Download - Rita Weininger
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von <strong>Rita</strong> <strong>Weininger</strong><br />
Ohne meine Schwester<br />
Elisabeth Windmaisser<br />
1953 - 2010<br />
Masai von Lise<br />
Zwei Wochen vor ihrem Tod gemalt<br />
Das Rad des Lebens dreht sich unaufhörlich. Es nimmt uns mit: trägt uns nach<br />
oben und wieder nach unten. Meine Reise auf dem Lebensrad hat mich eben einen<br />
Punkt erreichen lassen, der mir wie ein Höhe- und ein Tiefpunkt gleichermassen erscheint:<br />
Meine Schwester Lise ist gestorben. In den letzten Wochen, Tagen und während<br />
ihrer letzten Nacht habe ich sie begleitet und ihren grossen Wandel hautnah<br />
miterlebt, mitgefühlt, gehalten. Im Traum sah ich, was bald sein wird - unsagbares<br />
Ahnen, das mich in seiner Klarheit voll herausforderte, manchmal überforderte. Eine<br />
Zeit am feinen Grat zwischen tiefstem Vertrauen und der bangen Aufregung vor dem<br />
absolut Unbekannten - zwischen Leben und Tod. Eigentlich wandeln wir unser ganzes<br />
Leben in dieser Zone. Wenn wir es jedoch gewahren, weil wir erleben, wie ein geliebter<br />
Mensch sich vom Leben verabschiedet, und wie er sich vorbereitet auf die<br />
Wege ohne uns, trifft uns die unaussprechliche Gewissheit mit unvorstellbarer Wucht.<br />
Es ist wie mit einer Handvoll Wasser in der Wüste zu stehen - wir können es noch so<br />
fest halten, wir spüren, wie es allmählich zwischen die verkrampften Finger sickert<br />
und an der Oberfläche verdunstet. Es entzieht sich unserem Wollen, unserem Be-<br />
Griff, unserem Tun. Es geschieht. Das Wunder des Lebens offenbart sich im Sterben<br />
als unausweichliches Geschenk.<br />
Meine Schwester Lise - eine herausfordernde Lebenslehrerin<br />
Wir hatten es nicht leicht, jede für sich und miteinander. Sie als eine der Älteren,<br />
ich als eine der Jüngeren von 7 Kindern. Es heisst, in grossen Familien übernehmen<br />
die beiden ältesten Geschwister auch die Funktion der Eltern. Bei uns traf das voll zu.<br />
Lise war streng zu uns Kleineren, mitunter unerbittlich und strafend wie unser Vater.<br />
Und sie wusste den geschwisterlichen Machtvorteil für sich selbst auszunutzen, verlangte<br />
wie selbstverständlich dienerischen Gehorsam. Dafür schaute sie, dass die Familie<br />
einen guten Eindruck machte, nähte uns richtig schöne Kleidung, damit wir in<br />
der Öffentlichkeit, vor allem sonntags in der Kirche, auch was hermachten. Für uns<br />
«arme» Bauernkinder waren «feine» Sachen keine Selbstverständlichkeit. Durch Lises<br />
Eifer und Geschick wurden wir in der Gemeinde tatsächlich beachtet, bestaunt und<br />
vielleicht sogar beneidet. Meine Schwester wurde eine geniale Schneiderin, die es<br />
liebte, sich selbst und andere herauszuputzen.<br />
Die schwesterliche Dominanz wollte ich mir später nicht mehr gefallen lassen und<br />
rebellierte mit Modeverweigerung. Legére, einfach und ein bisserl g’schlampert war<br />
von nun an mein Kleidungs-Motto. Auch den sonntäglichen Kirchgang - das Pflichtritual<br />
- stellte ich in Frage, empörte mich doch, wie er vielen als Bühne für ihre profanen<br />
Eitelkeiten diente. Für meine Schwester war es ein Affront, ärgerlich und<br />
beschämend, wie ich herumlief. Ich war stolz auf meinen Mut zum eigenen Stil. Erbitterter<br />
Schwesternstreit. Grenz- und Würde-Gerangel. Später fand ich heraus, dass<br />
wir um das jeweils andere Ende der gleichen Wurst kämpften: um die Gunst der Eltern,<br />
um Anerkennung, um Liebe, um unser je eigenes Selbst-Verständnis als Mädchen<br />
und Frauen. Die kirchlich-katholischen hoch gepriesenen Lehren und Riten, die<br />
dörflich-sozialen und familiären Gepflogenheiten hatten für uns Mädchen und Frauen<br />
einen wenig begehrenswerten Magd-Status vorgesehen. Wir waren 6 Schwestern<br />
und erlebten dabei auch alltäglich geballte Mädchen- und Frauenkraft - da wollte<br />
und sollte es doch noch was anderes geben als gefügiges Dienen und Handlangerin<br />
zu sein! So solidarisierten wir uns insgeheim, voll der Freude ob der Kühnheit unserer<br />
je eigenen Lebensträume.<br />
Unsere Eltern waren von schweren Kriegsschicksalen mitgenommen. Die Traumen<br />
warfen ihre Schatten. Ich glaube, Kinder von traumatisierten Eltern sind gleichermassen<br />
gefährdet, einer Sucht zu erliegen oder einen heilerischen Beruf zu ergreifen.<br />
Meine Schwester wählte die weniger angesehene Variante, die Sucht: Geltung, Leistung,<br />
Alkohol, Zigaretten. Ich wählte die helfend-heilerische Kunst und weiss, dass<br />
ein guter Teil wie bei meiner Schwester seelische Not und geltungsbedürftige «Überlebensstrategie»<br />
darin steckte: der tiefe Wunsch, den peinigenden inneren Mangelzustand,<br />
den unheimlich tief sitzenden Zweifel an der eigenen Wertigkeit zu bewältigen.<br />
Heute empfinde ich, dass wir aus demselben Holz geschnitzt sind, auch<br />
wenn wir unterschiedliche Figuren geworden sind. Schwesternliebe, die an-erkennt,<br />
dass jede ihren bestmöglichen Weg geht.<br />
Immer wieder hat mich das Leben meiner Schwester erschüttert, ihr Ringen mit der<br />
Sucht, um ihre Würde. Ich hatte zu Ringen mit meiner Grenze, sie zu wahren in Situationen,<br />
wo es ihr sehr schlecht ging, wo sie meinte, meine Hilfe unbedingt zu<br />
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«brauchen». Verführerisch, dieses Angebot anzunehmen, aber nicht wirklich heilsam,<br />
wie ich mit der Zeit begriff. Ich musste lernen, meine «abhängige» Schwester<br />
nach meinen Kräften zu unterstützen und nicht, wenn sie es forderte. Diese feine Unterscheidung<br />
war ein Meilenstein in der Gewahrung meiner eigenen Grenze, Selbstverantwortung<br />
und Selbstachtung. So gelang es mir, nicht mehr so sehr an ihrem<br />
Leiden zu leiden. Erst dadurch konnte ich sie wieder schätzen und zeitweise gut unterstützen,<br />
auch wenn sie ihr Leben oft auf so offensichtlich destruktive Weise gestaltete.<br />
Geschenkte Zeit<br />
Meine Schwester hatte einen Herzstillstand überlebt und davon ein intensives Nah-<br />
Tod-Erlebnis «mitgebracht». Damit einher ging eine starke Persönlichkeitsveränderung,<br />
die sehr unterschiedlich wahrgenommen wurde. Während sie für die einen<br />
jetzt völlig durchgedreht war, haben andere die Veränderung positiv erlebt. Mir erschien<br />
sie wie neugeboren, von einer Klarheit, Weisheit und einer Kraft beseelt, die<br />
ihr erlaubte, ihr grenzwertiges Leben am seidenen Faden voll und ganz anzunehmen,<br />
die unterschwellige Feindschaft sich selbst gegenüber, die innere zwanghafte<br />
Abwertung ob ihrer «Unfähigkeiten» nicht mehr nötig zu haben und das «bisschen»<br />
Leben, das ihr geblieben war, wertschätzend, kreativ und dankbar zu leben.<br />
Neben den Stoffen galt ihre Leidenschaft den Farben. Sie schuf viele schöne Stillleben:<br />
am liebsten mit Blumen. «Vergissmeinnicht sind am schwierigsten», stellte sie<br />
leicht verwundert fest. Mit ihrem letzten Bild, welches sie kurz vor ihrem Tod malte,<br />
gelang es ihr, sogar sich selbst zu überraschen. «Jetzt habe ich einen ganz neuen<br />
Stil», freute sie sich unbefangen wie ein kleines Mädchen, das seine eigene Grösse<br />
erahnt. Sie liess mich in allen Einzelheiten teilhaben an ihren inneren Bewegungen,<br />
die zu einem neuen Ausdruck drängten: eine stolze, dunkle, strahlende Massai-Kriegerin.<br />
Würdevoll und ergreifend lebendig. Sie kehrte für mich sichtbar in sich selbst<br />
heim.<br />
Lebenslehrerin blieb sie mir bis zuletzt, da sie mir erlaubte, sie bis an die Schwelle<br />
zu begleiten. Dort angekommen, ist sie mir ins Herz hinein gestorben. Dort, wo ich<br />
den Raum gehalten habe für sie, für mich, wo meine Gebete auf den Grund des stillen<br />
Sees gesunken sind. Dort ist ein Fenster aufgegangen, durch das sie hinaus und<br />
hinüber konnte. Durch das mir der Zauber des Lebens den Faden neu reicht. Ich lasse<br />
ihn mit meinen Tränen in meine weich geöffneten Hände fliessen, die leer sind, still<br />
halten, freigeben. Fassungslos müssen sie die Bewegung erst wieder neu spüren.<br />
Ohne meine Schwester.<br />
<strong>Rita</strong> <strong>Weininger</strong>*<br />
Erinnern - Mein Lebensweg<br />
Dieser Reichtum,<br />
der vielen Jahre<br />
das Helle, das Dunkle<br />
das Wärmende<br />
das Vereisende<br />
die Freude, das Jubeln<br />
der Kummer, das Leid<br />
hat Wachstum ermöglicht.<br />
Dankbar schaue ich<br />
die Erinnerung an.<br />
Das Abgebrochene,<br />
die neuen Triebe,<br />
immer wieder<br />
Blüten und Früchte.<br />
Das Knorrige -<br />
es gehört zu mir,<br />
das Verwurzeltsein auch.<br />
Schmerz<br />
Heimtückisch aus<br />
dem Hinterhalt<br />
wirft er sein Lasso<br />
aus<br />
den Nacken in<br />
festem Griff<br />
Er deckt den<br />
Tisch<br />
mit alten Wunden<br />
und schneidet<br />
vom eigenen Fleisch<br />
Anna Meer<br />
Bei der Erdmutter<br />
In mir beginnen alle Pfade<br />
Und münden wieder in mir ein.<br />
Ihr sollt am nächtlichen Gestade<br />
Für eine Zeit wie schlafend sein.<br />
Dem Korn, das in der Erde ruhte,<br />
Entsteigt der Keim, des Stengels Schaft.<br />
Ich nähre ihn mit meinem Blute,<br />
Ich treibe ihn mit meiner Kraft.<br />
So steigt er aus dem engen Kerne<br />
Ins weite drängend an den Tag.<br />
Doch wie ein Klang aus weiter Ferne<br />
Bewegt ihn meines Herzens Schlag.<br />
Die Blüte wächst, die Ähren wehen,<br />
Der Samen fällt, es bricht das Reis,<br />
Und Wälder werden und vergehen<br />
Auf mein Geheiss.<br />
Was einst der Sonne zugewendet<br />
Des Lebens hohes Glück genoss,<br />
Was immer sich im Licht vollendet,<br />
Es kehrt zurück in meinen Schoss.<br />
Ewig steigt und pocht mein Blut,<br />
Auch was schlimm erscheint ist gut.<br />
Alle, die in mir beginnen,<br />
Werden einst das Licht gewinnen,<br />
Steigen, sinken, auf und nieder,<br />
Alle, alle kommen wieder ...<br />
Marie Luise Kaschnitz<br />
Die Liebe stösst<br />
er achtlos beiseite<br />
kleinlaut sinkt<br />
sie zu Boden<br />
In einer stillen Stunde<br />
legt sich der Sturm<br />
Aus einer Ecke winkt<br />
die Dankbarkeit<br />
Dankbarkeit heilt<br />
Susanna Baur<br />
aus «39 Gedichte, die das Leben<br />
schrieb», Literareon<br />
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