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Das Licht am Ende des Tunnels - Sylvia Klinzmann

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<strong>Das</strong> <strong>Licht</strong> <strong>am</strong> <strong>Ende</strong> <strong>des</strong> <strong>Tunnels</strong><br />

von <strong>Sylvia</strong> <strong>Klinzmann</strong><br />

<strong>Das</strong> <strong>Licht</strong> <strong>am</strong> <strong>Ende</strong> <strong>des</strong> <strong>Tunnels</strong><br />

Kälte umgibt sie, feuchte, unangenehme Kälte, die sich über ihren Körper ausbreitet. Es ist<br />

dunkel. Sie öffnet die Augen, doch es bleibt schwarz. Langs<strong>am</strong> steht sie auf, streckt ihre Arme<br />

aus und berührt kühlen, feuchten Felsen. Als sie laut ruft, hallt das Echo dumpf von den<br />

Steinwänden zurück. Vorsichtig bewegt sie sich vorwärts, macht Schritt für Schritt auf diesem<br />

Weg durch die Dunkelheit, von dem sie nicht weiß, wohin er sie führt und wann er enden<br />

wird.<br />

Gleich ist es soweit. Die drei Wochen sind schon wieder vorüber. Es kommt ihr so vor, als ob<br />

die Abstände immer kürzer würden. Ist es nicht erst ein paar Tage her, dass sie hier bereits<br />

zum zweiten Mal gesessen hat? Nervös rutscht sie auf ihrem Stuhl hin und her, starrt auf die<br />

gegenüberliegende weiße Wand, deren Eintönigkeit nur ab und zu durch ein eingerahmtes<br />

Poster unterbrochen wird. Der saubere, glänzende Fußboden <strong>des</strong> langen Gangs unterstützt<br />

noch das Bild dieser vollkommenen Sterilität.<br />

Rechts neben ihr gibt ein Fenster den Blick auf ein parkähnliches Gelände frei.<br />

Blattlose Baumgerippe ragen in den wolkenverhangenen Herbsthimmel. Ein brauner<br />

Blätterteppich bedeckt den Boden. Hier und da sitzt eine Krähe auf einem kahlen Ast – eine<br />

trostlose, wenn nicht sogar gespenstische Szene. Die Melodie <strong>des</strong> Filmes „Spiel mir das Lied<br />

vom Tod“ kommt ihr in den Sinn. Na, Lisa, der Titel passt ja prima zu dir, denkt sie<br />

sarkastisch und verflucht jedoch im selben Augenblick ihre Gedanken. Sie will nicht mehr<br />

negativ sein und nur noch positiv denken. Obwohl ihr das meist sehr schwer fällt, besonders<br />

morgens, wenn sie vor dem Badezimmerspiegel steht, und ihr dieses blasse Gesicht mit den<br />

großen, von dunklen Schatten umrandeten Augen entgegenschaut. Dort, wo sonst<br />

kastanienbraune Locken bis auf ihre Schultern fielen, glänzt nun kahlrasierte Kopfhaut. Ihr<br />

Blick wandert weiter nach unten, bleibt an ihrem Busen haften. Rechts wölbt sich eine<br />

wohlgeformte und trotz Schwangerschaft und Stillzeit noch straffe Brust. Links ist alles flach,<br />

nur eine lange, gerötete Narbe verläuft quer hinüber bis unter die Achselhöhle.<br />

„Machen Sie sich keine Sorgen“, hatte ihr Arzt sie beruhigt, „in circa zwei Jahren können Sie<br />

sich ihre Brust wieder aufbauen lassen.“<br />

Man würde fast keinen Unterschied bemerken, hatte er gesagt. Sogar eine neue Brustwarze<br />

würde geformt werden. Dazu würde man Haut von ihren Sch<strong>am</strong>lippen entfernen, da diese<br />

dem empfindlichen Warzengewebe <strong>am</strong> nächsten käme. Eigenartiger Gedanke.<br />

Lisa schaut nach draußen, es hat angefangen zu regnen. Der Wind treibt die Tropfen gegen<br />

die Fensterscheibe, wo sie langs<strong>am</strong> herunterlaufen. Die Krähen sind verschwunden,<br />

wahrscheinlich haben sie sich einen trockenen Unterschlupf gesucht.<br />

Sie denkt an die Zukunft, wird die Krankheit irgendwann wieder ausbrechen? Sie will und<br />

darf sich nicht fallen lassen, sie muss nach vorne schauen. <strong>Das</strong> ist sie ihrer F<strong>am</strong>ilie und ihren<br />

Freunden schuldig. Sie haben sich so süß verhalten und geben ihr soviel Halt. Ihre Freundin<br />

ruft jeden Tag an und versucht, Lisa mit Einkaufsbummeln und Kinobesuchen abzulenken.<br />

Ihr Mann nimmt sie oft in den Arm, streichelt ihr über das Gesicht und flüstert: „Vergiss<br />

nicht, mein Schatz, ich liebe dich und nicht deinen Busen.“ Ihre kleine Tochter hatte sich mit<br />

erhobenem Zeigefinger vor sie hingestellt und mit ernster Miene gesagt: „M<strong>am</strong>i, du musst<br />

jetzt ganz viel essen, dann wächst dir schnell eine neue Brust.“


In solchen Momenten kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie versucht es auch gar nicht,<br />

sondern lässt ihnen freien Lauf. Hinterher fühlt sie sich dann viel leichter.<br />

Die Tür neben ihr geht auf, und eine Krankenschwester schaut heraus.<br />

„Sie können jetzt hereinkommen, wir sind soweit“, sagt sie. Schweren Herzens erhebt Lisa<br />

sich und folgt ihr in den Raum. Auch hier ist alles weiß und steril. Sie legt sich auf die Liege<br />

und hofft nur, dass die Schwester diesmal sofort ihre Vene trifft, um die Kanüle für den Tropf<br />

zu befestigen. Beim letzten Mal hat sie drei Versuche gebraucht. Doch Gott sei Dank klappt<br />

es diesmal ohne Probleme und schon bald rinnt das Medik<strong>am</strong>ent tropfenweise in ihren<br />

Blutkreislauf, wo es den K<strong>am</strong>pf mit den eventuell noch vorhandenen Krebszellen aufnimmt,<br />

sie an deren Teilung hindert und schließlich vernichtet.<br />

Obwohl ihr Tumor zum Glück noch keine Metastasen gebildet hat, muss Lisa eine<br />

Chemotherapie machen. Die Ärzte wollen ganz sicher gehen, dass keine bösartigen Zellen<br />

mehr zurückbleiben. Leider werden durch das Medik<strong>am</strong>ent auch gesunde Zellen zerstört,<br />

<strong>des</strong>halb ist ihr Immunsystem zurzeit sehr geschwächt. Sie ist ständig erkältet und müde.<br />

Ungefähr zwei Stunden nach der Therapie beginnt die Übelkeit und nur wenig später<br />

schmerzen ihr sämtliche Glieder, als ob sie eine schwere Grippe hätte. Außerdem hat sie<br />

ständig einen ekelhaften, metallischen Geschmack im Mund. Sie schaut auf die Glasflasche<br />

und beginnt die Tropfen zu zählen: eins, zwei, drei … bei fünfzig schließt sie die Augen und<br />

blickt in die Dunkelheit <strong>des</strong> nicht enden wollenden <strong>Tunnels</strong>. Unermüdlich bewegt sie sich<br />

vorwärts, ohne zu wissen, wann sie ankommen wird. Eine sanfte Bewegung an ihrer Schulter<br />

lässt Lisa zus<strong>am</strong>menzucken, sie öffnet die Augen und sieht die Schwester, die sich über sie<br />

gebeugt hat. Ihr dichtes, blon<strong>des</strong> Haar ist zu einem dicken Zopf geflochten und reicht bis auf<br />

ihren kräftigen Busen herunter.<br />

„Fertig?“, fragt Lisa mit leiser Stimme. Die Schwester nickt ihr lächelnd zu, während sie<br />

bereits die Kanüle entfernt. Benommen richtet sich Lisa auf und bleibt noch einen kurzen<br />

Augenblick auf dem Rand der Liege sitzen, bevor sie nach ihrer Tasche greift und auf den<br />

Flur hinausgeht. Ihr Herz kr<strong>am</strong>pft sich zus<strong>am</strong>men, als sie das kleine, blasse Mädchen sieht,<br />

das eng angekuschelt auf dem Schoß seiner Mutter sitzt, ein Tuch mit lustigen Disney-<br />

Figuren um den zarten Kopf geknotet. Auf einmal ist sie unendlich froh, dass es nicht ihre<br />

kleine Tochter ist, die hier sitzt, sondern, dass sie selbst es sein darf, die den Raum verlässt.<br />

Noch dreimal muss Lisa diese Prozedur über sich ergehen lassen, dann kann sie hoffentlich<br />

wieder ein einigermaßen normales Leben führen.<br />

Doch ein Dämon wohnt tief in ihrem Innersten. Sein N<strong>am</strong>e ist Angst, und er lauert nur darauf,<br />

herauszukommen und über sie herzufallen. Oft tut er dies abends, wenn sie im Bett liegt und<br />

dann ist sie einfach nur unendlich froh, dass jemand neben ihr liegt, der sie ganz fest in den<br />

Arm nimmt und ihr hilft, den hässlichen Dämon zurück in seine Höhle zu treiben.<br />

Lisa weiß, dass sie bald <strong>am</strong> <strong>Ende</strong> <strong>des</strong> dunklen <strong>Tunnels</strong> angelangt ist, und das <strong>Licht</strong> nicht mehr<br />

fern ist. Wenn sie genau hinschaut, kann sie bereits einen ersten schwachen Schein erahnen.

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