Rede zur Eröffnung der Ausstellung Waisenkinder - Verdingkinder ...

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Grädel musste darauf die Blicke der ganzen Klasse ertragen, alle drehten sich nach ihm um und starrten ihn an.“ [2] Das ist ein Beispiel, wo auch der Lehrer die Ausgrenzung des Verdingkinds mitträgt. Christoph Grädel wurde in der Schule ebenso benachteiligt wie im übrigen Leben. Es gab aber auch Lehrpersonen, die anders handelten. Das war durchaus möglich. Es lag in ihrem Ermessen und hing einzig von ihrem Charakter und ihrer Haltung ab. Aus der Geschichte von Elfie Stiefmaier überliefert das Buch folgenden Ablauf im Thurgau der 1930er Jahre, der dank der Intervention eines Lehrer-Ehepaars, eines Arztes und eines Pfarrers zu einer Umplatzierung an einen anderen Ort führte. Zu den Pflichten des Verdingmädchens Elfie Stiefmaier, das aus kleinstem Anlass verprügelt wurde, gehörte es, morgens den Nachttopf des Bruders des Bauern zum Plumpsklo zu tragen und ihn dort zu leeren. Ich zitiere: „Eines Tages vergass sie, den Nachttopf rechtzeitig zu leeren. Die Pflegemutter schüttete ihr zur Strafe den Inhalt über den Kopf. Das Mädchen durfte sich nicht einmal waschen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als verschmutzt und stinkend zur Schule zu gehen. ‚Ich traute mich nicht, hineinzugehen, denn ich schämte mich.’ Da kam die Frau des Lehrers die Treppe herunter – damals wohnten die Lehrer auf dem Land oft im Schulhaus – und fragte, was sie da mache und warum sie so seltsam rieche. Sie nahm sich ihrer an, brachte sie in ihre Wohnung, wusch ihr die Haare und spritzte Parfüm darauf. Elfie Stiefmaier ging strahlend nach Hause und sagte: ‚Jetzt dufte ich wenigstens einmal fein.’ Doch darauf bekam sie erneut Schläge. Kurz darauf fiel sie vor der Schule in Ohnmacht. Sie wurde in die Wohnung des Lehrers gebracht. Als ihr die Lehrersfrau die Kleider auszog, schrie sie vor Schmerzen. Der Körper des Mädchens war übersät mit mit vereiterten Striemen von den Schlägen. (...) Der Lehrer und seine Frau brachten Elfie Stiefmaier zum Arzt, der die Wunden verband. (...) Er setzte sich mit dem Pfarrer in Verbindung“, und es kam zu einer Umplatzierung.[3] Allerdings hatte auch der ihr anschliessend zugewiesene Pflegeplatz seine Mängel; der dortige Hausherr war der Meinung, am besten gehe die Pflegebefohlene gar nicht zur Schule, sondern arbeite den ganzen Tag. Diese Geschichte zeigt folgendes: Solche Interventionen, die es bei der Einschaltung der Zuständigen beliessen, vermochten das System nicht zu ändern. Sie gaben aber den Betroffenen wenigstens einen Lichtblick in ihrer düsteren Lage. Denn im Prinzip waren die Respektspersonen eines Dorfes, solange sie nicht zur Abschaffung dieses Systems schritten, sondern es bestenfalls ein wenig zu humansieren und zu optimieren versuchten, selber Teil des Verdingkindersystems. Wieder andere solcher dörflichen Respektspersonen waren zudem in noch direkterer Weise Teil des Systems, denn es gab auch Lehrer, Aerzte und Pfarrer mit Pflegekindern, die sie zu übermässiger Arbeit in Haushalt und Garten einsetzten. Liebe Anwesende, leider könnte ich ihnen noch sehr, sehr viele solche Geschichten erzählen. Sie finden einige davon im zitierten Buch, andere in anderen Büchern, in 4
Filmen, in Zeitungen und Zeitschriften oder im Internet. Viele Betroffene haben unterdessen auch ihre eigene Geschichte aufgeschrieben. Es freut mich besonders, dass neben Walter Emmisberger auch einige weitere Betroffene hier anwesend sind. Ich bekunde Ihnen allen meinen Respekt dafür, dass Sie trotz einer solchen Kindheit Ihren Weg gefunden haben, und ich freue mich, Sie in Ihren Anliegen unterstützen zu können. Ich wünsche Ihnen allen nun ein genaues Hinsehen, hier in dieser Ausstellung, aber auch im heutigen sozialen Umfeld. Denn auch unseres Zeit hat, wie ich schon sagte, ihre Missstände und Dunkelkammern, und spätere Generationen werden uns einmal daran messen, wie wir uns dazu stellen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. [1] Herausgegeben von Marco Leuenberger und Loretta Seglias, Zürich 2008 [2] Alle Zitate op. cit., S.35 [3] op. cit., S.195 f. 5
Seite 1 und 2: Dr. Thomas Huonker, Historiker, Zü
Seite 3: So war es glücklicherweise nicht.

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