diesem Zusammenhang auffallen, daß<br />

Wolfram den fremdsprachigen Ausdruck bêâ curs an vier Stellen<br />

der Parzival-Erzählung verwendet, jedes Mal als eine<br />

Bezeichnung für die erotische Ausstrahlung von Condwiramurs,<br />

aus der Perspektive von Parzival gesehen. Drei von vier Belegen<br />

erscheinen an narrativisch hervorragenden Stellen der Erzählung,<br />

die dem Ausdruck einen hohen Stellenwert verleihen. 31 Vor allem<br />

30 Chrétien de Troyes (Anm. 22), v. 8140, S. 454 – 455.<br />

31 Parzival, 187, 20-23 (Parzival in Pelrapeire); 283,4-8 (die Blutstropfenszene);<br />

327,17-20 (Parzival an Clamide); 333,23-25 (Parzivals Aufbruch zur<br />

Gralsuche).


Beacurs und Gramoflanz 191<br />

gilt das für die Blutstropfenszene, als der in Gedanken versunkene<br />

Parzival die drei Tropfen zum ersten Mal sieht:<br />

„[…] Condwîr âmûrs, hie lît dîn schîn.<br />

sît der snê dem bluote wîze bôt,<br />

und ez den snê sus machet rôt,<br />

Cundwîr âmûrs,<br />

dem glîchet sich dîn bêâ curs:<br />

des enbistu niht erlâzen“ (283, 4-9).<br />

Aber auch die erste Begegnung Parzivals mit Condwiramurs in<br />

Pelrapeire, und sein Aufbruch vom Artushof am Plimizoel, um<br />

den Gral zu suchen, gehören zu den dichterischen und narrativen<br />

Höhepunkten des Parzivalromans.<br />

Es muß zu denken geben, daß der auffällige fremdsprachige<br />

Ausdruck, der auf leitmotivhafte Weise mit der schönsten Frau<br />

im Roman assoziert wird, auch als neuer Personenname für<br />

Gawans Bruder verwendet wird. Von den beiden Episoden, die<br />

ihn, wenn auch nur flüchtig, dem Rezipientenkreis von Parzival<br />

präsentieren, bietet nur die zweite, die Begegnung mit<br />

Gramoflanz im vierzehnten Buch, eine überzeugende Erklärung<br />

für die Umbenennung. Beacurs ist zweifellos der passende<br />

Name für den schönen jungen Mann, dessen charismatische<br />

Erscheinung bei dem Liebhaber seiner Schwester die Reaktion<br />

hervorruft, die ich in diesem Beitrag zu analysieren versucht<br />

habe. Aber wenn es stimmt, daß Wolfram Chrétiens Engrevain<br />

vor allem im Hinblick auf die Episode im vierzehnten Buch umgetauft<br />

hat, dann muß auch festgestellt werden, daß er diese<br />

späte Gramoflanzszene erzähltechnisch sehr langfristig vorbereitet<br />

hat, durch die Verwendung des Namens im sechsten Buch,<br />

und sogar schon im ersten Buch. Auch hier wird noch einmal erwiesen,<br />

daß unser Erzähler einen sehr langen Atem hat.<br />

University College London<br />

Timothy McFarland


192 Timothy McFarland

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