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DER SPIEGEL 48_2013.pdf

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WERNER SCHUERING / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Hausmitteilung<br />

25. November 2013 Betr.: Titel, Gleichberechtigung, <strong>SPIEGEL</strong> GESCHICHTE<br />

Vor gut einer Woche auf dem SPD-Parteitag in Leipzig beobachteten die<br />

<strong>SPIEGEL</strong>-Redakteure Horand Knaup und Gordon Repinski eine tief verun -<br />

sicherte Partei. Sie sprachen daraufhin mit Dutzenden Genossen, der Eindruck<br />

verfestigte sich: Ganz gleich, wie der Koalitionsvertrag ausfällt, der Mitte dieser<br />

Woche zwischen Union und SPD aufgesetzt werden soll – die Parteispitze fürchtet<br />

eine Niederlage beim Mitgliederentscheid. Acht <strong>SPIEGEL</strong>-Kollegen befragten nun<br />

überall in Deutschland Vorsitzende von Ortsvereinen, Kreisverbänden und Landes -<br />

vorständen. Der Tenor war stets derselbe, in Ostholstein und in Bochum, in Erfurt<br />

ebenso wie in Oberfranken: Kaum ein Sozialdemokrat kann sich für eine Große<br />

Koalition begeistern, die Parteispitze fürchtet sich offenbar zu Recht. „Die Genossen<br />

an der Basis haben ihren Wahlkampf gegen die Kanzlerin geführt“, sagt <strong>SPIEGEL</strong>-<br />

Redakteur Matthias Bartsch, „sie haben keine Lust, Angela Merkel zu einer weiteren<br />

Amtszeit zu verhelfen“ (Seite 20).<br />

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist ein wichtiges<br />

Thema der Koalitionsverhandlungen – weil sie noch immer<br />

ein wichtiges Thema in Deutschland ist. Vor einer Woche, immerhin,<br />

haben sich die Unterhändler von Union und SPD auf eine gesetzliche<br />

Frauenquote geeinigt, zum ersten Mal überhaupt. Sie löst<br />

die „freiwillige Selbstverpflichtung“ ab und soll für die Aufsichtsräte<br />

börsennotierter Firmen gelten. Das Gesetz, sagt <strong>SPIEGEL</strong>-<br />

Redakteurin Susanne Amann, sei ein „Paradigmenwechsel für<br />

die deutsche Industrie“. Gemeinsam mit den Kollegen Nicola Abé,<br />

Markus Dettmer, Frank Dohmen, Dietmar Hawranek und Simone<br />

Salden hat Amann recherchiert, wie die Unternehmen es umsetzen wollen. Um<br />

Gleichberechtigung geht es auch in zwei weiteren Geschichten: Die <strong>SPIEGEL</strong>-<br />

Redakteurin Claudia Voigt untersucht in einem Essay, wie schwer es für Frauen ist,<br />

Familie und Beruf zu vereinbaren (in einer<br />

Umfrage gaben erst kürzlich 60 Prozent<br />

der Männer an, Frauen besäßen<br />

für Hausarbeit ein besonderes Talent);<br />

Ann-Katrin Müller und Ralf Neukirch<br />

interviewten zwei Frauen, die für sich<br />

persönlich eine Lösung gefunden haben:<br />

die Bundestagsabgeordneten Sylvia Pantel<br />

(CDU) und Ursula Schulte (SPD), die<br />

beiden einzigen Frauen im Deutschen<br />

Müller, Pantel, Schulte, Neukirch<br />

Die Renaissance, die Zeit zwischen dem 14. und dem<br />

16. Jahrhundert, gilt als Epoche der Genies und Ent -<br />

decker: Botticelli, Dürer und Leonardo da Vinci verehrten die<br />

Antike, zugleich richtete sich ihr Blick auf den Menschen, auf<br />

seine Gefühle. Die von Italien ausgehenden Umwälzungen in<br />

Gesellschaft und Kultur veränderten Europa. Diese Ära, die<br />

heute wie ein Laboratorium der Neuzeit erscheint, wird in der<br />

neuen Ausgabe von <strong>SPIEGEL</strong> GESCHICHTE, „Die Renaissance<br />

– Aufbruch aus dem Mittelalter“, beschrieben. Das Heft<br />

ist, auch als digitale Ausgabe, von Dienstag an erhältlich.<br />

Voigt<br />

Bundestag, die im Bundestagshandbuch<br />

als Beruf „Hausfrau“ angegeben haben<br />

(Seiten 54, 72, 156).<br />

CHRISTIAN WERNER / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Im Internet: www.spiegel.de<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 5


<strong>SPIEGEL</strong>-Titel 47/2013<br />

Briefe<br />

„Für die Beschlagnahme der Bilder gibt es<br />

keine rechtlichen Gründe. Sollte jemand<br />

Besitzansprüche stellen, so kann er dies mit<br />

einer Klage vor Gericht tun. Käme man<br />

dort auf den Gedanken, keine Verjährungsfristen<br />

anzuerkennen, müsste wohl<br />

auch die Nofretete ihre Heimreise antreten.“<br />

KLAUS FISCHER, DITZINGEN (BAD.-WÜRTT.)<br />

Ich bin tief berührt von Frau Gezers außergewöhnlichem<br />

Artikel. Es gelingt ihr,<br />

ohne jeden Anflug falscher Sentimentalität,<br />

diesem so sympathisch aus der Zeit<br />

gefallenen Herrn eine Stimme zu geben.<br />

Eine Stimme, die mir schlagartig zu Bewusstsein<br />

geführt hat, wie sehr ich bereits<br />

das System des Stärkeren, der breiten<br />

Mehrheit, verinnerlicht hatte.<br />

JÖRG HOLZWARTH, FELDAFING (BAYERN)<br />

Lasst uns für Gurlitt und seine Sammlung<br />

ein Museum bauen. Dies wäre der würdigste<br />

Umgang mit seiner Geschichte.<br />

PETER BLASIUS ERK, GSTADT AM CHIEMSEE<br />

Nr. 46/2013, Das Rätsel und der Streit<br />

um den Sensationsfund von<br />

München; Nr. 47/2013, Gespräche mit<br />

einem Phantom<br />

Ein Museum für Gurlitt!<br />

Die Person Cornelius Gurlitt eignet sich<br />

nicht als Täterfigur. Eher ist er ein Sonderling,<br />

dem die ihn umgebende Gesellschaft,<br />

leistungsbetont und hedonistisch,<br />

den Beitritt unmöglich macht. Wo ist da<br />

Schuld? Wo sind Staatsanwalt und Richter,<br />

die über eine erst noch zu findende<br />

Anklage und eine zu ermittelnde Schuld<br />

befinden müssen? Ist ihm bewusst, dass<br />

er auf einem beachtlichen Hügel aus Geld<br />

sitzt, von dem er glaubt, dass sein Vater<br />

ihn nach den Gesetzen der Nazis rechtmäßig<br />

erworben hat?<br />

WOLF P. PRANGE, BERLIN<br />

Wie Sie Ihre Recherchen zum „Fall Gurlitt“<br />

ausbreiten und dem Leser ermög -<br />

lichen, sich ein Bild von den vielen widersprüchlichen<br />

Grautönen zu machen,<br />

ist einfach vorbildlich. Die Reportage<br />

von Özlem Gezer über Cornelius Gurlitt<br />

ist ein großes Stück Journalismus: Einfühlsam<br />

und fair kommt sie dem Menschen<br />

hinter dem „Phantom“ nahe und<br />

zeigt zugleich den zeitgeschichtlichen<br />

Hintergrund. Großartig und preisverdächtig.<br />

PETER SÖTJE, BERLIN<br />

Özlem Gezer ist gelungen, was der Generalstaatsanwalt<br />

und seine Behörde versäumt<br />

haben: Sie hat Licht in diesen<br />

„Kunstskandal“ gebracht. Trotz der hysterischen<br />

Reaktion der Behörde und der<br />

Öffentlichkeit sollte weiter so verfahren<br />

werden – im Interesse aller Beteiligten.<br />

HARM VON LINTIG, ROTTWEIL (BAD.-WÜRTT.)<br />

8<br />

Hier enthüllt sich ein menschliches Drama.<br />

Es zeigt sehr sensibel das Bild eines<br />

alten Mannes und die große Liebe zu seinen<br />

Bildern. Er hat den Zugang zur realen<br />

Welt verloren. Es scheint aber, er verschließe<br />

sich nicht vor der Erkenntnis,<br />

Geraubtes, Unrechtmäßiges zurückzugeben.<br />

Es sei ihm zu gönnen, dass die Justiz<br />

nun korrekt und ohne Einflussnahme den<br />

Besitz überprüft und dem alten Mann<br />

lässt, was ihm gehört, damit er weiterhin<br />

sein Leben leben kann.<br />

SILKE GOEVERT, GÜTERSLOH<br />

Raubkunst ein zweites Mal vom Staat geraubt.<br />

Peinlich. Und wieder einmal ist es<br />

der <strong>SPIEGEL</strong>, der Licht ins Dunkel bringt<br />

und Fakten zutage fördert, um das zu<br />

korrigieren, was uns offiziell verkauft<br />

werden soll.<br />

DR. ECKHARD KUHN, ROSENGARTEN (NIE<strong>DER</strong>S.)<br />

Bild von Hans Christoph aus Gurlitt-Sammlung<br />

Nachdem die Öffentlichkeit von den Ermittlungsbehörden<br />

und der Presse ausgiebig<br />

darüber informiert wurde, nicht etwa<br />

wie schön diese Bilder sind, sondern vor<br />

allem dass sie so viel wert sind, kann der<br />

alte Herr seine Lieblinge, falls er sie zurückbekommt,<br />

wohl nur noch im kuscheligen<br />

Tresorraum einer Bank bewundern.<br />

PETER HEINRICHS, GERMERING (BAYERN)<br />

Cornelius Gurlitt besitzt die Bilder seines<br />

Vaters genauso rechtmäßig, wie das Kind<br />

eines Siedlers das Land besitzen wird,<br />

welches von seinen Vorbesitzern 19<strong>48</strong><br />

oder 1967 in Panik vor Gewalt und Vertreibung<br />

aufgegeben wurde. Jede Gesellschaft<br />

muss eine justitiable Grenze ziehen,<br />

vor der sie sich in Diskussionen, wer<br />

Täter oder Opfer war, im Interesse der<br />

Rechtssicherheit nicht mehr einlässt. Die<br />

Ansprüche der Alteigentümer an den Privatmann<br />

Gurlitt sind verjährt.<br />

JOSEF RIGA, CELLE<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

PUBLIC PROSECUTOR OFFICE'S AUGSBURG / DPA<br />

Was bis jetzt an Gemälden und so weiter<br />

veröffentlicht wurde, ist kaum mehr als<br />

Ateliermüll, bestenfalls Mittelmaß – abgesehen<br />

von einer Arbeit von Franz Marc.<br />

Mit etwas Zynismus könnte man sagen,<br />

wenn nicht noch was Besseres kommt,<br />

gebt das ganze Zeug an Gurlitt zurück.<br />

DR. LASZLO KENYERI, IMPERIA (ITALIEN)<br />

Eine einfühlsam und behutsam geschriebene<br />

Reportage, die trotzdem nichts<br />

verschweigt. Und ein Beispiel dafür, wie<br />

lange maßlose Despotie und staatlich organisierte<br />

Verbrechen nachwirken auf<br />

Menschen und Gemüter. Hier werden<br />

Wunden aufgerissen, die längst abgeheilt<br />

schienen. Schon sind die Bataillone aufgestellt,<br />

sie melden sich, die Juristen und<br />

Interessenvertreter. Gerechtigkeit, so viel<br />

steht fest, wird es nicht geben und nicht<br />

geben können, dazu ist es längst zu spät.<br />

Was sicher kommen wird, ist jahrzehntelange<br />

Juristerei. Was vielleicht bleiben<br />

wird, ist ein Momentblick auf einen Menschen,<br />

der in seiner weltentrückten Hilflosigkeit<br />

geradezu kafkaesk daherkommt,<br />

der sich fast 70 Jahre lang in einer skurril<br />

anmutenden Welt bewegt hat. Und, auch<br />

das scheint sicher, dessen Bürgerrechte<br />

eineinhalb Jahre lang in geradezu unglaublicher<br />

Weise missachtet wurden.<br />

MANFRED NOLTING, LENNESTADT (NRW)<br />

Unsäglich, wie hier auf der Asche der ermordeten<br />

Besitzer über echte und falsche<br />

oder ersessene Rechte und über die Frage<br />

diskutiert wird, ob jüdische Deutsche<br />

nach 1933 mit den Satrapen von Goebbels<br />

auf Augenhöhe diskutieren konnten. Wo<br />

bleibt der Aufschrei?<br />

WOLF THIEME, BAD BELZIG (BRANDENB.)<br />

Ohne jeden Zweifel muss jüdisches<br />

Eigentum, das die rechtmäßigen Besitzer<br />

verfolgungsbedingt verloren haben, den<br />

Erben zurückgegeben oder eine Entschädigung<br />

gefunden werden. Doch der Wertzuwachs<br />

der Bilder ist nicht das Verdienst<br />

der jüdischen Erben, sondern von Hildebrand<br />

und Cornelius Gurlitt. Das sollte<br />

eine faire Lösung bei jeder Restitution berücksichtigen.<br />

PROF. DR. DR. HANS E. MÜLLER, BRAUNSCHWEIG


Briefe<br />

Nr. 46/2013, Union und SPD<br />

verteilen Geschenke zu Lasten der<br />

jungen Beitragszahler<br />

Bitter nötiges Wahlgeschenk<br />

Dringenden Reformbedarf der Rentenanpassungen<br />

aus der schröderschen Regierungszeit<br />

als „Rentengeschenke“ zu diffamieren<br />

ist unzulässig. Rente muss – will<br />

sie gesellschaftlich legitimiert sein – zurückkehren<br />

zur Zielvorgabe der Absicherung<br />

des vorherigen Lebensstandards.<br />

DR. HARALD GROTH, DELMENHORST<br />

Wenn jemand 15-jährig begonnen hat und<br />

ohne Unterbrechung erwerbstätig war,<br />

hat er als 63-Jähriger <strong>48</strong> Jahre lang gearbeitet.<br />

Dann ist es doch nicht mehr als<br />

recht und billig, wenn dieser Mensch<br />

ohne Abzüge in Rente gehen kann. Eine<br />

Bevorzugung wie Sie in Ihrem absolut<br />

unausgewogenen Beitrag unterstellen, ist<br />

nicht gegeben. Die beabsichtigte Änderung<br />

ist überfällig und gerecht.<br />

BRUNO FISCHER, HOMBURG<br />

Der durch die kommende Altersarmut erforderliche<br />

zukünftige Finanzbedarf wird<br />

die prognostizierten 20 Milliarden Euro<br />

pro Jahr für die „Rentner-Geschenke“<br />

noch weit übertreffen. Dazu addieren sich<br />

die Milliardenzinsverluste durch die aktuelle<br />

Leitzinssenkung, die die Altersvorsorge<br />

der Bürger drastisch entwertet und<br />

die Sparer weiter massiv enteignet. Wie<br />

wäre es denn, wenn man mit der geplanten<br />

Finanztransaktionsteuer ausschließlich<br />

die Altersarmut bekämpfen würde?<br />

Da diese dank Bankenrettung ein gesamteuropäisches<br />

Problem zu werden verspricht,<br />

müsste dieser Vorschlag unter den<br />

europäischen Politikern doch konsens -<br />

fähig sein. Zudem würde er die jüngere<br />

Generation kaum belasten.<br />

PETER KLEINE, HOMBURG<br />

Recht und Gleichheit gilt für alle Mütter,<br />

und das wären drei Rentenpunkte pro<br />

Kind. Falls eine Umsetzung finanziell<br />

nicht möglich sein sollte, müsste eine allgemeine<br />

Angleichung auf zwei Rentenpunkte<br />

pro Kind für die „alten“ und die<br />

„jungen“ Mütter angestrebt werden.<br />

IDA DIETZ, MELLRICHSTADT (BAYERN)<br />

Mütter sollen sich aufopfern, bis ins hohe<br />

Alter, und ihren Anspruch auf Gleichbehandlung<br />

dem Gemeinwohl opfern – so<br />

die Tendenz Ihres Artikels. Die Basis für<br />

unser Rentensystem ist der Generationenvertrag,<br />

und der besteht aus der generativen<br />

Leistung, der Aufzucht des Nachwuchses,<br />

der dann die Alten mitversorgt.<br />

Meine drei Kinder erarbeiten die Pensionen<br />

und die guten Renten der Kinderlosen.<br />

Die eigenen Mütter gehen weitgehend<br />

leer aus.<br />

ULRIKE ADLER, GARMISCH-PARTENKIRCHEN<br />

Käme es zu der geplanten Mütterrente,<br />

stünde vielen geschiedenen Paaren neuer<br />

Streit ins Haus. Für Hunderttausende<br />

könnte der Versorgungsausgleich neu berechnet<br />

werden.<br />

HANS-JOACHIM BUCHHOLZ, KASSEL<br />

Mein Vorschlag als Mutter dreier Kinder,<br />

die vor 1992 geboren wurden, aber noch<br />

heute auf unsere Unterstützung angewiesen<br />

sind: Wenn die Erziehungsarbeit der<br />

älteren Mütter, die im Westen der Republik<br />

mangels Kinderbetreuungsmöglichkeiten<br />

auf Berufstätigkeit und eigenes Einkommen<br />

verzichten mussten, keine gleichwertige<br />

Anerkennung finden kann, dann<br />

sollte man doch für die nach 1992 geborenen<br />

Kinder auch nur einen Rentenpunkt<br />

pro Kind gutschreiben – das wäre eine andere<br />

Möglichkeit der Gerechtigkeit.<br />

Rentenempfängerin Lengies<br />

EVA-MARIA MÜLLER,<br />

MU<strong>DER</strong>SHAUSEN (RHLD.-PF.)<br />

Die Erziehungsjahre der älteren Mütter<br />

dürfen als versicherungsfremde Leistung<br />

nicht aus Beiträgen der Rentenversicherten<br />

finanziert werden. Das hat gefälligst<br />

der Staat zu tun – und zwar aus Steuern.<br />

WELF DICKFELD, BONN<br />

Wer sind die großen Verlierer der deutschen<br />

Vereinigung? Westdeutsche Mütter.<br />

Wenn man den Wert ihrer Dienstleistungen<br />

aufrechnen würde, hätten die über<br />

65-jährigen Mütter eine schöne Altersrente.<br />

Aber das wird wohl wieder nichts:<br />

Die armen Mütter haben ja keine Lobby.<br />

MARJA-LEENA SCHMÄDICKE, ECKENTAL (BAYERN)<br />

Nr. 46/2013, Ein deutscher Pazifist führt<br />

die erste Kampftruppe der Uno<br />

Bedenkliche Inflationierung<br />

Es ist schon eine merkwürdige Zuschreibung,<br />

die Sie vornehmen, wenn Sie Martin<br />

Kobler als Pazifisten bezeichnen, obwohl<br />

er die Kriege im Kosovo und in<br />

Afghanistan wohl befürwortet hat. Das<br />

passt nicht zu der Definition von Pazifismus<br />

und kommt einer bedenklichen Inflationierung<br />

dieses Begriffs gleich.<br />

THOMAS CARL SCHWOERER, FRANKFURT AM MAIN<br />

DEUTSCHE FRIEDENSGESELLSCHAFT<br />

CARSTEN KOALL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

10<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Briefe<br />

Nr. 46/2013, Soll man Kinder im Berliner<br />

Stelenfeld toben lassen?<br />

Es gehört sich nicht<br />

Wir waren erschüttert, als wir vor kurzem<br />

sahen, dass Jugendliche (wohl aus England)<br />

dort ein Picknick abhielten und nirgendwo<br />

eine Aufsicht bat, dies bitte an<br />

diesem Ort zu unterlassen. Wie sollten<br />

wir von den Jugendlichen ein anderes<br />

Verhalten erwarten können, wenn nirgendwo<br />

ein Schild in mehreren Sprachen<br />

darauf hinweist, dass es sich hier um ein<br />

Mahnmal für ermordete Juden handelt?<br />

HELGA JAKOBS, OTTOBRUNN (BAYERN)<br />

Die Aussage „Wer ein Mahnmal baut, das<br />

für Kinder aussieht wie ein Spielplatz,<br />

muss damit leben, dass Kinder hier spielen.<br />

Hätte er das verhindern wollen, hätte er<br />

das Mahnmal anders angelegt“, zeigt das<br />

oft zu hörende Verleugnen der eigenen Inkompetenz<br />

hochmoderner Eltern. Ein einfaches<br />

„Nein“ hätte genügt. Aber so haben<br />

alle anderen Schuld. In Zukunft werden<br />

wir dies wohl noch öfter hören: „Wer einen<br />

Friedhof baut, der für Kinder aussieht<br />

wie ein Spielplatz, muss damit leben, dass<br />

Kinder hier Fußball spielen.“<br />

BERTHOLD WENDLER, BERLIN<br />

Hauke Goos entlarvt unfreiwillig die<br />

Unsicherheit und Seelenpein gebildeter<br />

Eltern bei der Erziehung. Anstatt einfach<br />

ihrem – richtigen – Bauchgefühl zu folgen,<br />

dass sich Toben im Stelenfeld schlicht<br />

nicht gehört, wird geistreich schwabuliert,<br />

was gegen ein Eingreifen spricht.<br />

STEPHAN BEZ, OEDHEIM (BAD.-WÜRTT.)<br />

Was soll das, neun und fünf (!) Jahre alte<br />

Kinder in diese Gedenkstätte zu schleppen<br />

und sich dann angeblich „unwohl“<br />

zu fühlen, wenn die dort Fangen spielen?<br />

Hätte nicht ein Elternteil mit den Kleinen<br />

woanders hingehen können? Für so eine<br />

Entscheidung genügt der gesunde Menschenverstand,<br />

dazu braucht man nicht<br />

verquaste Überlegungen zum Aura-Begriff<br />

bei Walter Benjamin anzustellen.<br />

MARGRIT STIER, MÜNCHEN<br />

Korrektur<br />

zu Heft 47/2013<br />

Seite 124, „Die haben auch noch<br />

mehr Geld“: Die bei Christie’s am 12.<br />

November für 57,3 Millionen Dollar<br />

versteigerte Abbildung einer Cola -<br />

flasche ist nicht der teuerste Andy<br />

Warhol aller Zeiten. Tags darauf erzielte<br />

Warhols „Silver Car Crash<br />

(Double Disaster)“ bei Sotheby’s in<br />

New York die Rekordsumme von<br />

mehr als 105 Millionen Dollar.<br />

Filmszene aus „Jung & Schön“<br />

Nr. 46/2013, François Ozons Film „Jung &<br />

Schön“ befeuert die Auseinandersetzung<br />

über die Abschaffung der Prostitution<br />

Warum so lustfeindlich?<br />

Wenn Sie schreiben: „Darauf muss man<br />

erst mal kommen, beim Thema Prostitution<br />

die Sorge um die männliche Lust in<br />

den Mittelpunkt zu rücken, eine eigenwillige<br />

Perspektive“, klingt das doch arg anmaßend.<br />

Glauben Sie denn, die männliche<br />

Lust sei nur so eine Laune, die man genauso<br />

gut auch lassen könnte? Sie ist eine<br />

biologische Triebkraft, die nicht so ohne<br />

weiteres durch die Ratio steuerbar ist und<br />

die ein Quell von Lebensfreude, aber auch<br />

eine verdammte Last sein kann.<br />

HOLGER MARZEWSKI, DÜSSELDORF<br />

Die Ursachen für die Prostitution sind<br />

weniger in den etwaigen Perversionen<br />

der Männer zu suchen als in der Tatsache,<br />

dass die meisten Frauen Sex mit dem Partner<br />

in etwa so betrachten, wie sie die<br />

Margarine auf den Abendbrottisch stellen.<br />

Prostitution zu verbieten würde bedeuten,<br />

dass man künstlich Kriminalität<br />

schafft, die dann im Verborgenen wühlt.<br />

HANS MAYER, DOSSENHEIM (BAD.-WÜRTT.)<br />

Warum geben Sie sich so lustfeindlich?<br />

Was sollte denn im Zentrum der Prostitutionsfrage<br />

stehen, wenn nicht die männliche<br />

Lust? Um die geht es doch dabei.<br />

DR. OLIVER BÜHRLE, STUTTGART<br />

Die Filmprotagonistin hat sich freiwillig<br />

für diese Arbeit entschieden, so wie die<br />

meisten Sexarbeiterinnen – auch wenn es<br />

viele gibt, die diese Arbeit nicht gern tun.<br />

Aber so ist das in jedem anderen Beruf<br />

auch, und für viele ist es das kleinere Übel.<br />

Warum maßen sich Frau Schwarzer und<br />

Co. an, Sexarbeit verbieten zu wollen. Gerechte<br />

Regelungen dafür: ja gern.<br />

BARBARA RUF, AUGSBURG<br />

Die Prostitution wird und muss es immer<br />

geben! Indes – die Zuhälterei muss unbedingt<br />

abgeschafft werden, und da kann das<br />

Strafmaß nicht hoch genug sein.<br />

FRIEDEL VOLLMER, ARNSBERG (NRW)<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit<br />

Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch<br />

zu veröffentlichen. Mail an: leserbriefe@spiegel.de<br />

WELTKINO FILMVERLEIH<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 13


Panorama<br />

Deutschland<br />

McAllister<br />

PETER STEFFEN<br />

E U R O PAWA H L<br />

McAllister soll an<br />

die Spitze<br />

Die CDU plant, mit David McAllister als deutschem Spitzenkandidaten<br />

in die Europawahl im Mai 2014 zu ziehen. Zwar<br />

ist eine offizielle Entscheidung noch nicht gefallen, führende<br />

CDU-Politiker haben sich jedoch im Grundsatz verständigt.<br />

Auch Parteichefin Angela Merkel hat sich in einem Gespräch<br />

mit McAllister offen gezeigt. Die Frage der Spitzenkandi -<br />

datur ist in der CDU komplizierter als in anderen Parteien,<br />

da CDU und CSU bei der Europawahl nicht mit einer<br />

deutschlandweiten Liste, sondern mit Landeslisten antreten.<br />

McAllister, der gemeinsam mit CDU-Politikern um Generalsekretär<br />

Hermann Gröhe das Europawahlprogramm der<br />

Partei ausarbeitet, soll zunächst am Samstag zum Spitzenmann<br />

der Niedersachsen-CDU gewählt werden. Wie<br />

bei den Europawahlen 2004 und 2009 soll es aber auch einen<br />

deutschlandweit plakatierten Spitzenkandidaten geben.<br />

So soll McAllister der deutsche Hauptgegner von EU-Parlamentspräsident<br />

Martin Schulz von der SPD werden, der<br />

Anfang November zum Spitzenkandidaten der europäischen<br />

Sozialdemokraten gekürt wurde. Außerdem soll McAllister<br />

die europakritischen Töne aus der Schwesterpartei CSU<br />

ausgleichen. Diese dürften deutlich anschwellen, nachdem<br />

Parteichef Horst Seehofer den Anti-Euro-Rebellen Peter<br />

Gauweiler für die CSU-Spitze vorgeschlagen hat.<br />

K I N D E S M I S S B R A U C H<br />

Union will Vertreter der<br />

Opfer abschaffen<br />

Familienpolitiker der Union wollen<br />

die erst 2010 geschaffene unabhängige<br />

Stelle gegen Kindesmissbrauch in dieser<br />

Form offenbar nicht erhalten.<br />

In den Verhandlungen<br />

über eine Große Koalition<br />

überraschten CDU-Unterhändler<br />

die SPD mit dem Vorschlag,<br />

nur noch einen „Kinderrechtebeauftragten“<br />

ein -<br />

zusetzen, der unter anderem<br />

für das Thema Missbrauch zuständig<br />

wäre. Die SPD lehnt<br />

das ab. Am vorigen Donnerstag<br />

konnten sich die Parteien<br />

in der Arbeitsgruppe Familie Rörig<br />

nicht einigen. Intern heißt es, womöglich<br />

müsse Kanzlerin Angela Merkel<br />

am Ende den Streit entscheiden, wenn<br />

es zu einer Koalition kommt. Nach<br />

den Missbrauchsskandalen in der katholischen<br />

Kirche und der Odenwaldschule<br />

war die Stelle des Missbrauchsbeauftragten<br />

2010 von Union und FDP<br />

gegründet worden. Er entwickelte sich<br />

zum Bündnispartner für Betroffeneninitiativen<br />

und warf der Bundesregierung<br />

wiederholt Untätigkeit<br />

vor.<br />

Nun soll die Stelle womöglich<br />

wieder unter stärkere politische<br />

Aufsicht kommen. Der<br />

Unabhängige Beauftragte Johannes-Wilhelm<br />

Rörig spricht<br />

von einem „unverantwortlichen<br />

Signal“. Eine Abwertung<br />

der Stelle würde bedeuten,<br />

dass die Belange der Betroffenen<br />

„wieder entsorgt werden“.<br />

ROLF ZÖLLNER / EPD<br />

A T O M K R A F T<br />

Mängel bei der Kühlung<br />

Ein Gutachten von Wiener Risikoforschern<br />

stellt den Betrieb des Atomkraftwerks<br />

im schwäbischen Gundremmingen<br />

in Frage. Die Experten um den<br />

früheren Abteilungsleiter im Bundesumweltministerium<br />

Wolfgang Renneberg<br />

bemängeln die Sicherheit des Nachkühlsystems.<br />

Im Fall eines Erdbebens verfüge<br />

es nicht über genügend Notfall-Wasserkreisläufe,<br />

die eine Kernschmelze<br />

verhindern sollen. Nach dem Atomgesetz<br />

„kommt der Widerruf der Anlagengenehmigung<br />

in Betracht“, urteilen die<br />

Gutachter. Sie halten selbst eine „einstweilige<br />

Stilllegung“ für angemessen, bis<br />

der Betreiber RWE Sicherheitsnachweise<br />

vorlegen könne. Das Gutachten hatte<br />

eine Bürgerinitiative in Auftrag gegeben.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 15


Panorama<br />

AUSSENMINISTERIUM<br />

Comeback Steinmeier<br />

MAURIZIO GAMBARINI / DPA<br />

Kommt die Große Koalition zustande,<br />

soll Frank-Walter Steinmeier<br />

(SPD) Außenminister werden.<br />

In den Führungen von SPD<br />

und Union gibt es daran keinen<br />

nennenswerten Zweifel mehr.<br />

„Steinmeier ist gesetzt“, heißt es<br />

in hochrangigen Parteikreisen.<br />

Auch Steinmeier ließ gegenüber<br />

Vertrauten mehrfach deutlich<br />

werden, dass er sich auf eine<br />

Rückkehr ins Auswärtige Amt<br />

eingestellt hat. Dort sind seine<br />

vier Jahre (2005 bis 2009) als Minister<br />

in überwiegend guter Erinnerung.<br />

Enge Mitarbeiter Steinmeiers<br />

sind bereits auf Vorbereitungstour<br />

im Haus unterwegs.<br />

Ein Grund: Mehrere Personalien<br />

sind dringend zu klären. Dazu<br />

zählt mindestens ein Staatssekretärsposten,<br />

der Abteilungsleiter<br />

Europa und die vakanten Botschafterstellen<br />

in Tokio, Moskau<br />

und London. Wie es in einem<br />

Wahljahr üblich ist, hat Noch-<br />

Amtsinhaber Guido Westerwelle<br />

die Besetzungen im Sommer<br />

nicht mehr vollzogen, sondern<br />

überlässt sie seinem Nach -<br />

folger – der, wenn es so kommt,<br />

auch sein Vorgänger war.<br />

Die vergangene Woche war eine wichtige für die Emanzipationsbewegung<br />

in Deutschland. Bei den Koali -<br />

tionsverhandlungen kam die Arbeitsgruppe „Familie,<br />

Frauen und Gleichstellungspolitik“ überein, das Wahlrecht<br />

für weibliche Mitbürger beizubehalten. Auch das Recht, ein<br />

Fahrzeug zu lenken, soll nicht angetastet werden. Offen ist<br />

lediglich, ob ausländische Frauen für die Benutzung deutscher<br />

Autobahnen künftig eine Mautgebühr<br />

TREIBHAUS BERLIN<br />

Quote und<br />

Peitsche<br />

entrichten müssen. Ansonsten aber sehen<br />

die Beschlüsse eine Verbesserung der Entfaltungsmöglichkeiten<br />

von Frauen vor. So<br />

wird es eine Quote von 30 Prozent für Aufsichtsräte<br />

geben. Zudem wird die unterschiedliche<br />

Bezahlung von Männern und<br />

Frauen abgeschafft. Unterm Strich geht es<br />

für die deutsche Frau also voran.<br />

Etwas anders stellt sich die Lage in unserem<br />

Partnerland Saudi-Arabien dar, wo die<br />

Gleichstellung eher behutsam vorangetrieben<br />

wird. Immerhin: In Fachgeschäften für<br />

Damenunterwäsche dürfen seit neuestem<br />

nur noch Frauen die weibliche Kundschaft<br />

beraten. Das war bisher weithin Männer -<br />

sache. Saudi-arabischen Frauen ist es jedoch<br />

weiterhin verboten, Auto zu fahren. Wer dennoch fährt,<br />

kann ausgepeitscht werden. An den ohnehin nicht demokratischen<br />

Wahlen dürfen Frauen bislang nicht teilnehmen.<br />

Auch interessant: Wenn sie reisen, heiraten, zur Schule gehen,<br />

studieren oder das Gesundheitssystem nutzen wollen,<br />

benötigen saudische Frauen die Zustimmung eines männlichen<br />

Vormunds. Dieser wird, wie es sich in diesem hochtechnologisierten<br />

Mittelalterstaat gehört, bequem per SMS<br />

gewarnt, wenn seine Frau das Land verlassen möchte. Wird<br />

eine Frau vergewaltigt, muss sie vier männliche Zeugen benennen,<br />

die ihre Version bestätigen, damit der Täter verurteilt<br />

werden kann.<br />

Kurz nachdem die Arbeitsgruppe „Gleichstellung“ in Berlin<br />

ihre Erfolge verkündete, wurde im Bundeskabinett der Rüstungsexportbericht<br />

verabschiedet. Spitzenreiter<br />

bei den genehmigten Exporten deutscher<br />

Rüstungsgüter war vergangenes Jahr<br />

Saudi-Arabien, das bei einer Studie über die<br />

Situation von Frauen in der islamisch geprägten<br />

Welt gerade erst den drittschlechtesten<br />

Platz belegte – hinter dem Irak, der<br />

in der Rangliste deutscher Waffenexporte<br />

auf einen beachtlichen zweiten Platz kam.<br />

Im Gegensatz zur Gleichstellung der<br />

deutschen Frau ist eine wesentliche Begrenzung<br />

deutscher Rüstungsexporte im Koalitionsvertrag<br />

übrigens nicht vorgesehen.<br />

Man könnte jetzt fragen, warum die emanzipatorisch<br />

so fortschrittliche Bundesrepublik<br />

mit ihren Rüstungsprodukten Regime<br />

wie Saudi-Arabien bei der Kontrolle ihrer<br />

Grenzen, ihrer weiblichen Bevölkerung und damit beim Erhalt<br />

ihrer Macht unterstützt. Man könnte fragen, warum bei<br />

den Koalitionsverhandlungen keine Quote für Rüstungs -<br />

exporte festgeschrieben wird. Und warum die Rechte nichtdeutscher<br />

Frauen weiter so viel weniger zählen. Aber das<br />

wäre womöglich naiv, wenig patriotisch und insgesamt zu<br />

idealistisch gedacht.<br />

Markus Feldenkirchen<br />

16<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Deutschland<br />

B U N D E S W E H R<br />

Neue Rüstungspleite?<br />

Die letzte Hoffnung von Verteidigungsminister<br />

Thomas de Maizière<br />

(CDU), dem Debakel um die Auf -<br />

klärungsdrohne „Euro Hawk“ etwas<br />

Positives abzugewinnen, schwindet.<br />

Die Bundeswehr lässt auch den Verzicht<br />

auf die 360 Millionen Euro teure<br />

Si gnaltechnik Isis prüfen, die ein Teil<br />

des gescheiterten Rüstungsprojekts war.<br />

Bislang hatte man nach neuen Trägerplattformen<br />

für Isis gesucht. Nun wies<br />

Generalinspekteur Volker Wieker<br />

das Beschaffungsamt am 4. November<br />

nach Angaben des Verteidigungs -<br />

ministeriums an, „mindestens einen<br />

Lösungsvorschlag ohne die Nutzung<br />

von Isis zu erarbeiten“. Geprüft<br />

würden jetzt „marktverfügbare Produkte“,<br />

etwa ein mit einem israelischen<br />

Aufklärungssystem ausgerüsteter<br />

Gulf stream-Jet. Bis Jahresende<br />

sollen die Ergebnisse der Prüfung vorliegen.<br />

De Maizière hatte sich in der<br />

„Euro Hawk“-Affäre im Sommer mit<br />

dem Hinweis verteidigt, das Geld für<br />

Isis sei „sinnvoll investiert“, weil<br />

diese Technik auch ohne die Drohne<br />

nutzbar sei. Aber die Beschaffung<br />

einer neuen Komplettlösung könnte<br />

günstiger sein als das Festhalten<br />

an Isis.<br />

Drohne „Euro Hawk“<br />

CHAD SLATTERY<br />

A F F Ä R E N<br />

„Teures CDU-Erbe“<br />

Der Stuttgarter<br />

Abgeordnete Sascha<br />

Binder, 30<br />

(SPD), über das<br />

neue Gutachten<br />

zum EnBW-Deal<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Der Münchner Wirtschafts -<br />

wissenschaftler Wolfgang Ballwieser<br />

hat in seinem Gutachten im Auftrag<br />

der Staatsanwaltschaft Stuttgart<br />

errechnet, dass der damalige CDU-<br />

Ministerpräsident Stefan Mappus<br />

780 Millionen Euro zu viel für den<br />

Rückkauf von Anteilen am Energie -<br />

riesen EnBW vom französischen<br />

Konzern EdF gezahlt hat. Hat das<br />

Gutachten Auswirkungen auf die<br />

Schiedsklage, die das Land gegen die<br />

EdF eingereicht hat?<br />

Binder: Es zeigt auf jeden Fall, dass wir<br />

mit unserer Rückforderung von rund<br />

800 Millionen Euro richtig liegen. Die<br />

CDU muss jetzt endlich ihre Blockadehaltung<br />

in dieser Frage aufgeben.<br />

Im Untersuchungsausschuss sollten wir<br />

prüfen, ob wir erneut Zeugen befragen<br />

müssen. Weitere Akten, die bei<br />

PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

der EdF beschlagnahmt wurden, sind<br />

angeblich schon seit zwei Wochen auf<br />

dem Weg nach Stuttgart.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Stefan Mappus war nur<br />

15 Monate lang im Amt, die<br />

Aufarbeitung seiner Amtszeit dauert<br />

nun schon zweieinhalb Jahre.<br />

Binder: Das ist in der Geschichte von<br />

Baden-Württemberg wirklich ein<br />

einmaliger Vorgang. Die CDU hat uns<br />

da ein teures Erbe hinterlassen. Der<br />

Wahlkampf-Gag von Mappus hat den<br />

Steuerzahler viel Geld gekostet: Für<br />

die von Ballwieser errechnete Summe<br />

könnte man gut 14000 Lehrer ein Jahr<br />

lang beschäftigen. Die von Mappus so<br />

gern zitierte schwäbische Hausfrau<br />

wäre entsetzt über diesen unprofessionellen<br />

Deal.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Das Gutachten war in der vergangenen<br />

Woche kaum veröffentlicht,<br />

da haben die Anwälte von Stefan<br />

Mappus und dem damaligen Morgan-<br />

Stanley-Banker Dirk Notheis es als<br />

parteiisch kritisiert.<br />

Binder: Diese Haltung überrascht mich<br />

nicht, man sieht daran, wie sehr die<br />

beiden mit dem Rücken zur Wand stehen.<br />

Einem Gutachten der Staats -<br />

anwaltschaft mangelnde Neutralität<br />

vorzuwerfen und selbstfinanzierte<br />

Gegengutachten ins Feld zu führen ist<br />

geradezu lächerlich.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 17


Deutschland<br />

Panorama<br />

GLADYS CHAI VON <strong>DER</strong> LAAGE / ACTION PRESS<br />

BRITTA PE<strong>DER</strong>SEN / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

AMIN AKHTAR / LAIF<br />

Mertesacker Loos Biolek Liefers Wenders<br />

MAURICE WEISS / OSTKREUZ<br />

HUBERT BOESL / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

E N T W I C K L U N G S H I L F E<br />

Mehr Geld gegen Armut<br />

Zahlreiche Prominente haben sich in<br />

einem Brief an die Parteivorsitzenden<br />

Angela Merkel, Horst Seehofer und<br />

Sigmar Gabriel gewandt, um für höhere<br />

Entwicklungshilfeausgaben zu werben.<br />

„Wir bitten Sie, sich in den laufen -<br />

den Verhandlungen zwischen CDU,<br />

CSU und SPD dafür einzusetzen, dass<br />

der Koalitionsvertrag einen starken<br />

deutschen Beitrag für den Kampf gegen<br />

extreme Armut festschreibt“,<br />

heißt es in dem Brief, „unsere Generation<br />

hat die Chance, extreme Armut<br />

praktisch zu beenden.“ Zu den Unterzeichnern<br />

zählen der Talkmaster Alfred<br />

Biolek, die Schauspieler Jan Josef<br />

Liefers und Anna Loos, der Regisseur<br />

Wim Wenders und der Fußballer Per<br />

Mertesacker. Sie verweisen in dem<br />

Schreiben auf die Wahlprogramme von<br />

Union und SPD, in denen sich die<br />

Parteien auf Mehrausgaben von bis zu<br />

einer Milliarde Euro jährlich festgelegt<br />

haben. Bisher konnten sich Union und<br />

SPD in den Koalitionsverhandlungen<br />

zwar darauf verständigen, ihre Verpflichtungen<br />

in der Entwicklungshilfe<br />

ernst zu nehmen. Spürbare Mehrausgaben<br />

für Entwicklungsländer werden<br />

jedoch eher nicht erwartet.<br />

18<br />

V E R F A S S U N G S S C H U T Z<br />

Freiraum für Scientology<br />

Das Bundesamt für Verfassungsschutz plant, die Beobachtung<br />

der Scientology-Organisation praktisch einzustellen –<br />

und verärgert damit mehrere Länder. Das Bundesamt wolle<br />

seine Prioritäten neu ordnen und daher die Beschäftigung<br />

mit Scientology „auf ein Minimum reduzieren“, heißt es in<br />

einem Schreiben an die Landesbehörden für Verfassungsschutz<br />

vom 19. Oktober. Die Bedeutung des Konzerns, der<br />

sich als Kirche ausgibt, nehme ohnehin ab. Bundesweit soll<br />

die Organisation, der im aktuellen Verfassungsschutzbericht<br />

ein „totalitärer Charakter“ attestiert wird, noch rund<br />

4000 Mitglieder haben, besonders in Großstädten. Der Ver -<br />

fassungsschutz versucht, seine Kräfte derzeit in Richtung<br />

Spionageabwehr zu bündeln;<br />

nach dem Auffliegen des<br />

Terrortrios NSU war bereits<br />

die Abteilung Rechtsextre -<br />

mismus deutlich gestärkt worden.<br />

Der Plan, Scientology<br />

aus der Beobachtung zu entlassen,<br />

trifft aber auf Gegenwehr.<br />

Niedersachsen hat<br />

Bedenken geäußert, auch<br />

Hamburg und andere Länder<br />

wollen nicht mitziehen. Scientology-Zentrale in Berlin<br />

JOCHEN ZICK / ACTION PRESS<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

F Ö D E R A L I S M U S<br />

Länder wollen 20 Milliarden vom Bund<br />

Die Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und<br />

Ländern könnte für den künftigen Bundesfinanzminister sehr<br />

teuer werden. Das geht aus einem bislang unter Verschluss<br />

gehaltenen „Meinungsbild“ der Länderfinanzminister hervor.<br />

Darin fordern sie, dass der Bund ihnen ab 2020 mindestens<br />

20 Milliarden Euro pro Jahr mehr zur Verfügung stellt,<br />

als eigentlich vorgesehen war. Hintergrund: Der Solidarpakt<br />

für Ostdeutschland und andere Finanzhilfen für die Länder<br />

laufen Ende 2019 aus. Der Solidaritätszuschlag, der allein<br />

dem Bundeshaushalt zufließt, soll aber wohl bleiben.<br />

Nach Rechnung der Länder entlasten diese Effekte den<br />

Bundeshaushalt um jene 20 Milliarden Euro pro Jahr. Das<br />

wollen die Finanzminister der Länder nicht akzeptieren.<br />

„Für die Zeit ab 2020 sind Anschlussregelungen erforderlich,<br />

um den Ländern auch künftig entsprechende Mittel in Höhe<br />

von 20 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung zu stellen“,<br />

schreiben sie in ihrer vertraulichen Stellungnahme an die<br />

Ministerpräsidenten. Nur so könne gewährleistet werden, dass<br />

sie über eine „ausreichende, den Aufgaben angemessene<br />

Finanzausstattung“ verfügten. Zusätzlich fordern die Länder<br />

eine „Lastenverschiebung“ bei den Sozialausgaben, die vor<br />

allem die Haushalte von Städten und Gemeinden belasten.<br />

Bislang beteiligt sich der Bund nur zum Teil an den insgesamt<br />

45 Milliarden Euro Sozialausgaben der Kommunen.


Titel<br />

Der Basis-Effekt<br />

Der Mitgliederentscheid der SPD wird zum unberechen -<br />

baren Risiko. Bundesweit mobilisieren die Gegner<br />

von Schwarz-Rot. Die Große Koalition kann noch vor dem<br />

Start scheitern – an einigen tausend wütenden Genossen.<br />

Dass er einen schweren Stand haben<br />

würde, hatte Michael Roth<br />

gewusst. Doch damit hatte der<br />

Generalsekretär des hessischen SPD-Landesverbands<br />

nicht gerechnet: nicht mit<br />

blanker Wut, nicht mit kaum verhohlenem<br />

Hass, nicht mit einer solchen Mauer<br />

der Ablehnung gegen das, was die SPD<br />

in Berlin plant und in Hessen gern gehabt<br />

hätte, die Große Koalition.<br />

Mehr als 300 Genossen haben sich vorigen<br />

Mittwoch in einem Frankfurter Stadtteil-Bürgerhaus<br />

versammelt. Kaum wagt<br />

Roth einen zaghaften Versuch, um für das<br />

Regierungsbündnis mit der Union zu werben,<br />

da geht es hoch her. „Das ist doch<br />

absurd, was du da sagst!“, ruft ein ergrauter<br />

Sozialdemokrat aus der Mitte des Saals.<br />

„Echt daneben!“, verstärkt dessen Sitznachbar,<br />

„Lüge!“, ruft jemand von hinten.<br />

Die Basis kocht: „Bei uns“, so der Vorsitzende<br />

eines Frankfurter SPD-Ortsvereins,<br />

„wird keiner für die Große Koalition<br />

stimmen.“ Generalsekretär Roth sinkt auf<br />

der Bühne immer mehr in sich zusammen.<br />

Und wenn einer ans Mikrofon tritt<br />

und ankündigt, der Großen Koalition<br />

nicht zuzustimmen, erhebt sich immer<br />

wieder tosender Applaus.<br />

Wie in Frankfurt geht es in diesen Tagen<br />

überall im Land auf vielen Regionalversammlungen<br />

und Ortsvereinstreffen der<br />

SPD zu. Der Mitgliederentscheid, den Parteichef<br />

Sigmar Gabriel im Sommer vorgeschlagen<br />

hatte, um der SPD den Weg in<br />

die ungeliebte Große Koalition zu ebnen,<br />

ist zum unkalkulierbaren Risiko geworden<br />

– mit weitreichenden Folgen für die<br />

Partei, für Deutschland und für Europa.<br />

Was anfangs wie eine gute Idee ausgesehen<br />

hatte, um die unwillige Basis einzubinden<br />

und die Union in den Koali -<br />

tionsverhandlungen unter Druck zu setzen,<br />

ist zum Alptraum für die Parteiführung<br />

geworden. Je näher das Ende der<br />

Koalitionsverhandlungen rückt, desto größer<br />

wird die Sorge der SPD-Spitze, dass<br />

die rund 470000 SPD-Mitglieder am Ende<br />

mehrheitlich die Zustimmung verweigern.<br />

Wenn sich 40 Prozent der Mitglieder am<br />

Votum beteiligen, reichen 100000 Neinstimmen,<br />

um in Deutschland etwas auszulösen,<br />

was man eine Staatskrise nennen<br />

müsste. Das Schicksal der Führungsmacht<br />

Europas liegt in der Hand der SPD-Basis,<br />

der es vielleicht gar nicht nur um den<br />

Koalitionsvertrag geht, sondern auch um<br />

alte Rechnungen mit ihrer Führung.<br />

Eine Prognose, wie es ausgeht, traut sich<br />

niemand mehr zu. „Unsere Mitglieder stellen<br />

eine Menge Fragen zur Großen Koalition.<br />

Das ist vollkommen berechtigt“,<br />

warnt EU-Parlamentspräsident Martin<br />

Schulz. „Wir müssen uns alle zusammen<br />

noch sehr anstrengen, die Partei mitzunehmen.<br />

Die Sache ist noch nicht gelaufen.“<br />

Er will kämpfen. Deutlicher wird SPD-Generalsekretärin<br />

Andrea Nahles bei der ersten<br />

Regionalkonferenz vergangenen Freitag<br />

in der Nähe von Stuttgart: „Wir können<br />

noch nicht sagen, ob der Koalitionsvertrag<br />

zustande kommt. Ich bin total angespannt.“<br />

Täglich erreichen die SPD-Parteizentrale<br />

schlechte Nachrichten von der Basis. Eine<br />

<strong>SPIEGEL</strong>-Recherche in 18 Bezirks- und<br />

Kreisverbänden sowie 26 Ortsvereinen von<br />

Ostholstein bis Oberfranken ergab, dass<br />

die Große Koalition in zahlreichen Parteizellen<br />

keine Mehrheit bekommen könnte.<br />

Manche sind noch unentschieden, aber viele<br />

Mitglieder sind entschlossen, ihrer Parteiführung<br />

die Gefolgschaft zu verweigern.<br />

Auch die Jusos wollen sich gegen den<br />

Koalitionsvertrag stellen. „Meine der -<br />

MARCUS SIMAITIS / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

SPD-Ortsverein Bochum Langendreer: Mauer der<br />

zeitige Einschätzung ist, dass es keine<br />

Mehrheit der Jusos für ein Ja zum Koalitionsvertrag<br />

geben wird“, sagt Johanna<br />

Ueker mann, die sich in zwei Wochen zur<br />

Juso-Chefin wählen lassen will. Und<br />

Klaus Barthel, Chef der Arbeitnehmer<br />

in der SPD, weigert sich, seinen Mitgliedern<br />

die Zustimmung zu empfehlen.<br />

Irritiert schauen die Nachbarn auf das<br />

Land, von dem sie Führung in Europa er-<br />

20<br />

„Unsere Funktionäre,<br />

die wochenlang Straßenwahlkampf<br />

gemacht<br />

haben, sind eher dagegen.<br />

Sie haben Angst, dass<br />

wir als SPD jetzt unter<br />

die Räder kommen.“<br />

Andreas Müller, stellv. Geschäftsführer<br />

„Unser Landesvorstand<br />

hat sich schon am<br />

25. September gegen<br />

eine Große Koalition<br />

ausgesprochen.<br />

Dieser Beschluss<br />

steht nach wie vor.“<br />

Dirk Panter, Generalsekretär<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

„Bei uns an der Basis<br />

herrscht große Skepsis.<br />

Außerdem: So wie die CSU<br />

auftritt, kann ich nur sagen:<br />

Das Gesprächsklima in Bayern<br />

ist derzeit sehr vergiftet.“<br />

Gabriele Fograscher, MdB<br />

und kommissarische Vorsitzende


Ablehnung gegen die Große Koalition<br />

warten. Seit mehr als zwei Monaten ist<br />

Berlin ohne neue Regierung. Wichtige<br />

Entscheidungen werden vertagt. Und sollten<br />

die SPD-Mitglieder den Koalitionsvertrag<br />

ablehnen, würde die Ungewissheit<br />

weitere Wochen, vielleicht Monate<br />

andauern. Am Ende stünden womöglich<br />

sogar Neuwahlen.<br />

Noch ist es nicht so weit. Aber das Erwartungsmanagement<br />

ist schwierig geworden.<br />

Für Gabriel wird es nicht leicht, die<br />

Koalitionsverhandlungen zu einem Abschluss<br />

zu bringen, den die Basis akzeptieren<br />

kann. Mindestlohn und doppelte<br />

Staatsbürgerschaft waren im Grunde<br />

schon vor Beginn der Verhandlungen eingepreist.<br />

Sie haben den Unmut nicht besänftigt,<br />

aber weitere große Trophäen werden<br />

die Sozialdemokraten nicht heimtragen.<br />

Eine zunehmend verärgerte Union<br />

ist nicht mehr zu Zugeständnissen bereit,<br />

vor allem, wenn sie Geld kosten. „Angesichts<br />

des klaren Wahlergebnisses und der<br />

damit verbundenen klaren Erwartungen<br />

unserer Wähler darf die SPD ihre Forderungen<br />

nicht überdrehen“, warnt Finanzminister<br />

Wolfgang Schäuble im <strong>SPIEGEL</strong>-<br />

Gespräch (siehe Seite 30).<br />

Wenn die SPD-Mitglieder Anfang Dezember<br />

per Briefwahl ihr Kreuz bei Ja<br />

„Die Partei ist nur für einen<br />

Politikwechsel zu haben:<br />

Flächendeckender Mindestlohn,<br />

Rentenangleichung in Ost und<br />

West, Abschaffung des Betreuungsgeldes,<br />

Bürgerversicherung, Anhebung<br />

des Spitzensteuersatzes.“<br />

Aus einem Brief an die Mitglieder<br />

„Mitregieren<br />

heißt mitgestalten,<br />

nicht regieren<br />

heißt nicht<br />

gestalten.“<br />

Roger Lewentz,<br />

Landesparteichef<br />

„Einige sind skeptisch,<br />

aber die meisten sagen<br />

doch: Wenn die Kernthemen<br />

der SPD drin<br />

sind, stimme ich dem<br />

Koalitionsvertrag zu.“<br />

Bodo Wiechmann,<br />

Vorsitzender<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 21


Titel<br />

oder Nein machen, entscheiden sie nicht<br />

nur über das Schicksal der künftigen Regierung,<br />

sondern auch über das Schicksal<br />

ihres Vorsitzenden. Scheitert der Mitgliederentscheid,<br />

dann scheitert Parteichef<br />

Gabriel. Ein Nein der Mitglieder würde<br />

die Parteiführung hinwegfegen und die<br />

SPD in die schwerste Krise der Nachkriegsgeschichte<br />

stürzen.<br />

Aber denken die Mitglieder so weit?<br />

Entscheiden sie rational – oder sind sie<br />

einfach nur sauer, nutzen sie den Entscheid<br />

aus, ihren über Jahre angestauten<br />

Frust über die Parteiführung Luft zu machen?<br />

Die Kluft zwischen „denen da<br />

oben“ und „uns hier unten“ wurde auf<br />

dem misslungenen Parteitag in Leipzig<br />

greifbar, als die anderthalbstündige Rede<br />

des Parteivorsitzenden weitgehend ohne<br />

Applaus blieb. Beklatscht wurden nur<br />

jene Passagen, in denen Gabriel die schrödersche<br />

Basta-Politik geißelte.<br />

Im Mai noch hatten die Sozialdemokraten<br />

mit Stolz und Pomp den 150. Geburtstag<br />

ihrer Partei gefeiert. Wenige Monate<br />

später hat sie ihr altes Dilemma wieder<br />

eingeholt, ihr ewiger Konflikt zwischen<br />

Anspruch und Wirklichkeit, das Dilemma<br />

einer Partei, deren Utopie einer<br />

gerechten Gesellschaft so oft an der Wirklichkeit<br />

zerbricht. Für die Sozialdemokraten<br />

ist deshalb nicht sicher, was – frei<br />

nach Franz Müntefering – mehr Mist ist –<br />

Kompromiss oder Opposition.<br />

Die fürs Regieren notwendigen Kompromisse<br />

haben die Partei schon oft belastet.<br />

Immer wieder strafte sie dafür ihr<br />

Führungspersonal ab. Helmut Schmidt<br />

lernte diese Lektion, als er den Sozial -<br />

demokraten den Nato-Doppelbeschluss<br />

aufzwang. Gerhard Schröder versagte die<br />

Partei die Gefolgschaft, nachdem er die<br />

Agenda 2010 durchgepaukt hatte. Doch<br />

dieses Mal ist es schlimmer: Dieses Mal<br />

droht die SPD schon am Regieren zu<br />

scheitern, bevor sie überhaupt damit begonnen<br />

hat.<br />

Spätestens beim Bundesparteitag Mitte<br />

November in Leipzig wurde vielen Genossen<br />

klar, wie knapp es mit einer Zustimmung<br />

werden dürfte. Die gesamte<br />

Führung wurde bei den Vorstandswahlen<br />

abgestraft, neue Gräben brachen auf. „Es<br />

sind alle fröhlich gekommen – und sehr<br />

verunsichert nach Hause gefahren“, berichtet<br />

ein Landesvorsitzender aus Westdeutschland.<br />

Kurz vor dem Parteiabend trafen sich<br />

in den Messehallen mehrere Jusos zum<br />

Gedankenaustausch. Eigentlich sollte es<br />

um die Vorbereitung des Bundeskongresses<br />

gehen, in zwei Wochen wählen die<br />

Jusos eine neue Spitze. Doch als sich die<br />

sozialdemokratischen Nachwuchskräfte<br />

in den Konferenzräumen im ersten Stock<br />

über dem Eingangsbereich einfanden,<br />

ging es bald nicht mehr um Anträge für<br />

den Kongress. Es wurde grundsätzlich.<br />

Seit Monaten sind die Jusos auf Ablehnungskurs<br />

gegen die Große Koalition.<br />

Doch auf dem Parteitag brach sich die<br />

Unzufriedenheit bahn. Hinter verschlossenen<br />

Türen kamen sie zu einem eindeutigen<br />

Ergebnis: Große Koalition? Ohne<br />

uns. Zu wenig sei erreicht worden, zu mager<br />

die bisherigen Ergebnisse der Koali -<br />

tionsverhandlungen. „Das ist alles nicht<br />

das, was wir uns vorgestellt haben“, sagt<br />

der nordrhein-westfälische Juso-Chef<br />

Denken die SPD-Mitglieder rational? Oder wollen sie jetzt<br />

den ganzen Frust des vergangenen Jahrzehnts ablassen?<br />

Veith Lemmen, „es ist möglich, dass wir<br />

für Ablehnung plädieren.“<br />

Wie weit das die Stimmung in der ganzen<br />

Partei widerspiegelt, ist unklar. Denn<br />

eine Umfrage unter SPD-Mitgliedern hat<br />

es nicht gegeben. Vor jeder Landtagswahl<br />

ermitteln Wahlforscher zwar im Wochenoder<br />

Tagestakt das aktuelle Stimmungsbild.<br />

Doch vor dem Mitgliederentscheid,<br />

der über das Schicksal der künftigen Regierung<br />

entscheiden wird, tappen Partei<br />

und Nation im Dunkeln. Niemand weiß,<br />

ob sich in diesen Tagen nur die Gegner<br />

lautstark zu Wort melden, oder ob tatsächlich<br />

eine Mehrheit der Genossen den<br />

Koalitionsvertrag ablehnen wird.<br />

Noch nie sei er so unsicher in der Bewertung<br />

seiner Partei gewesen, sagt der<br />

Freiburger Bundestagsabgeordnete Gernot<br />

Erler, einer der erfahrensten SPD-Parlamentarier.<br />

„Wir verlassen uns auf die<br />

wohltuende Wirkung des Koalitionsentwurfs“,<br />

warnt er. „Das ist ein sehr rationales<br />

Kalkül.“ Nicht alle Mitglieder werden<br />

der Vernunft folgen.<br />

Die Nachrichten aus den Regionen, aus<br />

dem „Bauch“ der Partei, sind niederschmetternd.<br />

So hat sich beispielsweise<br />

die komplette SPD Vorderpfalz, mit Städten<br />

wie Ludwigshafen, Speyer und Frankenthal,<br />

mit einem Beschluss „eindeutig<br />

und einstimmig gegen eine Große Koalition<br />

im Bund“ ausgesprochen. Und die<br />

SPD-Bürgermeister und Landräte im<br />

Saarland ließen Gabriel in einem offenen<br />

Brief wissen, dass sie dem Koalitionsvertrag<br />

nur zustimmen würden, wenn es<br />

deutlich mehr Geld für die Kommunen<br />

gebe.<br />

In Thüringen gab der SPD-Kreisparteitag<br />

in der Landeshauptstadt Erfurt die<br />

Richtung für die Mitgliederbefragung vor:<br />

„Die Erfurter Sozialdemokratie lehnt eine<br />

Große Koalition mit der CDU/CSU ab.“<br />

Das schlechte Ergebnis der Bundestagswahl<br />

sei „kein Auftrag zur Regierungsbildung,<br />

sondern ein Auftrag zur personellen<br />

und programmatischen Erneuerung<br />

der SPD“, heißt es in der Begründung.<br />

René Lindenberg, Landesgeschäftsführer<br />

der Thüringer SPD, bezeichnet die<br />

Stimmung im ganzen Landesverband als<br />

„flächendeckend kritisch“. So hat sich der<br />

SPD-Kreisvorstand Gotha gegen eine<br />

Koalition ausgesprochen, ebenso die eher<br />

konservative SPD im Kyffhäuserkreis.<br />

Längst geht der Widerstand gegen die<br />

Große Koalition weit über den Unmut in<br />

einzelnen Ortsvereinen hinaus. Selbst<br />

Pragmatiker wie der sächsische Landesvorsitzende<br />

Martin Dulig wollen der Partei<br />

keine klare Zustimmung für den<br />

Koalitionsvertrag empfehlen. „Ich werde<br />

den Mitgliedern raten, sich mit den inhaltlichen<br />

Ergebnissen auseinanderzusetzen“,<br />

sagt Dulig. Er wolle aber nicht damit<br />

drohen, dass ein Nein Neuwahlen zur<br />

Folge habe. „Das entwertet den Mitgliederentscheid.“<br />

Noch klarer äußert sich der Vorsitzende<br />

der Arbeitnehmer-AG in der SPD<br />

(AfA), der bayerische Bundestagsabgeordnete<br />

Barthel. „Bisher lösen die Ergebnisse<br />

keine Begeisterung aus“, sagt Barthel,<br />

„selbst diejenigen, die einer Großen<br />

Koalition aufgeschlossen gegenüberstanden,<br />

sind bisher enttäuscht.“ Deshalb<br />

wird auch Barthel den AfA-Mitgliedern<br />

keine Zustimmung empfehlen.<br />

Als erster Intellektueller aus der SPD<br />

meldet sich jetzt schon Bestsellerautor<br />

Bernhard Schlink zu Wort, fordert die<br />

Genossen zum Nein gegen die Große<br />

Koalition auf und plädiert stattdessen für<br />

Rot-Rot-Grün (siehe Seite 28).<br />

Der Widerstand zeigt, wie tief die Identitätskrise<br />

der SPD inzwischen geht. Nach<br />

der knappen Wahlniederlage 2005 konnte<br />

sie mit der Union noch auf Augenhöhe<br />

22<br />

„Für die Themen<br />

Mindestlohn,<br />

Wohnungsbaupolitik<br />

und Programm der<br />

sozialen Stadt<br />

erwarten wir eine<br />

Kursänderung.“<br />

Jürgen Pohlmann, Vorsitzender<br />

„Wenn es nachher heißt,<br />

wir haben für ein paar<br />

Posten die Schwarzen<br />

an der Macht gehalten,<br />

dann ist auch noch der<br />

letzte Rest unserer Glaubwürdigkeit<br />

verspielt.“<br />

Michael Dehl, Vorsitzender<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

„Je höher die Funktion der Genossen<br />

im Land, desto stärker sind die Vorbehalte<br />

gegen eine Große Koalition abgeschliffen,<br />

aber schon auf der mittleren Funktionärsebene<br />

wandelt sich das. Auf kommunaler<br />

Ebene gibt es häufig eine gute Zusammenarbeit<br />

mit der Linkspartei.“<br />

Philipp Weis, Vorsitzender


SPD-Chef Gabriel (M.), Spitzengenossen: Prekäre Lage<br />

CDU-Chefin Merkel, Unions-Verhandlungsführer: Auch für die Kanzlerin ein Risiko<br />

Möglicher Unions-Partner Grüne: Am 6. Januar könnten die Verhandlungen beginnen<br />

STEFFI LOOS / DDP IMAGES / COMMONLENS<br />

WOLFGANG KUMM / DPA<br />

CHRISTIAN THIEL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

verhandeln. Auch für die Wahlschlappe<br />

von 2009 fanden sich Gründe. Für die<br />

Niederlage am 22. September jedoch haben<br />

viele Genossen keine schlüssige Erklärung<br />

mehr. Das Wahlprogramm war<br />

eher links, und die Mitglieder wurden einbezogen.<br />

Ausgezahlt hat sich der Aufwand<br />

nicht.<br />

Stattdessen versetzte das Wahlergebnis<br />

der Partei einen Schock. „Aus einer potentiell<br />

großen Partei wurde eine halbgroße<br />

Partei ohne erkennbare Perspektive“,<br />

sagt der Parteienforscher Gerd Mielke<br />

von der Universität Mainz. Hinzu<br />

kommt, dass die einstmals enge Bindung<br />

der Mitglieder an die Partei gelitten hat.<br />

Zu viele Genossen sind unzufrieden mit<br />

ihrer politischen Heimat. Ein Großteil<br />

von ihnen ist in den siebziger und acht -<br />

ziger Jahren eingetreten, wegen Willy<br />

Brandt, Helmut Schmidt und weil sie an<br />

die großen universellen Ideen glaubten:<br />

an Frieden, Gerechtigkeit und Emanzipation.<br />

Über die Hälfte der Genossen ist<br />

mittlerweile 60 Jahre und älter.<br />

Heute neigen diese in die Jahre gekommenen<br />

Kohorten zur Rebellion. „Je älter,<br />

desto weiter links verortet sich ein SPD-<br />

Mitglied in der Selbsteinschätzung“, sagt<br />

Tim Spier, Professor an der Universität<br />

Siegen, der sich seit Jahren mit der<br />

Sozialstruktur deutscher Parteien beschäftigt.<br />

Spier spricht von einer „Radikalität<br />

des Alters“, die den Mitgliederentscheid<br />

zu einem Verdikt mit unkalkulierbarem<br />

Ausgang macht. Zumal insbesondere in<br />

den höheren Altersgruppen die Wahlbeteiligung<br />

hoch sein werde: „Die in Rente<br />

sind, werden in jedem Fall ihre Stimme<br />

abgeben.“<br />

Unberechenbar wird der Entscheid<br />

auch durch viele aktuelle Neueintritte in<br />

die Partei. Generalsekretärin Nahles hat<br />

sich in einem Schreiben an die Mitglieder<br />

noch erfreut über die Eintrittswelle gezeigt.<br />

Doch niemand weiß, wer in den<br />

vergangenen Wochen das Parteibuch erworben<br />

hat. In Wahrheit muss die Partei<br />

befürchten, dass viele Neumitglieder nur<br />

Genossen werden, um die Große Koali -<br />

tion zu verhindern.<br />

Rolf Jürgen Schmidt ist einer von ihnen.<br />

80 Jahre alt, graues Haar, grauer<br />

Strickpulli. Er ist zur Krisensitzung des<br />

Ortsvereins Schwerin-Paulsstadt im Gasthof<br />

„Das Martins“ gekommen. Vor ihm<br />

auf dem Tisch, neben der Deko aus<br />

Kunstblumen, liegt sein Parteibuch,<br />

brandneu und leuchtend rot, darauf die<br />

drei Buchstaben: SPD. Schmidt holt tief<br />

„Wir haben aus der<br />

letzten Großen Koalition<br />

gelernt. Regieren heißt,<br />

dass man vier Jahre lang<br />

Politik gestalten kann.<br />

Opposition dagegen<br />

wäre Stillstand.“<br />

Bodo Seidenthal, Vorsitzender<br />

„Wir Sozis stimmen immer<br />

mit dem Herzen ab. Nicht<br />

nur mit dem Verstand.<br />

Es gibt klare Vorbehalte<br />

gegen die Große Koalition<br />

bei uns Nürnberger SPDlern.<br />

Angela Merkel muss weg!“<br />

Olaf Schreglmann, Bezirksgeschäftsführer<br />

„Der Wechsel kam viel zu<br />

abrupt. Man kann nicht<br />

jahrelang einen politischen<br />

Gegner bekämpfen und<br />

dann von einem Tag auf den<br />

anderen auf große Freundschaft<br />

machen.“<br />

Klaus Oesterling, Vorsitzender<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 23


Bundespräsident Gauck: Den Bundestag auflösen, bevor er die Arbeit aufgenommen hat?<br />

Luft und erklärt: „Ich bin seit ein paar<br />

Minuten Mitglied dieser Partei. Weil wir<br />

das, was da in Berlin läuft, nicht hinnehmen<br />

können.“<br />

Vor einigen Wochen sah er Gabriel im<br />

Fernsehen: Wer in die Partei eintritt,<br />

kann mitstimmen, habe der Vorsitzende<br />

erklärt. Schmidt ließ sich das nicht zweimal<br />

sagen. Den Mitgliedsantrag lud er<br />

sich gleich am folgenden Tag aus dem Internet<br />

herunter. „Eine schwarz-rote Diktatur,<br />

das geht gar nicht“, meint der Rentner.<br />

Für ihn ist klar: „Ich stimme auf jeden<br />

Fall dagegen.“ Die Große Koalition<br />

soll scheitern.<br />

Rächen könnte sich nun, dass sich der<br />

Parteivorstand für eine Briefwahl entschieden<br />

hat. Die Alternative wäre eine Stimmabgabe<br />

in den Ortsvereinen gewesen. Da<br />

hätte man noch im direkten Gespräch<br />

Überzeugungsarbeit leisten können. Doch<br />

das wollte die Parteispitze nicht. Den Ergebnissen<br />

hätte man am Ende entnehmen<br />

können, wo die besonders kritischen Genossen<br />

zu Hause sind. Und wo die Freunde<br />

der Großen Koalition.<br />

Mit einer breiten Informationskam -<br />

pagne versucht die Parteiführung nun, die<br />

Genossen zu gewinnen. Alle zwei bis drei<br />

Tage unterrichten Nahles und Gabriel in<br />

einem „Mitgliederbrief“ über den Stand<br />

der Gespräche. Doch weil das die Stimmung<br />

bisher nicht gewendet hat, erhöhte<br />

die Parteispitze ihren Einsatz für den Mitgliederentscheid.<br />

Überall im Land gibt es Regionalkonferenzen,<br />

allein Parteichef Gabriel will<br />

bundesweit an zehn Orten auftreten.<br />

Mehr noch: Die Kreisverbände und Unterbezirke<br />

laden ein, die Bundestags -<br />

abgeordneten sollen durch ihre Wahlkreise<br />

ziehen und für den Koalitionsvertrag<br />

werben. Kein Ortsverein darf unbearbeitet<br />

bleiben.<br />

Falls sich Union und SPD, wie geplant,<br />

bis zum kommenden Mittwoch auf einen<br />

Koalitionsvertrag einigen, würde spätestens<br />

am Freitag an sämtliche Mitglieder<br />

eine Sonderausgabe des „Vorwärts“ verschickt.<br />

Einziger Text: Der Koalitionsvertrag<br />

im Wortlaut. Ab 1. Dezember sollen<br />

dann die Abstimmungsunterlagen in die<br />

Post gehen. Bis Donnerstag, den 12. Dezember,<br />

muss das Antwortkuvert wieder<br />

in Berlin sein.<br />

In der Nacht von Freitag auf Samstag<br />

soll das Zählkommando, rund 400 Freiwillige<br />

stark, in einer eigens angemieteten<br />

Halle in Berlin-Kreuzberg die Arbeit<br />

aufnehmen. Das Endergebnis soll zunächst<br />

dem Parteivorstand zugehen, und<br />

dann noch am Sonntag oder Montag der<br />

Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.<br />

Auch wenn die Stimmung aufgeheizt<br />

ist – viele Mitglieder werden ihre endgültige<br />

Entscheidung davon abhängig machen,<br />

was am Ende im Koalitionsvertrag<br />

steht. Doch die Hoffnung, dass Gabriel<br />

die Genossen mit einem satten Verhandlungserfolg<br />

überzeugen kann, ist gering.<br />

Die bisherige Ausbeute der Sozialdemokraten<br />

ist eher mager.<br />

In der Arbeitsgruppe Finanzen ließ die<br />

Union ihren potentiellen Partner fast<br />

komplett auflaufen. Jeden Vorstoß zu Änderungen<br />

des Steuerrechts wehrten Verhandlungsführer<br />

Schäuble und CSU-<br />

Wortführer Markus Söder mit dem Hinweis<br />

ab, dafür sei die Union nicht gewählt<br />

worden. Statt eine Steuertrophäe<br />

CHRISTIAN THIEL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

24<br />

„In Ostholstein werden<br />

wir eine Mehrheit gegen<br />

den Koalitionsvertrag<br />

haben. Lasst uns in die<br />

Opposition gehen,<br />

denn mit dem Ergebnis<br />

gehören wir dorthin.“<br />

Lars Winter, Landtagsabgeordneter<br />

„Bei uns melden<br />

sich nur die,<br />

die kritisch zum<br />

Koalitionsvertrag<br />

stehen. Ob das die<br />

Mehrheit ist, kann<br />

ich nicht sagen.“<br />

Stefan Mix, Geschäftsführer<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

„Wir haben gegen Merkel gekämpft<br />

und sollen jetzt Federn lassen, damit<br />

sie weiter regieren kann. Nicht mit<br />

uns! Die SPD-Führung will doch nur<br />

an den Trog ran. Dabei hätte sich<br />

Gabriel besser mal mit den Grünen<br />

und den Linken an einen Tisch gesetzt.“<br />

Rudolf Malzahn, Vorsitzender


Titel<br />

erhielt die SPD nur eine blumige Formulierung<br />

im Entwurf des Koalitionsvertrags.<br />

„Unser Gemeinwesen ist auf verlässliche<br />

Steuereinnahmen angewiesen“,<br />

heißt es dort. Und: „Der dafür erforderliche<br />

gesellschaftliche Konsens beruht auf<br />

einem gerechten Steuerrecht.“<br />

Nicht viel besser sieht es in der Gesundheitspolitik<br />

aus. Hier hat die SPD<br />

gleich zwei große Ziele zur Befriedung<br />

der Basis verfehlt: wenigstens Reste ihrer<br />

Bürgerversicherung zu retten und zur paritätischen<br />

Finanzierung der Kassen zurückzukehren.<br />

Der Kompromiss, den<br />

Merkel, Seehofer und Gabriel am vergangenen<br />

Donnerstag mit CDU-Verhandlungsführer<br />

Jens Spahn und SPD-Pendant<br />

Karl Lauterbach aushandelten, lässt sich<br />

schwerlich als Erfolg der Sozialdemokraten<br />

verkaufen: Der Zusatzbeitrag wird<br />

nicht abgeschafft, sondern nur verändert.<br />

Außerdem hat die Union durchgesetzt,<br />

dass der Arbeitgeberanteil bei 7,3 Prozent<br />

eingefroren bleibt. „Gäbe es eine Mitgliederbefragung<br />

der CDU/CDU, könnte ich<br />

die Annahme gut empfehlen“, frotzelt<br />

Spahn. Selbst die SPD-Linke Hilde Mattheis<br />

bezeichnet den Kompromiss als<br />

„Pyrrhussieg“.<br />

Ernüchternd ist auch die Bilanz in der<br />

Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales – ein<br />

Bereich, der für die Sozialdemokraten<br />

noch immer das Herzstück der Regierung<br />

ist. Hier hat die Partei vieles verhandelt,<br />

aber wenig erreicht. Zwar wird ein gesetzlicher<br />

Mindestlohn kommen, und<br />

auch die geforderten 8,50 Euro werden<br />

im Koalitionsvertrag auftauchen. Doch<br />

ab wann der Mindestlohn gilt, ob es Übergangsfristen<br />

und Differenzierungen geben<br />

wird, ist offen. Und auch bei seinem<br />

Prestigeprojekt, dem vorzeitigen Ruhestand<br />

mit 63, wird Gabriel Abschläge hinnehmen<br />

müssen.<br />

Und selbst dort, wo die SPD zumindest<br />

in der öffentlichen Wahrnehmung triumphierte,<br />

setzte sich im Kleingedruckten<br />

die Union durch. Zum Beispiel bei der<br />

Frauenquote. Anders als gemeinhin wahrgenommen,<br />

müssen 2016 keineswegs 30<br />

Prozent der Aufsichtsräte weiblich besetzt<br />

sein. Vielmehr gilt ab dann nur bei<br />

Neubesetzungen eine entsprechende<br />

Quote. Angesichts der Wahlzyklen dürfte<br />

erst 2020 das angestrebte Ziel erreicht<br />

sein. So wie es im Unionswahlprogramm<br />

steht.<br />

Nicht umsonst wächst in der SPD der<br />

Unmut, dass Gabriel öffentlich nur Themen<br />

zur Bedingung für die Koalition<br />

machte, „die nichts kosten“: Mindestlohn<br />

und doppelte Staatsbürgerschaft. Es sei<br />

ein zentraler Fehler gewesen, nicht bis<br />

zum Schluss auf Steuererhöhungen bestanden<br />

zu haben.<br />

Und auf der Zielgeraden der Verhandlungen<br />

ist die Bereitschaft der Union gering,<br />

Gabriel durch neue Zugeständnisse<br />

entgegenzukommen. Im Gegenteil. Ausgerechnet<br />

jetzt zog Kanzlerin Merkel<br />

zum ersten Mal eine rote Linie für den<br />

Koalitionsvertrag. Die abschlaglose Rente<br />

mit 63 werde es mit ihr<br />

nicht geben. Sie werde<br />

„darauf achten, dass die<br />

Rente mit 67 nicht zerlöchert<br />

wird“, so Merkel.<br />

Dabei ist inzwischen<br />

auch der Union klar, dass<br />

die Gefahr eines Scheiterns<br />

beim Mitgliederentscheid<br />

real ist. „Ich glaube,<br />

dass in den nächsten<br />

14 Tagen nicht nur über<br />

den Koalitionsvertrag abgestimmt<br />

wird, sondern<br />

über die Zukunft der<br />

SPD-Parteiführung und<br />

womöglich die Zukunft<br />

der gesamten SPD“,<br />

warnt Fraktionschef Volker<br />

Kauder.<br />

Anfangs hatten die Unions-Unterhändler<br />

die Sorgen<br />

ihrer SPD-Kollegen<br />

noch als taktisches Geplänkel<br />

abgetan, das deren<br />

Verhandlungsposition<br />

stärken sollte. Entsprechend<br />

genervt reagierten<br />

Umfrage<br />

„Welche Möglichkeit<br />

einer Regierungsbildung<br />

wäre gut für Deutschland?“<br />

55<br />

CDU und CSU, wenn die Genossen immer<br />

neue Forderungen mit Blick auf den<br />

Mitgliederentscheid auf den Tisch legten.<br />

„Der Mitgliederentscheid mag gut gemeint<br />

sein“, sagt der stellvertretende<br />

CDU-Vorsitzende Thomas Strobl. „Er<br />

führt aber dazu, dass die SPD-Leute in<br />

den Verhandlungen immer nur die nächsten<br />

vier Wochen vor Augen haben und<br />

nicht die nächsten vier Jahre. Das ist<br />

schlecht.“<br />

„Dass das Schicksal unseres Landes in<br />

den Händen einiger zehntausend SPD-<br />

Mitglieder liegt, ist eine Perversion des<br />

Ergebnisses der Bundestagswahl“, sagt<br />

der Präsident des CDU-Wirtschaftsrats<br />

Kurt Lauk. „Angesichts der Probleme unseres<br />

Landes, vor allem aber der Lage in<br />

Europa, ist diese Hängepartie nicht hilfreich.“<br />

(– 11)<br />

43<br />

Veränderung<br />

zur Umfrage<br />

Anfang Oktober<br />

Koalition<br />

aus CDU/CSU<br />

und SPD<br />

Koalition aus CDU/CSU<br />

und Grünen .......................... 32<br />

Minderheitsregierung<br />

der CDU/CSU.......................25<br />

Die Stimmung ist gereizt. „Vielleicht<br />

sollten wir erst den Mitgliederentscheid<br />

der SPD machen und dann den Koa li -<br />

tionsvertrag“, lästerte CSU-General -<br />

sekretär Alexander Dobrindt. Nicht<br />

nur er hält es für einen schweren Fehler,<br />

dass die SPD die Aussicht auf das Basisvotum<br />

auch noch dazu nutzte, neue<br />

Mitglieder zu werben. „Wer, bitte schön,<br />

tritt in die SPD ein, um Angela Merkel<br />

zu wählen?“, heißt es an der Unions -<br />

spitze.<br />

Auch nach Abschluss<br />

der Verhandlungen und<br />

(+ 12)<br />

Neuwahl<br />

des<br />

Bundestags<br />

Infratest-dimap-Umfrage für das ARD-<br />

„Morgenmagazin“ vom 19./20. November;<br />

rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent<br />

(Veränderungen in Prozentpunkten);<br />

Mehrfachnennungen möglich<br />

während des Mitgliederentscheids<br />

hat die Union<br />

nicht vor, Zurückhaltung<br />

zu üben. Die CSU-Spitze<br />

hat den gesamten Vorstand<br />

und alle Bundestagsabgeordneten<br />

für Freitag<br />

in die Münchner<br />

Hanns-Seidel-Stiftung bestellt,<br />

um das Vertragswerk<br />

zu erläutern. Von<br />

dort aus sollen dann die<br />

Christsozialen ihren Leuten<br />

vor Ort einbläuen,<br />

dass das Werk die Handschrift<br />

der Union trage.<br />

Den Preis für ein mögliches<br />

Scheitern des Mitgliederentscheids<br />

würde<br />

allerdings nicht allein die<br />

SPD bezahlen. Auch für<br />

Kanzlerin Merkel könnte<br />

es bedeuten, dass sie trotz<br />

ihres Rekordergebnisses<br />

am Ende das Kanzler amt<br />

verlassen müsste. Zunächst<br />

käme allerdings wohl noch einmal<br />

Schwarz-Grün ins Spiel. „Ab 6. Januar“,<br />

so sagt es ein Unions-Bundesminister,<br />

„würden dann die Koalitionsverhandlungen<br />

mit den Grünen beginnen.“<br />

Die zeigen sich vorerst zurückhaltend.<br />

„Wir richten uns auf vier Jahre Opposi -<br />

tion ein“, sagt der Fraktionsvorsitzende<br />

Anton Hofreiter vom linken Parteiflügel.<br />

Die Grünen wären ohnehin nicht „der<br />

billige Plan B für Frau Merkel, wenn sie<br />

mit CSU und SPD nicht klarkommt“. Tatsächlich<br />

aber wäre eine schwarz-grüne<br />

Alternative nicht so unwahrscheinlich,<br />

wie die Anführer öffentlich glauben machen<br />

wollen. In Hessen wird eine schwarzgrüne<br />

Landesregierung verhandelt, das<br />

lockert auch in Berlin die Fronten. Merkel<br />

müsste den Grünen allerdings ein attraktiveres<br />

Angebot machen als zuletzt wäh-<br />

„Natürlich verknüpfen viele<br />

das Votum über den Koalitionsvertrag<br />

auch mit den Personen<br />

im Parteivorstand. Die letzten<br />

Vorstandswahlen waren ein<br />

Warnschuss. Ich hoffe, in Berlin<br />

wurde dieser Schuss gehört.“<br />

Uwe Herwig, Vorsitzender<br />

„Hier ist die<br />

Skepsis nicht<br />

so groß, es<br />

herrscht eher<br />

Zustimmung zur<br />

Großen Koalition.“<br />

Andreas Arend,<br />

stellv. Vorsitzender<br />

„Wir haben einen Wahlkampf geführt,<br />

der die Ablösung von Merkel<br />

als Kanzlerin zum Ziel hatte. In den<br />

zwei Wochen vor dem Mitgliederentscheid<br />

wird es aber zu schaffen<br />

sein, eine klare Mehrheit für die<br />

Koalition zu organisieren.“<br />

Florian Pronold, Vorsitzender<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 25


Titel<br />

Ende der Feindschaft<br />

Ausgerechnet Hessen – die erstaunliche Geschichte einer schwarz-grünen Annäherung<br />

Die Vergangenheit ist in<br />

eine Glasvitrine gesperrt.<br />

Auf dem Landtagsflur der<br />

hessischen Grünen, keine 20<br />

Schritte vom Büro des Fraktionschefs<br />

Tarek Al-Wazir entfernt,<br />

liegt das Mikrofon, das Joschka<br />

Fischer, der erste Umweltminister<br />

der Grünen, auf der Regierungsbank<br />

des Landesparlaments benutzt<br />

hat. Darunter steht eine kleine<br />

schwarze Porzellanfigur, sie erinnert<br />

an die Zeit des schwarzgrünen<br />

Kriegszustands. Auf dem<br />

Sparschwein steht: „Schwarzgeld“.<br />

CDU und Grüne waren lange<br />

Jahre in keinem Bundesland weiter<br />

voneinander entfernt als in<br />

Hessen. Al-Wazir gehörte zu den<br />

härtesten und scharfzüngigsten Kritikern<br />

der Union – etwa als 1999 bekanntwurde,<br />

dass die Hessen-CDU Millionenbeträge<br />

aus dunklen Quellen auf schwarzen<br />

Konten gelagert und damit unter<br />

anderem den Wahlkampf ihres damaligen<br />

Landeschefs Roland Koch finanziert<br />

hatte. Der revanchierte sich mit einem<br />

fiesen Plakat gegen den angeblichen<br />

„Links-Block“ in Hessen: „Ypsilanti, Al-<br />

Wazir und die Kommunisten stoppen“.<br />

Koch hat sich längst in die Wirtschaft<br />

verabschiedet, und die damalige SPD-<br />

Landeschefin Andrea Ypsilanti, mit der<br />

Al-Wazir 2008 tatsächlich ein rot-grünrotes<br />

Bündnis verabredet hatte, sitzt inzwischen<br />

macht- und lustlos auf einer<br />

Hinterbank ihrer Landtagsfraktion.<br />

Al-Wazir, 42, und Kochs Nachfolger<br />

Volker Bouffier, 61, haben dagegen hinbekommen,<br />

was ihnen vor wenigen Wochen<br />

kaum jemand zugetraut hatte: ein<br />

Paket zu schnüren, von dem beide hoffen<br />

dürfen, dass es bei ihren Parteifreunden<br />

alte Feindschaften vergessen macht.<br />

Viermal trafen sie sich offiziell, dann<br />

auch inoffiziell; bis Mitte Dezember wollen<br />

sie nun an einem Koalitionsvertrag<br />

Politiker Al-Wazir, Bouffier: Ungeduld trifft Langatmigkeit<br />

basteln. Kommt er zustande, wäre es –<br />

rund drei Jahre nach dem Ende der<br />

schwarz-grünen Regierung in Hamburg –<br />

die erste derartige Verbindung in einem<br />

deutschen Flächenland.<br />

Strategisch käme das Bündnis beiden<br />

Partnern entgegen, sie erschlössen sich<br />

eine neue Machtoption. Das erscheint<br />

beiden wichtig, da die Sozialdemokraten<br />

der Linken offener gegenübertreten<br />

und die FDP sich nach der Pleite bei der<br />

Bundestagswahl notgedrungen von der<br />

Rolle als Mehrheitsbeschaffer der Union<br />

emanzipiert.<br />

Wird Hessen gar zum Vorbild für den<br />

Bund? Die Abläufe könnten sich gleichen.<br />

Nach der Wahl, als die bis dato regierende<br />

schwarz-gelbe Koalition im<br />

Landtag ihre Mehrheit verlor, sah es zunächst<br />

auch in Wiesbaden nach einer<br />

Großen Koalition aus – und auch in der<br />

hessischen CDU-Spitze hieß es, die Sozialdemokraten<br />

seien den Mitgliedern<br />

eher als Partner zu vermitteln als die<br />

Grünen.<br />

Einfach wird es in Hessen nicht. Zwar<br />

bemüht sich die dortige Union um das<br />

Bild einer modernen Großstadtpartei,<br />

in Frankfurt am Main oder Darmstadt<br />

klappt das auch. Die Koalitionen<br />

mit den Grünen dort funktionieren<br />

einigermaßen reibungslos.<br />

Anders in den konservativen,<br />

ländlichen Gegenden Hessens,<br />

etwa in den katholischen CDU-<br />

Hochburgen Fulda oder Limburg:<br />

Dort ist insbesondere das liberale<br />

Familienbild der Grünen, die Offenheit<br />

gegenüber homosexuellen<br />

und bunten Lebensmodellen, eine<br />

hohe Hürde für Schwarz-Grün.<br />

Zudem fremdelten Bouffier<br />

und Al-Wazir in den Verhandlungen<br />

zeitweise stark. Nach der<br />

zweiten schwarz-grünen Sondierungsrunde<br />

Mitte Oktober wollten<br />

selbst Unionisten, die den Grünen<br />

eher nahestehen, nicht mehr an<br />

einen Erfolg glauben – so sehr sei spürbar<br />

gewesen, dass die beiden Parteichefs<br />

sich bisweilen auf die Nerven gingen.<br />

Bouffier neigt zu Langatmigkeit, Al-Wazir<br />

zu Ungeduld – eine Zusammenarbeit<br />

an einem Kabinettstisch erschien schwer<br />

vorstellbar.<br />

Mit den Sozialdemokraten flutschte<br />

es dagegen zunächst. Vor allem in einem<br />

Punkt, der CDU und Grüne besonders<br />

weit trennte, lockte die SPD mit unionsnahen,<br />

wirtschaftsfreundlichen Positionen:<br />

beim weiteren Ausbau des Frankfurter<br />

Flughafens. Im kleinen Kreis<br />

signalisierte Bouffier den Sozialdemokraten<br />

schließlich, dass er sich eine Große<br />

Koalition vorstellen könne – und<br />

SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel<br />

konnte das auch.<br />

Der Sozialdemokrat hatte allerdings<br />

ein anderes Problem. Als er Mitte November<br />

dem Bundesvorstand seine Präferenz<br />

für eine Große Koalition erläuterte,<br />

wurde dies von Parteifreunden sogleich<br />

durchgestochen. Die Folge: eine<br />

Flut von Protesten an die hessische SPD-<br />

Führung. Viele Genossen waren enttäuscht,<br />

sie hatten auf eine rechnerisch<br />

FREDRIK VON ERICHSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

26<br />

„Wir brauchen mehr Gelder<br />

für die Städte im Ruhrgebiet.<br />

Falls das nicht erfolgreich<br />

umgesetzt wird, sind wir<br />

sehr zurückhaltend, was<br />

unsere Zustimmung zur<br />

Großen Koalition angeht.“<br />

Frank Dudda, Fraktionschef<br />

„Erst kommt das<br />

Land, dann die Partei.<br />

Auch wenn wir nur<br />

einen Teil unseres Wahlprogramms<br />

durchsetzen<br />

können, ist das gut für<br />

die Menschen.“<br />

Sebastian Macht, Vorsitzender<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

„Wir machen doch nicht<br />

den Steigbügelhalter für<br />

so einen Mist! Merkel soll<br />

eine Minderheitsregierung<br />

machen, und wir treiben<br />

sie dann aus der Opposition<br />

heraus vor uns her.“<br />

Jürgen Hennlein, Vorsitzender


SCHWARZ-GRÜN 61 Sitze<br />

CDU<br />

47<br />

Grüne<br />

14<br />

insgesamt<br />

110 Sitze<br />

SPD<br />

37<br />

FDP<br />

Linke<br />

Hessischer<br />

Landtag<br />

Sitzverteilung<br />

6<br />

6<br />

ebenfalls mögliche rot-grün-rote Koalition<br />

gesetzt.<br />

In ihrer Verzweiflung streuten Schäfer-Gümbels<br />

Leute, man könne sich ja<br />

auch noch eine rot-grüne Minderheitsregierung<br />

vorstellen, die von den Linken<br />

oder der FDP toleriert werde. Das war<br />

allerdings Unsinn. Solch wackelige Modelle<br />

hatten die Grünen in zwei Parteiratsbeschlüssen<br />

und mehreren öffentlichen<br />

Erklärungen abgelehnt.<br />

Bouffier reagierte verschnupft auf die<br />

SPD-Volte. Seine Verärgerung steigerte<br />

sich am Montag voriger Woche: Nach<br />

der letzten schwarz-roten Sondierungsrunde<br />

gab Schäfer-Gümbel – anders als<br />

angekündigt – keine klare Empfehlung<br />

für eine Große Koalition ab. Stattdessen<br />

lavierte der SPD-Chef vor den Funktionären<br />

seines Landesparteirats herum<br />

und kündigte eine Reihe von Regionalkonferenzen<br />

an: Die Genossen sollten<br />

sich noch eine Meinung bilden dürfen<br />

über ihre Präferenzen, bevor der Landesparteitag<br />

eine Entscheidung treffe.<br />

Bouffier empfand dies als Affront. Er<br />

hatte sich bereits öffentlich festgelegt,<br />

wenige Tage nach dem letzten schwarzroten<br />

Gespräch ein Angebot für Koalitionsverhandlungen<br />

zu machen. Plötzlich<br />

wusste er nicht mehr, ob Schäfer-<br />

Gümbel noch als Partner zur Verfügung<br />

stand. „Damit waren wir wieder im<br />

Spiel“, sagte ein Spitzen-Grüner am vergangenen<br />

Freitag.<br />

Die ganze vergangene Woche über<br />

ließ Bouffier seine Leute mit den Grünen<br />

sondieren, ob nicht doch noch eine<br />

Lösung beim Flughafen möglich sei. Sie<br />

einigten sich auf mehrere Punkte. Künftig<br />

soll für den Flughafen beispielsweise<br />

ein neuer „Lärmdeckel“ festgelegt werden.<br />

Der Krach von startenden und landenden<br />

Jets soll dann unterhalb der<br />

Werte liegen, die im Planfeststellungsbeschluss<br />

des Landes zum Ausbau des<br />

Flughafens für das Jahr 2020 prognostiziert<br />

wurden. Wie das zu schaffen sein<br />

soll, ist im Detail allerdings noch unklar.<br />

„Mehr hätten wir in einer Koalition<br />

mit der SPD auch nicht erreicht“, verbreitete<br />

die Grünen-Führung am Freitag.<br />

Ob das genügt, um die Parteibasis zufriedenzustellen?<br />

Kurz nachdem die<br />

Nachricht vom neuen Bündnis die Runde<br />

machte, rief eine Frankfurter Fluglärm-Bürgerinitiative<br />

schon zu einer<br />

Protestdemonstration auf: „Nein zu<br />

Schwarz-Grün“.<br />

Außerdem halten es die Grünen in<br />

Hessen nicht anders als die SPD im<br />

Bund: Ein Koalitionsvertrag muss die<br />

Gnade der Basis finden. Das soll kurz<br />

vor Weihnachten, am 21. Dezember,<br />

geschehen. Da die hessischen Grünen<br />

keine Delegierten-Parteitage haben,<br />

sondern alle Mitglieder mitentscheiden<br />

lassen, sind die Voten solcher Landesversammlungen<br />

noch schwerer kalkulierbar.<br />

Al-Wazir weiß, dass er seinen<br />

Leuten dort etwas bieten muss. „Die<br />

Verhandlungen mit der CDU werden<br />

nicht einfach“, sagt er – was eher eine<br />

Untertreibung ist.<br />

Das Gleiche gilt für Bouffier. Gerade<br />

beim Thema Flughafen hatte er sich gegenüber<br />

dem CDU-Wirtschaftsflügel<br />

festgelegt: Der Airport müsse auf jeden<br />

Fall „wettbewerbsfähig bleiben“ und<br />

Entwicklungsmöglichkeiten haben. Nun<br />

sicherte er gegenüber den Grünen zu,<br />

dass der geplante Neubau eines dritten<br />

Terminals überprüft werden solle – möglicherweise<br />

stelle sich das Projekt ja als<br />

betriebswirtschaftlich unnötig heraus.<br />

Dennoch will der Regierungschef den<br />

Schritt mit den Grünen wagen. Am vergangenen<br />

Donnerstagabend, nachdem<br />

er sich entschieden hatte, rief Bouffier<br />

zuerst Al-Wazir an. Danach verständigte<br />

er Schäfer-Gümbel, der die Neuigkeit<br />

nicht erst den Medien entnehmen sollte.<br />

Die Öffentlichkeit sollte nach Bouffiers<br />

Plan erst am Freitagabend davon erfahren,<br />

nachdem er seinen Landesvorstand<br />

und die CDU-Landtagsfraktion in Wiesbaden<br />

unterrichtet hatte.<br />

Dieses eine Mal war Schäfer-Gümbel<br />

schneller: Er plauderte bereits am Freitagmittag<br />

munter aus, dass ihm Bouffier<br />

von den schwarz-grünen Plänen berichtet<br />

habe.<br />

MATTHIAS BARTSCH<br />

rend der Sondierungen. Um endlich regieren<br />

zu dürfen, könnte sie dazu bereit<br />

sein.<br />

Sollten sich am Ende aber auch die<br />

Grünen einer Koalition mit der Union<br />

verweigern, käme Bundespräsident Joachim<br />

Gauck ins Spiel. Der müsste den<br />

neugewählten Bundestag womöglich auflösen,<br />

bevor er sein erstes Gesetz verabschiedet<br />

hat.<br />

So oder so ist Gabriel in einer prekären<br />

Lage. „Mehr Demokratie wagen!“, hatte<br />

Willy Brandt einst gefordert. Doch wenn<br />

die Genossen im Dezember feierlich seinen<br />

100. Geburtstag begehen, könnten<br />

sie ihren Mut in Sachen innerparteilicher<br />

Demokratie bereits bereuen. Denn selbst<br />

wenn die Basis mit knapper Mehrheit für<br />

eine Große Koalition votiert, wäre das<br />

für Sigmar Gabriel ein schlechtes Ergebnis.<br />

Dann müsste er eine tiefgespaltene<br />

Partei in das ungeliebte Regierungsbündnis<br />

führen – und halten.<br />

Einstweilen versucht sich Gabriel in<br />

Zweckoptimismus: „Ich bin stolz auf meine<br />

Partei, dass sie die Herausforderung<br />

des Mitgliedervotums so entschlossen<br />

angeht. Ich bin sicher: Auch in anderen<br />

Parteien wird der Ruf nach solchen Beteiligungsformen<br />

lauter werden“, sagt der<br />

Parteichef. Er will die Hoffnung nicht aufgeben,<br />

dass die SPD am Ende doch noch<br />

bereit ist für eine Vernunftentscheidung:<br />

„Wenn wir echte Verbesserungen für die<br />

Menschen erreichen, warum sollten die<br />

SPD-Mitglieder da ablehnen?“<br />

Immerhin, bei einer Versammlung am<br />

Mittwochabend vergangener Woche im<br />

Berliner Abgeordnetenhaus hatte ein Genosse<br />

schon einen Vorschlag parat: „Lasst<br />

die Verhandlungen lieber vor die Wand<br />

fahren, als der Basis einen Vertrag vorzulegen,<br />

bei dem ihr damit rechnen müsst,<br />

dass er abgelehnt wird“, riet er der Parteiführung.<br />

Eine solche Entscheidung würde der<br />

klammen SPD zwar einen Teil der gut<br />

eine Million Euro Kosten für den Mitgliederentscheid<br />

ersparen. Aber Sigmar Gabriel<br />

und Angela Merkel nicht die Frage,<br />

wann Deutschland, die Führungsmacht<br />

Euro pas, endlich eine neue Regierung bekommt.<br />

Und diese Frage interessiert deutlich<br />

mehr Menschen, als die SPD Mitglieder<br />

hat.<br />

NICOLA ABÉ, THERESA AUTHALER,<br />

MATTHIAS BARTSCH, RALF BESTE, SVEN BÖLL,<br />

MARKUS DEGGERICH, MARKUS DETTMER,<br />

CHRISTIANE HOFFMANN, FRANK HORNIG,<br />

ANNA KISTNER, HORAND KNAUP, PETER MÜLLER,<br />

GORDON REPINSKI, SIMONE SALDEN, CORNELIA<br />

SCHMERGAL, BARBARA SCHMID, STEFFEN WINTER<br />

„Ich sehe keine<br />

Handschrift der<br />

SPD in den Verhandlungen.<br />

Es<br />

war ein Fehler, Rot-<br />

Rot-Grün von vornherein<br />

abzulehnen.“<br />

Volker Marquard, Vorsitzender<br />

„Die Waiblinger SPD hat sich<br />

nach der Bundestagswahl<br />

gegen eine Große Koalition<br />

ausgesprochen. Deshalb würde<br />

es mich nicht überraschen,<br />

wenn eine Mehrheit gegen den<br />

Koalitionsvertrag stimmen würde.“<br />

Markus Mall, Sprecher des Ortsvereins<br />

„Wir empfehlen eine<br />

Minderheitsregierung<br />

unter Merkel, bei der die<br />

SPD dann aus der Opposition<br />

heraus für Themen wie den<br />

Mindestlohn Mehrheiten<br />

finden kann.“<br />

Dennis Eidner, Sprecher<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 27


Titel<br />

D E B A T T E<br />

Großer Irrtum<br />

Warum die SPD nicht mit der Union koalieren sollte / Von Bernhard Schlink<br />

LIEBE GENOSSINNEN, LIEBE GENOSSEN,<br />

es ist nicht zu fassen, aber wahr: In wenigen Wochen entscheiden<br />

wir über das Geschick der Republik.<br />

Wenn wir für die Große Koalition entscheiden, wird unsere<br />

Partei bei der nächsten Wahl, wie bei der Wahl nach der letzten<br />

Großen Koalition, wieder verlieren. Sie mag jetzt noch so erfolgreich<br />

verhandeln, bald noch so tüchtig regieren – die Erfolge<br />

der Großen Koalition werden wieder als Erfolge Angela Merkels<br />

wahrgenommen und ihr zugutegehalten werden. Unsere<br />

Partei wird nicht noch mal elf Prozentpunkte verlieren. Dafür<br />

hat sie bereits zu viel verloren. Vielleicht fünf oder vier oder<br />

sechs?<br />

Damit wird sie nicht weit von den Grünen liegen. Die Grünen<br />

werden, auch wie bei der Wahl nach der letzten Großen<br />

Koalition, zulegen. Als Opposition werden sie die Wähler an<br />

sich binden, deren Bedürfnis nach klaren<br />

Alternativen und klarer Verantwortung die<br />

Große Koalition zuwiderläuft.<br />

Unsere Partei hat sich in Leipzig für 2017<br />

einer rot-rot-grünen Koalition geöffnet. Als<br />

ob feststünde, dass sie, von der Großen<br />

Koalition geschwächt, 2017 stark genug<br />

wäre, eine solche Koalition zu führen. Als<br />

ob 2017 nicht alles möglich wäre: eine absolute<br />

Mehrheit für CDU/CSU, eine Mehrheit<br />

für CDU/CSU und FDP sowie eine linke<br />

Minderheit oder auch Mehrheit, bei der<br />

die Grünen stärker sind als unsere Partei.<br />

Wir können gegen die Große Koalition<br />

entscheiden. Vielleicht werden CDU/CSU<br />

und die Grünen dann noch Koalitionsverhandlungen<br />

führen. Vielleicht werden sie<br />

sich sogar einigen. Aber nachdem unsere<br />

Partei die Mitglieder entscheiden lässt, müssen<br />

auch die Grünen die Mitglieder entscheiden<br />

lassen. Die Mitglieder der Grünen<br />

werden der Koalition mit der CDU/CSU<br />

nicht mehr abgewinnen als wir. Dann kommen<br />

Neuwahlen in Betracht. Neuwahlen,<br />

bei denen die Wähler und Wählerinnen, des Hin und Her überdrüssig,<br />

der CDU/CSU die absolute Mehrheit geben mögen.<br />

Daran kann unsere Partei, daran können auch die Grünen und<br />

die Linke kein Interesse haben.<br />

Ebenso kommt eine rot-rot-grüne Koalition in Betracht.<br />

Kommt sie wirklich in Betracht? Hat unsere Partei vor der<br />

Wahl eine Koalition mit der Linken nicht deutlich abgelehnt?<br />

Das hat sie. Deshalb muss sie es auch zuerst mit der CDU/CSU<br />

versuchen – bis die Mitglieder sich verweigern.<br />

Aber ist nicht die Linke für eine Koalition noch nicht reif,<br />

außen- und sicherheitspolitisch, im alten Osten voller alter Kader,<br />

im alten Westen voller realitätsblinder Ideologen? Die gibt<br />

es, aber sie wird es auch 2017 geben, und wie die Linke in den<br />

Länderkoalitionen pragmatisch war und ist, wird sie es auch<br />

in einer Koalition im Bund sein – heute mit Gysi verlässlicher<br />

als morgen mit wer weiß wem.<br />

Aber würde die Spitze unserer Partei durch unsere Ablehnung<br />

der Großen Koalition nicht so desavouiert, dass sie zur<br />

28<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

IMAGO<br />

Führung einer rot-rot-grünen Koalition gar nicht mehr fähig<br />

wäre? Die Spitze unserer Partei hat ihre Koalitionsverhandlungen<br />

von vornherein unter den Vorbehalt unserer Zustimmung<br />

oder Ablehnung gestellt – unsere Ablehnung kann sie<br />

nicht desavouieren. Die Spitze unserer Partei würde mit der<br />

Führung einer rot-rot-grünen Koalition einfach den politischen<br />

Gegebenheiten Rechnung tragen – dem Scheitern einer Großen<br />

Koalition, dem Scheitern einer schwarz-grünen Koalition und<br />

dem Gebot demokratischer Vernunft, Neuwahlen zu vermeiden,<br />

solange es eine Mehrheit gibt, die eine Regierung bilden<br />

kann.<br />

Die Mehrheit gibt es. Obwohl es leicht übersehen wird – seit<br />

der letzten Wahl hat der Bundestag eine linke Mehrheit. Die<br />

Wähler und Wählerinnen haben keine Große Koalition gewählt.<br />

Sie haben auch keine rot-rot-grüne Koalition gewählt. Wähler<br />

und Wählerinnen wählen keine Koalitionen.<br />

Sie wählen Parteien. Sie haben mehrheitlich<br />

die linken Parteien in den Bundestag<br />

gewählt, und die linken Parteien können<br />

in einer Koalition die Regierung bilden.<br />

Unter der Führung unserer Partei. Ihre<br />

Aufgabe ist es, die linken Parteien zusammenzuführen<br />

und mit ihnen eine Alternative<br />

zur gelb-schwarzen Politik zu konzipieren<br />

und zu gestalten. Die linke Politik<br />

unserer Partei kann nicht nur in Korrekturen<br />

und Modifikationen schwarzer Politik<br />

bestehen. In Leipzig hat sich diese Einsicht<br />

bereits zur Geltung gebracht. Aber wenn<br />

eine rot-rot-grüne Koalition 2017 nicht<br />

mehr ausgeschlossen ist, warum soll sie es<br />

heute sein?<br />

Weil die Wähler sich an die Vorstellung<br />

einer rot-rot-grünen Koalition erst gewöhnen<br />

müssen? Weil jetzt CDU/CSU mit Empörung,<br />

die Medien mit Häme und die<br />

Wirtschaft mit Entsetzen reagieren würden?<br />

Das alles wird 2017 auch drohen, und<br />

es wird sich jetzt wie dann bald erledigen,<br />

wenn die rot-rot-grüne Koalition vernünftig regiert. Das freilich<br />

muss sie. Schafft unsere Partei das – die Macht greifen, die Koalition<br />

formen, die Regierung bilden, den Kanzler stellen?<br />

Wenn sie es jetzt nicht schafft, schafft sie es auch 2017 nicht,<br />

und vielleicht ist jetzt ihre letzte Chance.<br />

Um sich unsere Partei als führende Kraft in einer rot-rotgrünen<br />

Koalition zu wünschen, muss man nicht ein linker Sozialdemokrat<br />

sein – ich bin keiner. Man muss nur überhaupt<br />

Sozialdemokrat sein und daran glauben, dass es noch sozialdemokratische<br />

Inhalte und Ziele, dass es noch eine sozialdemokratische<br />

Alternative, eine sozialdemokratische Politik gibt.<br />

Weil wir daran glauben, müssen wir die Chance nutzen, die<br />

wir – es ist nicht zu fassen, aber wahr – haben. Wir müssen unsere<br />

Partei auf den Weg zur rot-rot-grünen Koalition bringen,<br />

auf den sie gehört.<br />

Der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink, 69, ist seit 40<br />

Jahren Mitglied der SPD.


MAURICE WEISS / OSTKREUZ<br />

S P I E G E L - G E S P R Ä C H<br />

„Die SPD darf nicht überdrehen“<br />

Finanzminister Wolfgang Schäuble, 71, über die Schwierigkeiten der SPD mit ihrem<br />

Mitgliederentscheid, den begrenzten Spielraum der Union für weitere<br />

Kompromisse bei den Koalitionsverhandlungen und schwarz-rote Freundschaften<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Herr Minister, wollen Sie die<br />

deutsche Wirtschaft zerstören?<br />

Schäuble: Nein, wie kommen Sie darauf?<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Industriepräsident Ulrich Grillo<br />

macht sich wegen der laufenden Koali -<br />

tionsgespräche „Sorgen um den Wirtschaftsstandort<br />

Deutschland“. Können<br />

Sie das verstehen?<br />

Schäuble: Ich bin mir sicher sagen zu können,<br />

dass beide, SPD und Union, sich<br />

eine erfolgreiche deutsche Wirtschaft<br />

wünschen. Sie haben nur unterschied -<br />

liche Vorstellungen davon, wie das zu bewerkstelligen<br />

ist. Die Wähler haben über<br />

die unterschiedlichen Vorstellungen, die<br />

in den Wahlprogrammen eine sehr prominente<br />

Rolle gespielt haben, vor neun<br />

Wochen geurteilt, mit einem, wie ich<br />

fand, ziemlich eindeutigen Ergebnis. Auf<br />

der Grundlage dieses Ergebnisses müssen<br />

30<br />

die beiden Parteien bei allen unterschiedlichen<br />

Vorstellungen eine gemeinsame und<br />

vernünftige Politik machen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Eine Vorlage Ihres Ministeriums<br />

kommt zu dem Ergebnis, dass die Pläne<br />

der Großen Koalition bis zu 1,8 Millionen<br />

Jobs kosten könnten.<br />

Schäuble: Wir müssen alle möglichen Auswirkungen<br />

der Maßnahmen, die wir diskutieren,<br />

so sorgfältig wie möglich prüfen<br />

und bewerten und dann auf dieser Basis<br />

die richtigen Entscheidungen treffen. Bislang<br />

sind aber noch gar keine Entscheidungen<br />

gefallen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Die Große Koalition diskutiert<br />

etwa darüber, einen flächendeckenden<br />

Mindestlohn von 8,50 Euro einzuführen<br />

und die Rente mit 67 zurückzudrehen.<br />

Die Union drohe deshalb „zum Paten<br />

zu werden für die Rückabwicklung der<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Agenda 2010“, warnt Ihr Parteifreund,<br />

EU-Kommissar Günther Oettinger.<br />

Schäuble: Eine Regierung, an der die<br />

Union beteiligt ist, wird die Reformen<br />

und die Politik der vergangenen Jahre,<br />

die Deutschland eine niedrige Arbeitslosigkeit,<br />

einen hohen Beschäftigungsstand<br />

und stabiles Wachstum gebracht haben,<br />

nicht in Frage stellen. Und dazu gehört<br />

auch die Rente mit 67. Dies ist angesichts<br />

der demografischen Entwicklung unverzichtbar.<br />

Außerdem erhöhen wir das<br />

Rentenalter nur schrittweise in einem<br />

Zeitraum von 20 Jahren, da hat jeder ausreichend<br />

Zeit, sich darauf einzustellen.<br />

Die Große Koalition hat die Aufgabe, die<br />

erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung<br />

der vergangenen Jahre fortzusetzen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wir haben eher den Eindruck,<br />

dass die Große Koalition ihr Augenmerk


Titel<br />

darauf richtet, mehr Geld auszugeben.<br />

Die Wünsche der Fachpolitiker belaufen<br />

sich auf über 50 Milliarden Euro.<br />

Schäuble: Aus der mittelfristigen Finanzplanung<br />

bis 2017 ergibt sich der Handlungsspielraum<br />

der Großen Koalition.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Das wären nur 15 Milliarden<br />

Euro. Die SPD will Steuern erhöhen.<br />

Schäuble: Ich glaube, dass das Thema<br />

Steuererhöhungen erledigt ist. Für mich<br />

ist ganz klar: Wer jetzt die Steuern er -<br />

höht, gefährdet den wirtschaftlichen Aufschwung,<br />

und dann fehlt erst recht Geld<br />

in den öffentlichen Kassen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Die SPD verweist auf die Finanznöte<br />

der Länder. Die dürfen schon bald<br />

keine zusätzlichen Schulden mehr machen,<br />

obwohl sie viel Geld für das Beamtenheer<br />

etwa in Schulen, Universitäten<br />

oder der Polizei aufbringen müssen. Werden<br />

Sie sich weiter taub stellen, wenn die<br />

Ministerpräsidenten Sie mit den entsprechenden<br />

Forderungen konfrontieren?<br />

Schäuble: Keineswegs. Das Thema der<br />

Reform der Bund-Länder-Beziehungen<br />

muss insgesamt angegangen werden, das<br />

sagen wir seit langem. Das betrifft die<br />

Aufgaben, aber auch die Finanzverteilung<br />

zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.<br />

Bei allen Wünschen der Länder und Gemeinden<br />

dürfen wir aber nicht vergessen,<br />

dass der Bund die schlechteste Finanzausstattung<br />

hat. Aber wenn ich Herrn Gabriel<br />

richtig verstanden habe, sind höhere Steuern<br />

auch gar nicht sein Kernanliegen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sondern?<br />

Schäuble: Auf dem Leipziger Parteitag hat<br />

er zwei Bedingungen für die Bildung einer<br />

Großen Koalition genannt: einen gesetzlichen<br />

Mindestlohn und die doppelte Staatsbürgerschaft.<br />

In beiden Punkten sind wir<br />

der SPD bereits weit entgegengekommen.<br />

Und angesichts des klaren Wahlergebnisses<br />

und der damit verbundenen klaren Erwartungen<br />

unserer Wähler darf die SPD<br />

ihre Forderungen nicht überdrehen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wenn der Finanzspielraum so<br />

eng bemessen ist, wie Sie sagen, kann<br />

vieles von dem, was die Fachpolitiker von<br />

Union und SPD schon beschlossen haben,<br />

nicht verwirklicht werden. Sehen wir das<br />

richtig?<br />

Schäuble: Die Parteivorsitzenden von<br />

CDU, CSU und SPD und auch Unionsfraktionschef<br />

Volker Kauder haben dazu<br />

bereits das Nötige gesagt. Ich bin aber zuversichtlich,<br />

dass wir trotzdem Kompromisse<br />

finden; zumal sich die Grünen bei<br />

den Sondierungsgesprächen nach der<br />

Wahl außerstande gesehen haben, ihrer<br />

Verantwortung gerecht zu werden. Bei<br />

allem Respekt: Die Grünen werden in<br />

den nächsten Jahren ein bisschen leiser<br />

auftreten müssen als bisher. Wer sich in<br />

die Büsche schlägt, wenn es ernst wird,<br />

darf sich nicht wundern, wenn er an<br />

Glaubwürdigkeit verliert.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Auch die SPD-Spitze will nicht<br />

allein über die Koalitionsfrage entschei-<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 31


den, sondern stattdessen<br />

ihre Mitglieder befragen.<br />

Fürchten Sie, dass die Parteibasis<br />

am Ende nein sagen<br />

könnte?<br />

Schäuble: Ich hoffe zuversichtlich,<br />

dass die Parteiführung<br />

der SPD ihre Mitglieder<br />

zu überzeugen verstehen<br />

wird. Der Mitgliederentscheid<br />

wird kein Selbstläufer,<br />

gerade auch wegen des<br />

für die SPD enttäuschenden<br />

Wahlergebnisses, aber<br />

manchmal muss man sich<br />

vor Augen führen, dass wir<br />

alle zuerst dem Land und<br />

dann der Partei dienen. Ich<br />

beneide die Kollegen nicht<br />

um ihre Aufgabe.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Nach dem SPD-<br />

Beschluss, die Parteimit -<br />

glieder zu befragen, fordern<br />

nun auch Parteifreunde von<br />

Ihnen einen Mitgliederentscheid. Werden<br />

Sie den Vorschlag unterstützen?<br />

Schäuble: Die Union hat eine reife Diskussionskultur<br />

in ihren Gremien, wir<br />

sind laufend im Gespräch miteinander,<br />

die Diskussionen von oben nach unten<br />

und umgekehrt sind bei uns stark ausgeprägt.<br />

Zudem sind die meisten unserer<br />

Abgeordneten direkt gewählt. Die reden<br />

ständig mit ihrer Basis. Auf diese Art und<br />

Weise ist die ganze Partei eingebunden.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Große Koalitionen sind gut für<br />

große Reformen, so heißt es oft. Wenn<br />

man die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen<br />

betrachtet, so lassen sie sich<br />

aber eher in der Schublade „kleines Karo“<br />

einordnen. In Ihrer Arbeitsgruppe zum<br />

Beispiel ist von Steuerreformen keine<br />

Rede. Ist das nicht ein bisschen wenig für<br />

eine Koalition mit einer fast 80-prozen -<br />

tigen Mehrheit im Parlament?<br />

Schäuble: Die Wähler haben entschieden,<br />

und die Parteien müssen nach der Wahl<br />

das Beste aus dieser Entscheidung und<br />

für das Land machen. Ich sehe eine ganze<br />

Reihe von wichtigen Aufgaben, bei denen<br />

Union und SPD tatsächlich viel erreichen<br />

können, wenn sie gemeinsam handeln.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Zum Beispiel?<br />

Schäuble: Um nur zwei Beispiele zu nennen:<br />

zum einen die Energiewende, die<br />

wir so fortsetzen müssen, dass wir den<br />

Anforderungen des Klimaschutzes genauso<br />

gerecht werden wie der Forderung<br />

nach sicherer und bezahlbarer Energie.<br />

Außerdem müssen wir die Aufgaben zwischen<br />

Bund und Ländern etwa in der Bildungs-<br />

und Forschungspolitik neu ordnen.<br />

Für beide Aufgaben ist eine Große Koa li -<br />

tion besonders gut geeignet, weil beide<br />

Parteien im Bund wie in den Ländern tief<br />

verankert sind.<br />

* Mit den Redakteuren Christian Reiermann und<br />

Michael Sauga im Berliner Finanzministerium.<br />

32<br />

Titel<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie haben einmal zu Protokoll<br />

gegeben, dass Große Koalitionen für eine<br />

Demokratie „systemisch falsch“ seien,<br />

weil die Volksparteien dann zu viel unter -<br />

einander mauscheln könnten. Gilt der<br />

Satz noch?<br />

Schäuble: Ich habe immer gesagt, dass Große<br />

Koalitionen nicht zur Dauereinrichtung<br />

werden dürfen. Ich habe aber nicht den<br />

Eindruck, dass sich Union und SPD besonders<br />

leidenschaftlich damit beschäftigen,<br />

wie sie die Große Koalition über die<br />

nächste Wahl hinaus verlängern könnten.<br />

Es gab eine Wahl, es gibt ein Ergebnis, wir<br />

haben ein Land, das eine gute und starke<br />

Regierung braucht. Die Linken kamen für<br />

uns als Partner nicht in Frage, die Grünen<br />

haben sich verweigert, also nehmen Union<br />

und SPD die Herausforderung an.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Was sind Voraussetzungen dafür,<br />

dass die Große Koalition funktioniert?<br />

Schäuble: Erstens ein gutes Programm,<br />

zweitens der Wille, vier Jahre lang mitein -<br />

ander das Land nach vorn zu bringen,<br />

und drittens das Wissen, dass wir danach<br />

wieder als demokratische Konkurrenten<br />

gegeneinander antreten.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Glauben Sie wirklich, dass die<br />

SPD vier Jahre durchhält? Die Partei<br />

könnte doch schon viel früher das Lager<br />

wechseln.<br />

Schäuble: Die Führung der SPD hat ausdrücklich<br />

erklärt: Wenn wir uns auf eine<br />

Schäuble beim <strong>SPIEGEL</strong>-Gespräch*<br />

„Ich beneide die Kollegen nicht“<br />

Koalitionäre Schäuble, Steinbrück 2008<br />

„Opposition scheint für manche einfacher, da<br />

kann man den Leuten mehr versprechen.“<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

MAURICE WEISS / OSTKREUZ<br />

HENNING SCHACHT / ACTION PRESS<br />

Große Koalition einlassen,<br />

dann für volle vier Jahre.<br />

Warum sollte ich dar an<br />

zweifeln?<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Weil die SPD auf<br />

ihrem Parteitag in Leipzig<br />

dem Zusammengehen mit<br />

der Linken Tür und Tor geöffnet<br />

hat.<br />

Schäuble: Soweit ich mich<br />

erinnere, hat es doch rotrote<br />

Koalitionen schon<br />

mehrfach gegeben, zum<br />

Beispiel viele Jahre in<br />

Berlin oder Brandenburg.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Auf Bundesebene<br />

aber waren sie bislang tabu.<br />

Schäuble: Ich habe schon<br />

vor der Wahl gesagt, dass<br />

die SPD mit Linken und<br />

Grünen zusammengehen<br />

wird, wenn es dafür reicht.<br />

Nach Einschätzung der<br />

SPD-Spitze ist die Mehrheit<br />

für ein solches Experiment in diesem<br />

Bundestag aber nicht groß genug.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Fragt sich nur, wie lange das gilt.<br />

In der vergangenen Großen Koalition gab<br />

es belastbare persönliche Achsen. Die<br />

Kanzlerin kam gut mit dem damaligen<br />

Finanzminister Peer Steinbrück zurecht,<br />

die beiden Fraktionsvorsitzenden Volker<br />

Kauder und Peter Struck wurden sogar<br />

Freunde. Gibt es Ähnliches auch in der<br />

neuen Konstellation?<br />

Schäuble: Das wird sich entwickeln. Auch<br />

die von Ihnen angeführten Beispiele bestanden<br />

ja nicht von Anfang an. Zudem<br />

hat die Kanzlerin aus dieser Zeit auch<br />

ein gutes Verhältnis zu SPD-Chef Sigmar<br />

Gabriel. Und ein paar andere waren ja<br />

auch schon in der letzten Großen Koa li -<br />

tion nicht ganz ohne Erfolg dabei. Außerdem<br />

darf man nicht vergessen, dass wir<br />

uns auch aus der Arbeit im Bundestag,<br />

ob nun auf der Seite der Regierung oder<br />

der Opposition stehend, gut kennen und<br />

immer mit Respekt begegnet sind.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: 2005 beteiligte sich die SPD an<br />

der Regierung, weil für sie die Aussage<br />

ihres Parteivorsitzenden Franz Münte -<br />

fering galt, wonach Opposition Mist sei.<br />

Heute hat man eher das Gefühl, dass große<br />

Teile der SPD lieber auf den Opposi -<br />

tionsbänken Platz nehmen würden.<br />

Schäuble: Ich teile die Einschätzung von<br />

Franz Müntefering, dass sich demokra -<br />

tische Parteien der Regierungsverantwortung<br />

stellen sollten. Opposition scheint<br />

für manche einfacher. Da kann man den<br />

Leuten viel mehr versprechen. In der Regierung<br />

muss man sich mit Einschränkungen<br />

abfinden, nicht zuletzt mit denen der<br />

Wirklichkeit. Aber wir alle gehen in die<br />

Politik, um Verantwortung zu übernehmen<br />

und um zu gestalten. Dafür muss<br />

man in der Regierung sein.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Herr Minister, wir danken Ihnen<br />

für dieses Gespräch.


Deutschland<br />

Christsoziale<br />

Aigner<br />

C S U<br />

Seehofers<br />

Mädchen<br />

Seit ihrem Wechsel nach<br />

München gelingt der<br />

CSU- Hoffnung Ilse Aigner nicht<br />

mehr viel. Zwei Männer<br />

machen ihr das Leben schwer.<br />

PETER KNEFFEL / DPA<br />

Es gibt Momente, da verlässt selbst<br />

Ilse Aigner ihre Sanftmut, wie am<br />

vergangenen Montag zum Beispiel.<br />

Das bayerische Kabinett tagte, man plauderte<br />

über die nächste Klausur tagung am<br />

Tegernsee. „Ein schöner Ort“, warf<br />

Aigner harmlos ein, schließlich ist das<br />

ihre Heimat. Prompt meldete sich Finanzminister<br />

Markus Söder, selbst Franke,<br />

und meckerte: „Es gibt in Bayern aber<br />

auch noch andere schöne Orte.“ Da reichte<br />

es Aigner. Ob Söder denn immer „das<br />

letzte Wort“ haben müsse, raunzte sie.<br />

Aber CSU-Chef Horst See hofer, so erinnern<br />

sich Teilnehmer, lächelte nur still<br />

vor sich hin.<br />

So geht es seit Wochen. Ilse Aigners<br />

vielgefeierte Rückkehr in den Freistaat<br />

ist in den Mühen der Ebene angelangt.<br />

Dort warten un gewohnte, ungeliebte Auf -<br />

gaben auf sie – und zwei testosterongesteuerte<br />

Alphamännchen: Seehofer und<br />

Söder. Der eine hat Aigner mit der Aussicht<br />

aus dem Berliner Mi nisteramt nach<br />

Bayern gelockt, sie könne seine Nachfolgerin<br />

als Ministerpräsident werden. Der<br />

andere will das Amt aber auch, und er<br />

kann beißen.<br />

Im Landtagswahlkampf kokettierte<br />

Seehofer gern mit seiner möglichen Nachfolgerin<br />

Ilse Aigner. Eine Frau an der Spitze<br />

Bayerns? Das wirkte modern und zog<br />

auch junge Wähler an, die CSU holte die<br />

absolute Mehrheit. Jetzt aber, typisch Seehofer,<br />

scheint ihm die Rivalität seiner beiden<br />

Nachfolgekandidaten gut zu gefallen.<br />

Das Rennen ist eröffnet, und Aigner<br />

muss zunächst als Wirtschaftsministerin<br />

zeigen, was sie kann. Aber gleich eine<br />

erste Personalie ging schief. Aigners Vertrauter<br />

Klaus Stöttner sollte eine Art<br />

Außenbeauftragter ihres Ministeriums<br />

werden. Als sich Widerstand dagegen regte,<br />

zog sie zurück.<br />

34<br />

Auch fremdelt sie noch merklich mit<br />

den Pflichten des neuen Amtes, wie kürzlich<br />

beim Bayerischen Finanzgipfel. In<br />

der Münchner Residenz waren Hunderte<br />

Herren in dunklem Anzug versammelt,<br />

Manager von Börse, Banken und Ver -<br />

sicherungen. Aigner tat sich schwer, las<br />

ihre Rede vom Blatt, stockend. Das Wort<br />

„Solvency II“, die komplexe EU-Reform<br />

des Versicherungsaufsichtsrechts, wollte<br />

nicht auf Anhieb gelingen, andere Versprecher<br />

folgten.<br />

Ihre eigentliche Stärke dagegen bleibt<br />

bislang im Hintergrund: Aigners Fähigkeit,<br />

auf „ganz normale“ Bürger zuzugehen,<br />

auf sie einzugehen. Dann ist sie nahbar<br />

und natürlich, und so stieg sie zu einer<br />

bayernweit hoch beliebten Politikerin auf.<br />

Bei Terminen mit den Herren in dunklem<br />

Anzug zählt das weniger. Doch diese Termine<br />

bestimmen jetzt ihren Kalender.<br />

Daran ist natürlich auch Seehofer<br />

schuld. Er bat Aigner kurz nach der Bayernwahl<br />

zum Vieraugengespräch in die<br />

Staatskanzlei und drängte sie ins Wirtschaftsministerium.<br />

Dies sei der rechte<br />

Platz, um sich als Nummer zwei im Freistaat<br />

zu positionieren, schmeichelte der<br />

CSU-Chef: Förderbescheide verteilen und<br />

dazu schöne Termine mit bayerischen<br />

Weltkonzernen von Audi bis Siemens.<br />

Für Schwierigkeiten in diesem Job<br />

sorgt der Ministerpräsident selbst. Seit<br />

Monaten fordert er, dass der Abstand von<br />

Windkraftanlagen zu Wohnhäusern das<br />

Zehnfache ihrer Höhe betragen muss.<br />

Damit sind fast alle in Bayern bereits<br />

festgelegten Standorte hinfällig, die Kommunen<br />

müssen neu planen. Anfang 2014<br />

will Aigner die neuen Pläne vorstellen,<br />

Windenergie wird dabei keine große<br />

Rolle mehr spielen. Ein ziemlich holpriger<br />

Start für die Managerin der Energiewende<br />

in Bayern.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Wie wenig der schwer be rechenbare<br />

Seehofer derzeit Rücksicht auf Aigner<br />

nimmt, zeigt sich auch bei den Ber liner<br />

Koalitionsgesprächen. Für die Union<br />

leitet Aigner die Verhandlungsgruppe<br />

Wirtschaft. Gemeinsam mit der SPD<br />

stellte sie ein Papier mit vielen, vor allem<br />

aber teuren Ideen zusammen. Als<br />

Aigner die Ergebnisse präsentierte, rüffelte<br />

Seehofer seine Unterhänd lerin vor<br />

versammelter Runde in demonstrativer<br />

Schärfe: „So können wir nicht weiter -<br />

machen.“<br />

Und selbst wenn Aigner im Auftrag<br />

Seehofers loszieht, ist das keine Garantie<br />

für Rückendeckung. Etwa als es darum<br />

ging, den ehemaligen CSU-Chef und Dauerquerulanten<br />

Erwin Huber als Vorsitzenden<br />

des Wirtschaftsausschusses im Landtag<br />

zu verhindern. Aigner sollte ihre Kontakte<br />

zu oberbayerischen Abgeordneten<br />

spielen lassen, um Huber „eine Beerdigung<br />

erster Klasse“ zukommen zu lassen,<br />

wie Parteifreunde frotzelten. Doch der<br />

Plan sickerte durch, auch zu Huber. Als<br />

Aigner ihn anrief – „Erwin, wir müssen<br />

reden“ –, war der bestens präpariert. Huber<br />

hatte seine Truppen gesammelt und<br />

gewann die Kampfabstimmung. Seehofer<br />

ging in Deckung, Aigner stand bedröppelt<br />

da.<br />

Mittlerweile, so scheint es, hat Aigners<br />

sonst so fröhliches Selbstvertrauen einen<br />

echten Knacks. Als sie kürzlich mit einem<br />

Kamerateam des Bayerischen Rundfunks<br />

in ihrer Heimat auf den Gipfel des Erlbergkopfs<br />

marschierte, ließ sie wissen, sie<br />

wolle in ihrer Freizeit jetzt wieder öfter<br />

ausgiebig bergwandern – zuckte aber sofort<br />

zusammen und schob aus Sorge, das<br />

könnte Seehofer missfallen, noch hinterher:<br />

„Das darf jetzt der Ministerpräsident<br />

aber nicht hören.“<br />

CONNY NEUMANN,<br />

PETER MÜLLER


Stefan Liebich, 40, könnte es sich<br />

leicht machen an diesem Nachmittag.<br />

Rund 20 Genossen haben sich<br />

am vergangenen Mittwoch bei Käse -<br />

kuchen und Kaffee in einem Hotel in Berlin-Pankow<br />

versammelt, alle offensichtlich<br />

Angehörige der Generation 60 plus.<br />

Doch anstatt über die geforderte Angleichung<br />

der Ostrenten zu dozieren, einen<br />

Wahlkampfhit der Linken, spricht der<br />

Bundestagsabgeordnete vor der Basis seines<br />

Wahlkreises gleich als Erstes ein „heißes<br />

Eisen“ an.<br />

Bisher sei es ja immer gelungen, die<br />

SPD vor sich her zu treiben, mit dem Vorwurf,<br />

sie setze keine gemeinsame linke<br />

Politik um, etwa beim Mindestlohn. Doch<br />

36<br />

L I N K E<br />

Sonderweg aus Pankow<br />

Linken-Politikerin Wagenknecht<br />

In Gregor Gysis Truppe beginnt der Kampf<br />

zwischen Fundis und Realos um die Regierungsfähigkeit.<br />

Erster Testfall wird das Programm für die Europawahl.<br />

mit der Öffnung zur Linken habe die SPD<br />

den Spieß umgedreht: „Jetzt stellen die<br />

Fragen an uns“, sagt Liebich, und eine<br />

der größten Angriffsflächen dabei sei<br />

wohl die Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik.<br />

„Das wird schwierig“, grummelt<br />

Liebich.<br />

Schwierig ist eine Untertreibung. Bei<br />

kaum einem anderen Thema gehen die<br />

Genossen sich gegenseitig so an die Kehle<br />

wie in der Frage von Krieg und Frieden.<br />

Das war zwar schon immer so, steht<br />

aber seit dem Lockruf der SPD unter<br />

ganz neuen Vorzeichen: Reformiert die<br />

Linke ihren fundamentalen Pazifismus,<br />

um koalitionsfähig zu werden? Aktuell<br />

mobilisieren die Gralshüter der reinen<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Lehre in Partei und Fraktion<br />

bereits gegen den Programmentwurf<br />

des Parteivorstands<br />

für die Europawahl im Mai<br />

nächsten Jahres.<br />

Schon der Entwurf des Europaprogramms,<br />

der vergangenes<br />

Wochenende im Vorstand<br />

diskutiert werden sollte, brachte<br />

die Fundis in Wallung. In einem<br />

Gegenpapier verurteilten<br />

mehrere Linke, darunter auch<br />

die Bundestagsabgeordneten<br />

Diether Dehm, Sevim Dagdelen<br />

und Wolfgang Gehrcke, das<br />

Papier als „Angriff auf die friedenspolitischen<br />

Positionen der<br />

Linken“.<br />

Da werde, so die schäumenden<br />

Fundis, der „,humanitären<br />

Intervention‘ und ihren angeblichen<br />

Segnungen“ das Wort<br />

geredet. Weil der Vorstandsentwurf<br />

auf Kritik an der Zusammenarbeit<br />

zwischen EU<br />

und Nato verzichte, werde<br />

„die bisherige friedenspolitische<br />

Orientierung auf perfide<br />

Art und Weise in Frage gestellt“.<br />

Die Empfindlichkeit der<br />

Fundis hat einen tieferen<br />

Grund. Der Kampf um Europa<br />

in der Linkspartei ist die erste<br />

große Schlacht im Ringen um<br />

den künftigen Kurs: Hin zu<br />

Rot-Rot-Grün oder ewige Opposition.<br />

Und bei beiden Optionen<br />

stellt sich die Frage: Um<br />

welchen Preis?<br />

Bei der Europawahl steht die Linke dabei<br />

vor einem doppelten Dilemma: SPD<br />

und Grüne werden künftig jede außenpolitische<br />

Wortmeldung der Linken auf<br />

die Goldwaage legen und auf Regierungsfähigkeit<br />

abklopfen. Gleichzeitig läuft<br />

die Linke Gefahr, mit einem Weichspül -<br />

programm gegenüber Europa Wähler zu<br />

verlieren.<br />

Schon bei der Bundestagswahl lockte die<br />

Euro-skeptische Alternative für Deutschland<br />

(AfD) 340000 linke Stimmen in ihr<br />

Lager. Vor allem im Osten ist für Gysis Genossen<br />

damit ein ernsthafter Konkurrent<br />

auf der Spielfläche erschienen, fast 30 Prozent<br />

der Stimmen, die die Linke verlor, kassierte<br />

die AfD.<br />

Parteichefin Katja Kipping will jedoch<br />

einen europakritischen Überbietungs -<br />

wettbewerb mit der AfD vermeiden, das<br />

sei „aussichtslos“, sagte sie intern. Die<br />

an die AfD verlorenen Stimmen, so eine<br />

Wortmeldung im Vorstand, „müssen wir<br />

schlicht abschreiben“.<br />

Die Fundis hingegen wollen die Angst<br />

vor der AfD nutzen, um ihren Kurs durchzusetzen:<br />

Die AfD müsse man „von links<br />

angreifen“, fordert Sahra Wagenknecht.<br />

Es sei schon im Bundestagswahlkampf<br />

THOMAS PETER / REUTERS


„Die friedens politische<br />

Orientierung wird<br />

auf perfide Art und Weise<br />

in Frage gestellt.“<br />

falsch gewesen, das Thema Euro nicht zu<br />

plakatieren, assistieren ihre Anhänger aus<br />

dem Fundi-Lager. Wagenknechts Lebensgefährte<br />

Oskar Lafontaine hatte bereits<br />

öffentlich über einen geordneten „Ausstieg<br />

aus dem Euro“ nachgedacht, eine<br />

These, die Wagenknecht weiterventilierte,<br />

obwohl ein Parteitag der Linken das<br />

abgelehnt hat.<br />

Der Hauptgegner von Wagenknechts<br />

Lager ist Stefan Liebich, einer der Wortführer<br />

des Realo-Flügels, der diese Woche<br />

auch zu ihrem Sprecher gewählt werden<br />

soll. Der Mann mit dem Direktmandat<br />

aus Pankow arbeitet schon seit langem<br />

an einem außenpolitischen Sonderweg<br />

für seine Partei. Er befürwortet die „Einzelfallprüfung“<br />

statt des strikten „Njet“<br />

zu jeglichem Militäreinsatz.<br />

„Darf man als Linker bei einem Abschlachten<br />

wie in Ruanda einfach zu -<br />

sehen?“, fragt er. Ist es schon ein Mili -<br />

täreinsatz, wenn die Bundeswehr zum<br />

Beispiel auf den Philippinen beim Wiederaufbau<br />

hilft? Können Blauhelme<br />

nicht tatsächlich Frieden sichern, wie auf<br />

Zypern?<br />

Liebich weiß, dass der friedenspoli -<br />

tische Fundamentalismus der Linken<br />

das dickste Brett ist, das die Partei nun<br />

zu bohren hat. „Aber wir kommen um<br />

die Diskussionen nicht herum“, sagt er.<br />

Das Thema müsse geklärt werden, bevor<br />

man über Koalitionsverhandlungen reden<br />

könne. In der Linken gilt der „Pazifismus“<br />

fast als letztes Alleinstel -<br />

lungsmerkmal, nicht nur die Fundis<br />

fürchten deshalb, dass man sich mit<br />

vorauseilendem Gehorsam gegenüber<br />

Forderungen von SPD und Grünen<br />

nach „außenpolitischer Verlässlichkeit“<br />

auch überflüssig machen könnte – und<br />

dies das eigentliche Ziel von SPD und<br />

Grünen sei.<br />

In Friedensfragen waren schon ganz<br />

andere Kaliber als Liebich in der Partei<br />

gescheitert. Bereits im Jahr 2000 versuchten<br />

Gregor Gysi und Lothar Bisky, der<br />

damaligen PDS einen neuen Kurs zu verpassen:<br />

Es sollte möglich sein, nach<br />

Einzelfallprüfung Uno-Missionen zuzustimmen.<br />

Der Parteitag in Münster lehnte<br />

empört ab – mit beinahe Zweidrittelmehrheit.<br />

In der Konsequenz traten Gysi als<br />

Fraktionschef und Bisky als Parteivorsitzender<br />

ab. Gysi sagte damals im prophetischen<br />

Zorn, es „kommt der Tag, an dem<br />

wir das korrigieren“.<br />

Der Streit über das Europaprogramm<br />

ist ein erstes Beben, das diesen Tag<br />

38<br />

Deutschland<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Wahlkämpfer Liebich<br />

„Jetzt stellen die Fragen an uns“<br />

der Revanche ankündigt. Endgültig ent -<br />

schieden über Programm und Personal<br />

für Europa wird auf einem Parteitag im<br />

Fe bruar in Hamburg. Die Lager bringen<br />

ihre Kandidaten aber bereits in Stellung.<br />

Auffällig viele Bewerber kommen<br />

aus dem Umfeld von Sahra Wagenknecht:<br />

So ihre langjährige Büroleiterin<br />

Ruth Firmenich, sogar ihr Ex-Mann<br />

Ralph Niemeyer will für die Linke nach<br />

Europa, um, wie er in seiner Bewerbung<br />

schreibt, die „Aufklärung über die Lügen<br />

der Machterhaltungsganoven“ voranzutreiben.<br />

Auf Realo-Seite versucht unter anderen<br />

Gregor Gysis persönlicher Freund André<br />

Brie nach schwerer Krankheit ein Comeback.<br />

Er saß schon einmal für die Linken<br />

im Europaparlament, war aber beim Nominierungsparteitag<br />

2009 unter dem Gejohle<br />

der Fundis durchgefallen, er galt als<br />

zu europafreundlich.<br />

Genützt hatte es der Partei nicht: Das<br />

Wahlergebnis fiel mit 7,5 Prozent dürftig<br />

aus.<br />

Bei derzeit schon über 30 Bewer -<br />

bungen für vermutlich nur fünf bis sie -<br />

ben aussichtsreiche Listenplätze im kommenden<br />

Jahr, sagte Liebich vergangene<br />

Woche den Genossen seiner Basis ironisch,<br />

„wird es wohl nicht ohne Gemetzel<br />

gehen“.<br />

Das klingt nicht nach innerparteilichem<br />

Pazifismus.<br />

MARKUS DEGGERICH<br />

TOBIAS SEELIGER / ACTION PRESS


K R I M I N A L I T Ä T<br />

Rechts liegen<br />

gelassen<br />

Experten fordern eine Verschärfung<br />

des Strafrechts: Wer<br />

aus rechter Gesinnung handelt,<br />

soll härter belangt werden.<br />

Fatma Öztürk* versteckt sich in der<br />

Küche, als vor ihrem Imbiss der<br />

rechte Mob tobt. Ihre Tochter, sieben<br />

Jahre alt, kauert neben ihr.<br />

Drei Männer hatten kurz zuvor das türkische<br />

Lokal in Mücheln, Sachsen-Anhalt,<br />

an jenem Tag im Februar 2012 überfallen.<br />

Laut Staatsanwaltschaft schlugen sie Öztürk,<br />

traten ihren Mann nieder und drohten<br />

der Familie mit dem Tod, sollte sie<br />

den Laden nicht bis zum Geburtstag<br />

Adolf Hitlers am 20. April räumen.<br />

Fatma Öztürk vertrieb die Angreifer<br />

mit einem Messer. Doch nun hämmern<br />

Rechte erneut gegen die Tür, zerschla -<br />

gen die Scheibe. Öztürk ruft die Polizei.<br />

* Name geändert.<br />

Die Beamten hätten ihr geraten, besser<br />

Deutsch zu lernen, erzählt sie. Als endlich<br />

ein Streifenwagen eingetroffen sei,<br />

hätten die Polizisten ihren Ehemann zunächst<br />

zu einem Alkoholtest aufgefordert.<br />

Den Angriff vermerkten sie als Streit ums<br />

Rauchverbot.<br />

Erst später, als der Vorfall öffentlich<br />

bekanntwird und dann der Innenminister<br />

des Landes einschreitet, findet der offenbar<br />

rassistische Tathintergrund überhaupt<br />

Imbiss in Mücheln nach dem Überfall 2012<br />

Erwähnung. Da ist das Vertrauen der<br />

Familie Öztürk in den deutschen Staat<br />

längst zerstört. „Ich weiß nicht, warum<br />

wir all das erleben mussten“, sagt Fatma<br />

Öztürk. In dieser Woche will das Amtsgericht<br />

Merseburg sein Urteil verkünden.<br />

Politiker und Behörden versprachen<br />

Besserung, nachdem die Mordserie des<br />

Nationalsozialistischen Untergrunds 2011<br />

bekanntgeworden war. Mit aller Härte<br />

wollte der Staat fortan gegen rechtsex-<br />

ANDREAS STEDTLER<br />

R E C H T S E X T R E M E<br />

Zweiter Anlauf,<br />

dritte Fassung<br />

Nach knapp einem Jahr haben<br />

sich die Bundesländer auf einen<br />

NPD-Verbotsantrag geeinigt.<br />

Werden die 244 Seiten das<br />

Verfassungsgericht überzeugen?<br />

Da ist die Sache mit den Kondomen.<br />

Der grüne Bundestagsabgeordnete<br />

Volker Beck erhielt ein<br />

Exemplar, sein Parteifreund Konstantin<br />

von Notz ebenfalls. Dazu einen freundlichen<br />

Gruß der Jungen Nationaldemokraten,<br />

der Nachwuchsorganisation der<br />

NPD: „Für Ausländer und ausgewählte<br />

Deutsche“, so steht’s auf der Verpackung.<br />

In einem begleitenden Brief verbreiteten<br />

die Rechten ihre gewohnte Propaganda,<br />

was im Fall von Volker Beck den<br />

Vorwurf bedeutet, dass er mit seiner<br />

Politik nicht „dem Wohle des deutschen<br />

Volkes“ diene. Die Jungen Nationaldemokraten<br />

verschickten und verteilten im<br />

Bundestagswahlkampf insgesamt 5000<br />

Kondome, nicht nur an Politiker, sondern<br />

auch an Bürger, die nach Deutschland<br />

eingewandert sind. Beck verurteilt<br />

die Aktion: Dahinter stecke eine „rassenbiologische<br />

Denke, vergleichbar der<br />

NS-Ideologie im ,Dritten Reich‘“.<br />

Die Arbeitsgruppe von Bund und Ländern,<br />

die sich mit einem möglichen Verbot<br />

der NPD befasst, ist offenbar ähnlicher<br />

Ansicht. Sie beschloss Mitte Oktober,<br />

den Versand der Präservative in den<br />

Verbotsantrag aufzunehmen: als weiteren<br />

Beleg für das rassistische Agieren<br />

von Parteifunktionären. Auch die Hetze<br />

in Berlin-Hellersdorf, wo ein brauner<br />

Mob unter der Führung von NPD-Kadern<br />

Stimmung gegen eine Asylbewerberunterkunft<br />

machte, hielt die Runde<br />

für beweiskräftig.<br />

Knapp ein Jahr benötigten die Vertreter<br />

der Bundesländer, um sich auf den<br />

Inhalt des Antrags zu einigen. Nun liegt<br />

die dritte und vermutlich letzte Fassung<br />

vor. Sie soll auf der Innenministerkonferenz<br />

am 4. Dezember in Osnabrück vorgestellt<br />

werden und spätestens in der<br />

kommenden Woche beim Bundesverfassungsgericht<br />

eingehen: 244 Seiten, unterteilt<br />

in acht Unterpunkte von A bis<br />

H, mit 15 Anhängen.<br />

Das Verfahren ist derzeit wohl das<br />

heikelste Unterfangen in der deutschen<br />

Innenpolitik. Wenn der Antrag erfolgreich<br />

ist, wird erstmals seit mehr als<br />

einem halben Jahrhundert eine politische<br />

Partei in der Bundesrepublik verboten.<br />

Die NPD flöge aus den Landtagen<br />

von Mecklenburg-Vorpommern und<br />

Sachsen.<br />

Der Antrag der Länder hat drei<br />

Schwerpunkte. Viel Raum nimmt, erstens,<br />

die Rolle sogenannter Vertrauensleute,<br />

der Spitzel von Polizei und Verfassungsschutz,<br />

ein. 2003 war der damalige<br />

Bundesinnenminister Otto Schily (SPD)<br />

in Karlsruhe gescheitert, weil die NPD<br />

bis in die Führungsebenen von V-Leu -<br />

ten des Verfassungsschutzes unterwandert<br />

war.<br />

Um eine Wiederholung zu vermeiden,<br />

einigten sich Bund und Länder bereits<br />

im Frühjahr 2012 darauf, ihre etwa 20<br />

Zuträger in den oberen Etagen der<br />

rechten Partei abzuschalten. Die Ver -<br />

fahrensbevollmächtigten der Länder,<br />

die Juristen Christoph Möllers und<br />

Christian Waldhoff von der Berliner<br />

40<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


treme Straftäter vorgehen. Doch den Erklärungen<br />

folgten kaum Reformen. Bis<br />

Ende dieser Woche prüft der EU-Ministerrat,<br />

ob unter anderen auch Deutschland<br />

genug gegen rassistische Verbrechen<br />

unternimmt, wie es europäische Beschlüsse<br />

vorsehen.<br />

Asylbewerber, Juden, Schwarze und<br />

Roma seien in Deutschland „Zielscheibe<br />

rassistisch, fremdenfeindlich oder antisemitisch<br />

motivierter Gewalttaten“, befand<br />

die Europäische Kommission gegen Rassismus<br />

und Intoleranz des Europarats<br />

2009. Rechte Gewalt werde jedoch häufig<br />

nicht als solche erkannt und verfolgt, das<br />

deutsche Strafrecht berücksichtige rassistische<br />

Tatmotive nicht ausreichend.<br />

Der Europarat rät der Bundesregierung,<br />

eine Norm in das Gesetz aufzunehmen,<br />

die einen rechten Tathintergrund<br />

ausdrücklich als straferschwerend bewertet.<br />

Internationale Gremien wie der Ausschuss<br />

der Uno für die Beseitigung der<br />

Rassendiskriminierung unterstützen die<br />

Forderung. Großbritannien und die USA<br />

haben „Hate Crime“-Gesetze erlassen,<br />

die Gruppen wie Migranten oder Homosexuelle<br />

besonders schützen.<br />

In Deutschland wird zwar die Hetze<br />

gegen Minderheiten strafrechtlich verfolgt,<br />

aber es existiert keine gesetzliche<br />

Regelung, die rassistische oder andere<br />

vorurteilsgetriebene Beweggründe ausdrücklich<br />

als straferschwerend nennt.<br />

Deutschland<br />

Verschiedene Landesregierungen haben<br />

sich mehrmals bemüht, eine Hass -<br />

kriminalitätsregelung zu etablieren. Zuletzt<br />

scheiterte eine Bundesratsinitiative<br />

im Herbst 2012 am Widerstand der Bundesregierung<br />

von Union und FDP.<br />

Im Frühjahr einigten sich die Justiz -<br />

minister der Länder auf einen neuen Anlauf:<br />

Sie wollen den Paragrafen 46 des<br />

Strafgesetzbuchs um „menschenverachtende<br />

Beweggründe“ erweitern, wie es<br />

der Europarat empfiehlt. „Hasskriminalität<br />

richtet sich nicht nur gegen Einzelne,<br />

sie richtet sich gegen die pluralistische<br />

Gesellschaft“, sagt Hamburgs Justizsenatorin<br />

Jana Schiedek, „der gesteigerte Unrechtsgehalt<br />

solcher Taten erfordert eine<br />

besondere Bestrafung.“<br />

Die Bundesregierung vertrat bislang<br />

die Ansicht, die bestehenden Gesetze<br />

reichten aus. „Rassistische und andere<br />

Formen von Hasskriminalität“ würden<br />

von deutschen Gerichten regelmäßig<br />

als „erschwerender Umstand gewertet“,<br />

heißt es in einer Antwort des Bundes -<br />

justizministe riums auf eine Anfrage<br />

der Menschenrechtsorganisation Human<br />

Rights Watch.<br />

Die Juristin Kati Lang von der Technischen<br />

Universität Dresden gelangt zu<br />

einem anderen Ergebnis. Für ihre Doktorarbeit<br />

untersuchte sie 120 Straftaten<br />

in Sachsen, die vom Landeskriminalamt<br />

als eindeutig rechtsmotiviert eingestuft<br />

worden waren. Nur in 15 Fällen wurde<br />

der rechte Tathintergrund in das Urteil<br />

einbezogen; häufig unterschlugen bereits<br />

die Staatsanwälte eine mögliche neo -<br />

nazistische Motivation der Täter. In einem<br />

Fall wurde ein schwarzer Jugendlicher<br />

als „dreckiger Nigger“ und „schwarzes<br />

Vieh“ beschimpft und mit einer<br />

Bierflasche verletzt. In der Anklage spielte<br />

das mutmaßlich rechte Motiv keine<br />

Rolle, obwohl die Angreifer der Polizei<br />

als Mitglieder der rechten Szene bekannt<br />

waren.<br />

Eine Forschungsarbeit des Max-Planck-<br />

Instituts für ausländisches und internationales<br />

Strafrecht in Freiburg lieferte 2011<br />

für Baden-Württemberg ähnliche Erkenntnisse:<br />

In nur 16 von 120 Hasskriminalitätsfällen<br />

wurden vor Gericht die<br />

menschenverachtenden Gründe der Tat<br />

strafschärfend bewertet.<br />

„Der Paragraf 46 ist zu allgemein gefasst<br />

und gehört dringend reformiert“,<br />

sagt der Hamburger Jurist Oliver Tolmein,<br />

der im vorigen Jahr als Sachverständiger<br />

im Rechtsausschuss des Bundestags zu<br />

dem Thema referierte. Als Anwalt habe<br />

er oft erlebt, wie rechtsextreme Beweggründe<br />

vor Gericht ausgeblendet würden.<br />

Dabei sei es gerade den Opfern von Hassverbrechen<br />

wichtig, als solche anerkannt<br />

zu werden, sagt Tolmein. „Gleichzeitig<br />

sitzen die Neonazis im Saal und lachen<br />

sich kaputt.“<br />

MAXIMILIAN POPP<br />

Humboldt-Universität, betonen: Ein unmittelbarer<br />

Einfluss der Behörden auf<br />

die Führung der NPD sei mittlerweile<br />

auszuschließen.<br />

Die mehr als tausend Seiten umfassende<br />

Materialsammlung wurde mehrmals<br />

bereinigt. Anfangs hatten die Länder<br />

die gesammelten Zitate, Reden und<br />

Internetbeiträge noch in mehrere Kategorien<br />

unterteilt – abhängig davon, wie<br />

sicher es war, dass die Inhalte von V-<br />

Leuten stammten oder nicht. Der neue<br />

Kurs: Nur Informationen,<br />

die zweifelsfrei<br />

ohne Quellen des Verfassungsschutzes<br />

gesammelt<br />

worden sein sollen, durften<br />

stehenbleiben. Um<br />

die Glaubwürdigkeit ihres<br />

Antrags zu erhöhen,<br />

verständigten sich die<br />

Innenminister darauf,<br />

eine Unterschrift zu leisten:<br />

als Testat, dass das<br />

Material frei von Spitzelbeiträgen<br />

ist – auch wenn<br />

Zweifel bleiben. Was<br />

passiert, wenn im Pro-<br />

* Im September.<br />

NPD-Demonstration in Gera*<br />

„Rassenbiologische Denke“<br />

zess jemand aufsteht und sich als V-<br />

Mann outet? Und gar die Autorenschaft<br />

wichtiger Belege für sich reklamiert?<br />

Den zweiten Schwerpunkt des Verbotsantrags<br />

bilden Belege, die dem<br />

Nachweis der „aggressiv-kämpferischen<br />

Grundhaltung“ der NPD dienen sollen.<br />

Etwa die Dokumentation einer Rede des<br />

Fraktionschefs im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern:<br />

„Wir wollen den<br />

Maximalschaden dieses Parteienstaates“,<br />

sagte Udo Pastörs 2009 in Saarbrücken.<br />

Der dritte Schwerpunkt<br />

ist eine juristische<br />

Argumentation: war um<br />

ein NPD-Verbot verhältnismäßig<br />

ist und damit<br />

den Grundsätzen des<br />

Europäischen Gerichtshofs<br />

für Menschenrechte<br />

in Straßburg entspricht.<br />

Die Verfahrensbevollmächtigten<br />

verweisen<br />

auf „die historische Entscheidung<br />

des Grundgesetzes<br />

für eine wehrhafte<br />

BODO SCHACKOW / DPA<br />

Demokratie als Antwort<br />

auf die Katastrophe des<br />

Nationalsozialismus“; ob<br />

die Partei auf Bundesebene<br />

nur bei 1,5 Prozent liege, wie bei<br />

der letzten Bundestagswahl, spiele dabei<br />

laut Grundgesetz keine Rolle.<br />

Werden diese Argumente das Verfassungsgericht<br />

überzeugen? Die Bundesregierung<br />

gibt sich weiter skeptisch. In<br />

den Berliner Koalitionsverhandlungen<br />

forderten zwei SPD-Innenminister, Boris<br />

Pistorius aus Niedersachsen und Ralf<br />

Jäger aus Nordrhein-Westfalen, eine<br />

mögliche schwarz-rote Bundesregierung<br />

solle sich dem Antrag noch anschließen.<br />

Auch die SPD-Bundestagsfraktion ist<br />

dafür.<br />

Doch Bundesinnenminister Hans-Peter<br />

Friedrich (CSU) blockte ab. „Das machen<br />

wir nicht, die Länder sollen mal<br />

allein verlieren“, sagte Friedrich nach<br />

Angaben mehrerer Teilnehmer. Jäger<br />

reagierte gereizt und verwies auf anderslautende<br />

Aussagen des Ministers. Friedrich<br />

wollte den Disput auf Anfrage nicht<br />

kommentieren. Er werde das Verfahren<br />

„nach Kräften unterstützen“, ließ er mitteilen.<br />

Euphorisch klingt das nicht. Die<br />

SPD-Innenminister geben sich indes zuversichtlich.<br />

„Angesichts des gesammelten<br />

Materials“, sagt Pistorius, „sind wir<br />

optimistisch.“<br />

HUBERT GUDE,<br />

JÖRG SCHINDLER, FIDELIUS SCHMID<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 41


Feuerwehrmänner an Unfallstelle bei Bondorf 2010: „Das blöde Handy war schuld!“<br />

NONSTOPNEWS<br />

42<br />

V E R K E H R<br />

Abgelenkt<br />

Nur mal eine SMS schreiben – das kann tödlich enden. Experten<br />

gehen davon aus, dass jedes Jahr viele Menschen sterben,<br />

weil Autofahrer während der Fahrt am Handy herumfummeln.<br />

Es war Heiligabend, und die junge<br />

Frau wollte nach Hause. Doch dort<br />

kam sie nie an.<br />

Gegen 18 Uhr raste sie auf der A61 bei<br />

Kerpen mit ihrem Auto ungebremst unter<br />

einen Sattelschlepper, der vorschrifts -<br />

mäßig auf der rechten Spur unterwegs<br />

war. Nur wenige Kilometer entfernt wartete<br />

die Familie auf ihre Ankunft.<br />

Hauptbrandmeister Engelbert Schödder,<br />

51, und seine Kollegen von der Feuer wehr<br />

schnitten die Tote aus dem Klotz, der einmal<br />

ein Kleinwagen gewesen war. Sie fragten<br />

sich, wie so etwas passieren konnte.<br />

Die Sicht war gut, die Straße trocken und<br />

wenig befahren an diesem ruhigen Abend<br />

vorm Christfest 2007. Hatte die Frau einen<br />

epileptischen Anfall erlitten? War sie in<br />

einen Sekundenschlaf gefallen?<br />

Als die Tote mit dem Leichenwagen<br />

abtransportiert wurde, fand Schödder ein<br />

noch funktionstüchtiges Handy im Fußraum<br />

des Wracks. Auf dem Display war<br />

die letzte SMS zu lesen, die die Frau geschrieben<br />

hatte: „Bin gleich da“. Nun<br />

glaubte der Feuerwehrmann, die Erklärung<br />

für den rätselhaften Unfall gefunden<br />

zu haben: Die Autofahrerin hatte während<br />

der Fahrt auf ihr Handy geschaut –<br />

und so den Lkw übersehen.<br />

Feuerwehrmann Schödder ging die<br />

Tote nicht mehr aus dem Kopf. Er beschloss,<br />

etwas gegen „die gefährliche Seuche<br />

SMS-Schreiben am Steuer“ zu unternehmen.<br />

Gemeinsam mit Polizisten, Unfallopfern<br />

und Hinterbliebenen zieht er<br />

nun im Rahmen der Aktion „Crash-Kurs<br />

NRW“ durch Schulklassen. Jungen und<br />

Mädchen, die demnächst den Führerschein<br />

machen, will er für Risiken des<br />

Autofahrens sensibilisieren.<br />

In Deutschland werden jedes Jahr etwa<br />

63 Milliarden SMS geschrieben; hinzu<br />

kommt die Beschäftigung mit Facebook,<br />

Twitter und anderen Internetangeboten,<br />

die mit Smartphones möglich ist. Viele<br />

Menschen können es nicht ertragen, länger<br />

als zehn Minuten nicht auf ihr Handy<br />

zu schauen. Ihr Leben findet<br />

weitgehend auf einem Display<br />

statt, das kaum größer<br />

ist als eine Spielkarte.<br />

Gefahren, die sich außerhalb<br />

dieser Fläche zusammenbrauen,<br />

werden oft nicht mehr<br />

wahrgenommen.<br />

Es ist schon riskant, im<br />

Auto zu telefonieren, ohne<br />

die Freisprechanlage zu benutzen.<br />

Wer erwischt wird,<br />

muss deshalb ein Bußgeld<br />

zahlen, ab Mai kommenden<br />

Jahres 60 statt bisher 40 Euro.<br />

Doch mit dem Hörer am Ohr<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Aufklärer Schödder<br />

„Eine Seuche“<br />

kann man wenigstens noch nach vorn<br />

schauen. Wer seinen Blick senkt und aufs<br />

Handy starrt, ist im Blindflug unterwegs;<br />

er übersieht Autos, die Vorfahrt haben,<br />

Radfahrer, die etwas zu weit links fahren,<br />

oder Kinder, die plötzlich auf die Straße<br />

laufen, weil sie einen Ball holen wollen.<br />

Bei Tempo 100 legt ein Autofahrer, der<br />

zwei Sekunden lang mit dem Handy<br />

spielt, 55 Meter zurück, ohne die Straße<br />

zu sehen. „Wenn ihr demnächst auch am<br />

Steuer eines Autos auf euer Handy schaut,<br />

ist das ungefähr das Rücksichts loseste,<br />

was ihr tun könnt“, ermahnt Schödder<br />

die Jugendlichen beim Crash-Kurs.<br />

Niemand weiß, wie viele Menschen in<br />

Deutschland schon ihr Leben lassen mussten,<br />

weil Autofahrer Liebesbotschaften<br />

per SMS übermittelten, mit Facebook-<br />

Freunden chatteten oder andere Dinge<br />

mit ihren Taschencomputern trieben.<br />

Es bleibt oft ungeklärt, ob ein Unfallverursacher<br />

ein Handy in der Hand hatte,<br />

als es krachte. Unfallfahrer, die überleben,<br />

schweigen oder geben vor, Opfer eines<br />

Sekundenschlafs geworden zu sein. Wer<br />

zugibt, am Steuer gesimst zu haben, muss<br />

unter Umständen mit einer empfind -<br />

lichen Strafe wegen fahrläs -<br />

siger Tötung oder Körper -<br />

verletzung rechnen. Für die<br />

Polizei wäre es in vielen Fällen<br />

möglich zu ermitteln, ob<br />

bei einem Crash ein Handy<br />

im Spiel war. Tatsächlich geschieht<br />

dies selten.<br />

Wenn überhaupt, fliegt ein<br />

Unfallfahrer nur durch Zufall<br />

auf. Jener 35-jährige Mann<br />

etwa, der nach einem Besuch<br />

JOSCHWARTZ.COM / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

bei einer Prostituierten in<br />

den Gegenverkehr krachte,<br />

weil er einem Bekannten –<br />

wie die Polizei annimmt – un-


Deutschland<br />

bedingt von seinen Erlebnissen vorschwärmen<br />

musste; er und ein anderer<br />

Autofahrer wurden schwer verletzt. Oder<br />

die junge Frau, die im Spätsommer 2010<br />

mit ihrem Kleinwagen nahe dem badenwürttembergischen<br />

Bondorf die Spur<br />

nicht halten konnte und mit einem entgegenkommenden<br />

Mercedes kollidierte.<br />

Sie blieb fast unverletzt, tötete aber einen<br />

Vater dreier Kinder. Beim Aussteigen rief<br />

die 23-Jährige laut Zeugen: „Das blöde<br />

Handy war schuld!“<br />

Die Amtsanwältin Maria Focken von der<br />

Hamburger Staatsanwaltschaft, die beim<br />

Deutschen Verkehrsgerichtstag aktiv ist,<br />

beschäftigt sich schon seit längerem mit<br />

den Gefahren durch Autofahrer, die sich<br />

ablenken lassen; sie geht davon aus, dass<br />

es eine „hohe Dunkelziffer“ gibt. Eine Studie<br />

der Allianz kommt zu dem Ergebnis,<br />

dass etwa 30 Prozent der Fahrzeugführer<br />

während der Fahrt Kurznachrichten lesen –<br />

und 20 Prozent sogar welche schreiben.<br />

Regelmäßig berichten Regionalzeitungen<br />

von Autofahrern, die auf trockener<br />

Straße plötzlich in den Gegenverkehr geraten<br />

sind. Oder nach rechts abgedriftet<br />

sind, obwohl kein Hindernis im Weg war.<br />

Wie der Mann, der Anfang November<br />

vor Hamburg sein Auto gegen einen<br />

Baum lenkte. Er und sein Beifahrer starben<br />

vor Ort. „Wahrscheinlich könnten<br />

viele Menschen noch leben, wenn nicht<br />

irgendeine SMS gelesen worden wäre“,<br />

sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung<br />

der Deutschen Versicherer.<br />

Der Braunschweiger Verkehrspsychologe<br />

Mark Vollrath glaubt sogar, dass das<br />

Smartphone ein ähnlich großer Killer im<br />

Straßenverkehr ist wie Alkohol. Schon<br />

wenn ein Autofahrer ohne Freisprech -<br />

anlage telefoniere, steige das Unfallrisiko<br />

um das Fünffache – ähnlich wie bei einem<br />

Fahrzeugführer mit 0,8 Promille. Wer<br />

eine SMS schreibt, hat laut einer amerikanischen<br />

Studie sogar ein 23-mal so großes<br />

Risiko, einen Crash zu verursachen.<br />

„Er fährt also, als wäre er volltrunken“,<br />

sagt Vollrath.<br />

Anna Kickhäben, Friseurmeisterin aus<br />

Hittbergen bei Lüneburg, ist bisher unfallfrei<br />

geblieben, was wirklich „ein großes<br />

Glück“ ist, wie sie freimütig sagt.<br />

Während eines ADAC-Fahrsicherheitstrainings<br />

gibt sie zu, dass ihr Smartphone<br />

während der Fahrt immer auf ihrem<br />

Schoß liege und sie oft mit Freunden chatte.<br />

„Es muss ja vieles geregelt werden“,<br />

sagt sie. „Wenn ich arbeite, komme ich<br />

nicht so richtig dazu.“ Für den Fahrtrainer<br />

Gerd Schulz ein typischer Fall: „Gerade<br />

junge Fahrer machen aus ihrem Auto<br />

eine Partyzone mit lauter Musik und Dauergequassel<br />

am Handy“, sagt er.<br />

Gefährlich seien auch Geschäftsreisende,<br />

die ihr Fahrzeug als mobiles Büro benutzen:<br />

Da würden Mails gecheckt, Telefonate<br />

geführt oder Briefe diktiert – auch<br />

schon mal bei Tempo 180 und mitten auf<br />

einer vielbefahrenen Autobahn. Ein Trainingsteilnehmer<br />

habe ihm einmal berichtet,<br />

dass er Präsentationen während der<br />

Fahrt vorbereite. Das mangelnde Problembewusstsein<br />

führt der Ausbilder<br />

auch darauf zurück, dass das Thema in<br />

der öffentlichen Diskussion hierzulande<br />

bisher kaum eine Rolle spiele.<br />

Dabei sind es nicht nur die Smart -<br />

phones, die Probleme verursachen: Es<br />

sind auch die Autos selbst. Früher gab es<br />

ein paar Knöpfe, Schalter und ein Radio<br />

mit zwei Drehreglern, einen für die Frequenz,<br />

einen für die Lautstärke. Heute<br />

stecken in den Armaturenbrettern vieler<br />

neuer Modelle leistungsstarke Tablet-<br />

Computer. Hinzu kommen die Naviga -<br />

tionsgeräte, die laut Allianz-Studie etwa<br />

die Hälfte der Autofahrer auch während<br />

der Fahrt bedienen. Die Geräte erklären<br />

den Weg – aber ihre Programmierung<br />

führt wohl manchmal in die Katastrophe.<br />

In anderen Staaten wird mittlerweile<br />

viel entschlossener als in Deutschland<br />

gegen die Ablenkung am Steuer gekämpft.<br />

In der Schweiz, wo jeder zweite<br />

Autofahrer laut einer Studie Kurznachrichten<br />

am Steuer schreibt, läuft eine landesweite<br />

Kampagne. Und in den USA,<br />

wo jeder vierte Autounfall auf Handy-<br />

Nutzung zurückgehen soll, wurden an<br />

einigen Highways „Texting Zones“ eingerichtet.<br />

Dort können die Autofahrer<br />

kurz parken, wenn sie eine SMS verschicken<br />

wollen.<br />

Aufmerksamkeit erregte in den USA<br />

der Film „From one second to the next“,<br />

den der deutsche Regisseur Werner Herzog<br />

im Auftrag amerikanischer Telefon -<br />

anbieter gedreht hatte. Herzog besuchte<br />

mehrere Menschen, die bei SMS-Unfällen<br />

schwer verletzt worden waren, unter anderem<br />

einen Jungen, der nun nicht mehr<br />

laufen kann. Und er sprach mit zwei jungen<br />

Männern, die einen Unfall verursacht<br />

hatten, weil sie sekundenlang aufs Handy<br />

geschaut hatten.<br />

Einer von ihnen hatte seiner Frau während<br />

der Fahrt die Nachricht „I love you“<br />

geschrieben – und war deswegen in eine<br />

Pferdekutsche gekracht. Drei kleine<br />

Jungs starben, weil der Autofahrer im<br />

falschen Moment ein bisschen romantisch<br />

sein wollte.<br />

Einen Fall nahm Herzog nicht in seinen<br />

Film auf, weil er keine Drehgenehmigung<br />

bekam. Es ging um einen jungen Mann,<br />

der eine Kurznachricht an seine Freundin<br />

geschrieben und deswegen ein Kind auf<br />

einem Fahrrad überfahren hatte. Die<br />

Freundin war zu diesem Zeitpunkt allerdings<br />

nicht weit entfernt.<br />

Sie saß im Auto auf dem Beifahrersitz.<br />

GUIDO KLEINHUBBERT<br />

Video: Eine Testfahrt<br />

mit Smartphone<br />

spiegel.de/app<strong>48</strong>2013sms<br />

oder in der App <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 43


Deutschland<br />

See-Anwohner Moser<br />

THOMAS EINBERGER / ARGUM<br />

I M M O B I L I E N<br />

Wohnen auf Rädern<br />

Vor allem ältere Menschen geben ihre Wohnung auf und<br />

ziehen auf einen Campingplatz. Dort entstehen<br />

kleine Dörfer – mit Kneipe, Hort und Laternenumzug.<br />

Manfred Moser sagt, er habe sein<br />

Paradies gefunden. Es liegt nur<br />

wenige Schritte von seiner Eingangstür<br />

entfernt, ein steinernes Treppchen<br />

hinunter, schon ist er da. Er hat sich<br />

eine weiße Plastikbank vor das Paradies<br />

gestellt; bevor er sich setzt, legt er eine<br />

Decke auf die Bank. Wenn Moser dann<br />

so dasitzt und den Sonnenuntergang über<br />

dem See beobachtet, kann man ihn verstehen.<br />

„Schöner als hier krieg ich’s<br />

nicht“, sagt der 70-Jährige.<br />

Mosers Bank steht direkt am Ufer des<br />

Starnberger Sees, eine noble Adresse.<br />

Seit 15 Jahren wohnt Moser auf dem<br />

Campingplatz in Ambach, rund 40 Kilometer<br />

südwestlich von München. Ein<br />

Wohnwagen, Baujahr 1975, auf 100 Quadratmeter<br />

Stellfläche, sein Reich. Die<br />

Wohnung in Schwabing hat Moser längst<br />

aufgegeben.<br />

Für sein Paradies zahlt er pro Jahr nur<br />

2300 Euro Miete, Gas und Strom inklusive.<br />

44<br />

Trieb ihn die Not hierher? „Quatsch“,<br />

sagt Moser, „ich habe eine gute Rente.“<br />

Er wollte auf den Campingplatz ziehen,<br />

das ist ihm wichtig. „Schauen Sie, könnte<br />

ich mir den sonst leisten?“ Moser zeigt<br />

auf den Sportwagen, der auf seiner<br />

Parzelle parkt: ein silberner Mercedes<br />

SL 350, keine zehn Jahre alt.<br />

Drinnen, im Wohnwagen, ist es eng<br />

und warm, bestimmt 25 Grad. Die Sitzecke<br />

um den Esstisch hat Moser in flauschige<br />

Decken gehüllt. Dunkles Holz,<br />

grüne Häkelgardinen, heimelige Gemütlichkeit.<br />

Im Schlafzimmer stehen Weißbiergläser<br />

im Regal über dem Bett. Wenn<br />

seine Freundin aus München zu Besuch<br />

ist, schläft sie im Gästebett gegenüber,<br />

auf der rechten Seite.<br />

Video-Reportage: Die Speis<br />

und ihr Camping-Platz<br />

spiegel.de/app<strong>48</strong>2013camper<br />

oder in der App <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Nebenan gibt es eine kleine Toilette.<br />

„Pipi kann ich schon hier machen“, sagt<br />

Moser. Für alles Weitere muss er ein paar<br />

Meter nach oben gehen, in den Servicetrakt<br />

des Platzes. Dort stehen auch zwei<br />

Waschmaschinen, und Moser kann warm<br />

duschen. „Ich hab hier alles, was ich brauche“,<br />

sagt er.<br />

Tausende haben sich wie der Rentner<br />

Moser entschieden, dauerhaft auf einen<br />

Campingplatz zu ziehen. Die Stellflächen<br />

im Grünen entwickeln sich von Ferien -<br />

anlagen zu Wohngebieten. Sie bieten bezahlbaren<br />

Wohnraum, der besonders in<br />

Ballungsgebieten knapper wird. Auch mit<br />

einem kleinen Einkommen kann man<br />

hier sein eigener Herr sein.<br />

„Seit zehn Jahren ziehen immer mehr<br />

Camper ganz auf die Plätze“, sagt Leo<br />

Ingenlath, Vorsitzender des Fachverbands<br />

der Campingunternehmer in Nordrhein-<br />

Westfalen. Dafür sei auch das laxere<br />

Melderecht verantwortlich: Seit Mieter


JAKOB STUDNAR / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

THOMAS EINBERGER / ARGUM<br />

bei der Anmeldung keine Bescheinigung<br />

ihres Vermieters mehr benötigen, können<br />

sie sich prinzipiell auch auf einem Campingplatz<br />

melden.<br />

Die Plätze gelten nicht als Wohngebiete,<br />

sondern als Freizeitanlagen. Ihre Dauerbewohner<br />

werden von den Gemeinden<br />

nur geduldet. Dennoch werben Campingplätze<br />

im Internet offen mit der Möglichkeit,<br />

dort den Erstwohnsitz anzumelden.<br />

Meist machen das jene Camper, die ohnehin<br />

schon jeden Urlaub auf demselben<br />

Platz verbracht haben. Auch die Deutsche<br />

Post hat die Entwicklung erkannt<br />

und gibt Wohncampern auf ihrer Website<br />

Tipps, was sie beim Umzug auf den Platz<br />

beachten sollten.<br />

Bei Kamp-Lintfort, rund 20 Kilometer<br />

nordwestlich von Duisburg, ist eine der<br />

größten Campingwohnsiedlungen Deutschlands<br />

entstanden. Die „Freizeit-Oase Altfeld“<br />

breitet sich auf 220 000 Quadrat -<br />

metern aus und zählt über 300 Bewohner,<br />

die dort ihren Erstwohnsitz angemeldet<br />

haben. Die meisten sind älter als 50 Jahre,<br />

aber auch Familien mit Kindern wohnen<br />

hier.<br />

Der Campingplatz gleicht einem kleinen<br />

Dorf, es gibt ein Restaurant, ein<br />

Schwimmbad und sogar einen Hort. Die<br />

Parzellen haben Gas-, Wasser- und Stromanschluss.<br />

Die Vorbereitungen für die gemeinsame<br />

Silvesterfeier laufen, an St.<br />

Martin zogen die Kinder des Platzes mit<br />

ihrer Laterne an den Wohnwagen vorbei.<br />

Der Eigentümer Dietmar Harsveldt,<br />

ein braungebrannter Mittfünfziger, sieht<br />

sich als Bürgermeister, die Leute vertrauen<br />

ihm. Keine fünf Minuten kann er über<br />

seinen Platz gehen, ohne dass Mieter ihn<br />

umarmen. Harsveldt gehören insgesamt<br />

sieben Campingplätze, die meisten in<br />

Nordrhein-Westfalen. Von seinen 7000<br />

Mietern wohnten 2000 das ganze Jahr<br />

dort, sagt er. Eigentlich sei das ein gutes<br />

Geschäft. Doch die Stadt Kamp-Lintfort<br />

will den Dauercampern künftig verbieten,<br />

ihren Erstwohnsitz auf seinem Platz anzumelden.<br />

Das zuständige Bauministe -<br />

rium mache Druck.<br />

Harsveldt will sich das nicht gefallen<br />

lassen: „Ein Platz nur für Touristen würde<br />

sich hier gar nicht mehr lohnen.“ Er habe<br />

sich schon vor Jahren auf den Trend<br />

eingestellt und investiert, in größere Gasspeicher<br />

zum Beispiel. In den vergangenen<br />

fünf Jahren seien 80 neue Mieter hierher<br />

gezogen, rund ein Viertel der heutigen<br />

Bewohner.<br />

„Die Leute kommen zu mir, weil es hier<br />

sicher und ordentlich ist“, sagt Harsveldt.<br />

Hinter der Schranke, die den Platz von<br />

der Außenwelt trennt, brauche niemand<br />

Angst vor Überfällen zu haben. Seine Mieter<br />

suchten die Nähe zur Natur und eine<br />

soziale Gemeinschaft. „Ich sag immer:<br />

Wir beugen hier Depressionen vor.“<br />

Ingrid Spei ist im Februar zusammen<br />

mit ihrem Mann in die Freizeit-Oase gezogen.<br />

Die beiden sind Anfang fünfzig,<br />

der Campingplatz soll einmal ihr Altersdomizil<br />

werden. „Wir wollten raus aus<br />

der Stadt“, sagt sie. Spei arbeitet als Verkäuferin<br />

auf einem Geflügelhof, ihr Mann<br />

Dieter fährt Lkw.<br />

Zwei Eigentumswohnungen in Duisburg<br />

haben sie verkauft und von dem Erlös<br />

rund 60000 Euro in ein sogenanntes<br />

Mobilheim investiert, ein Haus auf Rädern,<br />

wie es auch in den USA beliebt ist.<br />

Die 250-Quadratmeter-Parzelle kostet mit<br />

Gas, Strom und Wasser nur 430 Euro im<br />

Monat.<br />

Mobilheime gleichen geschrumpften<br />

Vorstadthäusern: ein Stockwerk, dünne,<br />

aber isolierte Wände. Bei den Oasen-Bewohnern<br />

sind sie beliebt. In verschiedenen<br />

Farben und Variationen säumen sie<br />

Es gibt keine Vorschriften<br />

für Hecken, Fahnenmast<br />

oder Carport – jeder darf<br />

sich einrichten, wie er will.<br />

hier die Straßen, meistens von einem kleinen<br />

Garten umgeben. Es gibt keine Vorschriften<br />

für Hecken, Fahnenmast oder<br />

Carport. Jeder darf sich hier einrichten,<br />

wie er es will.<br />

Das Heim der Speis ist in einem matten<br />

Grün gestrichen. Draußen wacht ein<br />

Hund aus Porzellan, links parkt der Kleinwagen.<br />

Alles sieht sehr ordentlich aus.<br />

Drinnen fühlt man sich wie in einer gewöhnlichen,<br />

allenfalls etwas engen Wohnung.<br />

Die Speis wohnen auf 40 Quadratmetern.<br />

„Mehr brauchen wir nicht“, sagt<br />

Ingrid Spei. Sie sitzt an ihrem Esstisch,<br />

hinter ihr steht eine Sofaecke mit Flachbildfernseher.<br />

Im Haus der Speis gibt es<br />

ein Bad mit Toilette und Duschkabine,<br />

JAKOB STUDNAR / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

eine Küchenzeile und ein Schlafzimmer<br />

mit Doppelbett.<br />

Mobilheime stehen auf einem Fahrwerk,<br />

man kann sie mitnehmen, wohin<br />

man will. Doch Spei sagt: „Wir wollen<br />

hier nie mehr weg.“ Als ihr Mann neulich<br />

ins Krankenhaus musste, hätten die Nachbarn<br />

ihn gefahren. „Einfach so“, sagt<br />

Spei. Solch einen Zusammenhalt habe es<br />

in Duisburg nicht gegeben.<br />

Der Zukunftsforscher Horst Opaschowski<br />

spricht vom Campingplatz als<br />

„emotionaler Rückzugsecke mit Landlust-<br />

Faktor“. Steigende Mieten und Nebenkosten<br />

fräßen die stagnierenden Ein -<br />

kommen vieler Geringverdiener auf. Ein<br />

Umzug auf den Campingplatz sei eine<br />

Option, um vor dieser Entwicklung zu<br />

fliehen. „Dort spüren die Menschen weniger,<br />

dass sie eigentlich ärmer werden.“<br />

Dietmar Harsveldt sagt, dass er mit seinen<br />

Campingplätzen auch eine soziale<br />

Verantwortung trage. Er sieht sich als Retter<br />

einer Mittelklasse, die langsam, aber<br />

sicher aus den Städten herausgemobbt<br />

werde. Auf seinen Plätzen wohnen auch<br />

arme Witwen und Hartz-IV-Empfänger.<br />

Harald Forst, 58, ist einer von ihnen.<br />

Ein bulliger Mann, bärtig, tätowiert, der<br />

erzählt, dass er 1985 aus der DDR geflohen<br />

sei. Forst kam vor fünf Jahren auf<br />

den Platz. Mit seinen letzten Ersparnissen<br />

kaufte er sich eine blaue Hütte, 25 Quadratmeter<br />

groß. Das größte Möbelstück<br />

ist der riesige Flachbildfernseher. Das<br />

Sozialamt übernimmt den Großteil der<br />

Platzmiete.<br />

Forst hat eine Katze und einen Garten,<br />

in dem im Sommer die Blumen blühen.<br />

„Ich kümmere mich so gern um sie“, sagt<br />

Forst. Das Häuschen auf dem Campingplatz<br />

sei die schönste Sozialwohnung, die<br />

er je hatte. „Hier kann ich ein bisschen<br />

leben, obwohl ich nichts habe.“<br />

PHILIPP ALVARES DE SOUZA SOARES<br />

Hinweisschilder in Altfeld, Camper Moser, Ehepaar Spei: „Wir wollen hier nie mehr weg“<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 45


B E A M T E<br />

Gehalt vom<br />

Gericht<br />

Deutsche Beamte klagen gegen<br />

ihre Besoldung. Der Europäische<br />

Gerichtshof wird ihnen<br />

vermutlich recht geben. Die<br />

Kosten gehen in die Milliarden.<br />

Das finanzielle Wohl Berlins liegt<br />

diese Woche in der Hand eines<br />

Franzosen. Yves Bot, einer von<br />

neun Generalanwälten des Europäischen<br />

Gerichtshofs (EuGH), gibt am Donnerstag<br />

bekannt, ob Berliner Beamte seiner<br />

Meinung nach falsch besoldet werden.<br />

Wenn er diese Frage mit Ja beantwortet,<br />

was als wahrscheinlich gilt, wird es<br />

teuer. Denn im Großteil der Fälle folgen<br />

die Richter mit ihrem Urteil der Linie der<br />

Generalanwälte. Nicht nur auf Berlin kämen<br />

dann Ausgaben in dreistelliger Millionenhöhe<br />

zu, sondern auf alle Länder –<br />

und den Bund. Sie müssten ihr Besoldungsrecht<br />

entsprechend den Vorgaben<br />

des EuGH ändern. Insgesamt ginge es um<br />

jährliche Mehrkosten von 3,6 Milliarden<br />

Euro, schätzt die Bundesregierung. Schadensersatzforderungen<br />

noch gar nicht eingerechnet.<br />

Das Problem: Jahrzehntelang wurden<br />

sowohl Landes- als auch Bundesbeamte<br />

vor allem nach Lebensalter in ihre Gehaltsstufen<br />

einsortiert. Berufserfahrung<br />

spielte keine wirkliche Rolle. So konnte<br />

es vorkommen, dass ein 29-Jähriger, der<br />

seinen Dienst frisch begann, sofort in Stufe<br />

5 einsortiert wurde, während ein 21-<br />

Jähriger erst acht Jahre arbeiten musste,<br />

um dieselbe Stufe und damit dasselbe Gehalt<br />

zu erreichen wie der ältere Kollege.<br />

Das galt früher auch für Staatsangestellte.<br />

2011 entschieden der in Luxemburg<br />

ansässige EuGH und auch das deutsche<br />

Bundesarbeitsgericht, dass dies Alters -<br />

diskriminierung sei und damit hinfällig.<br />

In vorauseilendem Gehorsam machte<br />

sich der Bund daran, auch sein Besoldungsrecht<br />

für Beamte zu ändern. Die<br />

meisten Länder zogen nach. Für alle Neueingestellten<br />

gilt nun Berufserfahrung als<br />

entscheidende Größe bei der Höhe des<br />

Solds. So weit, so richtig.<br />

Aber: Für „Bestandsbeamte“, also all<br />

diejenigen, die zuvor schon im Staatsdienst<br />

waren, gab es Übergangsregelungen.<br />

Bei der Zuordnung in die neuen „Erfahrungsstufen“<br />

orientierte man sich allerdings<br />

einfach am vorherigen Gehalt,<br />

die Berufserfahrung spielte wieder keine<br />

Rolle. Die Altersdiskriminierung blieb bestehen.<br />

Für Bestandsbeamte sei die Reform<br />

deswegen „reiner Etikettenschwindel“,<br />

sagt Staatsrechtsprofessor Ulrich Battis:<br />

„Das ist nichts anderes als eine verschleierte<br />

Altersstufe“. Die Gewerkschaft Erziehung<br />

und Wissenschaft und ihre Juristen<br />

sehen das ähnlich. Sie raten all ihren<br />

Mitgliedern, Widerspruch gegen die Besoldungsbescheide<br />

einzulegen.<br />

Susanne Held hat vergangenen Herbst<br />

genau das getan. Die Berliner Gymnasial -<br />

lehrerin fühlt sich diskriminiert. Statt in<br />

Stufe 8, wo sie nach Berufsjahren im neuen<br />

System eigentlich hingehöre, sei sie in<br />

der „Überleitungsstufe 7“ gelandet.<br />

83 Euro gehen ihr so jeden Monat verloren.<br />

„Das ist im Jahr ein ganz schönes<br />

Sümmchen“, auch bei den Pensions -<br />

ansprüchen. „Wie viel Berufserfahrung<br />

soll ich mir denn noch aneignen?“, fragt<br />

die 55-Jährige fassungslos. Zurzeit ruht<br />

ihr Verfahren, das Verwaltungsgericht<br />

wartet auf die Entscheidung der europäischen<br />

Richter.<br />

Da das EU-Recht im Gegensatz zum<br />

deutschen keinen Unterschied macht zwischen<br />

Angestellten und Beamten, gilt es<br />

unter Juristen als wahrscheinlich, dass<br />

der Generalanwalt die Altersdiskriminierung<br />

rügen und die Übergangsregelung<br />

als reformbedürftig ansehen wird. Schließlich<br />

hat der EuGH das schon bei den Angestellten<br />

getan.<br />

Fraglich ist, wie weit das Urteil reichen<br />

wird. Muss rückwirkend mehr gezahlt<br />

werden? Gibt es sogar Strafzahlungen?<br />

Die Anwälte fordern nicht nur, dass die<br />

Übergangsregelungen angepasst werden,<br />

sondern dass ihre Mandanten für die gesamte<br />

Zeit, in der sie diskriminiert wurden,<br />

Höchstbesoldung erhalten.<br />

Über 70000 Beamte hat das Land Berlin,<br />

Hunderte haben Widerspruch eingelegt<br />

oder direkt geklagt. 1,6 Millionen Beamte<br />

gibt es in Deutschland, der Bund<br />

beschäftigt allein rund 180000 davon. Im<br />

März nahm die Bundesregierung in einem<br />

internen Schreiben an den EuGH,<br />

das dem <strong>SPIEGEL</strong> vorliegt, Stellung und<br />

wies die „Perpetuierung der Altersdiskriminierung“<br />

von sich.<br />

Das Problem wurde aber offensichtlich<br />

für ernst genug befunden, um mögliche<br />

Folgekosten schätzen zu lassen: „insgesamt<br />

rd. 3,6 Mrd. Euro“ würde es jährlich<br />

kosten, wenn der EuGH im Sinne der Kläger<br />

entscheidet. Eine rückwirkende Nachbesoldung<br />

gar nicht mitgerechnet.<br />

Wie das finanziert werden könnte, dazu<br />

wollte sich auf Anfrage bei den betroffenen<br />

Behörden niemand äußern. Dabei<br />

ahnte die Berliner Innenbehörde schon<br />

vor zwei Jahren, was passiert, wenn man<br />

das altersdiskriminierende Besoldungsrecht<br />

nicht reformiert. Die „potentiellen<br />

Mehrkosten“ würden sich für den unmittelbaren<br />

Landesdienst auf rund 109 Millionen<br />

Euro belaufen. Dass diese Gefahr<br />

durch die Übergangsregelung nicht gebannt<br />

wurde, wollte niemand wahrhaben.<br />

Beim EuGH heißt es, der Generalanwalt<br />

könne die finanziellen Folgen für<br />

die Beklagten in seine Entscheidung mit<br />

einbeziehen. Aber er müsse nicht.<br />

ANN-KATRIN MÜLLER<br />

Staatsdiener<br />

nach Alter in Deutschland * , 2012<br />

43<strong>48</strong>3<br />

46796<br />

51064 51350<br />

45 601<br />

* ohne Zeitsoldaten und<br />

Personal in Ausbildung<br />

Quelle: Statistisches<br />

Bundesamt<br />

27 795<br />

33235<br />

insgesamt<br />

rund<br />

1,6 Mio.<br />

unter<br />

25<br />

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 <strong>48</strong> 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 und<br />

älter<br />

46<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Deutschland<br />

V E R B R E C H E N<br />

Die Jünger von Littleton<br />

Forscher haben typische Merkmale von Amokläufern entdeckt.<br />

Das könnte helfen, Taten zu verhindern –<br />

doch nur wenige Schulen bereiten sich auf den Ernstfall vor.<br />

Sie steckt einen USB-Stick in ihren<br />

Computer, zwei Klicks, und auf dem<br />

Bildschirm vor Britta Bannenberg<br />

erscheinen schreckliche Szenen. Sie zeigen<br />

Schüler in der Cafeteria der Columbine<br />

High School in Littleton, Colorado.<br />

Jungen und Mädchen rennen panisch<br />

durcheinander, versuchen zu flüchten,<br />

kauern sich unter Tische. Die Bilder sind<br />

mit gregorianischem Gesang unterlegt.<br />

Dann erscheinen Dylan Klebold, 17, und<br />

Eric Harris, 18. Sie stolzieren durch den<br />

Raum, aufgenommen von der Überwachungskamera.<br />

Der eine trägt ein Käppi<br />

verkehrt herum auf dem Kopf und hält<br />

eine abgesägte Flinte in der Hand. Der andere<br />

ist ebenfalls mit einem Gewehr bewaffnet<br />

und hat eine Patronentasche dabei.<br />

Klebold und Harris erschießen zwölf Mitschüler<br />

und einen Lehrer, dann sich selbst.<br />

Britta Bannenberg sitzt an ihrem<br />

Schreibtisch im Institut für Kriminologie<br />

der Universität Gießen. Die 49-jährige<br />

Professorin klickt ein weiteres Video an.<br />

Wieder Columbine, wieder diese Szenen,<br />

diesmal mit Heavy-Metal-Klängen im<br />

Hintergrund. Der martialische Auftritt<br />

der Amoktäter wird mit Bildern weinender<br />

Kinder, mit denen von Schülern in<br />

Blutlachen und Särgen gemischt.<br />

„Es sind zynische, eklige Werke“, sagt<br />

Bannenberg. Und populäre. Die Klickzahlen<br />

vieler Filme, die Unbekannte ins<br />

Netz gestellt haben, sind fünfstellig.<br />

Geben sich die Zuschauer nur einem<br />

makabren, aber folgenlosen Vergnügen<br />

hin? Wohl nicht alle. Der Massenmord<br />

im Westen der Vereinigten Staaten gefällt<br />

nicht nur Voyeuren weltweit. Er hat nachweislich<br />

junge Leute zu ähnlichen Taten<br />

inspiriert.<br />

Dieses Fazit zieht Bannenberg nach<br />

sechs Jahren Aktenstudium. Sie hat 21<br />

Amoktaten in Deutschland untersucht<br />

und viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Nahezu<br />

alle Täter hatten sich Columbine-<br />

Videos angeschaut. Die Täter waren bis<br />

auf zwei Ausnahmen männlich, fast alle<br />

waren 13 bis 16 Jahre alt, und sie hatten<br />

Wut auf die Welt und Angst vor der Blamage<br />

im Alltag.<br />

„Amokläufe wird es immer geben“,<br />

sagt Bannenberg. Jedes Jahr werden in<br />

Deutschland viele Amokdrohungen registriert.<br />

Eine verlässliche bundesweite<br />

Statistik fehlt, Hochrechnungen kommen<br />

auf etwa 3000 Drohungen pro Jahr. Doch<br />

wer will nur Angst verbreiten, Aufmerksamkeit<br />

erregen, sich aufspielen? Und<br />

wer wird wirklich morden?<br />

GARY CASKEY / REUTERS<br />

Täter in der Columbine High School 1999<br />

Wut auf die Welt<br />

Auf der Jahrestagung der Deutschen<br />

Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde<br />

in Berlin wollen Experten in<br />

dieser Woche darüber diskutieren. Und<br />

Bannenberg wird die Merkmale vorstellen,<br />

die sie aus den Analysen der Einzelfälle<br />

gewonnen hat; zu diesen Merkmalen<br />

zählen die folgenden sieben.<br />

1 Gefühlsarmes Elternhaus<br />

Georg R. war 18 Jahre alt, als er im September<br />

2009 das Carolinum-Gymnasium<br />

in Ansbach betrat. Er hatte ein Ziel: so<br />

viele Schüler und Lehrer wie möglich<br />

zu töten. Er warf Brandsätze in zwei<br />

Klassenzimmer und wartete vor der Tür<br />

mit einem Beil und mehreren Messern.<br />

Als die Schüler flüchteten, schlug er zu.<br />

13 Schüler verletzte er zum Teil lebensgefährlich.<br />

Nach der Scheidung der Eltern war R.<br />

mit 14 Jahren zu seinem Vater gezogen.<br />

Dieser war 25 Jahre lang Sportschütze gewesen.<br />

Die beiden lebten nebeneinanderher,<br />

„ohne stundenlange Gespräche zu<br />

führen“, wie es der Vater ausdrückte. In<br />

den letzten Sommerferien saß der Sohn<br />

von früh bis spät vor dem Fernseher oder<br />

dem PC, jeden Tag.<br />

Solche bürgerlichen Elternhäuser fand<br />

Bannenberg bei den meisten Tätern. Es<br />

gab keine Gewalt und keine übermäßigen<br />

Aggressionen, aber es herrschte meistens<br />

eine kalte, sprachlose Atmosphäre. Die<br />

Eltern waren hilflos und konnten den<br />

Rückzug der Kinder in die Computerwelt<br />

nicht stoppen.<br />

2 Hass in Computerspielen<br />

Am 20. November 2006 betrat der 18-jährige<br />

Bastian B. seine ehemalige Schule<br />

im münsterländischen Emsdetten, er<br />

schoss wahllos auf Menschen und zündete<br />

Rauchbomben. 37 Personen wurden<br />

zum Teil schwer verletzt. Dann tötete B.<br />

sich durch einen Schuss in den Mund.<br />

Die Rekonstruktion seines Lebens ergab,<br />

dass er unter dem Namen „Re -<br />

sistanceX“ im Cyberspace unterwegs<br />

war und für „Counterstrike“ und andere<br />

Ballerspiele nur noch am Rechner saß.<br />

Er begann, vom eigenen Massaker zu<br />

träumen.<br />

„Gewaltspiele lösen nicht automatisch<br />

Gewalt aus“, sagt Bannenberg. „Aber sie<br />

bieten eine enorme Projektionsfläche.<br />

Der schwache Junge ohne Anerkennung<br />

wird zum starken männlichen Helden,<br />

vor dem andere Angst bekommen.“<br />

3 Fehlende Anerkennung<br />

Im Februar 2002 fuhr der polnischstämmige<br />

Adam L. in Bundeswehr-Tarnklei-<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 47


Deutschland<br />

dung zu seiner ehemaligen<br />

Firma im bayerischen Eching,<br />

die ihm kurz zuvor gekündigt<br />

hatte. Dort tötete der<br />

22-Jährige mit einer Pistole<br />

vom Typ Tokarev 57 den Betriebsleiter<br />

und einen Vor -<br />

arbeiter. Danach fuhr er mit<br />

einem Taxi zur Wirtschaftsschule<br />

in Freising, die er<br />

früher besucht hatte, ermordete<br />

den Schulleiter und<br />

verletzte einen Religionslehrer<br />

schwer. Am Ende tötete<br />

sich L. durch einen Schuss in<br />

den Mund. Er galt in der<br />

Schule als vorlaut. Seinen Lehrern, die<br />

ihn von der Schule werfen wollten, soll<br />

er gedroht haben: „Ich werde Sie alle<br />

erschießen.“<br />

Bannenberg fand heraus, dass sich<br />

Amoktäter gemobbt fühlen und narzisstisch<br />

gekränkt sind. „Dies war aber oft<br />

nur deren subjektive Wahrnehmung.<br />

Die Täter ziehen daraus die Rechtfertigung<br />

für ihre Tötungsphantasien und ihre<br />

Taten.“<br />

4 Leidenschaft für Waffen<br />

Im April 2002 starben in Erfurt zwölf Lehrer,<br />

eine Sekretärin, zwei Schüler und ein<br />

Polizist. Der Täter: Robert Steinhäuser,<br />

Kriminologin Bannenberg<br />

„Eklige Werke“<br />

BERND WEISSBROD / PICTURE-ALLIANCE / DPA<br />

19 Jahre alt. Weil er ein gefälschtes<br />

ärztliches Attest<br />

vorgelegt hatte, war der<br />

Gymnasiast wenige Monate<br />

zuvor von der Schule verwiesen<br />

worden. Und stand nun<br />

ohne Hochschulreife da.<br />

Die Tat ereignete sich am<br />

Tag der letzten schriftlichen<br />

Abiturprüfungen. In einer<br />

Reisetasche trug Steinhäuser<br />

seine Waffen und die Munition.<br />

Eineinhalb Jahre zuvor<br />

war er Mitglied in einem<br />

Schützenverein geworden.<br />

Er besorgte sich einen Waffenschein<br />

und damit in den Monaten vor<br />

seinem Amoklauf unter anderem eine Pistole<br />

Glock 17; eine Pumpgun, Mossberg<br />

590, trug er auf dem Rücken.<br />

Viele Amokläufer oder deren Väter waren<br />

selbst Sportschützen. „Militärische<br />

Symbole faszinierten die Täter, und nicht<br />

wenige interessierten sich sehr für die<br />

Nazi-Zeit – ohne eine rechtsextreme Gesinnung<br />

zu haben. Dies ist eher Ausdruck<br />

ihrer Menschenverachtung“, konstatiert<br />

Bannenberg.<br />

5 Suizid- und Gewaltgedanken<br />

Im Juli 2003 hatte Florian K., 16, eine Pistole<br />

Walther PPK und einen Colt Python<br />

Magnum in seinem Rucksack. Er war an<br />

seiner Realschule in Coburg sitzengeblieben.<br />

Der langhaarige Gothic-Anhänger<br />

umrandete seine Augen mit schwarzem<br />

Kajalstift.<br />

Während des Unterrichts holte er seine<br />

Pistole hervor, zielte auf die Lehrerin, die<br />

mit dem Rücken zur Klasse an der Tafel<br />

stand, und drückte ab. Er verfehlte die<br />

Frau. Ein zweites Projektil traf die Decke.<br />

Als die Schulpsychologin Gabriele O. in<br />

das Klassenzimmer kam, wurde sie am<br />

Oberschenkel getroffen. Dann erschoss<br />

sich Florian.<br />

„Amoktäter wollen nicht nur andere<br />

töten oder zumindest schwer verletzen,<br />

ihr eigener Tod ist fast immer mitgeplant“,<br />

sagt Bannenberg.<br />

6 Persönlichkeitsstörungen<br />

Am 11. März 2009 tötete der 17-jährige<br />

Tim K. in Winnenden und Wendlingen<br />

in Baden-Württemberg 15 Menschen. Lange<br />

vor der Tat hatten sich seine Eltern<br />

Sorgen gemacht: Tim war schlecht in der<br />

Schule und zunehmend isoliert. Etwa ein<br />

Jahr vor dem Amoklauf hatte er ihnen<br />

erzählt, er glaube, manisch-depressiv zu<br />

sein.<br />

Die Eltern suchten Rat in der Kinderund<br />

Jugendpsychiatrie. Dort erzählte<br />

Tim von seinem Hass auf die Welt, er be-


ichtete von seinen Stimmungsschwankungen<br />

und seiner Vorstellung, Menschen<br />

zu töten.<br />

Amoktäter seien oft still und unzugänglich,<br />

zögen sich schließlich total in<br />

ihre eigene Welt zurück, sagt Bannenberg.<br />

Sie versuchten dann, ihr Umfeld<br />

durch hasserfüllte Äußerungen, ihre Kleidung<br />

oder Musik zu provozieren. Amoktaten,<br />

folgert die Forscherin, seien nicht<br />

unerklärlich, die Täter seien „in weitaus<br />

höherem Maße psychopathologisch auffällig<br />

als bisher angenommen“.<br />

7 Die Farbe Schwarz<br />

Der amerikanische Fernsehsender Dis -<br />

covery Channel sendete eine Dokumentation<br />

über den Amoklauf von Littleton.<br />

Schauspieler in schwarzen Roben stellten<br />

darin die Morde von Klebold und Harris<br />

nach – für deutsche Amoktäter haben die<br />

Szenen der Mörder in Schwarz Symbolcharakter.<br />

Die meisten trugen bei ihren<br />

eigenen Taten später schwarze Kleidung.<br />

Wie fast alle war auch Georg R., der<br />

Amokläufer aus Ansbach, ganz in<br />

Schwarz gekleidet. Weiß waren nur die<br />

Buchstaben auf seinem T-Shirt: „Made in<br />

School“.<br />

Schwarz spiegle die „Beschäftigung mit<br />

Gewalt und Tod“ wider, sagt Bannenberg,<br />

es zeige „die Vermischung virtueller<br />

Welten mit Tötungsphantasien und fortgeschrittene<br />

Phasen der Tatplanung“.<br />

Lässt sich mit diesem Wissen verhindern,<br />

dass die Tatplanung fortschreitet<br />

bis zur letzten, zur tödlichen Phase?<br />

Davon sind Forscher wie Britta Bannenberg<br />

überzeugt: Ihr Wissen könne helfen,<br />

potentielle Amokläufer rechtzeitig zu<br />

identifizieren. Und mehr noch: Auch<br />

manche Terroristen ließen sich so möglicherweise<br />

erkennen. „Sie sind sich von<br />

der Persönlichkeitsstruktur sehr ähnlich“,<br />

sagt Bannenberg.<br />

Zu diesem Schluss kommt auch Norbert<br />

Nedopil. Der renommierte Psych -<br />

iater aus München hat sich mit vier terroristischen<br />

Einzeltätern näher beschäftigt:<br />

dem österreichischen Briefbomber Franz<br />

Fuchs, dem norwegischen Attentäter Anders<br />

Behring Breivik, dem amerikanischen<br />

„Unabomber“ Theodor Kaczynski<br />

und mit Ernst Wagner, der vor hundert<br />

Jahren 14 Menschen tötete. „Auch sie waren<br />

Außenseiter, die von ihrer Umgebung<br />

verspottet wurden“, sagt Nedopil, „dar-<br />

aufhin haben sie sich gekränkt zurück -<br />

gezogen und in der Isolation eine enorme<br />

Wut entwickelt.“<br />

Die Fachleute hoffen nun, mit ihren<br />

Erkenntnissen die Praxis zu erreichen.<br />

Die Deutsche Polizeigewerkschaft klagt<br />

seit Jahren darüber, dass die Prävention<br />

an den Schulen mangelhaft sei. „Jede<br />

Schule braucht je nach Größe und Standort<br />

einen individuellen Sicherheitsplan,<br />

doch davon sind wir weit entfernt“, sagt<br />

der Bundesvorsitzende Rainer Wendt.<br />

Er fordert eine Verpflichtung der Schulen,<br />

regelmäßig den Ernstfall unter professioneller<br />

Anleitung zu üben, ähnlich<br />

wie bei Brandschutz oder Verkehrs -<br />

sicherheit. Es reiche nicht aus, „dass<br />

die Schulaufsichtsbehörde einen Aktenordner<br />

aushändigt, der dann in irgend -<br />

einem Regal landet“. Zudem seien So -<br />

zialarbeiter und Schulpsychologen nötig,<br />

um den Schülern „wirklich tief in die<br />

Seele schauen und helfen zu können“,<br />

sagt Wendt.<br />

Die meisten Schulen, Aufsichtsbehörden<br />

und Kultusminister zeigten jedoch<br />

wenig Interesse an Prävention, kritisiert<br />

Kriminologin Bannenberg. Allein das<br />

Wort „Amok“ schrecke dermaßen ab,<br />

dass sie „lieber den Kopf in den Sand stecken<br />

und gar nichts tun“.<br />

Anders die Schüler: Sie warnen, wie<br />

Untersuchungen gezeigt haben, oft genug<br />

ihre Lehrer, wenn sich ein Klassenkamerad<br />

plötzlich abkapselt, mit Waffen prahlt<br />

oder nur noch von Hass und Gewalt redet.<br />

Britta Bannenberg aber fragt sich,<br />

„ob diese Anzeigen überhaupt ernst genommen<br />

werden“.<br />

UDO LUDWIG,<br />

ANTJE WINDMANN


Deutschland<br />

H E S S E N<br />

Kleines<br />

Tröpfchen<br />

Der Weinbau an steilen Flussufern<br />

lohnt sich kaum noch.<br />

Jetzt will eine Hochschule das<br />

Kulturerbe retten – mit<br />

einem kuriosen Spezialfahrzeug.<br />

Der Prototyp sieht aus wie eine<br />

Kreuzung aus einem Nasa-Mondfahrzeug<br />

mit Fred Feuersteins<br />

Familienmobil aus der Steinzeit-TV-Serie<br />

„The Flintstones“: Vier oder sechs mächtige<br />

Aluminiumwalzen mit spitzen blauen<br />

Noppen, ein GPS-Empfänger und<br />

eine Fernsteuerung mit Joystick – so<br />

soll das Gefährt in Zukunft führerlos<br />

durch die steilsten Weinberge Deutschlands<br />

kraxeln.<br />

„Geisi“, wie die Forscher ihr kurioses<br />

Vehikel getauft haben, steht in zwei Ausführungen<br />

in einer Werkhalle der Geisenheim<br />

University im hessischen Rheingau.<br />

Den ganzen Sommer über haben die<br />

Techniker der auf Weinbau spezialisierten<br />

Hochschule das Gerät an den Ufern<br />

des Mittelrheintals getestet. Sie haben es<br />

mal mit zwei, mal mit drei Achsen auf<br />

Versuchsstrecken mit bis zu 80 Prozent<br />

Steigung geschickt. Und nun, am Ende<br />

der Saison, sind sie sich ziemlich sicher:<br />

Geisi könnte ihnen dabei helfen, eine der<br />

schönsten deutschen Kulturlandschaften<br />

zu retten – den Rebenanbau in den engen<br />

Talhängen von Rhein, Main, Mosel, Saale,<br />

Saar oder Neckar.<br />

Um diesen Steillagen-Weinbau steht es<br />

seit geraumer Zeit nicht gut. Die Pflege<br />

und Lese der Trauben in extremer Hanglage<br />

ist aufwendig, teuer und gefährlich.<br />

Maschinen und Traktoren, die in der Ebene<br />

zum Schneiden, Spritzen und Ernten<br />

in die Rebzeilen geschickt werden können,<br />

sind dort kaum einsetzbar.<br />

Immer mehr Winzer ziehen sich deshalb<br />

aus dem mühsamen Geschäft zurück<br />

und verlegen ihre Rebstöcke in flachere<br />

Gefilde. „1970 hatten wir in Deutschland<br />

noch 12000 Hektar echte Steillagen“, sagt<br />

Hans-Peter Schwarz, 53, der Leiter des<br />

Technikinstituts der Hochschule, „heute<br />

sind es nicht einmal mehr 8000 Hektar.“<br />

Unter echten Steillagen versteht Schwarz<br />

Weinberge mit Steigungen von 60 Prozent<br />

und mehr: „Also solche Lagen, die<br />

das Bild des Rebenanbaus in vielen Regionen<br />

Deutschlands seit Jahrhunderten<br />

geprägt haben.“<br />

Dass die sorgfältig nebeneinander aufgereihten<br />

Rebstöcke mehr und mehr einem<br />

Wildwuchs aus Büschen und Dornen<br />

52<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Pflegeroboter „Geisi“ im Steilhang bei Rüdesheim<br />

weichen, beobachten längst auch die Regierenden<br />

mit Sorge. Am Weinbau entlang<br />

den Flüssen hänge nicht nur die Identität<br />

vieler Regionen, sondern es gehe<br />

auch, beispielsweise im Tourismus, um<br />

wichtige Arbeitsplätze, warnte das rheinland-pfälzische<br />

Wirtschaftsministerium<br />

bereits vor Jahren. Das obere Mittelrheintal<br />

verdanke seine Ernennung zum Weltkulturerbe<br />

durch die Unesco ausdrücklich<br />

den „rebenbesetzten Talhängen“. Erst<br />

durch den Weinbau werde das Gebiet<br />

„zum Inbegriff der romantischen Rheinlandschaft“.<br />

Die betroffenen Bundesländer haben<br />

daher Förderprogramme entwickelt und<br />

locken mit Beihilfen. In Hessen beispielsweise<br />

können Winzer, die sich umweltschonenden<br />

Anbaumethoden verschreiben,<br />

jährlich bis zu 2300 Euro Zuschuss<br />

pro Hektar Steillage bekommen.<br />

Die Summe sei indes kaum mehr als<br />

ein kleines Tröpfchen im großen Weinfass,<br />

betont der Geisenheimer Hochschullehrer<br />

Schwarz. Wer eine extreme Hanglage<br />

bewirtschafte, in der Pflegearbeiten<br />

nur mit Kletterei – teils mit Seilzügen gesichert<br />

– und in zeitintensiver Handarbeit<br />

erledigt werden könnten, müsse mit bis<br />

zu 1500 Arbeitsstunden pro Hektar und<br />

Weinsaison rechnen. In der Ebene, wo<br />

intensiver Traktorenbetrieb und der Einsatz<br />

automatisierter Vollernte-Fahrzeuge<br />

möglich sei, reichten für die gleiche Fläche<br />

etwa 180 Arbeitsstunden, so Schwarz:<br />

„Diesen Unterschied kann man auch mit<br />

möglicherweise höheren Preisen für Spitzenqualität<br />

aus sonnenverwöhnten Steilhängen<br />

kaum ausgleichen.“<br />

Weiterer Druck auf die Steillagen-Winzer<br />

kommt aus Brüssel. Die Europäische<br />

Union will den Weinmarkt liberalisieren<br />

und sich schrittweise von einer Regelung<br />

verabschieden, die den Winzern bisher<br />

einen komfortablen Schutzraum verschaffte.<br />

Es geht um den gesetzlichen<br />

Anbaustopp, der die Weinbaufläche in<br />

Deutschland derzeit auf etwas mehr als<br />

100000 Hektar beschränkt. Wer neu ins<br />

Geschäft mit den Trauben einsteigen will,<br />

muss entweder eine bereits bewirtschaftete<br />

Fläche übernehmen oder nachweisen,<br />

dass eine vergleichbar große Fläche in<br />

seiner Region stillgelegt wurde.<br />

Ab 2016 jedoch dürfen die Rebflächen<br />

in den EU-Mitgliedstaaten wachsen –<br />

jährlich um ein Prozent. Zusätzliche Anbaufläche<br />

bedeutet aber auch zusätzliche<br />

Konkurrenz, gerade für die Produzenten<br />

teurer Steillagen-Weine.<br />

Kletterspezialist Geisi könnte aus Sicht<br />

der Geisenheimer Önologen dazu beitragen,<br />

den Weinbau im Steilhang stärker<br />

zu rationalisieren – und die örtlichen Winzer<br />

zu ermuntern, ihre exponierten Lagen<br />

weiter zu bewirtschaften. Technikchef<br />

Schwarz und sein Team knobeln schon<br />

seit fast einem Jahrzehnt an dem Gefährt.


Im Gegensatz zu üblichen Raupenfahrzeugen<br />

soll die Geisenheimer Konstruktion<br />

durch ihren niedrigen Schwerpunkt<br />

auch im extremen Gelände nicht umstürzen<br />

– unter anderem weil der Antriebsmotor<br />

unterhalb der Achsen in den Walzenrädern<br />

eingebaut wurde.<br />

Zudem soll eine ausgefeilte Funk- und<br />

Satellitennavigation dafür sorgen, dass<br />

Geisis Bordcomputer den Weg durch die<br />

Rebzeilen ganz allein finden kann – und<br />

dabei zielgenau beispielsweise Spritzmittel<br />

versprüht oder den Reben einen groben<br />

Grundschnitt verpasst.<br />

Noch ist der Prototyp mit gut 1,70 Metern<br />

etwas zu breit, um zwischen alten,<br />

oft eng gepflanzten Rebstockzeilen einsetzbar<br />

zu sein. Deshalb will die Hochschule<br />

im kommenden Jahr zusammen<br />

mit einer süddeutschen Spezialfirma eine<br />

schlankere Version bauen. „Der Markt<br />

dafür ist da“, sagt Schwarz zuversichtlich.<br />

Bei einer Fachmesse in Stuttgart im April<br />

hätte er von Geisi „schon zehn Stück verkaufen<br />

können“.<br />

Parallel dazu tüfteln die Geisenheimer<br />

noch an Anbaumethoden, die den Arbeitsaufwand<br />

am Steilhang vermindern;<br />

beispielsweise durch ein Minimalschnittverfahren,<br />

das in Australien entwickelt<br />

wurde. Dabei werden die Reben in größeren<br />

Abständen als üblich gepflanzt und<br />

dürfen, nach einem groben Maschinenschnitt,<br />

fast ungehindert wuchern.<br />

Die ersten Erfahrungen waren ermu -<br />

tigend. Im Herbst waren die Beeren zwar<br />

etwas kleiner als bei herkömmlichen<br />

Verfahren, aber dafür gab es auch weniger<br />

Fäulnis, sagt Hochschulpräsident<br />

Hans Reiner Schultz. „Die Trauben saßen<br />

nicht so fest und kompakt aufeinander,<br />

sondern sie waren lockerer, so dass<br />

sie nach einem Regen auch besser trocknen<br />

konnten.“<br />

Ganz ausgefeilt ist das Verfahren noch<br />

nicht. „Schauen Sie hier“, sagt Schultz<br />

und zeigt an seinem Computer die Aufnahmen<br />

wild wuchernder Reben, die hinter<br />

dicken, aufgeblähten Blätterschichten<br />

kaum noch zu erkennen sind. „Für Ästhe -<br />

ten ist das nichts“, findet Schultz.<br />

Allerdings hat der Hochschullehrer<br />

auch Argumente dafür, dass die Minimalschnitt-Methode<br />

in Steillagen durchaus<br />

vorzeigbare Ergebnisse hervorbringen<br />

kann. Seit mittlerweile vier Jahren werden<br />

die Trauben, die in Kaub auf dem<br />

Versuchshang der Universität wachsen,<br />

zu Wein verarbeitet. Den Jahrgang 2012<br />

hat das hochschuleigene Weingut auf<br />

Flaschen gezogen und mit dem Namen<br />

„Kauber Rauscheley“ versehen. Es ist ein<br />

spritziger, trockener Riesling, der den<br />

interessierten Steillagen-Besitzern nun<br />

zur Verkostung angeboten werden soll.<br />

Schultz ist optimistisch: „Einen Winzer<br />

kann man vor allem von einer neuen Methode<br />

überzeugen, wenn ihm das Ergebnis<br />

schmeckt.“<br />

MATTHIAS BARTSCH<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 53


<strong>SPIEGEL</strong>: Frau Pantel, Frau Schulte, Sie haben<br />

im Bundestagshandbuch als Beruf<br />

Hausfrau angegeben. Haben Sie dabei einen<br />

Moment gezögert?<br />

Pantel: Nein, das habe ich ganz bewusst<br />

so gemacht. Mir ist schon klar, dass die<br />

Berufsbezeichnung Hausfrau kein Renommee<br />

hat und man damit keine besondere<br />

Anerkennung bekommt. Das finde<br />

ich falsch. Ich bin ehrenamtlich eine ganze<br />

Menge unterwegs, ich führe den Haushalt,<br />

mein Mann ist berufstätig. Also<br />

schreibe ich es so auf.<br />

Schulte: Ich habe auch nicht gezögert, weil<br />

das ehrlich ist. Ich bin Hausfrau. Ich war<br />

ebenfalls ehrenamtlich tätig, ich habe Kinder<br />

großgezogen und meine alten Eltern<br />

gepflegt. Ich finde nicht, dass man sich<br />

dafür schämen muss. Man verblödet ja<br />

nicht automatisch hinter dem Herd.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Das Wort Hausfrau hat mittlerweile<br />

einen negativen Beiklang, den es<br />

54<br />

Parlamentarierinnen Schulte, Pantel<br />

Deutschland<br />

K A R R I E R E N<br />

„Das regt mich auf“<br />

Die CDU-Abgeordnete Sylvia Pantel, 52, und ihre SPD-Kollegin<br />

Ursula Schulte, 61, sind die beiden einzigen Hausfrauen im<br />

Bundestag und reden über die Vorurteile, denen sie dort begegnen.<br />

früher nicht hatte. Begegnen Ihnen die<br />

Leute manchmal mit Herablassung?<br />

Schulte: Ich bin Fraktionsvorsitzende im<br />

Kreistag gewesen und Ratsfrau. Deshalb<br />

sind mir die Leute auch nicht so begegnet,<br />

als wenn sie mich für dumm hielten. Das<br />

wäre vielleicht so, wenn ich mich allein<br />

auf den Haushalt beschränkt hätte.<br />

Pantel: Bei mir ist es ähnlich. Ich habe<br />

angefangen zu studieren, war selbständig.<br />

Ich war in der Kommunalpolitik<br />

und stellvertretende Fraktionsvorsitzende<br />

im Landschaftsverband. Bisher ist keiner<br />

auf die Idee gekommen, mich nicht<br />

ernst zu nehmen. Ich weiß natürlich<br />

nicht, was man hinter meinem Rücken<br />

spricht.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Gibt es einen Unterschied in der<br />

Reaktion von Männern und Frauen, wenn<br />

Sie Ihren Beruf nennen?<br />

Schulte: Der Unterschied liegt woanders.<br />

Ich werde immer gefragt: „Was macht<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

WERNER SCHUERING / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

denn Ihr Mann, wenn Sie in die große<br />

Politik nach Berlin gehen?“ Das regt mich<br />

zunehmend auf. Das würde man einen<br />

Mann nie fragen.<br />

Pantel: Da haben Sie recht. Das geht den<br />

meisten weiblichen Abgeordneten so, unabhängig<br />

vom Beruf.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Angela Merkel erklärt ihre Politik<br />

gern mit dem Bild der „schwäbischen<br />

Hausfrau“. Leuchtet Ihnen das ein?<br />

Schulte: Das ist zumindest ein Bild, mit<br />

dem viele etwas anfangen können. Auch<br />

wenn die Hausfrauen im Begriff sind auszusterben.<br />

Pantel: Wenn Frauen das Geld zusammenhalten,<br />

das der Mann nach Hause bringt,<br />

ist das auch eine Leistung. Von daher finde<br />

ich das Bild in Ordnung.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Die Autorin Birgit Kelle schreibt,<br />

früher hätten Mütter darum kämpfen<br />

müssen, wenn sie einen bezahlten Beruf<br />

ausüben wollten. Heute müssten sich die<br />

Hausfrauen rechtfertigen, wenn sie zu<br />

Hause blieben.<br />

Pantel: Im Grunde stimmt das. Ich finde<br />

das nicht gut. Wenn eine Frau sich dafür<br />

entscheidet, ist das ihr gutes Recht.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: War das bei Ihnen eine bewusste<br />

Wahl, Hausfrau zu werden?<br />

Schulte: Ich bin sehr jung überraschend<br />

schwanger geworden. Früher wurde man<br />

ja noch überraschend schwanger. Deshalb<br />

bin ich erst einmal zu Hause geblieben.<br />

Dann ging es meinen Eltern schlechter,<br />

sie wurden pflegebedürftig. Ich habe<br />

mich um sie gekümmert. Das hat sich<br />

langsam entwickelt und mich immer<br />

mehr in Anspruch genommen. Irgendwann<br />

sitzt man da drin und kommt nicht<br />

mehr raus.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie sind in die Sache reingerutscht?<br />

Schulte: Wir wohnten mit den Eltern zusammen.<br />

Die schiebt man dann nicht ab<br />

ins Altersheim. Auf dem Land geht das<br />

schon gar nicht. Da wird erwartet, dass<br />

die Frau alles macht, die Pflege und Betreuung.<br />

Ich bereue das nicht. Das war<br />

auch eine schöne Zeit. Aber klar ist auch,<br />

dass ich unter den Umständen nicht Abgeordnete<br />

hätte werden können. Meine<br />

Mutter ist 2011 verstorben. Mit einer pflegebedürftigen<br />

Person zu Hause hätte ich<br />

nicht kandidieren können.<br />

Pantel: Ich habe die Entscheidung bewusst<br />

getroffen. Ich hatte ein BWL-Studium begonnen,<br />

das ich abgebrochen habe, weil<br />

ich viele Kinder wollte. Ich habe selber<br />

fünf Brüder, ich wusste, was das heißt.<br />

Ich wusste, dass das auch Verzicht bedeutet.<br />

Aber es war toll, für meine Kinder<br />

zu Hause zu sein.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Was würden Sie Ihren Töchtern<br />

sagen, wenn die Ihnen eröffneten, dass<br />

sie Hausfrau werden möchte?<br />

Pantel: Ich weiß, dass unsere Töchter, egal<br />

ob nach Studium oder Berufsausbildung,<br />

eine gewisse Zeit lang Hausfrau werden<br />

möchten. Sie möchten die ersten Jahre


ihres Kindes voll miterleben<br />

und selbst beeinflussen.<br />

Sie sagten, dass sie bei<br />

ihren Geschwistern mitbekommen<br />

haben, wie schön<br />

das ist und wie schnell das<br />

vergeht.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Mit dem Beruf vor -<br />

übergehend auszusetzen<br />

ist etwas anderes, als sich<br />

für den Beruf der Hausfrau<br />

zu entscheiden.<br />

Schulte: Ich erzähle allen<br />

jungen Frauen: Macht<br />

nicht das, was ich gemacht<br />

habe. Bleibt nicht zu Hause.<br />

An meinem Beispiel<br />

könnt ihr sehen, wohin das<br />

führen könnte. Wenn ich<br />

nicht verheiratet und<br />

durch die Rente meines<br />

Mannes abgesichert wäre – oder durch<br />

die Witwenrente, falls er stirbt –, dann<br />

müsste ich von der Grundsicherung leben.<br />

Hausfrauen landen in der Altersarmut,<br />

das ist einfach so. Ich habe das auch meiner<br />

Tochter und meiner Schwiegertochter<br />

gesagt. Beide sind berufstätig. Die sehen<br />

am Beispiel ihrer Mütter, dass das nicht<br />

lustig wäre, im Alter arm zu sein.<br />

Pantel: Das neue Unterhaltsrecht hat die<br />

Absicherung von Ehefrauen massiv verschlechtert.<br />

Insofern kann man jungen<br />

Leuten, egal ob männlich oder weiblich,<br />

nicht raten, ganz aus dem Berufsleben<br />

auszusteigen. Das wäre ein schlechter<br />

Rat.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wäre es nicht eine Aufgabe der<br />

Politik, das zu ändern? Es ist doch immer<br />

von Wahlfreiheit die Rede.<br />

Schulte: Ich glaube nicht, dass wir eine<br />

staatliche Leistung hinkriegen, die Frauen<br />

so absichert, dass sie im Alter davon angemessen<br />

leben können. Ich habe im<br />

Wahlkampf viele Frauen getroffen, die<br />

400 oder 500 Euro Rente hatten. Ich möchte<br />

nicht, dass Frauen so enden. Dafür sind<br />

die Mädchen und jungen Frauen heute<br />

auch viel zu gut ausgebildet.<br />

Es wäre doch ein Verlust<br />

für die Gesellschaft,<br />

wenn die zu Hause blieben.<br />

Pantel: Wir müssen den<br />

Menschen ermöglichen, fle -<br />

xibler zu werden. Es ist<br />

enorm schwierig, zur gleichen<br />

Zeit Kinder großzuziehen,<br />

arbeiten zu gehen,<br />

ein Haus zu bauen, Verwandte<br />

zu pflegen. Wir<br />

müssen viel mehr über Lebensarbeitszeitkonten<br />

und<br />

andere kreative Möglichkeiten<br />

nachdenken.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Etwa das Betreuungsgeld?<br />

Pantel: Sicher, es zeigt die<br />

Anerkennung für die Arbeit<br />

der Mütter. Genauso,<br />

56<br />

Deutschland<br />

„Mir ist schon klar,<br />

dass die Berufsbezeichnung<br />

Hausfrau<br />

kein Renommee hat.<br />

Das finde ich falsch.“<br />

SYLVIA PANTEL (CDU)<br />

„Ich erzähle allen<br />

jungen Frauen: Macht<br />

nicht das, was ich<br />

gemacht habe. Bleibt<br />

nicht zu Hause.“<br />

URSULA SCHULTE (SPD)<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

FOTOS: WERNER SCHUERING / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

wie wir das mit dem Pflege -<br />

geld gemacht haben.<br />

Schulte: Ich finde das Betreuungsgeld<br />

nicht in Ordnung.<br />

Zum einen sind 100<br />

Euro ein lächerlicher Betrag<br />

und keine Anerkennung,<br />

wie Sie es nennen.<br />

Zum anderen suggeriert es<br />

auch was Falsches, nämlich:<br />

„Bleib mal schön zu<br />

Hause.“<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Es wird jedenfalls<br />

das Problem von Haus -<br />

frauen, die im Alter von<br />

Armut bedroht sind, nicht<br />

lösen.<br />

Pantel: Nein, aber es ist<br />

nicht nichts. Wir werden<br />

auch die Rente für Mütter,<br />

die vor 1992 Kinder bekommen<br />

haben, erhöhen. Es ist nur fair, dass<br />

die Erziehung von Kindern bei der Altersvorsorge<br />

nicht einfach unter den Tisch fällt.<br />

Schulte: Die Mütterrente kann ich unterstützen.<br />

Ich finde nur falsch, dass sie aus<br />

Beiträgen bezahlt wird. Man müsste das<br />

aus Steuergeldern machen.<br />

Pantel: Da stimme ich Ihnen zu. So wird<br />

es bei der Anrechnung von Erziehungsleistungen<br />

bisher ja auch gemacht.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Stört es Sie, wie in der feministischen<br />

Debatte über Hausfrauen geredet<br />

wird?<br />

Pantel: Es stört mich, dass der Begriff so<br />

einen schlechten Ruf hat. Es gibt doch<br />

viele Frauen, die sind wegen der Kinder<br />

oder aus anderen Gründen eine Zeitlang<br />

nicht berufstätig oder nur wenig. Die sind<br />

im Hauptberuf Hausfrau. Aber die würden<br />

sich nie so nennen. Der Begriff ist<br />

stigmatisiert.<br />

Schulte: Ich bin keine Feministin. Aber<br />

wenn man weiß, wie die Wirklichkeit aussieht,<br />

dann kann man doch keiner jungen<br />

Frau sagen: Werde Hausfrau. Das muss<br />

man sich finanziell leisten können, und<br />

das können die wenigsten.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Was haben Sie<br />

denn als Hausfrau gelernt,<br />

was Ihnen nun in der Politik<br />

nützt?<br />

Pantel: Ganz einfach: Sie<br />

müssen organisieren können.<br />

Schulte: Und Konflikte aushalten.<br />

Wir waren teilweise<br />

vier Generationen unter<br />

einem Dach. Das hat mir<br />

auch als Fraktionsvorsitzender<br />

ganz gut geholfen. Das<br />

Parlament soll ja die Bevölkerung<br />

widerspiegeln. Unsere<br />

Lebenswelt gehört da<br />

rein, nicht nur die von Juristen<br />

oder Leuten aus dem<br />

Öffentlichen Dienst.<br />

INTERVIEW: ANN-KATRIN<br />

MÜLLER, RALF NEUKIRCH


Szene<br />

Was war da los,<br />

Frau Egan?<br />

Monique Egan, 20, Studentin aus Manchester,<br />

über eine verschwitzte Begegnung:<br />

„Ich trainierte am Boxsack, und<br />

auf einmal stand sie neben mir, es war<br />

ein kleiner Schock: die Königin! Zwar<br />

wusste ich, dass sie unser Jugend -<br />

zentrum besuchen würde, aber ich<br />

hätte nie damit gerechnet, ihr so nahe<br />

zu kommen. Ich wurde total nervös.<br />

Sie hat mich angesprochen und gefragt,<br />

wie lange ich schon boxe. Ich<br />

habe ihr erzählt, dass ich boxe, seit<br />

ich 16 bin, einfach so, weil es mir Spaß<br />

macht, und dass ich an der Uni in<br />

Manchester Sport studiere. Sie sagte,<br />

dass ich sehr muskulöse Arme hätte.<br />

Ich boxe zweimal die Woche hier im<br />

Jugendzentrum in Harpurhey. Es ist<br />

einer der ärmeren Stadtteile, deswegen<br />

war die Königin da. Um zu sehen,<br />

wie es den Jugendlichen hier geht. Es<br />

dauerte vielleicht eine Minute, dass<br />

sie neben mir stand, aber es war ein<br />

großer Moment. Sie ist noch kleiner,<br />

als ich sie mir vorgestellt hatte, total<br />

süß.“<br />

NIGEL RODDIS / AFP<br />

Egan, Königin Elizabeth II.<br />

Warum wollen Sie Reklame verbieten, Frau Franz?<br />

Die Autorin Sandra Franz, 33, lebt im<br />

Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg<br />

und kämpft dort für ein Verbot<br />

der Außenwerbung. Sie ist Mitglied<br />

der Initiative „Amt für Werbefreiheit<br />

und Gutes Leben“.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Frau Franz, wieso soll Werbung<br />

von den Straßen verschwinden?<br />

Franz: Niemand weiß mehr, wie die<br />

Stadt wirklich aussieht. Die Schönheit<br />

der Gebäude verschwindet. Den Fernseher<br />

oder das Radio kann ich ausschalten,<br />

auf meinem Rechner kann<br />

ich Ad-Blocker installieren. Aber auf<br />

der Straße kann ich der Werbung<br />

nicht entgehen. Künftig<br />

könnten LED-Plakate sich mit<br />

unseren Smartphones verbinden<br />

und daraufhin personalisierte<br />

Werbung schalten. Wir leben<br />

in einer freien Gesellschaft und<br />

sollten selbst entscheiden, ob<br />

wir Werbung begegnen wollen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Warum fangen Sie in<br />

Friedrichshain-Kreuzberg damit<br />

an?<br />

60<br />

Werbewand in Berlin<br />

Franz: Zum einen natürlich, weil ich<br />

dort lebe. Aber wir halten den Bezirk<br />

insgesamt für sehr mutig – die Menschen,<br />

aber auch die Politik. Seit 2008<br />

ist es hier bereits verboten, auf Bezirksflächen<br />

für Alkohol und Tabak zu<br />

werben. Das reicht uns aber nicht. Wir<br />

wollen, dass Werbung auf Plakaten,<br />

Säulen und Haltestellen verschwindet.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Jede Stadt ist doch auf das<br />

Geld aus der Werbung angewiesen.<br />

Franz: Das stimmt. Es gibt einen Vertrag<br />

zwischen dem Bezirk und der großen<br />

Werbefirma Ströer. Für vier große Werbetafeln<br />

zahlt die Firma 240000 Euro<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

im Jahr. Damit werden Brunnen und<br />

öffentliche Toiletten finanziert. Wir<br />

versuchen trotzdem, die Stadt zu überzeugen,<br />

dass die Menschen hier<br />

glücklicher wären, wenn sie nicht ständig<br />

vorgeführt bekämen, dass ihrem<br />

Leben etwas fehlt. Wir haben bereits<br />

über tausend Unterschriften gesammelt<br />

– jetzt muss nur noch der Bezirk<br />

für uns entscheiden.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Ist das nicht reine Utopie?<br />

Franz: Wir glauben, dass man die Werbung<br />

zumindest einschränken kann.<br />

In den achtziger Jahren waren wir täglich<br />

650 Werbebotschaften ausgesetzt,<br />

heute sind es 6000. Wir wollen<br />

verhindern, dass das noch<br />

weiter zunimmt. Es gibt bereits<br />

Städte, in denen ein öffent -<br />

liches Leben fast ohne Werbung<br />

gut funktioniert. Beispiels -<br />

weise São Paulo in Brasilien.<br />

Dort hat der Bürgermeister<br />

Werbung auf den Straßen per<br />

Gesetz massiv eingeschränkt.<br />

Ich glaube nicht, dass den<br />

Menschen dort etwas fehlt.<br />

PAUL ZINKEN / PICTURE ALLIANCE / DPA


gesellschaft<br />

Fußnote vom Pornostar<br />

EinE MEldung und ihrE gEsChiChtE: Wie ein serbischer Professor einen Wissenschaftsskandal aufdeckte<br />

Dragan Ðurić, Hochschullehrer für<br />

Software-Engineering an der Universität<br />

Belgrad, ist ein eigenwilliger<br />

Dozent mit eigenwilliger Frisur. Die<br />

Seiten des Kopfes trägt er ausrasiert und<br />

am Hinterkopf einen langen Zopf. Neben<br />

seinem Schreibtisch lehnt eine E-Gitarre<br />

an der Wand.<br />

Es ist ein Dienstag im November,<br />

Ðurić sitzt in seinem Apartment in Belgrad.<br />

Vor zwei Jahren, sagt er, hörte er<br />

das erste Mal von dem Mann, der nun<br />

sein Gegner ist, dem Herausgeber einer<br />

Zeitschrift namens „Metalurgia<br />

International“. Eine Zeitschrift,<br />

so erfuhr Ðurić von Kollegen,<br />

die Wissenschaftlern ungewöhnliche<br />

Chancen gibt. Eine<br />

Zeitschrift, die offenbar jeden<br />

Artikel veröffentlicht, den man<br />

schreibt.<br />

Der Herausgeber, Gheorghe<br />

Lepădatu, ist Professor in Rumänien.<br />

Das Geschäftsmodell,<br />

das er praktiziert, basiert auf<br />

einer Veröffentlichungsgebühr:<br />

Ein Hauptautor zahlt 140 Euro,<br />

Co-Autoren zahlen jeweils 75<br />

Euro. Im Gegenzug wird der<br />

Text zügig veröffentlicht, und<br />

nach Überweisung der Summe<br />

erhält man auf Wunsch ein Zertifikat,<br />

das es möglich macht,<br />

die Publikationsgebühren von<br />

der Verwaltung der eigenen Universität<br />

erstattet zu bekommen.<br />

Man müsse nichts von Me -<br />

tallurgie verstehen, um seine<br />

Aufsätze dort unterzubringen,<br />

so erzählten die Kollegen. An -<br />

gelegt als multidisziplinäres Forum,<br />

biete die Zeitschrift auch Platz für<br />

fachfremde Publikationen.<br />

Ðurić sah sich die Zeitschrift im Internet<br />

an und zählte nach. In den Ausgaben<br />

des Jahres 2011 fand er 9 Texte von serbischen<br />

Kollegen. 2012 waren es schon<br />

rund 168. In diesem Jahr dürften es rund<br />

300 Artikel sein. Als ähnlich populär erwies<br />

sich „Metalurgia International“ bei<br />

chinesischen Wissenschaftlern.<br />

Akademische Karrieren werden in Serbien<br />

wie anderswo vor allem durch die Anzahl<br />

der Veröffentlichungen vorangetrieben.<br />

Ðurić steht noch nicht am Ende seiner<br />

akademischen Laufbahn. Er hat seinen Titel<br />

und seine Stelle auf die altmodische Art<br />

bekommen, durch wissenschaftliche Arbeit.<br />

Er hat kein Interesse daran, dass seine<br />

Arbeit entwertet wird durch Betrüger, die<br />

sich ihre Veröffent lichungen kaufen.<br />

Für Ðurić ähnelte die Zeitschrift einer<br />

Seuche, die immer mehr seiner Kollegen<br />

schwach werden ließ, und er fasste den<br />

Entschluss, „Metalurgia International“ zu<br />

bekämpfen. Nicht mit einer Klage, das<br />

war nicht aussichtsreich und auch nicht<br />

klug, denn er müsste Kollegen an den<br />

Pranger stellen, die dort veröffentlicht<br />

haben. Ðurić beschloss, den Herausgeber<br />

mit dessen eigenen Waffen zu schlagen.<br />

Đurić (l.) mit Co-Autor<br />

Von der Website laborwelt.de<br />

Ðurić setzte sich zu Hause an seinen<br />

Computer, machte ein Bier auf und begann<br />

zu tippen. Zwei Nachmittage spä -<br />

ter war der Text fertig. Ðurić verfasste<br />

ihn auf Englisch, er beginnt mit dem<br />

Satz: „Das verbesserte Verstehen und die<br />

korrekte Anwendung von Simulationsmodellen<br />

für verschiedene Domains, vom<br />

E-Government bis zum E-Learning, sind<br />

ein angemessenes Rätsel.“<br />

Fünf Seiten wird der Text später füllen,<br />

weitgehend sinnfrei, es geht angeblich<br />

um hermeneutische Heuristik, um Würfeln<br />

und die Aussagekraft des Zufalls. So<br />

erklärt es zumindest Ðurić.<br />

In den Fußnoten findet sich ein Werk<br />

von Max Weber, aus dem Jahr 2003. Außerdem<br />

werden dort Michael Jackson,<br />

Slobodan Milošević, der US-Pornostar<br />

Ron Jeremy und ein Autor namens A.S.<br />

Hole als Quellen angeführt. Ein Insiderwitz<br />

findet sich in Fußnote 20. Hier verweist<br />

Ðurić auf Alan Sokal, einen amerikanischen<br />

Physiker, der im Jahr 1996 mit<br />

einem ähnlichen Artikel die mangelnde<br />

Qualitätskontrolle in den Sozial- und<br />

Geisteswissenschaften kritisierte.<br />

Über den Text setzte Ðurić drei Fotos,<br />

sie zeigen ihn und zwei Mitautoren. Ðurić<br />

posiert mit angeklebtem Schnauzer, einer<br />

seiner Kollegen trägt eine Pe -<br />

rücke, die aus den siebziger<br />

Jahren stammen könnte, als der<br />

Afrolook in Mode war.<br />

Am nächsten Abend schickte<br />

Ðurić den Text ab, per E-Mail.<br />

Am Morgen darauf erhielt er,<br />

ebenfalls per E-Mail, die Antwort<br />

des Herausgebers. Der<br />

Text genüge den Qualitätskriterien<br />

der Zeitschrift und werde<br />

veröffentlicht, sobald 290 Euro<br />

überwiesen worden seien.<br />

Der Text fand seinen Platz in<br />

der Ausgabe 6/2013, zusammen<br />

UWE BUSE / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

mit 69 weiteren Artikeln, und<br />

seit dem Tag der Veröffent -<br />

lichung ist Ðurićs Leben ein<br />

anderes. Serbische und rumä -<br />

nische Politiker beschäftigen<br />

sich mit dem Skandal. Ðurić ist<br />

berühmt. Und berüchtigt.<br />

Kollegen loben ihn. Und verfluchen<br />

ihn. Manche haben sich<br />

in den vergangenen Wochen erkundigt,<br />

voller Panik, ob ihre<br />

Veröffentlichungen in „Metalurgia<br />

International“ getilgt werden<br />

können, irgendwie. „Da kann ich<br />

natürlich nicht helfen“, sagt Ðurić, „und<br />

will es auch nicht.“<br />

Die Website von „Metalurgia Inter -<br />

national“ existiert jetzt nicht mehr. Auf<br />

alle Fragen, die man an Professor Dok -<br />

tor Gheorghe Lepădatu in Rumänien<br />

richtet, nach seiner Publikationspraxis<br />

oder nach der Zukunft seines Geschäftsmodells,<br />

erhält man immer nur ein und<br />

dieselbe Antwort, per E-Mail. Die Ver -<br />

öffentlichung des Textes sei ein Fehler<br />

gewesen, aber nicht sein Fehler. Der<br />

Text sei von Unbekannten in die Datenbank<br />

geschmuggelt worden. Ob er weiter -<br />

publizieren will, schreibt der Professor<br />

nicht.<br />

Uwe Buse<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3 61


P R O T E S T E<br />

Die Waldverbesserer<br />

Und wieder trifft im Südwesten Deutschlands ein gutgemeintes Staatsprojekt<br />

auf sturen Widerstand von Bürgern. Diesmal ist es der grün-rote<br />

Regierungsplan eines Nationalparks im Nordschwarzwald. Von Alexander Smoltczyk


Gesellschaft<br />

FOTOS: MARIA IRL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Eng und düster ragen die Fichten<br />

drüben, jenseits des Wiesengrunds,<br />

frühe Nebelfetzen in den Wipfeln,<br />

heimatverheißend – Andreas Fischer<br />

schaut nicht hin.<br />

Er weiß, wie sein Wald sich anfühlt. Wie<br />

er jeden Morgen etwas anders riecht und<br />

rauscht. Tut dem Wald kein Leid, er ist<br />

der Heimat liebstes Kleid, genau so ist es,<br />

und deswegen hat sich Andreas Fischer<br />

vier Flachbildschirme neben die Aussicht<br />

gestellt. Breit nebeneinander im leichten<br />

Rund, wie ein zweiter Horizont. Hier oben<br />

ist sein Büro, seine Schaltzentrale. Sein<br />

„War Room“. Denn Andreas Fischer, IT-<br />

Berater aus Hundsbach, Gemarkung Forbach<br />

im Tal der Murg, führt einen Kampf.<br />

Seit anderthalb Jahren, und notfalls auch<br />

noch länger. Er hat Zeit. Wie der Wald.<br />

Und um dessen Zukunft geht es.<br />

Jenseits des Hundsbacher Fichtenwalds,<br />

in Mitteltal, Gemeinde Baiersbronn,<br />

wohnt Alexander Bonde. Ein<br />

Nachbar von Andreas Fischer. Eigentlich.<br />

Aber Alexander Bonde ist inzwischen<br />

Minister im fernen Stuttgart. Auch er hat<br />

seinen Sitz auf einem Hügel, sein Büro<br />

mit schöner Aussicht. Bonde schaut hin -<br />

unter zum Hauptbahnhof, genau auf die<br />

Baustelle von Stuttgart 21. Auf jenes Projekt,<br />

dem der grüne „Minister für Länd -<br />

lichen Raum und Verbraucherschutz“<br />

nicht zuletzt diesen Schreibtisch verdankt.<br />

Bonde ist ein rundlicher Zeitgenosse,<br />

der sich eine Kuckucksuhr – in minimalistischem<br />

Design – ins Büro gehängt hat,<br />

gewöhnlich Winzerfeste besucht und gern<br />

eine Lodenjacke trägt.<br />

Für Andreas Fischer ist dieser Mann<br />

im Loden in Wahrheit ein ideologie -<br />

getriebener Öko-Diktator. Umgekehrt, so<br />

der Minister, handle es sich bei Fischer<br />

um einen gefährlichen Demagogen mit<br />

trübem Hintergrund. Gemeinsam ist beiden<br />

Herren eine gewisse Liebe zum Wald.<br />

Genauer: zum Schwarzwald. Jenem<br />

wilden Südwesten Deutschlands, durch<br />

den keine Autobahn führt, sondern meist<br />

enge, in das Nadeldickicht gekerbte Straßen,<br />

die unter Holztransportern beben.<br />

Granit und Buntsandstein, Höllental und<br />

Wutachschlucht, ein Landstrich, der an<br />

Klischees so reich ist wie an Mythen.<br />

Am 23. Oktober stand Minister Bonde<br />

vor dem Landtag von Baden-Württemberg.<br />

Zur ersten Lesung aufgerufen war der<br />

Gesetzentwurf für die Einrichtung eines<br />

Nationalparks Schwarzwald. Insgesamt<br />

10000 Hektar, das sind zehn mal zehn Kilo -<br />

meter, 0,7 Prozent des Landesforstes, sollen<br />

zurück an die Natur gegeben werden.<br />

Bonde redete über den Dreizehenspecht,<br />

den Gartenrotschwanz und den<br />

Tannenstachelbart-Pilz. Man spürte, er<br />

war nervöser als sonst. Er sprach über<br />

Bürgerbeteiligung und Pufferstreifen<br />

gegen Käferschwarm, zum Schutz der<br />

angrenzenden Privatforste. Er erwähnte<br />

auch Leute wie Andreas Fischer, Skep -<br />

tiker und Parkgegner in den Anrainergemeinden.<br />

Zum Schluss hob er die Stimme:<br />

„Es geht um ihn“, rief er in den Landtag<br />

und zog dabei ein Schwarzweißfoto hervor.<br />

Man sah zwei aufgerissene, erschrockene<br />

Augen, dazwischen einen Schnabel –<br />

„Es geht um ihn, den Sperlingskauz.“<br />

Ganz gewiss geht es nicht um eine<br />

Atommülldeponie. Oder um Braunkohle -<br />

tagebau an der Hornisgrinde. Dennoch<br />

hat das Projekt eines Nationalparks im<br />

Nordschwarzwald, nahezu unbeachtet<br />

vom Rest der Republik, zu einem Kulturkampf<br />

geführt. Zu Protesten und Widerstand<br />

gegen ein Naturschutzgroßprojekt,<br />

das von manchen in den Tälern zwischen<br />

Oberkirch und Baiersbronn als grüne Bevormundung<br />

empfunden wird.<br />

Urwald oder Nutzwald? Wenn es so<br />

einfach wäre. Und weil es stets um mehr<br />

als Bäume geht, wenn der Deutsche vom<br />

Wald redet, ist der Protest keineswegs<br />

idyllisch, sondern durchaus finster und<br />

manchmal eng.<br />

Da werden einem Parkbefürworter die<br />

Autoreifen zerstochen. Da grüßt man sich<br />

Transparent im Nordschwarzwald<br />

„Judas! Drecksau!“<br />

nicht mehr im Verein. Da wird übel nachgeredet,<br />

gedroht, gemobbt. Der Riss geht<br />

oft durch die Familien. An den Ortseinfahrten<br />

stehen Transparente, das Wort<br />

„Nationalpark“ unter rotem Verbotsbalken,<br />

genau wie die Plakate damals gegen<br />

Stuttgart 21. Nur in Grün.<br />

Als Ministerpräsident Winfried Kretschmann<br />

das Projekt in Bad Wildbad erklären<br />

wollte, sangen die Leute aus Protest:<br />

„Oh Schwarzwald, meine Heimat“, und<br />

einer brüllte: „Judas! Drecksau!“<br />

Aus Scham über seine Bürger trat ein<br />

Gemeinderat zurück. Woher nur diese<br />

Wut? Ein Revierförster aus Alpirsbach<br />

hat sogar einen Krimi geschrieben,<br />

„Mordschwarzwald“. Darin wird geschildert,<br />

wie einem Politiker eine tote Katze<br />

an die Haustür gehängt wird, bevor er<br />

selbst, gekidnappt und in einen Sack gesteckt,<br />

am Mammutbaum gehisst wird.<br />

Der Politiker ist Grüner und kommt aus<br />

Baiersbronn.<br />

Ja, der Bonde … Ob der wohl weiter<br />

hier seinen Lebensmittelpunkt haben<br />

will? Das fragt sich Andreas Fischer, oben<br />

in Hundsbach am Fichtenwald, in seinem<br />

mit Bildschirmen, Whiteboards und Jagdtrophäen<br />

vollgestellten Hauptquartier.<br />

Was er noch sagt, möchte er nicht gedruckt<br />

sehen.<br />

Andreas Fischer ist der Stratege des<br />

Widerstands gegen den Nationalpark.<br />

Sein Verein „Unser Nordschwarzwald“<br />

fürchtet, dass der Wald bald wie ein<br />

Friedhof aussehen könnte, gespickt mit<br />

grauen Fichtenleichen, weil der Borkenkäfer<br />

letztlich als Einziger von der neuen<br />

Wildnis profitieren würde.<br />

Fischer liebt sein Stück Wald und die<br />

Jagd. Aber vor allem liebt er es, der Regierung<br />

im fernen Stuttgart aufzulauern.<br />

Er hat es geschafft, eine weitverbreitete<br />

Skepsis politikfähig zu machen. Die Idee<br />

mit den Transparenten kam von ihm.<br />

Und er lud den früheren ZDF-Mann<br />

Alex ander Niemetz ein, um vom „Tugendterror“<br />

und der „grünen Bevormundungsdiktatur“<br />

zu reden. Das kam an.<br />

Denn darum ging es doch, oder?<br />

Fischer sammelt neben Jagdbüsten<br />

auch Memorabilia aus der Frühzeit des<br />

Computers. Er ist kein Schrat, und er ist<br />

leicht zu unterschätzen, weil seine Waffen<br />

Worte sind. Aber sie sind scharf: „Aus<br />

uns Laborratten machen“, „Öko-Kolonialismus“,<br />

„Ihr Käferlein kommet“. All die<br />

Parolen, die später von Waldbauern auf<br />

Traktoren herumgefahren wurden. Genau<br />

die Worte, von denen er wusste, dass sie<br />

den neuen, bürgerbewegten Herren in<br />

Stuttgart in der Seele weh tun würden<br />

und ganz besonders ihrem Minister, dem<br />

Herrn Bonde.<br />

„Dass es nicht mit Hurra durchläuft,<br />

hatten wir erwartet“, sagt, in Stuttgart,<br />

der Minister Alexander Bonde. Aber was<br />

da aus der Tiefe des ländlichen Raums<br />

kam, hat ihn doch überrascht.<br />

Künftige Nationalparks haben es an<br />

sich, eher abseits der urbanen Gebiete zu<br />

liegen. Sie werden dort geplant, wo neben<br />

dem Dreizehenspecht auch andere<br />

Modernisierungsverlierer nisten, wie in<br />

den schwärzesten Winkeln des Schwarzwalds.<br />

Plötzlich erinnerte man sich wieder,<br />

wie in Baiersbronn einmal ein geplantes<br />

Asylbewerberheim abbrannte.<br />

Die Täter wurden nie gefunden. Wenn<br />

der Wald die Seele der Deutschen ist,<br />

dann ist der nördliche Schwarzwald<br />

gewiss nicht deren aufgeklärteste Seite.<br />

Dass in Stuttgart plötzlich die Grünen<br />

herrschen, wird hier als widernatürlich<br />

empfunden. Da gibt es noch eine „Murgschifferschaft“<br />

der Waldbesitzer, ein<br />

Relikt aus der Holzflößerzeit, verfasst<br />

nach altdeutschem Recht. Aber sie ist<br />

sehr lebendig – und Andreas Fischer sitzt<br />

im Verwaltungsrat.<br />

Als Alexander Bonde sein Minister -<br />

büro erstmals betrat, im März 2011, fand<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 63


er den „Suchraum“ für einen Nationalpark<br />

bereits vor: zwei Flächen von ins -<br />

gesamt 10000 Hektar. Das Projekt war<br />

schon in den Neunzigern von dem damaligen<br />

CDU-Minister betrieben, dann unter<br />

dem Druck der Murgschiffer, Großsäger,<br />

Waldbesitzer vertagt worden.<br />

Inzwischen hat die Bundesregierung beschlossen,<br />

dass fünf Prozent der deutschen<br />

Waldfläche ausgewildert werden sollen.<br />

Deutschland habe die Uno-Konvention<br />

zur Biodiversität unterschrieben, sagt<br />

Bonde, und: „Wir als reiche Exportnation<br />

können nicht von Brasilien verlangen,<br />

25 Prozent seines Regenwalds in Ruhe zu<br />

lassen, und selbst nicht mal 0,7 Prozent<br />

unseres Staatswalds der Artenvielfalt widmen.<br />

Wir stehen unter Beobachtung.“<br />

Ganz zu schweigen von den<br />

Erwartungen der Naturschutzlobby,<br />

von Nabu bis Greenpeace.<br />

Das waren die eigenen<br />

Leute. Die Regierung Kretschmann<br />

hat den Nationalpark im<br />

Koalitionsvertrag stehen. Sie<br />

wollte ihn. Aber keinesfalls<br />

durfte ein Geschmäckle von<br />

Arroganz der Macht aufkommen.<br />

Denn so war der CDU-<br />

Staat von Filbinger, Späth,<br />

Teufel und Mappus zusammengestürzt,<br />

unter Pfiffen der<br />

Bürger und Schmähplakaten.<br />

Die grün-rote Landesre -<br />

gierung versprach den Dialog.<br />

Im Sinne seines Vorbilds, der<br />

Philosophin Hannah Arendt,<br />

gab Kretschmann als Maxime<br />

aus: „Die Bürger werden gehört,<br />

aber nicht erhört.“<br />

Wohl selten zuvor in der<br />

Bundesrepublik wurde ein<br />

relativ einsichtiges Gesetzesvorhaben<br />

mit so viel Pedan -<br />

terie vorbereitet. Aber schließlich<br />

ging es um den Wald. Und<br />

nichts treibt den Deutschen so<br />

schnell auf die Barrikaden wie<br />

die Sorge um Bäume.<br />

Minister Bonde engagierte<br />

von der Uni Stuttgart einen<br />

Professor für Dialogik, um die Bürgerbeteiligung<br />

nach wissenschaftlichen Methoden<br />

zu organisieren. Mit einem „Cluster<br />

Forst und Holz“ und dem „Regionalen Arbeitskreis<br />

Auerhuhn“. Mit Risikoanalysen<br />

und Handlungskorridoren, mit vier Modulen,<br />

in denen die Gemeinden, Verbände,<br />

Förster, Naturschützer und Hoteliers saßen.<br />

Die Ergebnisse wurden gebündelt, zurückgespiegelt,<br />

abgeglichen, aufgenommen.<br />

Der Bürger bekam Broschüren, Kritikformulare,<br />

ein Forum im Internet zur<br />

Verfügung gestellt. Die „Arbeitsgruppe<br />

Raufußhühner“ wurde ebenso gehört wie<br />

der Spitzenkoch vom Schwarzwaldhof<br />

und der Kleinsäger aus Hinterseebach.<br />

Das abschließende Gesamtgutachten<br />

von PricewaterhouseCoopers hat 1200<br />

64<br />

Gesellschaft<br />

Seiten und kommt zu dem erwarteten Ergebnis:<br />

„Soll in Baden-Württemberg großflächiger<br />

und ungestörter Prozessschutz<br />

ermöglicht werden, gibt es keine naturschutzfachlichen<br />

Alternativen.“<br />

Doch als Ministerpräsident Kretschmann<br />

mit seinem Minister Bonde nach<br />

Bad Wildbad kam, um den Bürgern das<br />

Ergebnis ihrer Beteiligung zu erläutern –<br />

live ins Netz übertragen –, da sahen sie<br />

schon von weitem diese Sätze: „Demokratie<br />

im Klammergriff“, „Ihr Käferlein<br />

kommet“, „Kein Naturghetto für Wochenend-Ökos“.<br />

Den Ton kannten sie. An -<br />

dreas Fischer und sein Verein waren offensichtlich<br />

nicht überzeugt.<br />

„Wir haben wirklich alles gemacht“,<br />

sagt Bonde. „Alle Argumente sind auf<br />

Nationalpark-Kontrahenten*: Arbeitsgruppe Raufußhühner<br />

den Tisch gekommen. Aber es gibt kein<br />

kommunales Veto. Der Wald gehört allen<br />

Baden-Württembergern. Außerdem …“,<br />

und da wird er von seiner Kuckucksuhr<br />

unterbrochen, „noch jeder Wald-Nationalpark<br />

war anfangs heftig umstritten.<br />

Dafür geht es uns noch ziemlich gut.“<br />

In sieben umliegenden Gemeinden haben<br />

sich die Bürger mehrheitlich gegen<br />

das Projekt ausgesprochen.<br />

In Baiersbronn waren es 78 Prozent.<br />

Doch vier der sieben direkt vom Park betroffenen<br />

Gemeinderäte haben dafürgestimmt,<br />

ebenso drei Stadt- und Landkreise,<br />

egal von welcher Partei sie geleitet<br />

* Parkbefürworterin Friederike Schneider, Minister Alex -<br />

ander Bonde, Parkgegner Wolfgang Tzschupke.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

werden. Eine Forsa-Umfrage vom August<br />

gibt an, dass gut zwei Drittel der Befragten<br />

in Region und Land nichts gegen den<br />

Nationalpark haben.<br />

Aber Demokratie ist nicht nur Mathematik.<br />

Im Gemeinderat von Freudenstadt<br />

führt Wolfgang Tzschupke die Fraktion<br />

der Freien Wähler. Er ist Forstprofessor<br />

im Ruhestand, ein Herr mit sorgfältig<br />

gestutztem Moustache, und er ist zutiefst<br />

gegen den Nationalpark: „Es bringt dem<br />

Naturschutz nichts und der Regionalwirtschaft<br />

auch nichts.“<br />

Vor ihm liegt das Gutachten, markiert<br />

mit gelben Post-it-Zeichen. Er sei „mehr<br />

der Planungstyp“, sagt Tzschupke, der<br />

Parkgegner. Trotzdem, oder gerade deswegen,<br />

ist ihm die Selbstgewissheit der<br />

Planer in Stuttgart suspekt:<br />

„Wer weiß, ob wirklich so viele<br />

Besucher noch kommen, wenn<br />

erst mal der Borkenkäfer massenhaft<br />

die Bäume tötet.“<br />

Alle reden immer von 0,7<br />

Prozent. Aber für die Gemeinde<br />

Baiersbronn ist das ein<br />

Drittel ihrer Waldfläche. Da<br />

fühlen sich die Leute klein -<br />

geredet. Und fürchten noch<br />

mehr Behörden, noch mehr<br />

Auflagen und Verbote.<br />

Nein, es gehe nicht um<br />

Gefühle. Es gehe um das, was<br />

Tzschupke „Sachargumente“<br />

nennt. Er redet von Käferschwarm,<br />

Schalenwildbestand<br />

und fichtendominierten Jungwüchsen.<br />

„Ist es klug, Wald<br />

aus der Nutzung zu nehmen,<br />

wenn wir nachwachsende Ressourcen<br />

brauchen? Artenvielfalt<br />

gibt es auch bei naturnah<br />

bewirtschafteten Wäldern.“ Es<br />

ist dem Forstwissenschaftler<br />

a. D. fast physisch unangenehm,<br />

wenn 10 000 Hektar<br />

Wald einfach so her umliegen.<br />

Wer ihm zuhört, denkt an den<br />

Satz von Robert Musil: „Ein<br />

deutscher Wald macht so etwas<br />

nicht.“<br />

Das Gesetz soll in dieser Woche verabschiedet<br />

werden und wird voraussichtlich<br />

zu Jahresbeginn in Kraft treten. Es<br />

gibt eine Übergangsfrist von 30 Jahren,<br />

damit die Holzwirtschaft sich umstellen<br />

kann. Die 27000 Festmeter Einbuße im<br />

Jahr sind nur ein Bruchteil des Einschlags<br />

von 8,5 Millionen in Baden-Württemberg.<br />

Für Tzschupke eine typisch grüne<br />

Rechnung, wie sie nur Amateuren einfällt,<br />

falschen Freunden des Waldes: „Die<br />

Holzqualität, die wir im geplanten Nationalpark<br />

haben, die kann man nicht einfach<br />

anderswoher schaffen. Die kleinen<br />

Sägen brauchen diesen Rohstoff.“<br />

Heuchelei sei dieser ganze Bürgerdialog,<br />

die Zugeständnisse ein Ablasshandel,<br />

um den Dogmatismus zu verbergen: „Es


Schwarzwald-Aussichtsplattform am Kniebis: Märchenkulisse mit Borkenkäfer<br />

FOTOS: MARIA IRL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

war von vornherein alles entschieden.<br />

Das ist meine frustrierende Erfahrung“,<br />

sagt Tzschupke, und mit einem Mal passen<br />

Ton und Bild nicht mehr zusammen,<br />

dem älteren Herrn entfährt der Satz: „Solange<br />

etwas gesittet abläuft, hat man keine<br />

großen Chancen. Bei Stuttgart 21 gab’s<br />

den Runden Tisch erst nach der Eskala -<br />

tion.“ Es gibt ihn selbst in Baiersbronn,<br />

den diskreten Reiz des schwarzen Blocks.<br />

Nun ist der Nordschwarzwald, bei aller<br />

Wild- und Finsternis, kein Grand Canyon<br />

und kein Yosemite-Park, sondern eine<br />

Kulturlandschaft, seit über 500 Jahren<br />

beweidet, abgeholzt, aufgeforstet, von<br />

Silberstollen durchzogen, die Bäche mit<br />

Wehren und Becken nutzbar gemacht<br />

zum Flößen, Sägen, Fliegenfischen.<br />

Wo ursprünglich Weißtannen und Buchen<br />

standen, steht jetzt zu 70 Prozent<br />

Fichtenwald. Einen Originalzustand wiederherzustellen,<br />

ohne künstlich nachzuhelfen,<br />

würde Jahrhunderte dauern. Und<br />

wer hat schon so viel Zeit?<br />

Wolfgang Schlund. Der Wald- und Wiesenbiologe<br />

ist Leiter des Naturschutzzentrums<br />

auf dem Ruhestein, oberhalb von<br />

Baiersbronn. Einer der leidenschaftlichen<br />

Betreiber des Projekts, mit guten Aussichten,<br />

Leiter des Nationalparks zu werden.<br />

Schlund zwängt sich, offenkundig unbeeindruckt<br />

vom Regen, der in Schnüren<br />

fällt, durch das, was am ehesten einen<br />

Vorgeschmack auf „Prozessschutz“ und<br />

„Biodiversität“ gibt – den „Bannwald“<br />

um den Wilden See, an der Hornisgrinde.<br />

Vor gut hundert Jahren hat ihn die Königlich-Württembergische<br />

Forstdirektion<br />

zum Totalreservat erklärt. „Wo die Bäume<br />

noch wachsen dürfen, wie die Natur<br />

sie zwingt, aufrecht bis ins höchste Alter,<br />

dann zusammengebrochen, langsam sich<br />

auflösend, neuen Boden schaffend für ein<br />

neues Geschlecht.“ So sah es Forstmeister<br />

Otto Feucht 1922.<br />

Es ist eine Märchenkulisse draus geworden.<br />

Meterweit geht es glitschig über knotige<br />

Flachwurzeln und hartes Sandsteingeklippe,<br />

alles trieft und braust und plätschert,<br />

und doch rauscht in den Ohren nur das eigene<br />

Blut, so still und verlassen ist es hier.<br />

Einzelne Urstämme, deren Kronen sich im<br />

FRANKREICH<br />

Oberkirch<br />

Straßburg<br />

A5<br />

Karlsruhe<br />

geplanter Bad<br />

Nationalpark Wildbad<br />

Forbach<br />

Wilder See<br />

milchigen Dunst auflösen, Heidelbeerkraut,<br />

Flechten, welker Farn. Schlund erzählt vom<br />

Krummzähnigen Tannenborkenkäfer, von<br />

den 260 Arten, die in so einem Totholz-<br />

Strunk leben. Wolfgang Schlund denkt<br />

nicht in Fristen von 10 oder 20 Jahren. Er<br />

will, dass die Menschen auch im Jahr 2513<br />

noch wilden Wald erleben können.<br />

„Unsere Wälder“, sagt er, „sind allgemein<br />

zu jung. Wir brauchen ein Mosaik<br />

unterschiedlichster Stadien, von frischem<br />

Grün bis Totholz. Dazu reichen keine<br />

kleinen, weitverteilten Schutzgebiete.<br />

Wir brauchen die große Fläche.“ Und nur<br />

im nördlichen Schwarzwald gibt es noch<br />

genügend unzersiedelten Staatswald, um<br />

einen Nationalpark überhaupt möglich<br />

zu machen. Eine einmalige Chance.<br />

Die Projektgegner sagen, ein „Biosphärenreservat“<br />

oder ein „Naturpark“ hätte<br />

es auch getan. Da sind die Schutzvorschriften<br />

nicht ganz so streng, Tourismus<br />

und Forstwirtschaft könnten weitermachen<br />

wie bisher. Aber darum gehe es ja,<br />

sagt Schlund: nicht so weiterzumachen<br />

wie bisher. Ein Naturpark soll eine Kulturlandschaft<br />

schützen. Ein Nationalpark<br />

dagegen will einen möglichst ungestörten<br />

Ablauf der Naturvorgänge. Aber im<br />

Grunde will er gar nichts wollen, sondern<br />

Natur Natur sein lassen.<br />

Die Fläche gehört sowieso dem Land,<br />

niemand wird enteignet. „Die Leute kön-<br />

Hundsbach<br />

Baiersbronn<br />

Mitteltal<br />

A8<br />

A81<br />

Stuttgart<br />

20 km<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 65


Gesellschaft<br />

nen weiterhin ihre Pilze sammeln und im<br />

Winter mit Schneeschuhen wandern“,<br />

sagt Schlund. Er hat das in über 160 Veranstaltungen<br />

den Bürgern erklärt, wieder<br />

und wieder. Woher dann diese Angst?<br />

„Ich kann verstehen, dass es manchem<br />

in der Seele weh tut, wenn so ein Stamm<br />

verrottet. Den will er holen.“<br />

Schlund versteht das Unwohlsein<br />

von manchem, wenn es „Wildtiermanage -<br />

ment“ heißt und nicht mehr „Jagd“. Es<br />

gibt ein Misstrauen gegenüber den<br />

studierten „Käferzählern“ aus Stuttgart.<br />

Da ist eine Widerborstigkeit gegenüber<br />

Eingriffen im Allgemeinen und einem<br />

gefühlten neuen Filz im Besonderen,<br />

aus Naturschutzverbänden, Grünen,<br />

Öko wissenschaftlern, Medien, der mächtiger<br />

und dichter zu werden<br />

scheint.<br />

„Wir haben vielleicht den<br />

Fehler gemacht, nicht deutlich<br />

genug zu sagen, dass es nicht<br />

um das Ob, sondern um das<br />

Wie geht. Über das Ob wird<br />

im Landtag entschieden. Wer<br />

in der Region mitmachen will,<br />

ist herzlich eingeladen.“<br />

Schlund zeigt auf einen grau<br />

aufragenden, astlosen Schaft,<br />

ein vom Käfer hingerafftes<br />

Fichtenskelett. „Aber wer hier<br />

lebt, der fragt nicht, ob ihm<br />

ein Waldbild gefällt oder nicht.<br />

Der will den Winter überstehen.<br />

Der lebt davon.“<br />

Es ist die Assel, von der<br />

Schlund spricht. Zum Beispiel.<br />

Er meint die Käfer, die Würmer<br />

und Pilzarten, die ganz<br />

andere Auffassungen von erfülltem<br />

Leben im Wald haben<br />

als Jäger und Waldbauern und<br />

die Holzwirte der Murgschifferschaft.<br />

Es ist kaum ein größerer<br />

Unterschied zu Wolfgang<br />

Tzschupke denkbar. Tzschupke gehört zur<br />

alten Schule der Forstwissenschaft. Für<br />

ihn ist der Borkenkäfer auch nach noch<br />

so viel Bürgerbeteiligung kein „Transformationsagent“<br />

wie für Schlund, sondern<br />

ein Schädling, der alles niederfrisst, wenn<br />

ihm nicht Einhalt geboten wird. Das sind<br />

zwei Konzepte, von Wald und von Welt.<br />

Mitten durch den künftigen Park geht<br />

eine alte Grenze, man findet die Mar -<br />

kierungssteine noch, zugewuchert im<br />

Bannwald. Es ist die Grenze zwischen<br />

Baden und Württemberg. Eine kulturelle<br />

Wasserscheide. Westlich liegt Baden, mit<br />

Tälern, die offen in die Rheinebene auslaufen.<br />

Das Gebiet östlich, mit seinen<br />

schluchtenartigen Tälern, ist „Pietcong“-<br />

Terrain, im Zuständigkeitsbereich der<br />

württembergischen Landeskirche. Für<br />

die Evangelikalen ist ein Nationalpark<br />

schon aus Prinzip Sünde: „Den Nordschwarzwald<br />

dem freien Spiel der Kräfte<br />

66<br />

zu überlassen entspricht nicht dem biblischen<br />

Auftrag des Bebauens und Bewahrens<br />

der Schöpfung.“ So erklärte die<br />

Landtagsabgeordnete Sabine Kurtz, Vorsitzende<br />

des Evangelischen Arbeitskreises<br />

der Landes-CDU und Gattin eines<br />

Forstdirektors.<br />

Wo fängt Natur an, wie viel Eingriff<br />

verträgt sie, und welche Natur sucht die<br />

Klientel? All diese Fragen. In den Rathäusern<br />

wird gegrübelt, im Grenzbereich<br />

von Philosophie und Fremdenverkehr.<br />

Der Park wird kommen. Am Montag<br />

vergangener Woche hat Andreas Fischer,<br />

der Kopf des Widerstands, in Stuttgart<br />

mit der CDU-Opposition zusammen einen<br />

„Bürgernationalpark“ präsentiert.<br />

Eine Light-Version, sehr viel kleiner und,<br />

Schwarzwaldbewohner*: „Ihr Käferlein kommet“<br />

vor allem: unbeschränkt jagd- und abholzbar.<br />

Aber das ist politisches Totholz.<br />

„D’r Käs’ isch gesse“, sagt ein Bürgermeister,<br />

der eigentlich gegen den Park<br />

war. Selbst Projektgegner gestehen ein,<br />

dass erstmals wieder über die Zukunft<br />

des Nordschwarzwalds nachgedacht worden<br />

ist. Denn der ist keine blühende<br />

Landschaft. Die Sägemühlen stehen im<br />

Preiskampf mit internationalen Holzkonzernen.<br />

Viele Sägereien haben bereits<br />

geschlossen, die übrigen müssen sich ihr<br />

Ökotop noch suchen.<br />

Überall gehen die Übernachtungszahlen<br />

zurück. Der Schwarzwaldmädel-Tourismus,<br />

mit seinen „Haus Petra Garni“<br />

und altdeutsch beschrifteten Hotels, läuft<br />

nicht mehr. Das Gutachten rechnet mit<br />

drei Millionen Besuchern jährlich, die der<br />

* Dreizehenspecht, Tannenstachelbart-Pilz, Borken -<br />

käfer, Gartenrotschwanz.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Nationalpark anlocken könnte. Das ist<br />

optimistisch („methodisch falsche Berechnungen“,<br />

sagt Wolfgang Tzschupke).<br />

Dennoch gibt es wohl kaum eine Alternative,<br />

dieser Region einen Impuls zu<br />

verpassen. Ausgerechnet in Forbach, der<br />

Gemeinde des Parkkritikers Andreas Fischer,<br />

hat ein Investor entschieden, ein<br />

Naturparkhotel zu bauen, mit Baumhäusern,<br />

Erlebnispädagogik, Wipfelpfad. Er<br />

habe nur die erste Lesung, die Rede des<br />

Ministers, abgewartet.<br />

Oben auf dem Ruhestein läuft ein Holzweg<br />

dicht am Abhang, links fällt es steil<br />

ab, schmal zwischen den Fichten sieht<br />

man unter sich die Schwarzwaldhoch -<br />

straße. Nach vorn ist alles frei, das Grundgebirge<br />

bricht ab, der Horizont weitet sich<br />

über die Rheinebene bis zu den<br />

Vogesen. „In den Leuten steckt<br />

eine alte Angst, ihren Wald<br />

weggenommen zu bekommen.<br />

Von Fremden und studierten<br />

Städtern“, sagt Friederike<br />

Schneider. „Das ist in den Köpfen.<br />

Da kommt man nicht ran.“<br />

Ihre Familie lebt seit Generationen<br />

in der Gegend. Als<br />

sie klein war, wollte Friederike<br />

Schneider den Wald retten,<br />

weil damals alle vom Wald -<br />

sterben redeten. Jetzt studiert<br />

die 23-Jährige Forstwirtschaft,<br />

jobbt ehrenamtlich als Rangerin<br />

im Bannwald und hat sich<br />

auf einer Bürgerliste in den<br />

Gemeinderat von Baiersbronn<br />

wählen lassen. Manchmal, sagt<br />

sie, sei dieses gegenseitige<br />

Angiften in der Versammlung<br />

schwer zu ertragen gewesen:<br />

„Vielleicht liegt’s wirklich an<br />

den engen Tälern.“ Jetzt spüre<br />

sie nur noch eine Müdigkeit.<br />

Man spricht möglichst nicht<br />

mehr drüber. Weil es allen zu<br />

nah geht.<br />

In der Nacht hat es zum ersten Mal<br />

geschneit. „Ich liebe den Bannwald. Ich<br />

bin so dankbar, dass jemand vor hundert<br />

Jahren beschlossen hat, dieses Stück<br />

Wald in Ruhe zu lassen.“<br />

Die Sonne steht knapp unter den Wolken<br />

und beleuchtet die Rheinebene, es<br />

geht steil hinab, vorn das Grünschwarz<br />

des Waldes, darin wie angeknipst die letzten<br />

gelbroten Buchen, ganz hinten das<br />

Elsass. Man sieht das Straßburger Münster.<br />

Es ist schon verdammt schön. „Und<br />

dann denke ich“, sagt Schneider, „wie sie<br />

es uns danken werden, die Menschen in<br />

dreihundert Jahren.“<br />

Und um die, der Sperlingskauz möge<br />

verzeihen, geht es wirklich, zu guter Letzt.<br />

HARTL/OKAPIA (L.O.); MAURITIUS IMAGES (R.O.); MATTHIAS HIEKEL / DPA (L.U.); ARCO / IMAGO (R.U.)<br />

Video: Streit<br />

im Schwarzwald<br />

spiegel.de/app<strong>48</strong>2013schwarzwald<br />

oder in der App <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong>


THILO ROTHACKER FÜR DEN <strong>SPIEGEL</strong><br />

DE70200000000<br />

020001585<br />

HOMESTORY Warum ich mir nicht alles merken will,<br />

schon gar nicht eine 22-stellige Kontonummer<br />

In meinem Langzeitgedächtnis lagert jede Menge Kram, von<br />

dem ich nicht weiß, wie er dorthin gekommen ist: Die Hauptstadt<br />

von Französisch-Guayana heißt Cayenne, zum Beispiel.<br />

Ulmenholz wird auch „Rüster“ genannt. Pete Best war<br />

der erste Drummer der Beatles. Die millersche Zahl ist die Sieben,<br />

plus/minus zwei.<br />

Wissenschaftler sagen, dass man sich Dinge leichter merkt,<br />

wenn sie einen emotional berühren. Aber ich fand Ulmenholz<br />

nie aufregend, ich bin mir gar nicht sicher, wie eine Ulme überhaupt<br />

aussieht. Weshalb solche Fakten sich je festsetzen konnten<br />

oder was ich damit anfangen kann – keine Ahnung.<br />

Die millersche Zahl fiel mir neulich wieder ein, als ich der<br />

Hansestadt Hamburg zehn Euro fürs Falschparken per On -<br />

line-Banking überweisen wollte. Der Psychologe George A.<br />

Miller hat nämlich beschrieben, dass unser Kurzzeitgedächtnis<br />

sich gerade mal sieben Ziffern merken kann – manche Menschen<br />

schaffen neun, manche nur fünf. Das reicht, um eine<br />

Telefonnummer nachzuschlagen und zu wählen. Die Kontonummer<br />

der Bußgeldstelle aber hat 22 Stellen, 13 davon sind<br />

Nullen.<br />

Ich tippte Ziffer für Ziffer ab und stellte mir dabei meine 79-<br />

jährige Mutter vor.<br />

Hamburg hat bereits auf IBAN umgestellt, die neue Kontonummer,<br />

die ab Februar 2014 europaweit eingeführt wird. Auch<br />

meine Kontonummer wird dann 22 Stellen haben. Ich werde<br />

sie mir nicht merken. Fürs Kurzzeitgedächtnis ist sie viel zu<br />

lang, fürs Langzeitgedächtnis fehlt ihr das Emotionale.<br />

Sämtliche Speicherplätze sind im Übrigen auch schon belegt<br />

durch PINs, PUKs und Passwörter. Ich wünschte, ich könnte<br />

Französisch-Guayana löschen und Platz freischaufeln für IBAN.<br />

Die IBAN, International Bank Account Number, ist eine<br />

Idee der Europäischen Union und soll den Zahlungsverkehr in<br />

Europa vereinheitlichen und einfacher machen.<br />

Der Mensch soll maschinenlesbar<br />

sein. Gedacht<br />

war das mal umgekehrt.<br />

Jeder fünfte Deutsche ist älter als 64, viele füllen ihre Überweisungen<br />

von Hand aus. Sie werden sich über die Vereinfachung<br />

nicht freuen. Einfacher wird es in Wahrheit ja auch nur<br />

für die Maschine, die den Überweisungsträger bearbeitet. So<br />

wie der Fahrkartenautomat nicht das Leben der Kunden erleichtert,<br />

sondern das der Bahn. Die Rechenanlagen lagern<br />

hässliche Arbeit einfach aus, der Mensch muss maschinenlesbar<br />

werden. Gedacht war das mal umgekehrt.<br />

Auf IBAN, die Schreckliche, einigte sich die EU im Jahr<br />

2012. Ich habe das damals wohl gelesen, die Nachricht schaffte<br />

es aber nie ins Langzeitgedächtnis. „Aus dieser Nummer kommen<br />

Sie nicht raus“, schreibt nun die Bundesbank auf ihrer<br />

Website. Jetzt also sitze ich da, verheddere mich in den Nullen,<br />

habe meine Mutter im Kopf, wie sie den Klempner bezahlt,<br />

und denke: „Was soll der Scheiß?“<br />

Viele Sparkassen und Banken haben eine Hotline, um genau<br />

diese Frage zu beantworten. Man sollte sie nur etwas höflicher<br />

formulieren. Also, Anruf bei der Bundesbank: „Weshalb muss<br />

ich mir künftig 22 Stellen merken, um noch an mein Konto zu<br />

kommen?“<br />

Antwort: Wenn ich demnächst Geld nach Frankreich oder<br />

Portugal überweise, ist es schon am nächsten Geschäftstag da.<br />

Ein schöner Gedanke.<br />

Aber in Deutschland werden jeden Tag etwa 60 Millionen<br />

Überweisungen und Lastschriften ausgeführt, davon gehen<br />

etwa 300000 ins Ausland. Das heißt: Auf 59,7 Millionen Überweisungen<br />

steht dann eine 22-stellige Nummer, die kein Mensch<br />

braucht. Jeden Tag. „Aber“, sagt der Mann von der Bundesbank,<br />

„die Überweisungen ins Ausland sind damit billiger.“<br />

Bisher haben die Sender-Bank und die Empfänger-Bank ordentlich<br />

Gebühren kassiert. Mit IBAN zahlt der Kunde nur so<br />

viel, wie eine innerdeutsche Überweisung kosten würde. Die<br />

EU schützt mich also vor Abzocke.<br />

Das klingt großartig. Andererseits: Die EU schützt mich mittlerweile<br />

auch vor Abzocke bei den Roaming-Gebühren, wenn<br />

ich im Ausland mit dem Handy telefoniere (was übrigens häufiger<br />

vorkommt, als dass ich Geld nach Lettland schicke). Und<br />

die Roaming-Gebühren konnte die EU begrenzen, ohne dass<br />

ich im Gegenzug eine 22-stellige Telefonnummer kriege. War -<br />

um geht das bei Konten nicht?<br />

Dank George A. Miller weiß ich, dass ich nicht blöd bin,<br />

wenn ich mir meine Kontonummer nicht merke – die millersche<br />

Zahl gilt auch für klügere Köpfe. Neun Ziffern maximal, dann<br />

ist Schluss. Der Ausweg: Ich müsste eine emotionale Bindung<br />

zu meiner Kontonummer aufbauen, dann fällt das Merken ja<br />

leichter. Ich muss IBAN lieben lernen. So werde ich es auch<br />

meiner Mutter erklären. Und dann überweise ich Geld nach<br />

Spanien, Tschechien und Lettland. Weil es so einfach ist.<br />

Europa wird künftig noch einiger, sogar über die EU hinaus.<br />

Auch Norwegen macht mit, außerdem Monaco, Liechtenstein<br />

und die Schweiz. Nur: Wer überweist schon Geld nach Monaco,<br />

Liechtenstein und in die Schweiz? Das bringt man doch im<br />

Kofferraum rüber.<br />

ANSBERT KNEIP<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 67


Trends<br />

Ramsauer<br />

INFRASTRUKTUR<br />

Sparen an Straße und Schiene<br />

WERNER SCHUERING<br />

Bundesverkehrsminister Peter Ram s -<br />

auer inszeniert sich gern als Hüter<br />

von Straßen, Schienen und Wasser -<br />

wegen. Doch in der entscheidenden<br />

Phase der Koalitionsverhandlungen<br />

entpuppte er sich als Bremser. Ursprünglich<br />

war sich die Arbeitsgruppe<br />

Verkehr aus Vertretern von Union<br />

und SPD einig, für die neue Legis la -<br />

tur periode zusätzlich elf Milliarden<br />

Euro für den Erhalt der Infrastruktur<br />

zu fordern. Selbst dieser Betrag ist eigentlich<br />

zu niedrig, da der Bund pro<br />

Jahr mindestens vier Milliarden Euro<br />

zusätzlich ausgeben müsste, um das<br />

System halbwegs in Schuss zu halten.<br />

Bis 2017 wären das 16 Milliarden Euro.<br />

Doch beim abschließenden Treffen<br />

in der vergangenen Woche weigerte<br />

sich Ramsauer nach Angaben von<br />

Teilnehmern sogar, den bescheidenen<br />

Betrag von elf zusätzlichen Milliarden<br />

schriftlich zu fixieren. Man könne<br />

nicht so unrealistische Forderungen<br />

stellen, soll der CSU-Mann argumentiert<br />

haben. Im Endbericht der Arbeitsgruppe<br />

steht nun nur noch der<br />

wachsweiche Satz: „Deshalb werden<br />

wir … deutlich erhöhte zusätz liche<br />

Haushaltsmittel bereitstellen.“ Ein Beteiligter<br />

sagt: „Die Infrastruktur fällt<br />

wohl mal wieder hinten runter.“ Das<br />

Verkehrsministerium weist den Vorwurf<br />

zurück. Ramsauer habe sich immer<br />

wieder für mehr Investitionen<br />

eingesetzt.<br />

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF<br />

70<br />

ZAHL <strong>DER</strong> WOCHE<br />

10Cent<br />

statt derzeit sechs Cent pro Kilowattstunde<br />

würde die Umlage für erneuerbare<br />

Energien im Jahr 2020 nach<br />

Berechnungen des Bundesumwelt -<br />

ministeriums betragen, wenn der<br />

Ökostrom-Ausbau<br />

im gleichen Tempo<br />

weiterläuft. Ein<br />

durchschnittlicher<br />

Dreipersonenhaushalt<br />

müsste für<br />

Strom dann statt<br />

gut 80 fast<br />

100 Euro im Monat<br />

zahlen.<br />

V E R K E H R<br />

Bombardier-Chef<br />

verprellt Bahn<br />

Der neue Chef der Bombardier-Zug -<br />

sparte, Lutz Bertling, 51, brüskiert<br />

kurz nach seinem Einstieg bei dem kanadischen<br />

Konzern schon einen seiner<br />

wichtigsten Abnehmer: die Deutsche<br />

Bahn. Anfang November hatte der<br />

ehemalige EADS-Manager erklärt, er<br />

wolle den seit Jahren andauernden<br />

Rechtsstreit mit dem Bundesunternehmen<br />

wegen diverser Qualitäts- und<br />

Liefermängel so schnell wie möglich<br />

außergerichtlich beilegen. Darüber<br />

habe er bereits mit Bahn-Chef Rüdiger<br />

Grube, den er noch aus EADS-Zeiten<br />

kenne, gesprochen. Beide Seiten, so<br />

wird Bertling zitiert, strebten „eine<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

neue Partnerschaft an“ und wollten<br />

„den Streit“ zügig „bereinigen“. In<br />

Berlin weiß man allerdings nichts<br />

davon. Man sei von einer Einigung<br />

„meilenweit entfernt“, heißt es bei der<br />

Bahn. Bislang habe Bombardier „noch<br />

kein konkretes Angebot gemacht“, so<br />

ein mit dem Fall vertrauter Bahn-<br />

Manager. Der Konzern hat Bombardier<br />

in drei Verfahren in Berlin und München<br />

auf mehr als eine halbe Milliarde<br />

Euro Schadensersatz verklagt. Nach<br />

Beobachtung der Bahn sind nicht nur<br />

die Räder und Bremsen der S-Bahn-<br />

Züge aus dem Haus Bombardier<br />

schlecht konstruiert. Auch bei 200 Regionalzügen,<br />

die vor allem in Süddeutschland<br />

fahren, seien massive Probleme<br />

auf getreten. Ein weiterer Streitpunkt<br />

zwischen Bahn und Bombardier<br />

sind Probleme bei der Lieferung und<br />

der Technik von 178 Nahverkehrs -<br />

zügen des Typs Talent 2.


Wirtschaft<br />

Bitcoin Kurs der virtuellen Währung, in Euro<br />

100<br />

0<br />

Nov.<br />

2012<br />

D E V I S E N<br />

Digitale Achterbahn<br />

Jan.<br />

2013 April Aug.<br />

Es begann als niedliches Netzexperiment<br />

von ein paar Nerds, Hackern und<br />

politischen Aktivisten: 2009 wurde die<br />

Internetwährung Bitcoin erfunden. In<br />

der vergangenen Woche gab es mal<br />

wieder gigantische Kursgewinne und<br />

drastische Abstürze. Erst ging es um<br />

300<br />

200<br />

600<br />

500<br />

400<br />

Quellen: Bitcoin.de, mtgox<br />

M Ü T T E R R E N T E<br />

Experten zweifeln am Terminplan<br />

Sollten sich Union und SPD bei ihren<br />

Koalitionsverhandlungen in dieser<br />

Woche auf Verbesserungen bei der<br />

Mütterrente einigen, so hätten sie ein<br />

Problem: Die Rentenkasse könnte die<br />

höheren Bezüge nicht schon zu Beginn<br />

kommenden Jahres auszahlen.<br />

„Administrativ ist die höhere Mütterrente<br />

zum 1. Januar 2014 nicht umsetzbar.<br />

Die Abarbeitung würde mehrere<br />

Monate dauern“, heißt es in einem<br />

Positionspapier der Bundesvereinigung<br />

der Deutschen Arbeitgeberverbände.<br />

Sie hat derzeit den Vorsitz im<br />

Protestaktion auf dem Pariser Platz in Berlin<br />

17. 18. 19. 20. 21.<br />

November<br />

40 Prozent rauf, dann wieder um fast<br />

50 Prozent runter. Spekulationsgeschäfte<br />

chinesischer Anleger werden<br />

dafür verantwortlich gemacht. Doch<br />

trotz der Volatilität der Digital-Devise<br />

zeigt der Kursverlauf seit Gründung<br />

vor allem in eine Richtung: nach oben.<br />

Bundesvorstand der Rentenversicherung.<br />

Die Reform würde einen „enormen<br />

Verwaltungsaufwand“ auslösen,<br />

auf den die Kassen personell nicht vorbereitet<br />

seien, warnen die Experten.<br />

Etwa neun Millionen Konten müssten<br />

kurzfristig umgestellt werden. CDU<br />

und CSU hatten im Wahlkampf damit<br />

geworben, die Rentenansprüche von<br />

Müttern und Vätern, deren Kinder vor<br />

1992 geboren wurden, von 2014 an zu<br />

erhöhen. Dazu sollen ihre Erziehungszeiten<br />

künftig stärker berücksichtigt<br />

werden.<br />

HC PLAMBECK / LAIF<br />

KOMMENTAR<br />

Geier im Anflug<br />

Von Susanne Amann<br />

Wer glaubt, in Sachen Karstadt<br />

könne ihn nichts mehr überraschen,<br />

der unterschätzt die Phantasie von<br />

Nicolas Berggruen. Der Investor, der<br />

sich gern als Gutmensch gibt, findet<br />

immer Wege, trotz schwindender<br />

Umsätze Geld aus dem siechenden<br />

Warenhauskonzern zu ziehen.<br />

Wenn er so weitermacht, könnte er<br />

in die Wirtschaftsgeschichte eingehen:<br />

als Mann, der mit minimalem<br />

Einsatz maximalen Gewinn erzielte.<br />

Nur einen Euro zahlte Berggruen für<br />

Karstadt, weil er versprach, den maroden<br />

Konzern zu retten. Doch statt<br />

zu investieren, ließ er sich jedes Jahr<br />

aus der Kasse der Firma Millionen<br />

für die Namensrechte überweisen.<br />

Dann verkaufte er die Mehrheit an<br />

den profitablen Premium- und Sporthäusern<br />

dem Österreicher René Benko,<br />

der schon zahlreiche Karstadt-<br />

Immobilien besitzt. Berggruen selbst<br />

behielt 24,9 Prozent. Nun könnte er<br />

sich, wie das „manager magazin“<br />

enthüllte, auch noch an Benkos<br />

Karstadt-Immobilien beteiligen und<br />

so von Mieterhöhungen profitieren,<br />

die das Überleben des Kaufhaus -<br />

konzerns zusätzlich erschweren.<br />

Im Prinzip kann jeder Investor mit<br />

seinem Unternehmen machen, was<br />

er will. Doch muss er die Mitarbeiter,<br />

die um ihre Arbeitsplätze bangen, dabei<br />

auch noch verhöhnen? Und die<br />

Öffentlichkeit für dumm verkaufen?<br />

Vor gerade mal zwei Monaten<br />

schrieb Berggruen an die Belegschaft,<br />

die 300 Millionen Euro, die<br />

Benko für die Übernahme der Pre -<br />

mium- und Sportgruppe zahle, seien<br />

sein Beitrag zur Gesundung von<br />

Karstadt. Doch dieses Geld fließt<br />

eben nicht ins Unternehmen, sondern<br />

über eine komplizierte Struktur<br />

zurück an Berggruen, Benko und all<br />

die anderen Investoren, die sich wie<br />

die Geier um Karstadt zu versammeln<br />

scheinen. Die jüngste Wendung<br />

hat endgültig klargemacht, was Berggruen<br />

mit Karstadt plant – allen Dementis<br />

und Motivationsbriefen zum<br />

Trotz: ausnehmen, zerschlagen –<br />

und dann weiterziehen. Zurück bleiben<br />

rund 24000 Karstadt-Mitarbeiter,<br />

ohne deren Gehaltsverzicht in Mil -<br />

lionenhöhe der Konzern schon<br />

längst pleite wäre.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 71


Wirtschaft<br />

Trumpf-Chefin Leibinger-Kammülller<br />

mit Schülerinnen<br />

THEODOR BARTH / LAIF<br />

G L E I C H B E R E C H T I G U N G<br />

Ende der Männerwirtschaft<br />

Die geplante Frauenquote der Großen Koalition bereitet den Konzernen weniger<br />

Probleme, als es manche Kritiker wahrhaben wollen. Viele Firmen haben sich<br />

längst darauf eingestellt: Sie fördern Nachwuchs und holen Frauen ins Management.


Wenn Annette Widmann-Mauz es<br />

schafft, in der Online-Ausgabe<br />

des amerikanischen Magazins<br />

„New Yorker“ genannt zu werden, dann<br />

muss schon etwas Außergewöhnliches<br />

passiert sein. Die Tübinger CDU-Abgeordnete<br />

ist bislang Parlamentarische<br />

Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium<br />

und außerhalb des Fach -<br />

publikums wenig bekannt.<br />

Am Dienstag vergangener Woche aber<br />

zitierte das Blatt ausgerechnet die schwäbische<br />

Politikerin, nachdem sich die Unterhändler<br />

von Union und SPD in ihren<br />

nächtlichen Koalitionsgesprächen auf<br />

eine gesetzliche Frauenquote geeinigt hatten.<br />

Ab 2016 sollen demnach 30 Prozent<br />

der neu zu besetzenden Aufsichtsratsmandate<br />

für Frauen reserviert werden.<br />

Diese Einigung markiere, so Widmann-<br />

Mauz, einen „Kulturwandel im Inneren<br />

der Unternehmen“.<br />

Nimmt man das unmittelbar nach der<br />

Verkündung einsetzende Protestgeheul<br />

zum Gradmesser, hat Widmann-Mauz<br />

mit dieser Einschätzung wohl recht. Die<br />

staatliche Quote bedeute einen erheb -<br />

lichen Eingriff in die unternehmerische<br />

Freiheit, sie würde keine Rücksicht auf<br />

die Besonderheiten bestimmter Branchen<br />

nehmen, tönte es aus Wirtschaft und<br />

Unternehmerverbänden. Die Neuregelung<br />

gefährde die Wettbewerbsfähigkeit,<br />

es gebe schlicht nicht genügend qualifizierte<br />

Frauen, ging das Lamento weiter.<br />

Der Chef-Lobbyist der deutschen Indu -<br />

strie, BDI-Präsident Ulrich Grillo, erklärte<br />

gar, Führungspositionen sollten auch<br />

in Aufsichtsräten „nach Eignung und Leistung<br />

festgelegt werden“.<br />

Ach tatsächlich?<br />

Eine Selbstverständlichkeit, sollte man<br />

meinen, auch in Deutschland, wo Konzernführung<br />

und Konzernaufsicht jahrzehntelang<br />

von Männern dominiert waren<br />

und die Diskussion um mehr Frauen<br />

in Führungsjobs belächelt wurde. In den<br />

160 wichtigsten börsennotierten Unternehmen<br />

herrschen immer noch ernüchternde<br />

Zustände: In den Aufsichtsräten<br />

liegt der Frauenanteil bei 17,4 Prozent,<br />

unter den Vorständen finden sich gerade<br />

mal 6,1 Prozent Frauen.<br />

Die hiesigen Mitbestimmungsgesetze,<br />

die den Arbeitnehmern Mandate in den<br />

Aufsichtsräten sichern, haben den Geschlechterunterschied<br />

teilweise eingeebnet.<br />

Schließlich besetzen die Arbeitnehmer<br />

knapp 24 Prozent der 638 Sitze, die<br />

ihnen zustehen, mit Frauen. Auf der Kapitalseite<br />

sind es 13 Prozent, bei 58 der<br />

160 Unternehmen hat die Kapitalseite keine<br />

einzige Frau in den Aufsichtsgremien.<br />

Das ist der Stand, zwölf Jahre nach der<br />

freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft.<br />

Die hatte im Jahr 2001 versprochen,<br />

den Frauenanteil zu erhöhen – eben<br />

um eine gesetzliche Regelung zu umgehen.<br />

„Hätte die Wirtschaft die freiwillige<br />

Selbstverpflichtung ernst genommen,<br />

müsste sie jetzt auch nicht so über die gesetzliche<br />

Quote heulen“, sagt Monika<br />

Schulz-Strelow, Präsidentin der Initiative<br />

für mehr Frauen in die Aufsichtsräte<br />

(FidAR). Für sie ist die Einigung ein Paradigmenwechsel:<br />

„Es geht jetzt nicht<br />

mehr um nice-to-have, sondern um neccessary-to-have.“<br />

Aufsichtsrätinnen Bagel-Trah, Achleitner<br />

Diktatur der „Goldröcke“?<br />

HENKEL / PICTURE ALLIANCE / DPA<br />

ANDREAS MÜLLER / VISUM<br />

Aber wird die Quote die deutsche Wirtschaft<br />

tatsächlich so gravierend verändern,<br />

wie die Reaktionen es vermuten<br />

lassen?<br />

Fakt ist: Der Koalitionskompromiss ist<br />

weit weniger bahnbrechend, als es den<br />

Anschein hat. So haben sich die Unterhändler<br />

von SPD und CDU lediglich<br />

dar auf geeinigt, dass ab 2016 bei Neubesetzungen<br />

von Aufsichtsräten „eine Geschlechterquote<br />

von mindestens 30 Prozent“<br />

eingehalten wird, wie es in dem<br />

von Union und SPD erarbeiteten Papier<br />

heißt. Aufgrund der Wahlzyklen wäre so<br />

im Jahr 2020 ein Drittel aller Aufsichtsräte<br />

weiblich. Außerdem betrifft die Quote<br />

ausschließlich den kleinen Kreis der börsennotierten<br />

und voll mitbestimmungspflichtigen<br />

Unternehmen.<br />

Für die viel wichtigeren Positionen im<br />

Top-Management wird es keine feste<br />

Quote geben. Stattdessen einigten sich<br />

die Unterhändler der Parteien auf eine<br />

freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen<br />

– was stark an das umstrittene<br />

Modell „Flexi-Quote“ der noch amtierenden<br />

Familienministerin Kristina Schröder<br />

(CDU) erinnert. Die rund 2000 börsennotierten<br />

oder mitbestimmungspflichtigen<br />

Unternehmen müssen zwar „verbindliche<br />

Zielgrößen für die Erhöhung des Frauenanteils<br />

im Aufsichtsrat, Vorstand und in<br />

den obersten Management-Ebenen“ festlegen.<br />

Von Sanktionen bei Nichteinhaltung<br />

war vorerst nicht die Rede.<br />

So halbherzig die Koalitionspläne auch<br />

ausfallen: Tatsächlich hat die seit Jahren<br />

anhaltende Debatte um eine Frauenquote<br />

bei vielen Wirtschaftsbossen zu der Erkenntnis<br />

geführt, dass sie in Zukunft nicht<br />

mehr ohne weibliches Führungspersonal<br />

auskommen. Selbst bei Gegnern einer<br />

gesetzlichen Regelung hat dies zu einem<br />

Umdenken geführt, bei Daimler-Boss Dieter<br />

Zetsche beispielsweise.<br />

Wie viele andere Unternehmensführer<br />

ist Zetsche gegen eine Frauenquote, die<br />

der Gesetzgeber vorgibt. Aber er hat<br />

Daimler selbst ein Ziel gesetzt. Bis zum<br />

Jahr 2020 soll der Anteil der Frauen in<br />

Führungspositionen von 10 auf 20 Prozent<br />

verdoppelt werden. Als erster Auto -<br />

konzern holte Daimler mit Christine<br />

Hohmann-Dennhardt eine Frau in den<br />

Vorstand. Und Zetsche setzt die Männer<br />

auf Führungspositionen unter Druck. Wer<br />

nicht genügend Frauen befördert, dem<br />

kürzt er den Bonus. Das Gegenargument,<br />

nun würden Frauen befördert, nur weil<br />

sie Frauen sind, sei „in Summe Bullshit“.<br />

Er kenne keinen Fall, in dem eine Frau<br />

befördert wurde und sich dies hinterher<br />

als Flop herausstellte: „Bei Männern kenne<br />

ich einige solche Fälle.“<br />

Im Aufsichtsrat erfüllt Daimler zu -<br />

mindest auf der Kapitalseite schon das<br />

30-Prozent-Ziel, das nun diskutiert wird.<br />

Drei der zehn Vertreter sind weiblich: die<br />

ehemalige Nokia-Managerin Sari Baldauf,<br />

die ehemalige Nestlé-Vorstandsfrau<br />

Petraea Heynike und die Ex-Avon-Chefin<br />

Andrea Jung. Die Frauen stammen aus<br />

Finnland, Großbritannien und Kanada,<br />

das bringt zusätzlich mehr Internationalität<br />

in den Aufsichtsrat. Den Diskussionen<br />

habe dies gutgetan, sagen männliche<br />

Kontrolleure.<br />

Auch andere Großkonzerne haben<br />

längst reagiert. Als erster deutscher Dax-<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 73


Konzern kündigte die Telekom im März<br />

2010 an, bis Ende 2015 30 Prozent der<br />

mittleren und oberen Führungspositionen<br />

mit Frauen besetzen zu wollen.<br />

Dass sich die Quote erfüllen lässt, zeigt<br />

das Beispiel Lufthansa. So hat sich der<br />

Aufsichtsrat der Fluggesellschaft per Beschluss<br />

zu einem höheren Frauenanteil<br />

verpflichtet, gleichzeitig ändert das Unternehmen<br />

gezielt seine Firmenkultur.<br />

Führungspositionen werden konzernweit<br />

so besetzt, dass sie bestimmten<br />

Kriterien gerecht werden, unter<br />

anderem Geschlecht und Nationalität.<br />

Einen anderen Weg geht der<br />

Essener Energie-Riese RWE. Der<br />

hat in seinem Aufsichtsrat auf der<br />

Kapitalseite bislang lediglich eine<br />

Frau. Per Selbstverpflichtung soll<br />

der Frauenanteil an den Führungspositionen<br />

bis 2018 verdoppelt<br />

werden. Vor allem aber gibt<br />

es bei RWE ein sehr aktives Frauennetzwerk,<br />

angetrieben von der<br />

RWE-Geschäftsführerin Marie-<br />

Theres Thiell. Sie hat dafür gesorgt,<br />

dass das Management sogar<br />

die Ziele der „Frauen in die Aufsichtsräte“-Initiative<br />

übernommen<br />

hat. RWE-Chef Peter Terium<br />

sagt: „RWE will mehr Frauen in<br />

Aufsichtsräten und im Top-Management,<br />

weil es ein wesent -<br />

liches Instrument ist, um die deutsche<br />

Wirtschaft für die Zukunft<br />

besser aufzustellen.“<br />

Für frei werdende Aufsichtsratsmandate<br />

von RWE-Töchtern<br />

sollen standardmäßig Frauen aus<br />

dem eigenen Haus vorgeschlagen<br />

werden. Das Unternehmen bietet<br />

ihnen spezielle Schulungen an.<br />

Auch Claudia Gläser hat ein<br />

solches Programm durchlaufen.<br />

Dabei ist die 44-Jährige seit elf<br />

Jahren Geschäftsführerin der Gläser<br />

GmbH, eines Mittelständlers<br />

im Bereich Hydraulik und Anlagenbau.<br />

60 Mitarbeiter dirigiert<br />

die studierte Maschinenbauerin,<br />

der Frauenanteil liegt bei etwa 40<br />

Prozent: „Ich habe immer darauf<br />

geachtet, dass wir eine gesunde<br />

Mischung haben und vor allem<br />

die besten Leute einstellen“, sagt sie. Oft<br />

hätten Frauen die besseren Abschlüsse,<br />

auch in den technischen Berufen.<br />

Gläser ist zudem Vizechefin des Verbands<br />

deutscher Unternehmerinnen<br />

(VdU) – und eine klare Befürworterin der<br />

Quote. Seit 2011 hat der VdU einen Kandidatinnenpool<br />

aufgebaut. „Um endlich<br />

das Totschlagargument zu entkräften, es<br />

gebe nicht genügend qualifizierte Frauen“,<br />

sagt Gläser. Dort lassen sich die Profile<br />

von 400 Top-Frauen in Führungs -<br />

positionen abrufen, rund 150 Managerinnen<br />

wurden in Zusammenarbeit mit der<br />

74<br />

Wirtschaft<br />

Beratungsgesellschaft PwC für die Arbeit<br />

in Aufsichtsräten geschult. „Wie viele<br />

männliche Kandidaten können das schon<br />

von sich behaupten?“, fragt Gläser.<br />

Wer mit Personalberatern spricht, dem<br />

wird schnell klar: Am Mangel qualifizierter<br />

Frauen hat es bislang nicht gelegen,<br />

dass sie nicht zum Zuge kamen. „Wir haben<br />

in den vergangenen Jahren gezielt<br />

nach Frauen gesucht, sie gefunden und<br />

den Unternehmen auch immer wieder<br />

Nachholbedarf<br />

Frauen in den Aufsichtsräten der Dax-30-Unternehmen<br />

Aufsichtsräte<br />

davon<br />

Frauen<br />

Anteil<br />

Frauen<br />

Henkel ............................16 7 44%<br />

Deutsche Telekom ........... 20 7 35%<br />

Allianz .............................12 4 33%<br />

Beiersdorf ....................... 12 4 33%<br />

Commerzbank ................. 20 6 30%<br />

Deutsche Bank ................ 20 6 30%<br />

Deutsche Lufthansa ........ 20 6 30%<br />

Deutsche Post ................. 20 6 30%<br />

Daimler ........................... 20 5 25%<br />

E.on ................................12 3 25%<br />

Münchener Rück .............20 5 25%<br />

Merck .............................. 16 4 25%<br />

SAP ................................. 16 4 25%<br />

Siemens .........................20 5 25%<br />

Deutsche Börse............... 18 4 22%<br />

BMW ...............................20 4 20%<br />

ThyssenKrupp ................. 20 4 20%<br />

Adidas ............................. 12 2 17%<br />

BASF................................ 12 2 17%<br />

Infineon Technologies ..... 12 2 17%<br />

Lanxess ........................... 12 2 17%<br />

Linde ............................... 12 2 17%<br />

Bayer............................... 20 3 15%<br />

RWE ................................20 3 15%<br />

Volkswagen ..................... 20 3 15%<br />

K+S ................................16 2 13%<br />

HeidelbergCement .......... 12 1 8%<br />

Continental ..................... 20 1 5%<br />

Fresenius ........................12 0 0%<br />

Fresenius Medical Care ..... 6 0 0%<br />

vorgeschlagen“, sagt ein Führungsmitglied<br />

einer großen Personalberatung.<br />

Aber trotz anderslautender Absichts -<br />

erklärung hätte den Job am Ende doch<br />

meistens ein Mann bekommen, nicht immer<br />

mit besserer Qualifikation. Kritiker<br />

der Quote dagegen argumentieren, es<br />

gebe zu wenige geeignete Frauen.<br />

Aufsichtsräte brauchten eine hohe<br />

Qualifikation, breite Kenntnis von Unternehmen<br />

und Wirtschaft, aber auch spezielle<br />

Kenntnisse bestimmter Bereiche,<br />

um in dem Gremium alle möglichen Aufgaben<br />

und Kontrollbereiche abbilden zu<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Quelle:<br />

Fidar 2013<br />

Frauenanteil<br />

30%<br />

und mehr<br />

Frauenanteil<br />

unter<br />

30%<br />

Geplante Frauenquote<br />

in Aufsichtsräten<br />

ab 2016: 30%<br />

Um dieses Ziel zu<br />

erreichen, müssten<br />

in die Dax-30-Unternehmen,<br />

die unter<br />

der Quote liegen,<br />

insgesamt<br />

<strong>48</strong> Frauen<br />

aufgenommen<br />

werden*.<br />

*bei gleicher<br />

Aufsichtsratsstärke<br />

können, sagt etwa Ulrich Lehner, Ex-<br />

Henkel-Chef und mit zahlreichen Mandaten<br />

einer der einflussreichsten Aufsichtsräte<br />

der Republik.<br />

Wirklich gute Aufseher seien in so vielen<br />

Gremien vertreten, dass ein weiteres<br />

Amt wegen Überbelastung meist ausscheide,<br />

sagt Lehner. Qualifizierte Frauen<br />

– sogenannte Goldröcke – könnten sich<br />

vor lauter Anfragen kaum noch retten.<br />

Gemeint sind damit profilierte Aufsichtsrätinnen<br />

wie Simone Bagel-Trah,<br />

Ann-Kristin Achleitner oder Nicola<br />

Leibinger-Kammüller.<br />

Doch dass die Frauenquote zu<br />

einer Diktatur der „Goldröcke“<br />

führen könnte, steht nicht zu befürchten.<br />

Die Herrenriege treibt<br />

wohl eher die Sorge, die steigende<br />

Zahl weiblicher Kontrolleure<br />

könnte zum endgültigen Aus der<br />

Männerwirtschaft führen. Denn<br />

es waren ausgerechnet die Granden<br />

der alten Deutschland AG,<br />

die sich jahrzehntelang die Posten<br />

zuschanzten. Bei der Verabschiedung<br />

des Aktiengesetzes wurde<br />

die Zahl der Aufsichtsratsmandate<br />

deshalb pro Person auf zehn<br />

beschränkt.<br />

Derzeit besitzen nur zehn<br />

Vertreterinnen der Kapitalseite in<br />

den Aufsichtsräten der 160 börsennotierten<br />

Unternehmen zwei<br />

Mandate gleichzeitig, lediglich<br />

drei Frauen jeweils drei Mandate.<br />

Das geht aus einer Analyse der<br />

Personalberatung Kienbaum hervor.<br />

In den Dax-30-Konzernen<br />

haben lediglich 13 Prozent der<br />

Aufsichtsrätinnen mehr als ein<br />

Mandat – bei ihren männlichen<br />

Kollegen liegt der Anteil derzeit<br />

bei 17 Prozent.<br />

Die Herren werden sich also<br />

daran gewöhnen müssen, dass sie<br />

es künftig häufiger mit Frauen zu<br />

tun haben – auch wenn es dem<br />

ein oder anderen noch schwerfällt.<br />

So kritisierte etwa auf der<br />

Daimler-Hauptversammlung ein<br />

Fondsmanager, dass die Ex-Avon-<br />

Chefin Jung zur Aufsichtsrätin berufen<br />

wurde. Mehr automobile<br />

Kompetenz würde dem Gremium<br />

besser zu Gesicht stehen als „die kosmetische<br />

Erhöhung der Frauenquote“.<br />

Das war dann selbst Daimlers Aufsichtsratschef<br />

Manfred Bischoff zu viel.<br />

„Im Aufsichtsrat werden keine Autos gebaut“,<br />

sagte er. Andrea Jung aber könnte<br />

im Kontrollgremium ihre Erfahrungen auf<br />

dem wichtigen US-Markt einbringen. Zudem<br />

habe sie exzellente Managementkenntnisse.<br />

Das, so sollte man meinen,<br />

könnte eigentlich reichen.<br />

NICOLA ABÉ, SUSANNE AMANN,<br />

MARKUS DETTMER, FRANK DOHMEN,<br />

DIETMAR HAWRANEK, SIMONE SALDEN


EZB-Präsident Draghi<br />

Machtwort aus Frankfurt?<br />

F I N A N Z M Ä R K T E<br />

Stress beim<br />

Stresstest<br />

Europas Banken sind die größten<br />

Geldgeber ihrer Regierungen.<br />

Das berge Risiken, warnen Experten<br />

Zentralbankchef Draghi.<br />

Doch der hält ihre Studie zurück.<br />

Die Unternehmensberatung Roland<br />

Berger hat sich vergangene Woche<br />

um die Pflege der deutschitalienischen<br />

Beziehungen verdient gemacht.<br />

Sie kürte Federico Ghizzoni, Chef<br />

der italienischen Bank Unicredit, zum<br />

„Italo-German Manager of the Year“.<br />

Die Seelenmassage dürfte gutgetan<br />

haben, war doch das deutsch-italienische<br />

Verhältnis zuletzt angespannt. Ein Unicredit-Manager<br />

hatte Bundesbank-Chef<br />

Jens Weidmann vorgeworfen, Italien<br />

grundsätzlich zu misstrauen. Mit hektischer<br />

Diplomatie wurde der Graben rasch<br />

zugeschüttet. Doch es droht neuer Ärger.<br />

Unicredit gehört zu jenen Banken, die<br />

in großem Stil Staatsanleihen ihrer eigenen<br />

Regierung gekauft haben, 46 Mil -<br />

liarden Euro stehen in den Büchern. In<br />

Italien, Spanien und andernorts sind die<br />

Kreditinstitute zu den größten Finanziers<br />

ihrer Staaten aufgestiegen. Das freut die<br />

jeweilige Regierung, birgt aber Risiken.<br />

Kann ein Staat seine Kredite nicht mehr<br />

bedienen, drohen auch den Banken hohe<br />

Verluste. Ökonomen und allen voran<br />

Bundesbank-Chef Weidmann wollen deshalb<br />

die enge Verbindung zwischen Regierungen<br />

und ihren Kreditinstituten<br />

durch neue Regeln lockern.<br />

Der Vorstoß ist gut gemeint, aber er<br />

hat einen Nachteil: Er bringt klamme Banken<br />

und Krisenstaaten in die Klemme –<br />

76<br />

und die Europäische Zentralbank (EZB)<br />

in ein Dilemma. Ehe sie 2014 die Aufsicht<br />

über die Banken der Euro-Zone übernimmt,<br />

will sie deren Bilanzen prüfen,<br />

Altlasten aufräumen und untersuchen,<br />

wie gut die Geldhäuser gegen neue Turbulenzen<br />

gewappnet sind.<br />

Die Währungsbehörde will dabei testen,<br />

wie sich Verluste bei Staatsanleihen<br />

auf die Banken auswirken. Doch wie hart<br />

man die Institute dabei anfassen soll, dar -<br />

über wird in der Zentralbank gestritten.<br />

Wie politisch sensibel das Thema<br />

Staatsanleihen ist, mussten vor kurzem<br />

15 Wissenschaftler erfahren, die den bei<br />

der EZB angesiedelten Europäischen Ausschuss<br />

für Systemrisiken beraten. Dieser<br />

Ausschuss wurde Ende 2010 von der EU<br />

gegründet, um Gefahren im Finanzsystem<br />

früher zu erkennen und zu bannen.<br />

Die Wissenschaftler taten ihre Pflicht<br />

und legten dem Ausschuss Empfehlungen<br />

vor, wie die Verquickung der Banken mit<br />

ihrem Staat gelockert werden kann.<br />

Dass etwa spanische Banken vor allem<br />

spanische Anleihen und irische Institute<br />

vornehmlich irische Papiere hielten, sei<br />

ähnlich gefährlich, als würde das Geldhaus<br />

den Großteil seiner Kredite an eine<br />

einzelne Firma vergeben, urteilten die<br />

Wissenschaftler. Um solche Klumpenri -<br />

siken zu vermeiden, könnte den Banken<br />

Sept. 2013<br />

415 Mrd. €<br />

24 %<br />

Nov. 2011<br />

240 Mrd. €<br />

Italien<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

41 %<br />

WIKTOR DABKOWSKI / ACTION PRESS<br />

Anteil am Gesamtvolumen<br />

der Staatsanleihen des<br />

jeweiligen Landes<br />

299 Mrd. €<br />

Spanien<br />

165 Mrd. €<br />

beispielsweise vorgeschrieben werden,<br />

ihre Staatsanleihen auf einen vorgegebenen<br />

Anteil zu begrenzen. Eine andere<br />

Möglichkeit wäre, die Schuldtitel mit Kapital<br />

zu unterlegen. So ließen sich die Risiken<br />

zumindest auf mittlere Sicht adäquat<br />

eindämmen.<br />

Doch kämen solche Regeln für Banken,<br />

müssten sich die Staaten der europäischen<br />

Währungsunion ganz neu die Frage<br />

stellen, wie sie sich künftig finanzieren.<br />

EZB-Chef Mario Draghi sah sofort die<br />

Brisanz dieser Vorschläge. Er gab die<br />

Empfehlungen „zur Überarbeitung“ wieder<br />

an das wissenschaftliche Beratergremium<br />

zurück, in dem unter anderen die<br />

deutschen Ökonomen Martin Hellwig<br />

vom Bonner Max-Planck-Institut zur Erforschung<br />

von Gemeinschaftsgütern und<br />

Claudia Buch, Leiterin des Instituts für<br />

Wirtschaftsforschung Halle, sitzen. Die<br />

Wissenschaftler wollten den ungewöhnlichen<br />

Vorgang nicht kommentieren.<br />

Eine Grundsatzdiskussion um das<br />

riskante System der Staatsfinanzierung<br />

käme gerade jetzt zur Unzeit, sorgt man<br />

sich in Notenbankkreisen.<br />

Doch Draghi fürchtet zugleich, dass die<br />

Autorität der EZB schon vor der Übernahme<br />

der Bankenaufsicht angekratzt<br />

wäre, wenn sie die Risiken eines Staatsbankrotts<br />

beim Stresstest einfach ignorieren<br />

würde. „Wir müssen da eine Entscheidung<br />

treffen“, kündigte er im September<br />

vor dem Währungsausschuss des EU-Parlaments<br />

an, Mitte Oktober werde es eine<br />

„erste Kommunikation“ geben.<br />

Aber Banken und Regierungen warteten<br />

vergebens auf ein Machtwort aus<br />

Frankfurt zu den Staatsanleihen. Das liegt<br />

auch daran, dass Draghi im EZB-Rat keine<br />

Mehrheit dafür hat, die Risiken von<br />

Staatsanleihen in der Bilanz zu berücksichtigen.<br />

„Die Gefechtslage verläuft entlang<br />

der Betroffenheit“, sagt einer der an<br />

den Diskussionen Beteiligten.<br />

Insbesondere die Vertreter der Südländer<br />

zeigen wenig Interesse, an den bestehenden<br />

Bilanzregeln etwas zu ändern.<br />

34 Mrd. €<br />

Übermäßiger Anstieg<br />

Von den Banken gehaltene Staatsanleihen<br />

des jeweils eigenen Landes<br />

27 %<br />

Portugal<br />

23 Mrd. €<br />

zum<br />

Vergleich:<br />

Quellen: EZB, Bundesbank<br />

242 Mrd. €<br />

15 %<br />

209 Mrd. €<br />

Deutschland


Wirtschaft<br />

Bislang müssen Banken für Staatsanleihen<br />

kein Kapital zur Absicherung bereithalten,<br />

als ob es kein Risiko gäbe. Dabei<br />

hat zum Beispiel in Italien der Finanzkonzern<br />

Intesa 100 Milliarden Euro in<br />

Anleihen der eigenen Regierung angelegt.<br />

Das beeinträchtigt auch die Geldpolitik<br />

der EZB. Seit Jahren versorgt sie die Banken<br />

mit Liquidität, um die Konjunktur<br />

anzukurbeln. Doch anstatt italienischen<br />

Unternehmen Kredite zu geben, stockten<br />

die dortigen Banken ihre Bestände an<br />

staatlichen Bonds seit Ende 2011 von 240<br />

auf 415 Milliarden Euro auf.<br />

„Wir beobachten eine Ausweichreak -<br />

tion, die wir durch geldpolitische Eingriffe<br />

selbst verursacht haben“, kritisiert Weidmann.<br />

Er hält es auch aus diesem Grund<br />

für geboten, „dass wir perspektivisch<br />

Staatsanleihen so wie Unternehmensanleihen<br />

behandeln müssen“. Einer Firma<br />

dürfen nur in bestimmtem Umfang Darlehen<br />

gewährt werden, eine solche Großkreditgrenze<br />

müsste es aus Weidmanns<br />

Sicht auch für Staaten geben – für Anleihen<br />

jedes einzelnen Landes.<br />

Experten wie Daniel Gros sehen das<br />

ähnlich. „Das schlüssigste Instrument im<br />

Umgang mit Staatsanleihen wäre die Anwendung<br />

von Großkreditgrenzen“, sagt<br />

der Ökonom vom Centre for European<br />

Policy Studies, der auch dem Beirat des<br />

Ausschusses für Systemrisiken angehört.<br />

Außerdem könne es sinnvoll sein, die<br />

Schuldtitel je nach Risiko mit Kapital zu<br />

unterlegen. „Dabei sollte man sich jedoch<br />

nicht an Ratings orientieren, sondern einfach<br />

an der Höhe der Staatsschulden in<br />

Relation zur Wirtschaftsleistung.“<br />

Beim Stresstest im kommenden Jahr<br />

sollen solche grundsätzlichen Überlegungen<br />

noch keine Rolle spielen. Doch damit<br />

der Test glaubwürdig ist, muss die EZB<br />

das Staatsschuldenrisiko in irgendeiner<br />

Weise miteinkalkulieren. An den Finanzmärkten<br />

hat sich die Erkenntnis, dass<br />

Staatsanleihen für die Banken ein Risiko<br />

darstellen, ohnehin längst durchgesetzt.<br />

Die Rating-Agentur Standard & Poor’s<br />

(S&P) berücksichtigt bereits Abschläge<br />

für diese Risiken, wenn sie die Bonität<br />

von Banken beurteilt. Auch deshalb hält<br />

S&P die europäischen Kreditinstitute im<br />

Schnitt für nicht so gut mit Kapital ausgestattet,<br />

wie diese es darstellen.<br />

„Es gibt Banken, deren Risiko sich zu<br />

stark auf Staatsanleihen einzelner Länder<br />

konzentriert“, sagt S&P-Bankenanalyst<br />

Markus Schmaus. Er hält es für sinnvoll,<br />

im Stresstest mögliche Verluste bei den<br />

Staatsanleihen zu simulieren und auf entsprechenden<br />

Kapitalbedarf hinzuweisen.<br />

Doch Schmaus ist bewusst, dass es<br />

dabei um eine hochpolitische Frage geht:<br />

„Über den Schalter Staatsanleihen kann<br />

man das gesamte Stresstestergebnis ziemlich<br />

gut steuern.“<br />

MARTIN HESSE, CHRISTOPH PAULY<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 77


Slum, Infosys-Gebäude in Bangalore<br />

I N D I E N<br />

Paradies der Bürokraten<br />

Zwei Jahrzehnte nach Beginn seines Wirtschaftswunders fällt Indien hinter den<br />

Rivalen China zurück. Die Korruption blüht, Investoren ziehen ihr<br />

Geld ab. Schafft das Land einen Neustart nach der Parlamentswahl im kommenden Jahr?


GETTY IMAGES<br />

Es rummelte und rumorte, dann<br />

schoss Indiens erste Mars-Rakete in<br />

den Himmel über dem Golf von<br />

Bengalen, einen langen Feuerstreif hinter<br />

sich herziehend. Es war einer jener seltenen<br />

Augenblicke, in denen sich Asiens<br />

drittgrößte Wirtschaftsnation von ihrer<br />

modernen Seite zeigte: Alles lief pünktlich,<br />

präzise, und am Boden jubelte Indiens<br />

Raumfahrtchef: „Keine Mission ist<br />

unmöglich für uns.“<br />

Das war Anfang November, und in<br />

zehn Monaten will die 1,2-Milliarden-<br />

Einwohner-Nation ihren eigentlichen<br />

Triumph feiern. Dann soll die selbstentwickelte<br />

Sonde den Roten Planeten erreichen<br />

und mehrmals umkreisen. Gelingt<br />

das Vorhaben, wären die Inder als<br />

vierte Raumfahrtmacht erfolgreich zum<br />

Mars vorgedrungen – nach Amerikanern,<br />

Russen, Europäern. Und vor allem: vor<br />

ihren größten Rivalen, den Chinesen.<br />

Die Weltraummission leuchtet als Hoffnungsschimmer<br />

über Indien, denn auf der<br />

Erde läuft für das Land sonst kaum noch<br />

etwas nach Plan. Der Wettlauf mit China<br />

um die Vorherrschaft in Asien, seit Jahren<br />

von westlichen Autoren als Duell zwischen<br />

Drache und Elefant farbig ausgemalt,<br />

ist ökonomisch – und damit letztlich<br />

auch geopolitisch – längst entschieden:<br />

zum Nachteil Indiens.<br />

Zwei Jahrzehnte lang wurde das in -<br />

dische Wirtschaftswunder bejubelt, nun<br />

ist es ins Stocken geraten: Das Wachstum<br />

von einst, um die zehn Prozent, hat sich<br />

mehr als halbiert. Im laufenden Jahr dürfte<br />

es wie schon im Vorjahr unter vier Prozent<br />

liegen, prognostiziert der Internationale<br />

Währungsfonds.<br />

Damit würde Indiens Volkswirtschaft<br />

nur noch halb so schnell wachsen wie die<br />

Weltfabrik China. Das Reich der Mitte<br />

schwächelt derzeit zwar auch, aber auf<br />

vergleichsweise luxuriösem Niveau. Indien<br />

dagegen steht vor der Herausforderung,<br />

seine Bevölkerung aus der Armut<br />

zu befreien. Ein Drittel der Inder müssen<br />

mit weniger als 1,25 Dollar am Tag auskommen.<br />

Ihnen können nur hohe Wachstumsraten<br />

zu Wohlstand verhelfen.<br />

Die enttäuschende Bilanz spiegelt sich<br />

auch im Wertverlust der Landeswährung<br />

wider: Seit Anfang 2013 hat die Rupie<br />

gegenüber dem Dollar gut zwölf Prozent<br />

an Wert verloren. Damit verteuern sich<br />

auch die Importe, besonders das Öl. Indiens<br />

Hunger nach diesem Rohstoff trägt<br />

die Hauptschuld an der tiefroten Handelsbilanz<br />

des Landes.<br />

Zwar hat sich die Rupie wieder etwas<br />

von den dramatischen Kurseinbrüchen<br />

des Sommers erholt: Damals flohen auch<br />

aus anderen Schwellenländern massenweise<br />

die Anleger; sie fürchteten ein Ende<br />

der lockeren Kreditpolitik der US-Notenbank.<br />

Einige der spekulativen Gelder flossen<br />

seither gar wieder zurück und trieben<br />

die Kurse der Aktienbörse in Mumbai in<br />

Wirtschaft<br />

die Höhe. Doch die Zinswende in den<br />

USA wurde nur in die Zukunft verschoben<br />

– und damit auch das mögliche böse<br />

Erwachen für Indiens Wirtschaft.<br />

Denn die indische Misere ist hausgemacht.<br />

Politiker und Bürokraten in Neu-<br />

Delhi haben es in den Jahren des Booms<br />

versäumt, genug Investoren ins Land zu<br />

locken, die Fabriken bauen und Jobs<br />

schaffen. Die Elite des Landes versäumte<br />

es, die völlig veraltete Infrastruktur zu<br />

modernisieren – durch den Bau neuer<br />

Straßen, Brücken und vor allem einer verlässlichen<br />

Stromversorgung.<br />

Stattdessen vergraulte die arrogante<br />

und zutiefst korrupte Bürokratie immer<br />

wieder ausländische Firmen: Der britische<br />

Kommunikationsmulti Vodafone wurde<br />

rückwirkend mit einer Art Sondersteuer<br />

belegt. Der südkoreanische Konzern Posco<br />

gab im Juli nach endlosen Verzögerungen<br />

entnervt den Plan auf, ein Stahlwerk<br />

für 5,3 Milliarden Dollar in Ostindien zu<br />

bauen. Im selben Monat verzichtete der<br />

indisch-luxemburgische Konzern Arcelor-<br />

Mittal auf ein ähnliches Vorhaben. Und<br />

im Oktober kündigte der australisch-britische<br />

Konzern BHP Billiton an, sich aus<br />

mehreren Projekten zur Erschließung von<br />

Öl und Gas zurückziehen zu wollen.<br />

Oft scheitern Zukunftsvorhaben im<br />

demokratischen Indien am berechtigten<br />

Widerstand von Umwelt -<br />

aktivisten, oft aber wollen<br />

lokale Bosse, Politiker und<br />

Beamte einfach nur ab -<br />

zocken.<br />

„Was Indien braucht, ist<br />

ein effektiver Staat mit<br />

einem robusteren Rechtsstaat<br />

und größerer Ver -<br />

antwortlichkeit“, fordert<br />

Gurcharan Das, der eins -<br />

tige Indien-Chef des Kon -<br />

sum gü terriesen Procter & -<br />

Gamble. Der sarkastische<br />

Titel seines Buchs lautet:<br />

„India Grows at Night“ –<br />

„Indien wächst nachts“.<br />

Also dann, wenn die Bürokraten<br />

schlafen.<br />

Gewiss, indische Unternehmer<br />

sind gewohnt, sich<br />

durch das bürokratische<br />

Dickicht zu lavieren, dessen<br />

Regeln teils noch von den<br />

britischen Kolonialherren<br />

ersonnen wurden. Doch so<br />

können sie kaum Jobs<br />

für jene zwölf Millionen<br />

Arbeitskräfte kreieren, die<br />

jährlich neu in Riesenstädte<br />

wie Delhi strömen.<br />

Es ist Vormittag in Kusumpur<br />

Pahari, dem größten<br />

Slum im Süden der<br />

Hauptstadt. Roshan Vedwal<br />

lungert mit Freunden<br />

in einer Gasse, das graue<br />

2,5<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

15<br />

12<br />

9<br />

6<br />

3<br />

Abwasser fließt durch offene Rinnsale.<br />

Der 29-Jährige ist aufgewachsen in diesem<br />

Dschungel aus Elendshütten, hier<br />

leben und arbeiten mindestens 100000<br />

Menschen. Fließend Trinkwasser bekommen<br />

sie nur zu bestimmten Zeiten von<br />

Tanklastern zugeteilt. Auch Toiletten<br />

besitzen sie nicht, ihre Notdurft verrichten<br />

sie im Freien – wie die Hälfte aller<br />

Inder.<br />

Seit zwei Jahren sucht Vedwal einen<br />

Job, zuvor bediente er in der Kantine eines<br />

Krankenhauses. Doch nun sind Jobs<br />

Mangelware. „Ich lebe vom Geld meiner<br />

Verwandten“, berichtet Vedwal, und die<br />

arbeiten als Wachmänner oder Köche in<br />

den nahe gelegenen Villen. Die Kluft<br />

zwischen Arm und Reich ist die moderne<br />

Fortsetzung des Kastenwesens: Das Vermögen<br />

der 100 reichsten Inder entsprach<br />

2010 einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts.<br />

Die Ärmsten sind dagegen auf Nahrung<br />

angewiesen, die der Staat an sie<br />

verteilen lässt. An diesem Tag hat die<br />

Ausgabe im Slum geöffnet, ein Knäuel<br />

Wartender hat sich gebildet. Eine Frau<br />

zeigt ihre rote Rationenkarte: „25 Kilo<br />

Weizen stehen mir zu“, schimpft sie und<br />

deutet zugleich auf ihren abgefüllten<br />

kleinen Plastiksack, „aber nur die Hälf -<br />

te habe ich bekommen.“<br />

Schwächelnder<br />

Subkontinent<br />

Wert von 100 Indischen<br />

Rupien, in Dollar<br />

2005<br />

Wirtschaftswachstum<br />

im Vergleich zum Vorjahr,<br />

in Prozent<br />

Indien<br />

China<br />

2005<br />

Quellen: Thomson Reuters<br />

Datastream; IWF; *geschätzt<br />

Doch Klagen nützen<br />

nichts, berichten Anwohner,<br />

der Zwischenhändler<br />

stecke mit der Polizei unter<br />

einer Decke. „Die Beamten<br />

kassieren kräftig mit.“<br />

Derzeit schauen viele<br />

Politiker im Slum vorbei.<br />

Sie versprechen, dass alles<br />

besser werden solle. Denn<br />

spätestens im Mai wählen<br />

die Inder ein neues Par -<br />

lament, knapp 150 Millionen<br />

dürfen zum ersten Mal<br />

abstimmen.<br />

Indien ist ein junges<br />

Land, fast 60 Prozent der<br />

Bevölkerung ist unter 30.<br />

Ökonomen begrüßen den<br />

Nachwuchs als künftige<br />

Konsumenten, sie bejubeln<br />

Indiens „demografische<br />

Dividende“, einen angeb -<br />

lichen Wettbewerbsvorteil<br />

gegenüber dem rasch alternden<br />

China. Doch wenn<br />

Indien nicht genug Jobs anbietet,<br />

vor allem für seine<br />

vielen frustrierten jungen<br />

Männer, könnte sich der<br />

vermeintliche Vorteil als demografisches<br />

Desaster entpuppen.<br />

Denn anders als China<br />

hat Indien sich vornehm<br />

von oben modernisiert: IT-<br />

Riesen wie Infosys verwan-<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 79<br />

13<br />

13 *


80<br />

Wirtschaft<br />

Kandidat Modi: Erlöser aus kollektiver Erstarrung?<br />

delten den Subkontinent mit Software-Schmieden<br />

und Call-Centern<br />

zum Dienstleister der Welt. Davon<br />

profitierte vor allem die gut Englisch<br />

sprechende Elite: Rund 2,8 Millionen<br />

der 450 Millionen arbeitenden<br />

Inder sind im IT-Sektor beschäftigt.<br />

Doch diese Pioniere leiden nun<br />

unter der schwächelnden globalen<br />

Nachfrage. Vor allem US-Firmen zögern,<br />

weitere Dienstleistungen auszulagern.<br />

Bei Infosys in der Hightech-Metropole<br />

Bangalore brachen sie deshalb<br />

in diesem Jahr mit hehren eigenen<br />

Prinzipien und riefen Firmengründer<br />

Narayana Murthy aus dem<br />

Ruhestand zurück ins aktive Management.<br />

Die IT-Legende soll Infosys<br />

wieder flottmachen. Zwar meldet<br />

der Konzern inzwischen wieder<br />

höhere Gewinne. Doch die verdankt<br />

er vor allem dem niedrigen<br />

Wechselkurs der Rupie, der im Ausland<br />

erwirtschaftete Gewinne aufbläht.<br />

„Die triste Stimmung in der IT-<br />

Industrie drückt auf den Konsum“,<br />

sagt Ravindra Bhargava. Der Chairman<br />

des indisch-japanischen Autobauers<br />

Maruti Suzuki bittet in seine<br />

Villa im Südosten von Delhi. Ein<br />

Diener serviert Tee und Schokoladenkuchen,<br />

und der energische 79-Jährige<br />

mit der hohen Stirn nimmt sich Zeit,<br />

einmal grundsätzlich über die indische<br />

Misere zu diskutieren.<br />

Eigentlich hat Maruti Suzuki wenig<br />

Grund zu klagen. Anders als viele lokale<br />

Konkurrenten verkauft die Firma derzeit<br />

mehr Autos als im Vorjahr. Doch die neue<br />

Kundschaft reiche nicht aus, sagt Bhargava.<br />

„Unser Land kommt nicht darum her -<br />

um, eine solide industrielle Massenfertigung<br />

aufzubauen und so ausreichend Arbeitsplätze<br />

zu schaffen.“<br />

Ob Japan, Südkorea oder China – der<br />

Autoveteran weiß, dass bisher keine asiatische<br />

Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist,<br />

ohne zuvor die industrielle Revolution<br />

gemeistert zu haben. Allein die Chinesen<br />

bauen mehr als fünfmal so viele Autos<br />

wie die Inder. Zwar stellen die Inder passable<br />

Fahrzeuge her, aber sie produzieren<br />

zu teuer. Ein wichtiger Grund: Kompliziertes<br />

Elektronikzubehör wie Chips müssen<br />

sie häufig importieren.<br />

Zwar hegen die Politiker in Delhi ehrgeizige<br />

Pläne. 2011 beschlossen sie, den<br />

Anteil der industriellen Fertigung an der<br />

gesamten Wirtschaftsleistung in zehn<br />

Jahren von 16 auf 25 Prozent zu erhö -<br />

hen. Dann würde Indien zwar weiter hinter<br />

China herhinken (30 Prozent), nur:<br />

Derzeit wächst Indiens Industrie noch<br />

langsamer als zu Beginn des großen Vorhabens.<br />

Was sich die Eliten in der Hauptstadt<br />

ausdenken, wird vor Ort oft nicht umgesetzt.<br />

In den 28 indischen Bundesstaaten<br />

regieren häufig lokale Parteien, bewilligte<br />

Fördergelder verfehlen oft die Adressaten.<br />

Auch Autoboss Bhargava macht die alltägliche<br />

Korruption für Indiens Rückständigkeit<br />

verantwortlich.<br />

Er unterscheidet zwei Arten der Ab -<br />

zocke: Eine Variante spiele auf „hoher<br />

Ebene“ – etwa wenn Politiker bei Projekten<br />

Anteile verlangen. Oder es handle<br />

sich um „alltägliche“ Korruption, wenn<br />

Bürger Beamte für Leistungen schmieren<br />

müssen, die ihnen per Gesetz zustehen.<br />

„Das nenne ich Erpressung“, sagt Bhargava.<br />

Der Maruti-Suzuki-Chairman spricht<br />

für viele Bosse, ihre Stimmung ist durchweg<br />

mies. Und daran dürfte sich in den<br />

kommenden sechs Monaten wenig ändern.<br />

Die Koalition der Kongresspartei<br />

unter Premier Manmohan Singh regiert<br />

nach neun Jahren nur noch auf Abruf.<br />

Bis zur Wahl sind von dem 81-Jährigen<br />

keine mutigen Reformen mehr zu er -<br />

warten.<br />

Im Gegenteil, der Regierungschef mit<br />

dem blauen Sikh-Turban gilt als tragische<br />

Figur des verblassten Wirtschaftswunders.<br />

Dabei gehörte der in England geschulte<br />

Ökonom Anfang der Neunziger zu jenen,<br />

die Indien nach Dekaden besonders<br />

heftiger staatlicher Gängelei für die<br />

Marktwirtschaft öffneten. Damals war er<br />

Finanzminister. Doch längst fehlt ihm die<br />

Autorität in seiner eigenen Partei. Die<br />

Landsleute langweilt er mit stocksteifen<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Auftritten, viele verspotten ihn als<br />

„Roboter“.<br />

Indiens neue Hoffnung heißt für<br />

viele dagegen Narendra Modi. Der<br />

63-Jährige trägt einen penibel gestutzten<br />

grauen Bart und dazu fast<br />

täglich ein neues buntes Gewand,<br />

die Kurta. Er ist der Spitzenkandidat<br />

der oppositionellen Hindu-Partei<br />

Bharatiya Janata (BJP), insbesondere<br />

Wirtschaftsbosse und die urbane<br />

Jugend sehnen ihn als Erlöser aus<br />

der kollektiven Erstarrung herbei.<br />

Sein Gesellenstück als Reformer<br />

lieferte Modi im westlichen Bundesstaat<br />

Gujarat, wo er in dritter Amtszeit<br />

regiert – straff wie ein chinesischer<br />

Parteisekretär. Der Sohn eines<br />

Teeverkäufers gilt als nicht korrupt.<br />

Unter ihm wuchs die Wirtschaft des<br />

60-Millionen-Staates um die Hälfte<br />

schneller als der Durchschnitt Indiens.<br />

Als protestierende Bauern in<br />

Westbengalen beispielsweise den<br />

Bau einer Fabrik für das Kleinauto<br />

Nano des Tata-Konzerns verhinderten,<br />

holte der unternehmerfreundliche<br />

Modi das Projekt im Eiltempo<br />

nach Gujarat. Wenn es jedoch um<br />

soziale Fortschritte geht, etwa um<br />

Gesundheit oder Erziehungswesen,<br />

dann schneidet Gujarat teilweise<br />

noch schlechter ab als andere Bundes -<br />

staaten.<br />

Gleichwohl spekulieren westliche Anleger<br />

bereits darauf, dass ein möglicher<br />

Premier Modi Indien erneuern könnte.<br />

Das US-Wertpapierhaus Goldman Sachs<br />

revidierte kürzlich seine pessimistische<br />

Prognose für den Subkontinent und empfiehlt<br />

mit Blick auf Modi nun, wieder<br />

indische Aktien zu kaufen. Der Titel des<br />

Papiers ist zugleich die Botschaft: „Modifying<br />

our view“.<br />

Die Parteinahme für Modi kommt indes<br />

reichlich früh. Insbesondere bei vielen<br />

Wählern der muslimischen Minderheit ist<br />

der hinduistische Wirtschaftsreformer verhasst.<br />

In seiner Amtszeit brachen in Gujarat<br />

2002 antimuslimische Gemetzel aus,<br />

über tausend Menschen kamen dabei unter<br />

den Augen der Behörden um. Modi<br />

weigert sich bis heute, dafür die politische<br />

Verantwortung zu übernehmen.<br />

Und selbst wenn Modi in Delhi die<br />

Macht erringt: Wie der glücklose Amtsinhaber<br />

Singh müsste auch er voraussichtlich<br />

in einer Koalition um Kompromisse<br />

feilschen. Selbst in seiner BJP sträuben<br />

sich die Vertreter mächtiger Interessengruppen,<br />

die indische Wirtschaft weiter<br />

zu öffnen, beispielsweise für ausländische<br />

Supermärkte.<br />

Egal wer künftig regiert, einen Erfolg<br />

könnte Indien im Herbst 2014 wohl feiern:<br />

die Mars-Mission. Vorausgesetzt, die Sonde<br />

erreicht bis dahin ihr Reiseziel.<br />

WIELAND WAGNER<br />

AJIT SOLANKI / PICTURE ALLIANCE / AP / DPA


Wirtschaft<br />

K O N Z E R N E<br />

Monumente der Macht<br />

Die Tech-Giganten von Apple bis Amazon wollen ihre grandiosen Ambitionen<br />

in Glas und Beton verewigen: Sie bauen sich bombastische neue<br />

Firmenzentralen, in denen die traditionelle Arbeitswelt auf den Kopf gestellt wird.<br />

Wenige Wochen vor seinem Tod<br />

gab Steve Jobs noch ein letztes<br />

Wunderwerk in Auftrag. Er<br />

wusste, es würde sein Vermächtnis sein,<br />

ein Symbol seines Wirkens und Ausdruck<br />

kreativer Weltherrschaft: ein neues<br />

Hauptquartier für Apple, entworfen von<br />

Stararchitekt Norman Foster. „Das beste<br />

Bürogebäude der Welt“, kündigte Jobs<br />

bei der ersten Präsentation der Pläne an,<br />

„ein bisschen wie ein Raumschiff.“<br />

Es wird der wohl teuerste jemals gebaute<br />

Firmensitz der Welt sein, ein gigantischer<br />

kreisrunder Monolith für fünf Milliarden<br />

Dollar, kostspieliger als der zehn<br />

Jahre währende Wiederaufbau des World<br />

Trade Centers in New York.<br />

Aber nichts, was Apple dieser Tage tut,<br />

bleibt lange unangefochten, insbesondere<br />

wenn es um Symbole geht.<br />

Mark Zuckerberg, Facebook-Chef mit<br />

der Vision, die ganze Menschheit online<br />

zu vernetzen, hat den nicht minder berühmten<br />

Architekten Frank Gehry beauftragt,<br />

ein neues Hauptquartier zu schaffen.<br />

Natürlich ist auch dies nicht irgend -<br />

ein Gebäude, sondern „die größte offene<br />

Bürofläche der Welt“, wie Zuckerberg<br />

sagt, ein immenser Raum für 3400 Facebook-Mitarbeiter.<br />

Das Gebäude selbst<br />

soll verschwinden in der Landschaft, bedeckt<br />

von Bäumen und Wiesen. „Von außen<br />

wird es aussehen wie ein Hügel in<br />

der freien Natur“, sagt Zuckerberg.<br />

Amazon-Chef Jeff Bezos, ebenfalls<br />

wirtschaftlichen Weltherrschaftsplänen<br />

nicht abgeneigt, lässt unterdessen das<br />

erste Biosphären-Hauptquartier der Welt<br />

errichten: drei Dome aus Glas und Stahl,<br />

jeder ein künstliches Ökosystem mit eigenem<br />

Mikroklima und entsprechender<br />

botanischer Zone. Die Biosphären-Büros,<br />

erstellt vom preisgekrönten Architekturbüro<br />

NBBJ, sollen im Schatten eines dazugehörigen<br />

Wolkenkratzers in Seattle<br />

stehen, der künftig die Skyline der Stadt<br />

dominieren soll.<br />

Auch Google arbeitet mit NBBJ zu -<br />

sammen, „Bay View“ heißt das Projekt<br />

für ein neues, größeres Hauptquartier,<br />

schlichter in der Form, aber angeberisch<br />

vorgestellt im Glamour-Magazin „Vanity<br />

Fair“: neun durch Brücken verbundene<br />

Gebäude, die Dächer teils angelegt als<br />

NBBJ<br />

FOSTER+PARTNERS<br />

Ort Seattle<br />

Washington<br />

Architekt J. Savo/NBBJ<br />

Gebäudefläche 306 580 m 2<br />

Ort Cupertino<br />

Kalifornien<br />

Architekt Norman Foster<br />

Gebäudefläche 329 170 m 2<br />

gesamt<br />

zum Vergleich:<br />

Pentagon<br />

344 000 m 2<br />

Parklandschaften, errichtet über mehrere<br />

Hektar renaturierter Feuchtgebiete.<br />

Und gleich nebenan baut Nvidia, einer<br />

der wichtigsten Chip-Hersteller der Welt,<br />

einen enormen Firmensitz, halb Fußballstadion,<br />

halb Flughafenterminal: zwei<br />

Dreiecke aus Glas und Stahl, der Computerchip<br />

dient als Vorlage.<br />

Die Pläne, dank städtischer Planver -<br />

fah ren öffentlich einzusehen, illustriert<br />

mit detailgenauen Computersimulationen,<br />

Kostenaufstellungen und Blaupausen,<br />

lassen keine Zweifel aufkommen:<br />

Hier sollen nicht einfach Firmenzentralen<br />

entstehen, sondern Monumente. Architektonische<br />

Techno-Visionen als Re -<br />

flexion der nicht mehr aufzuhaltenden<br />

digitalen Dominanz, Ausdruck der weltweiten<br />

ökonomischen und kulturellen<br />

Vormacht stellung, die das Silicon Valley<br />

84<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


und seine Anführer offen für sich beanspruchen.<br />

Auch wenn jedes der Unternehmen<br />

sichtbar bemüht ist, sein eigenes architektonisches<br />

Wunder zu bauen, über -<br />

wiegen deswegen doch die Gemeinsam -<br />

keiten: Alle Entwürfe versprechen eine<br />

Mischung aus idealisierter Natur und<br />

Hightech. Apple etwa will seine neue<br />

Zentrale nur mit eigenen Solar- und<br />

Windkraftanlagen versorgen.<br />

Und die Gebäude ziehen sich stets in<br />

die Breite statt in die Höhe. Denn nur so<br />

kann die perfekte Ideenschmiede entstehen,<br />

die optimale räumliche Umgebung<br />

für den möglichst produktiven digitalen<br />

Arbeiter, der weltverändernde Erfindungen<br />

am laufenden Band produziert.<br />

„Die Idee ist, die perfekte Erfinderwerkstatt<br />

zu schaffen“, sagt Zuckerberg. Die<br />

simple Logik: Wer kollaboriert, ist kreativ.<br />

Also müssen alle Abgrenzungen verschwinden,<br />

seien es Stockwerke oder Wände.<br />

Einzelbüros gibt es nicht mehr, auch<br />

nicht für das Top-Management. Die offene<br />

Spiel- und Denkfläche ist die dominierende<br />

Grundform der Digitalwirtschaft. Wer<br />

sie nicht hat, der schafft sie. Nachzügler<br />

wie Microsoft, Yahoo und SAP entkernen<br />

Gebäude, lassen Büros verschwinden.<br />

„Das alles beruht auf Verhaltenswissenschaft“,<br />

sei belegt durch zahlreiche Studien,<br />

sagt Hao Ko, Design-Direktor im<br />

Architekturbüro Gensler und zuständig<br />

für die neue Nvidia-Zentrale. Es geht<br />

darum, „eine Umgebung herzustellen, in<br />

der man sich ständig begegnet, spontane<br />

Unterhaltungen entstehen“, in der sich<br />

Ort Mountain View<br />

Kalifornien<br />

Architekt J. Hendry/NBBJ<br />

Gebäudefläche 102 200 m 2<br />

Ort Menlo Park<br />

Kalifornien<br />

Architekt Frank Gehry<br />

Gebäudefläche 137 130 m 2<br />

inkl. Bestand<br />

Manager nicht hinter verschlossenen Türen<br />

verstecken können. Mitarbeiter auf<br />

derselben Etage sähen sich praktisch jeden<br />

Tag, sagt Ko. Bei unterschiedlichen<br />

Stockwerken so gut wie nie.<br />

Also wird die traditionelle Arbeitswelt<br />

auf den Kopf gestellt: Nicht eine Fülle von<br />

Meetings müsse organisiert werden, sondern<br />

Privatsphäre. Dauerhafte Interaktion<br />

ist der Standard. Wer unbeobachtet sein<br />

NBBJ<br />

E. KATIGBAK / FACEBOOK / REUTERS<br />

will, muss sich darum bemühen. „Jeder<br />

sitzt draußen im Offenen mit Schreib -<br />

tischen, die schnell verschoben werden<br />

können, je nachdem, welche Teams sich<br />

gerade um Projekte formen“, sagt Everett<br />

Katigbak, Design-Manager bei Facebook.<br />

Es ist nicht schwer, diese totale Nähe,<br />

die fehlenden Barrieren, die Auflösung<br />

der individuellen Rückzugsräume als<br />

Ausdruck der zweischneidigen digitalen<br />

Kultur zu sehen: Das Internet schafft einerseits<br />

neue Freiheit, aber es gibt kein<br />

Recht auf Privatsphäre. Alles ist offen,<br />

vermarktbar, durchleuchtbar.<br />

Schon jetzt fehlt es den Arbeitern in<br />

den Zentralen der Tech-Konzerne an<br />

nichts, und nichts soll sie davon abhalten,<br />

bis in die Nacht und auch an den Wochenenden<br />

kreativ zu sein. Geboten wird<br />

ein Rundumservice mit Kindergarten,<br />

Hundeschule und Swimmingpool, mit<br />

Kletterwand, Pizzeria und Open-Air-<br />

Kino. Eine mobile Zahnarztpraxis sorgt<br />

für ein gesundes Gebiss, der Ölwechsel<br />

auf dem Mitarbeiterparkplatz hält das<br />

Auto in Schuss. Wer eine Pause braucht,<br />

legt sich in die „Nickerchen-Ecke“.<br />

All das versprechen auch die Neubauten,<br />

nur noch hübscher, größer, ausgeklügelter:<br />

Restaurantmeilen und Hightech-<br />

Fitnessstudios, Parkanlagen und Supermärkte.<br />

Kommt, wann ihr wollt, arbeitet,<br />

wie ihr wollt, und es gibt kostenloses Essen<br />

und Smartphones und Kinderbetreuung.<br />

Aber bitte arbeitet bis zum Umfallen,<br />

damit wir alle anderen überrennen und<br />

gemeinsam reich werden.<br />

Die All-inclusive-Anlagen von Google,<br />

Apple, Facebook und ihre geplanten Erweiterungen<br />

reflektieren deshalb exakt<br />

den Geist des Silicon Valley. Der ist ein<br />

seltsames Paradox: Er verbindet die disziplinierte<br />

Herrschaft des Marktes mit der<br />

Freiheit des kreativen Hippie-Künstlers.<br />

Die englischen Medientheoretiker<br />

Richard Barbook und Andy Cameron<br />

prägten in den neunziger Jahren dazu<br />

den Begriff von der „Kalifornischen Ideologie“:<br />

„Dieser neue Glaube hat sich<br />

durch eine bizarre Fusion aus der kulturellen<br />

Boheme von San Francisco und<br />

den High tech-Industrien des Silicon Valley<br />

gebildet.“ Entstanden ist dabei ein<br />

einzigartiger ideologischer Mischmasch<br />

aus rechtem und linkem, ultraindividualistischem<br />

und ultrakapitalistischem Gedankengut,<br />

freiheitlicher bis hin zu antistaatlicher<br />

Haltung.<br />

Hinzu kommt noch eine gute Prise<br />

Techno-Determinismus, gepredigt von<br />

jungen Gründern wie Internetmilliardären<br />

gleichermaßen: In unserer Phantasiewelt<br />

können alle reich und hip und die<br />

Welt kann ein besserer Ort werden, wenn<br />

ihr uns nur machen lasst.<br />

Larry Page etwa, Gründer und Chef<br />

von Google, verkündete im Frühjahr, er<br />

wünsche sich, „einen Teil der Welt“ zu<br />

reservieren für technische, soziale und<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 85


Wirtschaft<br />

sonstige Experimente, um die digitale<br />

Utopie schneller zu verwirklichen. „Es<br />

gibt viele aufregende Dinge, die wir machen<br />

könnten, die aber illegal oder durch<br />

Regeln untersagt sind“, so Page. Regeln<br />

seien zwar gut, aber vielleicht könnte<br />

man einen sicheren Ort schaffen, an dem<br />

man eben doch alles darf.<br />

Aber solange niemand Page und seine<br />

Gleichgesinnten ein eigenes Google-Land<br />

überlässt, bleibt ihnen nichts anderes<br />

übrig, als sich ein herkömmliches, aber<br />

wenigstens eigenes Habitat zu schaffen.<br />

Samt firmeneigenen Buslinien, die sich<br />

durch die verstopften Autobahnen pflügen<br />

und die Mitarbeiter täglich ankarren.<br />

Stattdessen den öffentlichen Nahverkehr<br />

zu fördern kommt nicht in Frage. Dass<br />

Google nun auch ein autarkes Abwassersystem<br />

bauen will, passt ins Bild. Gezielt<br />

auch den öffentlichen urbanen Raum mit<br />

den Milliardenprojekten zu entwickeln<br />

dagegen nicht. Deswegen vielleicht erinnerte<br />

der neue Apple-Campus den Architekturkritiker<br />

des „New Yorker“ auch an<br />

das Pentagon: eine unzugängliche, abgeschirmte<br />

Welt.<br />

In der Bay Area, der Region um San<br />

Francisco und das Silicon Valley, leben<br />

die Menschen schon seit Jahrzehnten mit<br />

dieser seltsamen Ambivalenz einer Branche,<br />

die unerhörten Wohlstand und Arbeitsplätze<br />

bringt, sich aber kaum um das<br />

Allgemeinwohl schert. Steve Jobs antwortete<br />

auf die Frage, wie die Stadt Cuper -<br />

tino vom Apple-Neubau profitieren könnte:<br />

„Wir ziehen nicht weg, und ihr könnt<br />

froh sein, weiterhin hohe Steuereinnahmen<br />

zu kassieren.“<br />

Dieser bisweilen erstaunliche Autismus<br />

ist auch immer wieder in den Geschäftspraktiken<br />

zu spüren: Datenschutz? Nur<br />

so, wie wir wollen.<br />

Während nun also prächtige neue Firmensitze<br />

entstehen, wird die Region mit<br />

den Exzessen alleingelassen: mit der überlasteten<br />

Infrastruktur und explodierenden<br />

Mieten, die das Leben in San Francisco<br />

für Normalverdiener fast unmöglich machen,<br />

weil die Tech-Firmen ganze Häuserblocks<br />

für ihre Mitarbeiter anmieten<br />

und jeden Preis zahlen.<br />

Zunehmend ist eine schwelende Wut<br />

zu spüren in der ganzen Region, man<br />

schimpft auf die Techno-Hipster und ihre<br />

privaten Buslinien, die unbezahlbaren<br />

Wohnungen und explodierenden Lebenshaltungskosten,<br />

lästert über die Gigantomanie<br />

des Apple-Raumschiffs. Die offene<br />

Konfrontation gegen eine alles dominierende<br />

Industrie sucht jedoch niemand.<br />

Vergangene Woche nickte der Stadtrat<br />

von Cupertino die neue Apple-Zentrale<br />

ab. Einstimmig und genau so, wie der<br />

Konzern es sich wünschte, Fertigstellung<br />

2016. Bereits bei der Vorstellung der Entwürfe<br />

hatte der Bürgermeister verkündet:<br />

„Das Mutterschiff ist gelandet.“<br />

THOMAS SCHULZ<br />

86<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Turkish-Airlines-Jets auf dem Istanbuler Flughafen: Massiv Kunden aus Deutschland abgesaugt<br />

GETTY IMAGES<br />

L U F T F A H R T<br />

Ende einer<br />

Beziehung<br />

Turkish Airlines schien für<br />

die Lufthansa der ideale<br />

Partner zu sein. Stattdessen ist die<br />

Fluggesellschaft zu einer<br />

ernsten Bedrohung geworden.<br />

Eigentlich ist es nur eine Fußnote<br />

in den Regeln des Lufthansa-Viel -<br />

fliegerprogramms. Doch in Wirklichkeit<br />

sind die dürren Zeilen eine<br />

Kriegserklärung.<br />

Ab Januar 2014 schreibt die Lufthansa<br />

ihren Miles&More-Mitgliedern bei Flügen<br />

mit dem Partner Turkish Airlines nur<br />

noch 25 Prozent der Prämienpunkte als<br />

Statusmeilen gut. Je nachdem, wie viele<br />

ein Passagier hat, kann er spezielle Serviceleistungen<br />

nutzen, wie Lounges oder<br />

eine bevorzugte Abfertigung.<br />

Dass nur noch ein läppisches Meilenviertel<br />

für den Lufthansa-Status zählen<br />

soll, während bei anderen Star-Alliance-<br />

Partnern nach wie vor 100 Prozent gutgeschrieben<br />

werden, zeigt, wie unterkühlt<br />

das Verhältnis zwischen der Kranich-Linie<br />

und Turkish Airlines ist. Einst brachte<br />

Lufthansa als Mentor die Türken in das<br />

weltgrößte Airline-Bündnis Star Alliance.<br />

Heute bereuen die Konzernmanager das<br />

offenbar. Denn Turkish Airlines saugt<br />

massiv Kunden aus Deutschland ab, der<br />

Partnerstatus hilft ihr dabei.<br />

Die größte Fluglinie der Türkei ist zur<br />

ernsten Bedrohung geworden. In der Lufthansa-Zentrale<br />

denkt man schon über<br />

noch drastischere Schritte nach, etwa die<br />

Kündigung sogenannter Code-Share-Abkommen.<br />

Darunter versteht man etwa<br />

Lufthansa-Flüge wie die von Frankfurt<br />

nach San Francisco, die auch eine Turkish-Airlines-Flugnummer<br />

haben. Der<br />

türkische Partner kann dafür Plätze auf<br />

eigene Rechnung verkaufen. Die Lufthansa-Tochter<br />

Austrian Airlines hat ihre Abkommen<br />

in der vergangenen Woche bereits<br />

gekündigt.<br />

Eine derartige Eiszeit in den deutschtürkischen<br />

Beziehungen hielten Branchenkenner<br />

bis vor kurzem für undenkbar.<br />

Noch vor einem Jahr schien die Zukunft<br />

der Lufthansa im Osten zu liegen,<br />

genauer gesagt: in Istanbul. Der Kranich-<br />

Carrier plane eine enge Kooperation mit<br />

Turkish Airlines, meldeten zahlreiche<br />

Medien im In- und Ausland. Von Gemeinschaftsflügen<br />

auf bestimmten Strecken<br />

bis hin zu einer Kapitalverflechtung oder<br />

gar der Gründung einer Gemeinschaftsfirma<br />

sei alles möglich, hieß es in euphorischen<br />

Berichten.<br />

Experten priesen die Vorteile, die der<br />

geplante Schulterschluss beiden Seiten<br />

bescheren würde. Die Deutschen, hieß<br />

es, könnten mit Hilfe des aufstrebenden<br />

Bündnispartners in der Star Alliance über<br />

Istanbul zusätzliche Umsteigeverbindungen<br />

nach Asien oder Indien anbieten und<br />

so Rivalen wie der arabischen Fluglinie<br />

Emirates besser Paroli bieten. Umgekehrt<br />

könnten die Turkish-Airlines-Manager<br />

Passagieren aus dem boomenden Großraum<br />

Istanbul mit Hilfe der Lufthansa<br />

über Frankfurt zusätzliche Flüge in die<br />

USA anbieten. Daraus wird wohl nichts.<br />

Stattdessen dürfte künftig wieder jeder<br />

für sich allein kämpfen. Turkish Airlines<br />

fliegt schon jetzt von zwölf deutschen<br />

Angreifer aus dem Osten<br />

Turkish<br />

Airlines<br />

Umsatz 2012<br />

6,3 Mrd. €<br />

Lufthansa<br />

Group<br />

30,1 Mrd. €<br />

Steigerung<br />

von 2011 bis 2012<br />

Umsatz +26,0% +4,9%<br />

Passagiere +20,0%<br />

+2,4%<br />

Flugziele +18,6%<br />

+1,6%<br />

Flughäfen nach Istanbul. Ein Großteil der<br />

Passagiere ist kein „ethnischer Verkehr“,<br />

wie im Airline-Slang Fluggäste bezeichnet<br />

werden, die in ihre Heimat pendeln. Vielmehr<br />

handelt es sich um Umsteiger, die<br />

in Kleinflughäfen wie Bremen, Friedrichshafen<br />

oder Leipzig nach Istanbul starten<br />

und von dort aus in die Welt fliegen.<br />

Das ist mit Turkish Airlines oft erheblich<br />

billiger als über die Lufthansa-Drehkreuze<br />

in Frankfurt oder München und<br />

wird zudem von manchem als komforta -<br />

bler empfunden. Während die Frankfurter<br />

versuchen, jede Stellschraube zu nutzen,<br />

um ein paar Euro einzusparen, profitiert<br />

Turkish Airlines von niedrigeren Lohnkosten,<br />

günstigeren Preisen fürs Catering und<br />

Flughäfen ohne Nachtlandeverbot.<br />

Gezielt baut Turkish Airlines die Verbindungen<br />

nach Deutschland aus, es gibt<br />

Gerüchte, dass die letzten Lücken nächstes<br />

Jahr geschlossen werden sollen. Anfang<br />

vergangener Woche kam schon mal Kassel-Calden<br />

dazu. Der Rest der Republik<br />

ist ohnehin längst mit Istanbul verbunden.<br />

Die Deutschen können sich gegen den Expansionsdrang<br />

des Partners kaum wehren.<br />

Der Luftverkehr zwischen beiden Ländern<br />

ist weitgehend liberalisiert. International<br />

wächst Turkish Airlines nicht selten gezielt<br />

dort, wo Lufthansa schrumpft. Die Frankfurter<br />

strichen Gabun und Kongo aus dem<br />

Flugplan, Turkish Airlines gibt bekannt,<br />

man plane, 13 neue Ziele in Afrika anzufliegen.<br />

Selbst Platzhirsche wie Emirates<br />

könnten den türkischen Expansionsdrang<br />

– etwa auf Afrika-Strecken – zu spüren<br />

bekommen: Turkish Airlines operiert<br />

oft noch preisaggressiver als die Golflinie.<br />

Langfristig könnte es für Lufthansa sogar<br />

noch schlimmer kommen. Schon heute<br />

haben die Angreifer aus dem Osten in<br />

Frankfurt ein eigenes Umschlagzentrum.<br />

2019 soll in Istanbul der erste Abschnitt<br />

eines neuen Mega-Airports eröffnen.<br />

Nach seiner Fertigstellung soll er von 150<br />

Millionen Passagieren im Jahr benutzt<br />

werden – und eine gigantische Frachtbasis<br />

bekommen. Zumindest ein Teil der dort<br />

umgeschlagenen Güter dürfte den Deutschen<br />

verlorengehen.<br />

DINAH DECKSTEIN, MARTIN U. MÜLLER<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 87


Wirtschaft<br />

V e r k e h r<br />

Zug nach<br />

Nirgendwo<br />

Familien und Motorradbesitzer<br />

fahren gern mit dem Autoreisezug<br />

nach Süden. Doch weil das<br />

Angebot Verlust macht, erwägt die<br />

Bahn, den Service einzustellen.<br />

Wer sich auf einer Party als Schlafwagenschaffner<br />

zu erkennen<br />

gibt, muss damit rechnen, dass<br />

sein Gegenüber mit einem blöden Witz<br />

antwortet – oder mit einem gelangweilten<br />

Gähnen. Nicht so bei Joachim holstein.<br />

Wenn der 52-jährige Zugbegleiter von<br />

seiner Arbeit erzählt, klingt es eher nach<br />

Freiheit und Abenteuer.<br />

Früher mal musste er einen Waggon<br />

bei Minustemperaturen von innen ent -<br />

eisen, inklusive der gefrorenen Getränkeflaschen.<br />

Dann knallten eine Zeitlang<br />

reihenweise während der Fahrt Autoheckscheiben<br />

weg, wenn die Fahrzeuge zu<br />

schnell befördert wurden. Die Autozug -<br />

reisenden freilich sind ihm die liebsten<br />

Gäste, weil sie so ein „angenehmes Publikum“<br />

sind, wie er findet.<br />

Doch wie lange er dieses Publikum<br />

noch betreuen darf, ist ungewiss. Derzeit<br />

rollen Nacht für Nacht Autoreisezüge von<br />

hamburg nach Lörrach oder von Berlin<br />

nach München; wer will, kann auch nach<br />

Bozen, Alessandria, Wien oder Narbonne<br />

reisen.<br />

Weil aber das Geschäft (Bahn-Slogan:<br />

„Wir machen Strecke – Sie machen Urlaub“)<br />

seit langem rote Zahlen schreibt,<br />

will der konzernvorstand jetzt reagieren.<br />

Ab Mai nächsten Jahres starten keine<br />

Autoreisezüge mehr von Berlin – die<br />

hauptstadt ist damit komplett vom Auto -<br />

zugnetz abgekoppelt. Und längst geht es<br />

im hintergrund um die existenzfrage des<br />

gesamten Angebots. Stellt die Bahn ihr<br />

Angebot ein, würde sie einem Trend folgen:<br />

Großbritannien, Belgien, Spanien,<br />

Portugal – dort haben die konzerne den<br />

Service bereits vor vielen Jahren abgeschafft.<br />

Der Fahrer döst im Liegewagen, das<br />

Auto reist im Transportanhänger mit, so<br />

lautet das vermeintlich stressfreie und um -<br />

weltfreundliche Geschäftsprinzip. Doch<br />

wirklich Geld verdient hat die Deutsche<br />

Bahn mit ihren Autoreisezügen nie. Nun<br />

wird die Zukunftsfrage akut; die Autotransportwagen<br />

sind mittlerweile so alt,<br />

dass sie nach und nach ihre Betriebs -<br />

genehmigungen verlieren. Neue zu kaufen<br />

ist schwierig. „Die Wagen werden<br />

gar nicht mehr hergestellt, man müsste<br />

88<br />

BODO MARKS / PICTURE-ALLIANCE/ DPA<br />

eine Sonderanfertigung bestellen“, sagt<br />

ein Bahn-Manager, der anonym bleiben<br />

möchte.<br />

Doch das würde sich kaum rechnen.<br />

Auf einen euro Umsatz kommen schon<br />

heute rund 1,40 euro kosten im Auto -<br />

reiseverkehr – trotz happiger Preise von<br />

manchmal mehr als tausend euro für<br />

die Beförderung eines Autos und die<br />

Schlafplätze für eine Familie. Die Aus -<br />

lastung der Züge ist meist mager, in<br />

der hochsaison liegt sie bei knapp über<br />

Strecken der Autoreisezüge<br />

Winter 2013<br />

Hamburg<br />

Düsseldorf<br />

Neu-Isenburg<br />

Hildesheim<br />

Lörrach<br />

Narbonne<br />

Frankreich<br />

Alessandria<br />

Italien<br />

Berlin<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3<br />

München<br />

Innsbruck<br />

Österreich<br />

Wien<br />

Österreich<br />

Bozen<br />

Italien<br />

Transportwaggon im Bahnhof Hamburg-Altona<br />

60 Prozent, in den restlichen Monaten<br />

bei rund 30 Prozent.<br />

Neun Monate im Jahr könnte man die<br />

Transportwaggons gleich ganz auf dem<br />

Abstellgleis parken. Dann rollen nach<br />

Mitternacht Geisterzüge durch Deutschland.<br />

„In den drei Sommermonaten reist<br />

die hälfte aller Autoreisezug-kunden“,<br />

sagt der Bahn-Mann.<br />

Die Fahrpreise sind saftig, entsprechend<br />

überschaubar ist die klientel. Neben<br />

Oldtimer-Besitzern, die ihr Auto<br />

schonen möchten, sind es Motorradfahrer,<br />

Senioren oder Familienväter, die keinen<br />

Stress auf der Autobahn haben wollen.<br />

Für die große Masse der reisenden sind<br />

Billigflieger oft die bessere Wahl: Meist<br />

ist es günstiger, in die Ferien zu fliegen<br />

und vor Ort einen Wagen zu mieten.<br />

Nicht nur die Autoreisezüge sind unrentabel,<br />

auch das klassische Nachtzuggeschäft<br />

macht Verlust. Auch von Qualitätsproblemen<br />

spricht der Bahn-Manager.<br />

Das rangieren mit verschiedenen Zugteilen<br />

reiße die Fahrgäste manchmal aus<br />

dem Schlaf, nicht alle Wagen seien zeitgemäß<br />

ausgestattet. Laufen ihre Genehmigungen<br />

aus, stellen sich wohl bald ähnliche<br />

Fragen wie im Autoreiseverkehr:<br />

Neuanschaffung oder einstellung? Prophylaktisch<br />

schwärmt die Bahn schon mal<br />

von ganz gewöhnlichen ICe-Zügen, die<br />

nachts durch Deutschland rollen.<br />

Für Nachtschaffner holstein wäre das<br />

ein Verlust. Mit den Zügen, so glaubt er,<br />

ginge auch ein Stück reisekomfort ver -<br />

loren: „Wer einmal nachts gut bei uns<br />

geschlafen hat und am nächsten Morgen<br />

mitten in der Stadt ankommt“, schwärmt<br />

er, „will sich nicht mehr bei einer Billigfluglinie<br />

in den Sitz pressen.“<br />

Martin U. Müller


Trends<br />

Medien<br />

T V - P H Ä N O M E N E<br />

Fernsehballett<br />

vor dem Aus<br />

Das Deutsche Fernsehballett ist eines der<br />

schillernden Überbleibsel aus DDR-Zeiten;<br />

vor allem im Osten hat seine Beliebtheit die<br />

Zeitläufte überdauert: Die Gala zum<br />

50-jährigen Bestehen, „Die große Show<br />

der langen Beine“, war 2012 eine der quotenstärksten<br />

Unterhaltungssendungen des<br />

MDR-Fernsehens. Nun jedoch steht das<br />

Ensemble vor dem Aus. Der Produzent und<br />

Künstlermanager Peter Wolf, 56, der dem<br />

Sender die Truppe vor knapp zwei Jahren<br />

abgekauft hat, will den Ballettbetrieb „spätestens<br />

zum Ende des ersten Quartals 2014“<br />

einstellen. So schrieb Wolf es am 12. November<br />

in einer E-Mail an MDR-Intendantin<br />

Karola Wille. Zusagen des Senders über<br />

das Auftragsvolumen für 2014 seien nicht<br />

eingehalten worden. Ausschlaggebend für Wolfs Entscheidung<br />

sei unter anderem, dass der Sender „Die große Show<br />

der langen Beine“ anders als gedacht nicht fortsetze sowie<br />

der „Wegfall aller prestigeträchtigen ARD- und Eurovision-<br />

Formate in den vergangenen 20 Monaten“. Dazu zählen die<br />

„José Carreras Gala“, die jetzt bei Sky läuft, und die Gala<br />

von Helene Fischer, die zum ZDF gewechselt ist. Auch bei<br />

Florian Silbereisen soll das Ballett, so Wolf, künftig seltener<br />

auftreten. Der MDR erklärte auf Anfrage, es habe keine<br />

Zusage über das Auftragsvolumen 2014 gegeben, aber dem<br />

Wolf, Fernsehballerinas<br />

Fernsehballett seien Shows im Ersten wie dem MDR ange -<br />

boten worden. „Ein Fernsehballett ohne Fern sehen macht<br />

keinen Sinn“, sagt Wolf. „Hier wird DDR-Kulturgut zu<br />

Grabe getragen.“ Die TV-Auftritte seien für einen kommerziellen<br />

Erfolg entscheidend. Nur vor diesem Hintergrund<br />

habe er das Ensemble gekauft, so Wolf, der als Manager von<br />

Harald Juhnke begann und heute unter anderem Vicky Leandros<br />

und Carmen Nebel vertritt, deren ZDF-Show er auch<br />

produziert. „Die Entscheidung fällt mir nicht leicht, aber sie<br />

ist unumstößlich.“<br />

WOLFGANG WILDE<br />

P R E S S E<br />

Kurz und falsch<br />

Am vergangenen Freitag wunderte<br />

sich Daimler-Chef Dieter Zetsche über<br />

die Arbeit der Presse, und ein wenig<br />

ärgerte er sich. Die „Süddeutsche Zeitung“,<br />

die „Welt“ und das „Handelsblatt“<br />

zitierten ihn mit dem Spruch:<br />

„Ich muss keine zehn Millionen ver -<br />

dienen, ich kann auch mit fünf gut<br />

leben.“ Was ziemlich arrogant klingt.<br />

Die „Frankfurter Allgemeine“ fügte<br />

noch an, Zetsche habe zudem gesagt,<br />

er könne auch mit einer Million gut<br />

leben. Das klingt nicht viel besser. Tatsächlich<br />

hatte er auf einer Veranstaltung<br />

gesagt: „Ich muss nicht zehn Millionen<br />

verdienen, es reichen auch fünf,<br />

es reicht auch eine Million oder auch<br />

nichts.“ Es komme darauf an, wie die<br />

Eigentümer dies einschätzten. Locker<br />

wollte Zetsche sein, sympathisch<br />

wirken, und vergaß, dass Journalisten<br />

gern mal kürzen. Selbst wenn am<br />

Ende das Gegenteil dasteht.<br />

HERBY SACHS / WDR<br />

A R D<br />

Mehr Fußball<br />

Als die ARD vor einem Monat ihre<br />

Transparenzoffensive startete, gab sie<br />

sich auch ganz offen, was die ausufernde<br />

Fußballberichterstattung angeht.<br />

Zu den kritischen Fragen, denen sie<br />

„Sportschau live“ mit Gerhard Delling und Mehmet Scholl<br />

sich im Internet stellt, gehört auch diese:<br />

„Berichtet die ARD überwiegend<br />

über Fußball?“ Zur Antwort wird auf<br />

der Senderseite jedoch bloß der Anteil<br />

des Fußballs an der Live-Sportberichterstattung<br />

ausgewiesen. Im Jahr 2012<br />

waren das 97 von 444 Stunden, also<br />

knapp 22 Prozent. In dieser Statistik<br />

fehlt dann allerdings Fußballbericht -<br />

erstattung, die nicht live ist. Etwa<br />

Dutzende Stunden der nicht<br />

ganz billigen „Sportschau“.<br />

Was die ARD erst auf<br />

Nachfrage verrät: Wird die<br />

Sendung einberechnet,<br />

klettert der Anteil für 2012<br />

auf 27 Prozent. Dass man<br />

den Fußballanteil in der<br />

eigenen Statistik bewusst<br />

kleingerechnet habe, verneint<br />

jedoch der Sport -<br />

koordinator der ARD, Axel<br />

Balkausky. „Hintergrund<br />

ist, dass uns diese Frage<br />

nach dem Anteil des Fußballs<br />

an unseren Live-<br />

Sportüber tragungen oft gestellt<br />

wird.“<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 89


P R O M I N E N T E<br />

Harald und der<br />

Herr Glööckler<br />

Im Juli machte „Bild“ einen angeblichen „Kokain-Skandal“ um den<br />

Modemacher Glööckler zum Aufmacher. Jetzt hat Glööckler das<br />

Blatt auf 500000 Euro Schmerzensgeld verklagt. Von Jürgen Dahlkamp


ARCHIV ZAURITZ<br />

Dies ist eine Geschichte über die gefährlichste<br />

Straße der Republik.<br />

Den Boulevard. Die Gesetze dieser<br />

Straße macht in Deutschland eine Zeitung.<br />

Sie entscheidet, wer über den Boulevard<br />

flanieren darf. Stolzieren darf.<br />

Und wer auf dem Boulevard stürzt.<br />

Es ist die Geschichte einer Schlagzeile.<br />

„Harald Glööckler Kokain-Skandal!“, erschienen<br />

am 1. Juli auf der Titelseite der<br />

„Bild“. Und über das Leben nach so einer<br />

Schlagzeile.<br />

Aber weil Harald Glööckler eine ziemlich<br />

komplizierte Person ist, geht es auch<br />

um zwei Charaktere, um ihren dauernden<br />

Streit: zwischen dem Harald und<br />

dem Herrn Glööckler. Und ob sich der<br />

„Harald“ endlich mal gegen den „Herrn<br />

Glööckler“ durchsetzt.<br />

Herr Glööckler, das ist der Berliner Modemacher<br />

mit dem selbstkreierten Doppel-Ö.<br />

Der mit den tätowierten Augenbrauen<br />

im Puppengesicht. Mit dem Bart,<br />

der so aussieht, als hätte er sich den mit<br />

schwarzem Edding angemalt. Wenn Harald<br />

Glööckler von „Herrn Glööckler“<br />

spricht, dann meint er den Mann mit dem<br />

Aufmerksamkeitsmangel-Syndrom im<br />

Vollstadium. Den Paradiesvogel, der alles<br />

tut, um aufzufallen, zur Marke zu werden,<br />

sich zu inszenieren: „Herr Glööckler profitiert<br />

von der Presse und die Presse von<br />

ihm“, sagt Harald Glööckler. Denn Herr<br />

Glööckler ist „Businessman“. Und wenn<br />

der Herr Glööckler das allein entscheiden<br />

könnte, professionell, pragmatisch, wie<br />

der Herr Glööckler halt so ist, dann würde<br />

er es jetzt gut sein lassen mit seiner<br />

Klage gegen die „Bild“. Sie ist ja heute<br />

wieder lieb zu ihm.<br />

Aber da gibt es eben auch noch den<br />

„Harald“. Der am liebsten seine Ruhe hätte,<br />

wenn er durch die Stadt geht, keine<br />

Autogramme, keine Fotos, der den ganzen<br />

Zirkus nur mitmacht, weil es der Herr<br />

Glööckler von ihm erwartet. Der Harald,<br />

der am Abend nur noch mit seinem Hund<br />

vorm Fernseher sitzen will und von<br />

diesem Herrn Glööckler am Tag die<br />

Schnauze voll hat. Der Harald findet das,<br />

was die „Bild“ mit ihm gemacht hat, „einfach<br />

unglaublich, unfassbar“. Und er will,<br />

dass die Zeitung so etwas nicht noch einmal<br />

macht. Nicht nur mit ihm nicht. Mit<br />

keinem.<br />

Der Harald hat sie deshalb eingereicht:<br />

die Klage beim Kölner Landgericht, über<br />

500000 Euro Schmerzensgeld. Eine der<br />

größten Summen, die je ein Promi von<br />

der „Bild“ für ihre Berichterstattung haben<br />

wollte.<br />

Dem Harald ist dabei völlig egal, was<br />

mit dem Geld passiert, er will es gar nicht<br />

haben, er hat der „Bild“ vorgeschlagen,<br />

es doch zu spenden, ans Deutsche Kinderhilfswerk.<br />

Aber zahlen, das soll sie,<br />

eine Summe, die richtig weh tut. Sogar<br />

so einem großen Verlagshaus wie Springer.<br />

Und noch vergangene Woche wollte<br />

Medien<br />

der Harald den Herrn Glööckler dazu<br />

zwingen, dass sie beide die Sache wirklich<br />

durchziehen.<br />

◆<br />

Bevor Harald Glöckler Harald Glööckler<br />

wurde, hatte er einen Jeansladen in Stuttgart.<br />

Dann begann er, Rüschen an Hemden<br />

zu nähen, Leopardenfell an Jacken,<br />

vor allem: Perlen, Pailletten, Prunk und<br />

Protz auf T-Shirts. Alles barock, bombastisch,<br />

pompös mit zwei Ö. So hieß dann<br />

auch seine Marke, verziert mit einem<br />

Krönchen. In der Haute-Couture-Szene<br />

gilt der Mann aus Maulbronn bis heute<br />

als Parvenü ohne Stil und ernstzu -<br />

nehmenden Style. Am allerverstörendsten<br />

dürfte für die Avantgarde aber sein,<br />

dass Glööckler mit Mode viel Geld verdienen<br />

will – und mon dieu! – das auch<br />

noch tut.<br />

Glööckler vergibt Lizenzen an Firmen<br />

wie Bonprix, Lidl, Bijou Brigitte, die mit<br />

„Bild“-Aufmacher vom 1. Juli 2013<br />

„Persönliches Verfolgungsinteresse“<br />

ihm, dem schrillen, schwulen Modeschöpfer,<br />

alles Mögliche und Unmögliche verkaufen:<br />

Parfums, Porzellan, Schmuck, Bilder,<br />

Gartenmöbel, sogar eine Harley im<br />

Glööckler-Glitzer-Glanz und ein Einfamilienhaus<br />

für Menschen, die in ihrem Leben<br />

sonst keine Krönung mehr zu erwarten<br />

haben. Sein Hauptgeschäft aber sind<br />

Frauen, die nachmittags vor dem Fern -<br />

seher sitzen und QVC gucken, den Verkaufssender.<br />

Denen bietet er seine Modelle<br />

bis Konfektionsgröße 52 an und betört<br />

sie mit seinen Bling-Bling-Teilen und<br />

dem Versprechen, aus jeder Hausfrau<br />

eine Prinzessin zu machen. Meist zu Preisen<br />

unter 100 Euro, bei denen die Cents<br />

hinter dem Komma ganz billig „Nimm<br />

mich“ schreien.<br />

Die „Bild“ und der Herr Glööckler waren<br />

damit eigentlich füreinander geschaffen:<br />

beide greller als die Wirklichkeit, im<br />

besten Fall gute Unterhaltung, im schlechtesten<br />

geschmacklos, schwer auszuhalten.<br />

Glööckler hat deshalb auch den Reportern<br />

von „Bild“ gern alles gezeigt: Er ließ<br />

sie in sein 1400-Quadratmeter-Penthouse<br />

an der Berliner Prachtstraße Unter den<br />

QVC<br />

Linden, wo er mit seinem Lebensgefährten<br />

Dieter Schroth lebt und arbeitet („Harald<br />

im Glööck“). Er „beichtet“ dem Blatt<br />

„sein OP-Geheimnis“ („Alle drei Monate<br />

spritzt er Botox. Jüngster Umbau: eine<br />

Komplett-Fettabsaugung“). Er zieht sich<br />

aus („Der ‚Prince of Fashion‘ nackt.“)<br />

Aber er behauptet trotzdem: „Ich war<br />

nie ein ,Bild‘-Kind, ein Promi-Geschöpf<br />

der ‚Bild‘-Zeitung. Ich habe nie da angerufen<br />

und gesagt: Ich springe heute nackt<br />

durch den Garten, macht ein Foto.“<br />

Ja, er hat immer wieder mitgemacht,<br />

es hat seiner Eitelkeit geschmeichelt, seinem<br />

Geschäft genutzt, aber er legt Wert<br />

darauf, dass er es auch ohne „Bild“ schon<br />

geschafft hatte. Und manchmal habe er<br />

auch einfach abgesagt, wenn die Reporter<br />

der Zeitung sich etwas mit ihm hätten<br />

einfallen lassen. Oder einen Satz von ihm<br />

wollten. „Ich hatte immer ein offenes Verhältnis<br />

zur ‚Bild‘.“ Kein schlechtes, kein<br />

sklavisches, eines, das er für gut genug<br />

hielt, sich wegen „Bild“ keine Sorgen machen<br />

zu müssen. Noch ein halbes Jahr<br />

vor der Kokain-Schlagzeile hatte ihn die<br />

Redaktion zur Blattkritik eingeladen; er<br />

saß neben „Bild“-Vize Alfred Draxler, er<br />

hatte das Gefühl: „Das kam gut an.“<br />

◆<br />

Am 27. Mai dieses Jahres liegt bei der<br />

Berliner Staatsanwaltschaft ein Brief in<br />

der Post, für Martin Steltner, den Pressesprecher.<br />

Er ist eineinviertel Seiten lang,<br />

auf den 24. Mai datiert und nicht unterschrieben.<br />

„Wichtiger Hinweis zu Harald<br />

Glööckler, 47 Jahre, geboren 30. Mai 1965<br />

in Maulbronn-Zaisersweiher Bekannter<br />

Deutscher Modedesigner“ steht oben,<br />

und „Promi aus Fernsehen (RTL, RTL2,<br />

VOX, u.s.w.“. Damit kann sich der<br />

Anonymus eigentlich sicher sein, dass<br />

sein Brief die gewünschte Aufmerk -<br />

samkeit bekommt. Trotzdem hat er ihn<br />

noch viermal verschickt: an die Pressestelle<br />

des Zollfahndungsamts Berlin-<br />

Brandenburg, an die Pressestelle des Berliner<br />

Polizeipräsidenten, an die Polizeiwache<br />

Abschnitt 32 in Berlin-Mitte, an<br />

das Rauschgiftdezernat des Landeskri -<br />

minalamts.<br />

Der Hinweisgeber schreibt, wie er<br />

spricht: „Kann Ihnen was sehr wichtiges<br />

mitteilen“, beginnt er, und dann: „Harald<br />

Glööckler ist Kokain abhängig er geht jeden<br />

morgen für ca. 30 min in sein schlafzimmer<br />

… Harald Glööckler zieht dann<br />

in ruhe jeden morgen sein Kokain bevor<br />

er sein Zimmer verlässt und den tag beginnt<br />

meist gleich mit rumschreien und<br />

Befehle geben an seine Mitarbeiter. ER<br />

hat das Kokain in seinem Spiegelschrank<br />

hinter der Glasschiebetür.“<br />

Das sind, keine Frage, konkrete Hinweise,<br />

denen eine Ermittlungsbehörde<br />

nachgehen sollte. Erst recht, weil der<br />

Anonymus angeblich noch viel mehr<br />

weiß: Glööcklers Bodyguard, der auch<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3 91


92<br />

„Bild“-Text über Glööckler-Redaktionsbesuch<br />

„Das kam gut an“<br />

Lebensgefährten Schroth, Glööckler<br />

Angst, dass alles kaputtgeht<br />

als Türsteher in einem Berliner Club arbeite,<br />

besorge den Stoff, er „hat schon<br />

mehrere Anzeigen wegen Drogendelikten<br />

(Kokain)“. Das Koks hole er aus einem<br />

griechischen Restaurant im Berliner<br />

Osten, wo seine „Langjährige Freundinn“<br />

arbeite. „Aber jetzt kommt es“, kündigte<br />

der Anonymus seinen Clou an: „Der Besitzer<br />

des Restaurants heißt mit spitznamen<br />

MALAKA. Er wurde geschnappt mit<br />

4,6 Kilo Drogen und einer Machete griffbereit<br />

links neben ihm liegend in dem<br />

Pkw seines Bruders auf einem Rastplatz<br />

in Bayreuth in München (Bayern) geschnappt.“<br />

Und am Ende: „Das ist bestimmt<br />

ein sehr wichtiger, interessanter<br />

Hinweis für Sie womit ich Ihnen heute<br />

hoffentlich sehr helfen konnte. Mit<br />

Freundlichen Grüßen“.<br />

Interessant schon, aber der Schreiber<br />

hat offenbar nicht nur Probleme mit der<br />

Sprache, sondern auch mit den Fakten.<br />

Am 25. Juni fasst die Berliner Kripo das<br />

damalige Ergebnis ihrer Überprüfungen<br />

in einem 13-Seiten-Vermerk zusammen:<br />

Der Bodyguard arbeitete demnach schon<br />

seit neun Monaten nicht mehr in dem<br />

Club als Türsteher. Gegen ihn sei bisher<br />

auch nicht wegen Rauschgiftvergehen ermittelt<br />

worden. Im Gegenteil, er habe<br />

selbst 25 Anzeigen erstattet. „Hier verhält<br />

es sich vielmehr so, dass der Beschuldigte<br />

zur Aufhellung von Betäubungs -<br />

mittel delikten beitrug“, heißt es in dem<br />

Bericht.<br />

Die „Freundinn“ des Bodyguards ist in<br />

Wahrheit seit 2007 seine Frau; ob sie in<br />

dem Griechenlokal je gearbeitet hat,<br />

konnte die Kripo nicht feststellen. Der<br />

Rauschgift-Mann „Malaka“ war nicht der<br />

Besitzer des Restaurants, sondern dessen<br />

Bruder, der Koch, und erwischt wurde<br />

der nicht mit 4,6 Kilogramm Amphetaminen,<br />

sondern mit 668 Gramm. „Malaka“<br />

sei übrigens auch nicht sein Ganovenname<br />

gewesen, „Malaka“ sei nur die übliche<br />

Anrede für alles und jeden in einer gewissen<br />

Szene. So wie „Motherfucker“ im<br />

Englischen.<br />

Das alles sprach bestenfalls für eine<br />

Story vom Hörensagen, schlimmstenfalls<br />

für eine Geschichte, die sich der Anonymus<br />

zusammengebraut hatte, um Glööckler<br />

fertigzumachen. Im Kripo-Vermerk<br />

heißt es: „Betrachtet man die gemachten<br />

Angaben insgesamt, so gibt es stimmige<br />

Passagen – im Detail sind seine Angaben<br />

jedoch ungenau und teilweise falsch.“ Ob<br />

richtig sei, was er über den angeblichen<br />

Kokainkonsum von Glööckler berichte,<br />

sei „daher fragwürdig“. Und weil der<br />

Anonymus gleich fünf Dienststellen angeschrieben<br />

hatte, bei drei von ihnen die<br />

Pressestelle, kommt die Kripo eher auf<br />

andere Ideen: „Aus dieser Vehemenz<br />

lässt sich ein persönliches Verfolgungs -<br />

interesse des Anonymus schlussfolgern.<br />

Es ist daher nicht auszuschließen, dass es<br />

sich bei der Anzeige um eine reine Verleumdung<br />

handelt“, für die „die Strafverfolgungsbehörden<br />

instrumentalisiert werden<br />

sollen.“<br />

Die Polizei dachte noch über eine Razzia<br />

nach, um im Spiegelschrank nach Kokain<br />

zu suchen. Jenem Spiegelschrank,<br />

von dem Glööckler heute sagt, dass es<br />

den im Schlafzimmer gar nicht gebe –<br />

und auch nie gegeben habe.<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3<br />

PRAWETZ / BILD ZEITUNG<br />

RONNY HARTMANN / GETTY IMAGES<br />

Aber ob ein Gericht so eine Durchsuchung<br />

genehmigt hätte? Bei dieser Beweislage?<br />

Mit dem Kripo-Vermerk vom<br />

25. Juni war die Kokain-Spur nur noch<br />

kläglich. Und sie blieb es auch. Dennoch<br />

kam die „Bild“ sechs Tage später mit ihrer<br />

Schlagzeile: „Harald Glööckler Kokain-Skandal“.<br />

Eine Schlagzeile, für die<br />

kein polizeiliches Ermittlungsergebnis<br />

sprach, wohl aber ein öffentliches Vorurteil:<br />

dass sich jeder, der Glööckler vor Augen<br />

hatte, genau so etwas vorstellen konnte.<br />

Wenn der nicht kokst, wer dann? Modebranche,<br />

Kunstfigur, Hyperventilierer.<br />

Klischee trifft Schlagzeile.<br />

◆<br />

Der 30. Juni ist ein Sonntag, Dieter<br />

Schroth sitzt vor dem Fernseher und<br />

guckt Fußball auf Sky. Was nun folgt,<br />

geht in der Version von Schroth so: Das<br />

Telefon läutet. Unterdrückte Rufnummer.<br />

Schroth lässt es klingeln, er will das Spiel<br />

sehen. Dann wieder, das Telefon. Jetzt<br />

nimmt Schroth ab. Die „Bild“: „Ist Herr<br />

Glööckler zu sprechen?“ Ist er nicht,<br />

Glööckler schwitzt im Fitnessstudio ein<br />

paar Straßen weiter. Der „Bild“-Mann<br />

fragt nach einer Mail-Adresse. Schroth<br />

sagt, er solle sich an ihr Pressebüro wenden,<br />

die würden sich um so etwas kümmern.<br />

Aber dann will er doch wissen,<br />

wor um es hier eigentlich geht.<br />

Der Anrufer spricht angeblich von einer<br />

Liste mit Berliner Promis, über die<br />

„Bild“ ein paar Tage vorher berichtet hatte.<br />

Promis, die sich mit Koks beliefern<br />

ließen. In dem Umfeld sei auch der Name<br />

Glööckler aufgetaucht, sagt der Anrufer<br />

Schroth zufolge. Ein Koks-Verdacht. Dass<br />

Glööckler gar nicht auf dieser Liste steht,<br />

sagt der Anrufer angeblich nicht.<br />

Schroth erinnert sich, wie perplex er<br />

gewesen sei: „Sie, das kann gar nicht sein,<br />

wir arbeiten seit 26 Jahren zusammen,<br />

wir haben nicht mal eine Zigarette zusammen<br />

geraucht.“ Und jetzt Koks? Unvorstellbar.<br />

Schroth ruft bei Glööcklers Medien -<br />

anwalt an. Christian-Oliver Moser hat<br />

mit solchen Krisenfällen Erfahrung, er<br />

vertritt zum Beispiel David Groenewold,<br />

den Filmproduzenten, der als Freund von<br />

Christian Wulff in die Bestechungsaffäre<br />

des Ex-Präsidenten verwickelt ist. Moser<br />

ist weit weg, er macht gerade Urlaub auf<br />

Mallorca, aber er beruhigt: Glööckler<br />

nicht zu erreichen? Noch kein Anruf<br />

beim PR-Büro? Er ist sicher: Am nächsten<br />

Tag kann da noch nichts kommen.<br />

Unvorstellbar.<br />

Abends schaut Dieter Schroth auf sein<br />

iPad, in die „Bild“-App. „Komm mal,<br />

komm mal“, ruft er zu Glööckler, der<br />

vom Sport zurück ist. Und da steht er<br />

dann doch schon, der „Kokain-Skandal“<br />

um Glööckler. Unvorstellbar.<br />

Am folgenden Morgen berichtet auch<br />

die gedruckte „Bild“ über das noch lau-


fende Ermittlungsverfahren: „Wieder ein<br />

Drogen-Skandal in der Hauptstadt!“<br />

Stand das schon fest? Ein Zeuge habe<br />

„detailliert gesagt, wann und wo der Modedesigner<br />

das Kokain gekauft haben<br />

soll“. Ein Zeuge? Gesagt? Ein anonymer<br />

Schreiber hatte einen Brief verschickt.<br />

„Es geht um den Verdacht von Drogenbesitz<br />

– möglicherweise sogar Drogenhandel!“<br />

Glööckler ein Dealer? Davon<br />

stand in dem Brief kein Wort. Und: „Der<br />

Verdacht: Bei den Lieferungen soll es um<br />

mehr als zehn Gramm Kokain gegangen<br />

sein.“ In einem Polizeivermerk vom selben<br />

Tag heißt es verwundert: „Woher die<br />

Informationen der ‚Bild‘-Zeitung stammen,<br />

ist unbekannt. Die darin beschriebenen<br />

Angaben über die Menge … sind<br />

in dem anonymen Anzeigenschreiben<br />

nicht enthalten.“<br />

In dieser Nacht zum Montag, in der die<br />

Kokain-Schlagzeile gedruckt wird, liegen<br />

Glööckler und Schroth wach. Schroth<br />

sagt, er habe gedacht, er sterbe. Die Aufregung.<br />

Das Herz. „Ich hatte Angst, alles,<br />

was wir in 26 Jahren aufgebaut haben,<br />

geht in dieser einen Nacht durch eine<br />

Lüge kaputt, und wir stehen wieder bei<br />

null.“ Glööckler ist ruhiger. „Ich hatte<br />

schon bei einer meiner Wahrsagerinnen<br />

angerufen“; sie soll ihm prophezeit haben,<br />

dass er das durchstehen werde. Aber<br />

auch er denkt an die Lizenznehmer:<br />

wenn die nun alle Verträge kündigen?<br />

Schon am frühen Morgen geben sie<br />

eine Erklärung heraus: „Das ist glatter<br />

Rufmord. Ich hatte nie etwas mit Kokain<br />

zu tun.“ Sie laden für 13 Uhr zu einer<br />

Pressekonferenz ein, in ihr Penthouse.<br />

Und sie beginnen, ihre Kunden abzutelefonieren:<br />

alles Unsinn, alles falsch, glauben<br />

Sie uns bitte. Die Kunden sagen, sie<br />

warten ab. Erst mal. Ein Discounter aber<br />

beendet am selben Tag den Schmuckverkauf<br />

– angeblich, weil das schon länger<br />

so geplant war. Ein anderer Partner, der<br />

versprochen hatte, die Ruhe zu bewahren,<br />

wird kurz darauf den Vertrag kündigen.<br />

Gegen 13 Uhr steht Glööckler im weißen<br />

Anzug vor einer Traube von Jour -<br />

nalisten, er sagt: „Ich habe in meinem<br />

Leben weder Koks berührt, Kokain konsumiert,<br />

Kokain gekauft oder Kokain verkauft.“<br />

Ende der Durchsage, Abgang. Am<br />

nächsten Tag steht der Satz auch in der<br />

„Bild“, die sich aber zunächst mal Gedanken<br />

über seinen Anzug macht: „Weiß wie<br />

die Unschuld. Und wie Kokain.“ Eine Zeile<br />

zum Hinschmelzen, eine Zeile zum<br />

Hinrichten. Und dann fragt „Bild“ noch,<br />

ob Glööckler jetzt einen Haartest macht.<br />

Haartest? Da war doch mal was. Richtig,<br />

Daum, der Fußballtrainer. Der hatte dann<br />

doch gekokst.<br />

Zwei Wochen später erlässt das Landgericht<br />

Köln eine einstweilige Verfügung<br />

gegen die „Bild“-Berichte. Und Ende Juli<br />

stellt dann die Staatsanwaltschaft Berlin<br />

ihr dümpelndes Verfahren ein, wegen<br />

94<br />

Medien<br />

EVENTPRESS RADKE<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3<br />

„Bild“-Artikel zum Ende der Ermittlungen<br />

„Staatsanwaltschaft sicher: Alles falsch“<br />

mangelnden Tatverdachts. Eine Einstellung<br />

erster Klasse für Glööckler und seinen<br />

Bodyguard. „Bild“ titelt danach: „Harald<br />

Glööckler Staatsanwalt fegt Koks-<br />

Verdacht vom Tisch“. Und: „Jetzt – nach<br />

monatelangen Ermittlungen – ist die<br />

Staatsanwaltschaft sicher: Alles falsch“.<br />

Immerhin, die „Bild“ tut das oben auf<br />

Seite 1. Später muss sie noch eine Gegendarstellung<br />

im Innenteil veröffentlichen.<br />

Die druckt sie schon nur noch unten auf<br />

die Seite. Und mehr tut sie auch nicht.<br />

Eine Entschuldigung bei Glööckler?<br />

Blieb aus. Die Springer-Rechtsabteilung<br />

schickte ein knappes Schreiben an<br />

Glööcklers Anwalt Moser: „Die in Rede<br />

stehende Berichterstattung … ist wahr<br />

und beachtet die Vorgaben der Verdachtsberichterstattung.“<br />

Moser sieht das anders – und beruft<br />

sich dabei auf den Bundesgerichtshof:<br />

Der BGH hat im Grundsatz immer wieder<br />

entschieden, dass ein „Mindestbestand<br />

an Beweistatsachen“ vorliegen<br />

muss, bevor die Presse einen Menschen<br />

mit einem Tatverdacht an die Öffentlichkeit<br />

zerrt, identifizierbar. So ein Mindestbestand,<br />

der den Vorwurf untermauert,<br />

kann etwa eine Festnahme sein. Eine Razzia.<br />

Eine Anklage. Ein Ermittlungsschritt,<br />

aus dem Journalisten zu Recht ableiten<br />

können, dass die Staatsanwaltschaft davon<br />

ausgeht, an dem Verdacht könnte<br />

einiges dran sein.<br />

Aber ein anonymer Hinweis, der oft<br />

schon deshalb ein Ermittlungsverfahren<br />

auslöst, weil sich die Strafverfolger später<br />

nicht nachsagen lassen wollen, sie hätten<br />

etwas verschlafen? Sehr kritisch. Und davon<br />

abgesehen: Bevor der Artikel erscheint,<br />

muss der Betroffene die Gelegenheit<br />

haben, zu den Vorwürfen Stellung<br />

zu nehmen. Der Betroffene. Nicht der<br />

verdutzte Lebensgefährte.<br />

Die „Bild“ wollte zu Fragen des SPIE-<br />

GEL nicht im Einzelnen Stellung nehmen.<br />

Weil es den laufenden Rechtsstreit<br />

gebe, aber auch, weil sich viele der Fragen<br />

auf Redaktionsinterna bezögen, über


die man grundsätzlich keine Auskunft<br />

gebe. Außerdem müsse man seine Quellen<br />

schützen. Den Anonymus etwa? Keine<br />

Antwort. Ermittler? „Unsere Verdachtsberichterstattung<br />

basierte nicht<br />

nur auf einer anonymen Anzeige. Selbstverständlich<br />

waren uns weitere Einzelheiten<br />

des Ermittlungsverfahrens bekannt.“<br />

Welche? Keine Antwort. Genug<br />

für den Mindestbestand an Beweistatsachen?<br />

Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft<br />

jedenfalls gibt außer dem anonymen<br />

Schreiben nichts Belastendes her.<br />

◆<br />

Für Februar hat das Kölner Landgericht<br />

einen Termin für die Schadensersatzklage<br />

angesetzt. Moser, der Medienanwalt, sagt,<br />

dass so ein Journalismus nur aufhört,<br />

wenn es wirklich weh tut. 10 000 oder<br />

20000 Euro Schmerzensgeld, solche Summen,<br />

wie sie in Deutschland üblich sind,<br />

seien doch auf der anderen Seite gleich<br />

eingepreist. Auflagensteigerung minus<br />

Prozesskosten gleich Gewinn. Deshalb<br />

jetzt die Klage, eine halbe Million Euro.<br />

Diese Klage, die aber der Herr Glööckler<br />

eigentlich am liebsten schon wieder vergessen<br />

würde.<br />

Harald Glööckler hat ein Büchlein geschrieben<br />

über den „Medien-Skandal“,<br />

aus selbsttherapeutischen Gründen, auch<br />

wenn es kaum einer von denen gelesen<br />

hat, die die Schlagzeile in der „Bild“ gelesen<br />

haben. Die „Bild“-Auflage liegt bei<br />

2,5 Millionen, die verkaufte Buchauflage<br />

unter 10000. Jetzt muss er entscheiden:<br />

vielleicht noch jahrelang prozessieren?<br />

Kämpfen, für das Prinzip, für alle Glööck -<br />

lers, die noch kommen werden, für die<br />

Idee, dass eine Zeitung so nicht mit Menschen<br />

umgehen sollte? Herr Glööckler<br />

sagt: „Ich bin Profi, ich will nach vorn<br />

schauen, und ich will Energie nicht in<br />

schlechte Dinge investieren.“<br />

Die meisten Lizenznehmer sind geblieben,<br />

neue gekommen, die Verkäufe auf<br />

QVC haben nicht gelitten, es sieht so aus,<br />

als sei kaum etwas hängengeblieben. Am<br />

Geschäft. Herr Glööckler würde den Fall<br />

gern abhaken. Herr Glööckler sagt sogar:<br />

„Ich habe unverändert nichts gegen die<br />

‚Bild‘-Zeitung.“ Ach, dieser Herr<br />

Glööckler.<br />

Aber da ist noch der Harald, und der<br />

Harald kämpft. Denn am Harald ist mehr<br />

hängengeblieben, als der „Herr Glööckler“<br />

ihm ausreden kann. „Natürlich hat<br />

die Person Harald einen Schlag auf die<br />

Seele abbekommen“, sagt Harald Glööckler,<br />

„der Harald ist entsetzt und tief geschockt.“<br />

Der Harald hat sogar eine<br />

Nacht daran gedacht, alles zu verkaufen,<br />

wegzulaufen, ins Ausland, für immer.<br />

Jetzt muss sich herausstellen, ob er auch<br />

das andere kann: stehenbleiben. Doch so,<br />

wie Harald Glööckler sich kennt, wird<br />

am Ende wohl der Herr Glööckler wieder<br />

gegen den Harald gewinnen. ◆<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3 95


Panorama<br />

Sandiford<br />

96<br />

I N D O N E S I E N<br />

Drei Kugeln für<br />

Großmutter<br />

Gerade acht Tage ist es her, dass der<br />

Pakistaner Mohammed Abdul Hafeez<br />

von der National Police Mobile Brigade<br />

aus seiner Zelle im Gefängnis von Tangerang,<br />

westlich von Jakarta, geholt<br />

wurde. Man habe Hafeez dann, so Beobachter,<br />

kurz nach Mitternacht zum<br />

Exekutionsort unweit des Friedhofs gebracht.<br />

Dem Delinquenten wurde eine<br />

Zielscheibe angeheftet, er hatte die<br />

Wahl, im Sitzen oder Stehen zu sterben,<br />

dann krachten Schüsse, wobei nur<br />

drei der Gewehre bei den Hinrichtungen<br />

scharf geladen sind – um die<br />

Schützen im Unklaren zu lassen, wer<br />

die tödlichen Kugeln abfeuerte. Hafeez<br />

war wegen Drogenschmuggels verurteilt<br />

worden, die Exekution war die<br />

fünfte in diesem Jahr. Vier Jahre lang<br />

hatte Jakarta nicht vollstreckt. Doch<br />

im März dieses Jahres wurden die Hinrichtungen<br />

wiederaufgenommen. Mit<br />

dieser neuen Politik würden wohl auch<br />

die Chancen für eine sehr prominente<br />

Verurteilte auf der „Death Row“, dem<br />

Todestrakt, sinken: die 57-jährige Britin<br />

Lindsay Sandiford, ebenfalls eine<br />

Drogenschmugglerin und außerdem<br />

Großmutter. Zollbeamte hatten in ihrem<br />

Koffer knapp fünf Kilogramm Kokain<br />

gefunden. Sandiford sagte, Dealer<br />

hätten ihre Kinder bedroht und sie<br />

gezwungen, die Drogen zu transportieren.<br />

Obwohl die Staatsanwaltschaft<br />

nur 15 Jahre Haft gefordert hatte, verurteilte<br />

sie ein Gericht im Januar zum<br />

Tode – was vor allem in England für<br />

Empörung sorgte. Sandiford kann jetzt<br />

noch auf einen Gnadenerlass des Präsidenten<br />

Susilo Bambang Yudhoyono<br />

hoffen. Menschenrechtler aber sagen,<br />

dass der bislang etwa fünf von sechs<br />

Gnadenersuchen abgelehnt habe.<br />

GETTY IMAGES<br />

E U R O PA<br />

Neuer Job für Barroso?<br />

José Manuel Barroso, 57, bis zum<br />

Herbst 2014 Chef der EU-Kommission,<br />

sieht sich wohl noch nicht am Ende<br />

seiner Karriere. Offenbar hätte der<br />

Portugiese gern einen anderen Brüsseler<br />

Spitzenposten. Nach <strong>SPIEGEL</strong>-Informationen<br />

kann sich Barroso vor -<br />

stellen, von der Zentrale der EU-Kommission<br />

auf der nördlichen Seite der<br />

Brüsseler Rue de la Loi ins Gebäude<br />

des Europäischen Rats auf der Süd -<br />

seite zu wechseln und dort Präsident<br />

des Europäischen Rats zu werden, der<br />

Versammlung der 28 Staats- und Regierungschefs.<br />

Diplomaten berichten,<br />

Barroso sondiere derzeit bei den Mitgliedstaaten,<br />

ob er Chancen hätte, den<br />

jetzigen Ratspräsidenten Herman Van<br />

REUTERS<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3<br />

Rompuy zu beerben. Der Posten wird<br />

Ende 2014 frei, weil Van Rompuy nach<br />

zwei Amtszeiten ausscheiden muss.<br />

Da vieles dafür spricht, dass ein Sozialdemokrat<br />

– der Deutsche Martin<br />

Schulz – nächster Präsident der EU-<br />

Kommission wird, könnte das Amt des<br />

Ratspräsidenten aus Proporzgründen<br />

der konservativen Europäischen Volkspartei<br />

zufallen. Allerdings ist Barroso<br />

nicht der einzige Christdemokrat,<br />

der den Job gern hätte: Auch der luxemburgische<br />

Premierminister Jean-<br />

Claude Juncker würde wohl nicht<br />

ablehnen, sollte er gefragt werden. Bekommt<br />

Barroso den Posten des Ratspräsidenten<br />

nicht, könnte er sich auch<br />

vorstellen, Generalsekretär der Nato<br />

zu werden. Barrosos Sprecherin dementierte<br />

die Ambitionen ihres Chefs<br />

nicht: Barroso habe noch „keine Entscheidungen<br />

über seine Zukunft getroffen“.<br />

KOMMENTAR<br />

Fliegender Holländer<br />

Chemiewaffen-Inspekteure in Syrien<br />

Von Christoph Reuter<br />

Es sollte eine Erfolgsgeschichte werden:<br />

die zwischen den USA, Russland<br />

und dem Regime in Damaskus verhandelte<br />

Vernichtung der syrischen<br />

Chemiewaffen – auch, um alle übrige<br />

Erfolglosigkeit in diesem Krieg überdecken<br />

zu können. Diktator Baschar<br />

al-Assad stieg auf einmal vom Geächteten<br />

zum Verhandlungspartner auf.<br />

Und die zuständige Organisation für<br />

das Verbot chemischer Waffen,<br />

OPCW, erhielt schon vorab den Friedensnobelpreis.<br />

Jetzt aber droht das<br />

Chemiewaffen-Abkommen zu einem<br />

Schritt ins Nirgendwo zu werden.<br />

Zwar beschloss der OPCW-Exekutivrat,<br />

dass Syriens Regime bis zum<br />

5. Februar 2014 seine gesamten Chemiewaffen-Bestände<br />

außer Landes gebracht<br />

haben soll. Bis Ende Juni 2014<br />

sollen sie zerstört werden. Die<br />

OPCW holte sogar Ruheständler zurück,<br />

um zu bewältigen, was sie noch<br />

nie getan hat: Kampfgifte mitten in<br />

einem Bürgerkrieg einzusammeln<br />

und wegzuschaffen. Die absurde Folge:<br />

Ausgerechnet jenen Soldaten, die<br />

die Chemiewaffen zuvor einsetzten,<br />

bringen nun die OPCW-Experten das<br />

fachgerechte Verpacken, Versiegeln<br />

und Bewachen bei. Aber weder die<br />

USA noch Russland wollen die hochgiftigen<br />

Kampfstoffe entsorgen. Nachdem<br />

als letztes mögliches Entsorgerland<br />

auch Albanien ablehnte, sollen<br />

die Chemikalien nun auf hoher See<br />

unschädlich gemacht werden – auf<br />

einem Schiff mit fünf Brennöfen, bei<br />

2700 Grad. Falls das nicht funktioniert<br />

(was gut möglich ist, erprobt<br />

wurde es in großem Maßstab noch<br />

nie), könnte das größte Chemiewaffen-Arsenal<br />

des Nahen Ostens auf<br />

den Meeren herumirren wie der Fliegende<br />

Holländer. Die politische Botschaft<br />

des Westens an die Diktatoren<br />

der Welt ist schon jetzt verheerend:<br />

Sie dürfen die Bevölkerung massakrieren,<br />

aushungern und vergasen.<br />

Schlimmstenfalls handelt der Westen<br />

dann die Herausgabe der Chemie -<br />

waffen aus – und gerät dabei an den<br />

Rand der Lächerlichkeit. Weil er<br />

noch nicht einmal weiß, wohin mit<br />

den mörderischen Giften.


Ausland<br />

Straßenszene im philippinischen Tacloban<br />

AARON FAVILA / AP / DPA<br />

Zurück ins Leben. Gut zwei Wochen nachdem der tropische<br />

Wirbelsturm „Haiyan“ über die Philippinen gefegt ist,<br />

findet die Bevölkerung unter Mühen in den Alltag zurück. In<br />

der Stadt Tacloban bringt ein Rikschafahrer ein Schwein zum<br />

Markt. Seit der Katastrophe sind Wasser und Lebensmittel<br />

Mangelware: Die angelegten Vorräte waren von der Flutwelle<br />

weggerissen worden. Was zurückblieb, ist vom Salzwasser<br />

durchnässt. Tagelang versuchten die Überlebenden, Reis auf<br />

den Straßen zu trocknen, wurden aber immer wieder von<br />

starkem Regen überrascht. Eine der wenigen zuverlässigen<br />

und hygienisch unbedenklichen Nahrungsquellen sind daher<br />

die Schweine.<br />

Seit SPD und CDU in den Koalitionsverhandlungen<br />

vereinbart haben, kein<br />

Fracking zu betreiben, sorgt sich Warschau<br />

um seine Energieversorgung. In<br />

Nord- und Ostpolen wurden, Tausende<br />

Meter unter der Erde, im Schiefergestein<br />

eingeschlossene Gasvorräte<br />

aufgespürt. Die polnische Regierung<br />

fürchtet nun, Franzosen und Deutsche<br />

könnten auch auf EU-Ebene Sicherheitsregeln<br />

auf den Weg bringen, die<br />

P O L E N<br />

Angst vor den Deutschen<br />

eine Förderung durch Fracking un -<br />

rentabel machen würden. Sollten sich<br />

die Schiefergasvorkommen mit diesem<br />

chemisch-hydraulischen Verfahren<br />

nicht ausbeuten lassen, wäre der<br />

Traum wohl vorbei, das „Norwegen<br />

des Ostens“ zu werden – reich und vor<br />

allem unabhängig von Russland. Bisher<br />

bezieht Polen rund zwei Drittel<br />

seines Erdgases von dort. „In der Frage<br />

des Schiefergases sind die Deutschen<br />

keine Verbündeten“, sagte Premier<br />

Donald Tusk. In Frankreich ist<br />

das Fracking bereits verboten, in<br />

Deutschland warnen Umweltschützer,<br />

das Grundwasser könnte dadurch verschmutzt<br />

werden. Die Energiepolitik<br />

ist ein Dauerstreitpunkt zwischen den<br />

Deutschen und ihren östlichen Nachbarn.<br />

So erwägt Warschau gerade, ein<br />

neues Atomkraftwerk zu bauen – während<br />

Berlin seine Meiler stilllegt. Auch<br />

als Gastgeberland des Weltklimagipfels<br />

musste sich Polen in den vergan -<br />

genen zwei Wochen viele Vorwürfe zu<br />

seiner umweltbelastenden Energie -<br />

gewinnung aus Braunkohle anhören.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 97


Ausland<br />

Janukowitsch-Gegner in Kiew am vorigen Donnerstag<br />

EFREM LUKATSKY / AP / DPA<br />

E u r o pä i s c h E u n i o n<br />

Geplatzte Verlobung<br />

Mit Drohungen und Milliardenversprechen hat Wladimir putin das Wettbieten<br />

um die ukraine gewonnen – und den Westen ausgestochen. Das scheitern<br />

des Assoziierungsabkommens gefährdet die gesamte „Östliche partnerschaft“.<br />

98<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3<br />

nach Jahren des Werbens, nach<br />

mehreren Monaten der Versprechungen<br />

und Drohungen, machte<br />

der russische präsident Wladimir putin<br />

am 9. november den entscheidenden Vorstoß.<br />

Er lud Wiktor Janukowitsch, den<br />

präsidenten der ukraine, zum Gespräch<br />

auf einen Militärflughafen bei Moskau.<br />

so geheim war das Treffen, dass die russen<br />

zunächst leugneten, es habe überhaupt<br />

stattgefunden. An diesem Tag besiegelte<br />

putin wohl das Bündnis mit der<br />

ukraine – und stach damit seine rivalen<br />

in Brüssel aus.<br />

Dabei war geplant, dass Janukowitsch<br />

am Freitag dieser Woche im litauischen<br />

Vilnius ein 900 seiten langes Assoziierungsabkommen<br />

unterschreibt, eine Art<br />

Verlobungsvertrag mit der Eu. Das jedoch<br />

hat er am vorigen Donnerstag auf<br />

unbestimmte Zeit verschoben.<br />

nach der Aufnahme des Whistle -<br />

blowers Edward snowden und der Kontrolle<br />

des syrischen Giftgases war dies der<br />

dritte sieg putins über den Westen – wenn<br />

wohl auch kein endgültiger. Denn Janukowitschs<br />

Jawort begründet eine Zweckehe,<br />

keine Liebeshochzeit mit russland.<br />

Vorausgegangen war ein monatelanges<br />

ringen zwischen Moskau und Brüssel,<br />

das an den Kalten Krieg erinnerte. Am<br />

Ende soll der russische präsident seinem<br />

Amtskollegen Janukowitsch mehrere Milliarden<br />

Euro zugesagt haben, in Form von<br />

subventionen, schuldenerlass und zollfreien<br />

importen. Dagegen stand ein Kredit<br />

der Eu über 610 Millionen Euro, den<br />

man im letzten Moment noch erhöht hatte;<br />

dazu die vage Aussicht auf einen Milliardenkredit<br />

des iWF. Janukowitsch entschied<br />

sich für putins Milliarden.<br />

Dabei hatte Angela Merkel noch in der<br />

vergangenen Woche öffentlich beteuert,<br />

die ukraine gegen russische Erpressungsversuche<br />

in schutz nehmen zu wollen,<br />

und gesagt: „Ein Vetorecht Dritter kann<br />

es nicht geben.“ Ein schöner satz, leider<br />

bedeutungslos – und viel zu spät. putin<br />

verhandelte da längst persönlich mit<br />

Janukowitsch. Der russische präsident,<br />

großgeworden in st. petersburger hinterhöfen<br />

und gestählt vom Überlebenskampf<br />

im Kreml-intrigantenstadel, kennt<br />

sich im spiel von Käuflichkeit und Liebes -<br />

entzug besser aus als die Beamten der<br />

Eu. Von den europäischen spitzenpolitikern<br />

warf dagegen keiner sein Gewicht


in die Waagschale; weder Merkel noch<br />

Kommissionspräsident José Manuel Barroso<br />

flogen nach Kiew, um den schwankenden<br />

präsidenten zu überzeugen.<br />

„ich glaube, dass der beispiellose Druck<br />

von der russischen seite ausschlaggebend<br />

war“, klagt der polnische Ex-premier und<br />

Vermittler Aleksander Kwaśniewski. „Die<br />

russen haben das ganze mögliche Arsenal<br />

genutzt.“ Elmar Brok, Vorsitzender des<br />

Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament,<br />

sagt: „Janukowitsch hat sich alle<br />

optionen bis zuletzt offengehalten, um<br />

so viel wie möglich herauszuholen.“<br />

Es klingt die hilflosigkeit der Eu mit,<br />

die bis zum schluss auf ihre strahlwirkung<br />

setzte, auf ihr großes Versprechen<br />

von Wohlstand, Freiheit und Demokratie.<br />

Jetzt muss Brüssel zum ersten Mal erleben,<br />

dass ein Annäherungsversuch brüsk<br />

zurückgewiesen worden ist, weil der preis<br />

nicht stimmte. „Wenn Janukowitsch nicht<br />

will, dann will er eben nicht“, sagt Brok.<br />

Vor vier Jahren hatte die union der<br />

ukraine, aber auch Armenien, Aserbaidschan,<br />

Georgien, Moldau und Weißrussland<br />

eine „Östliche partnerschaft“ angetragen.<br />

Die Eu bot Zusammenarbeit,<br />

Freihandel und finanzielle Zuwendungen,<br />

im Gegenzug forderte sie demokratische<br />

reformen. Von einer historischen<br />

ostpolitik der Eu schwärmte man in<br />

Brüssel, in Anlehnung an die Annäherung<br />

Willy Brandts an die Warschauerpakt-staaten<br />

in den siebziger Jahren. Die<br />

geplanten partnerschaftsabkommen sollten<br />

reisen ohne Visum ermöglichen, Zölle<br />

senken und europäische normen einführen.<br />

Das Einzige, was sie nicht anboten,<br />

war eine Eu-Mitgliedschaft.<br />

und natürlich ging es auch darum,<br />

wenngleich weniger offen ausgesprochen,<br />

den Einfluss russlands zu begrenzen –<br />

und zu definieren, wie weit Europa in<br />

den osten reicht. Für russland steht mit<br />

der ukraine nicht nur sein geopolitisches<br />

Gewicht auf dem spiel, sondern auch genau<br />

jene region, die vor tausend Jahren<br />

der nukleus des russischen reiches war.<br />

ukraine heißt auf Deutsch „Grenzland“,<br />

die hauptstadt Kiew ist für viele die Mutter<br />

aller russischen städte.<br />

„Die ukraine ist doch gar kein staat,<br />

verstehst du das, George?“, hatte putin<br />

beim nato-Gipfel 2008 den damaligen<br />

us-präsidenten George W. Bush angefahren,<br />

weil dieser das Land in die nato<br />

holen wollte – und damit unüberhörbar<br />

den eigenen Machtanspruch markiert.<br />

Doch dann hat erst Weißrussland die<br />

hoffnungen der Eu enttäuscht und Demonstrierende<br />

niedergeknüppelt. Armenien<br />

setzte sich ab. nun ist auch die<br />

ukraine vorerst ausgeschert – das Kernland<br />

der „Östlichen partnerschaft“. Das<br />

ist eine diplomatische pleite für die Eu,<br />

die nicht nur ihren Einfluss an den öst -<br />

lichen Grenzen gefährdet, sondern an die<br />

Grundlagen ihrer Außenpolitik rührt.<br />

offiziell gescheitert ist das Abkommen<br />

mit der ukraine an der seit zwei Jahren<br />

im Gefängnis sitzenden oppositions -<br />

politikerin Julija Timoschenko. ihre Freilassung<br />

hatte die Eu zur Voraussetzung<br />

gemacht.<br />

Doch Janukowitsch wollte seine einstige<br />

Gegnerin nicht freilassen, ein entsprechendes<br />

Gesetz scheiterte vorige<br />

Woche im Kiewer parlament.<br />

Dabei schien es zunächst, als könnten<br />

sich die rationalen Argumente der Europäer<br />

gegenüber den russischen Droh -<br />

gebärden durchsetzen. Die von Moskau<br />

propagierte „Eurasische union“, heißt es<br />

in einer internen Analyse der Eu, würde<br />

die souveränität der ukraine stark einschränken.<br />

Kiew könnte fortan ohne Zustimmung<br />

Moskaus keine anderen Freihandelsabkommen<br />

mehr schließen. Eine<br />

Allianz mit Moskau habe den exklusiven<br />

charakter einer heirat, die Eu hingegen<br />

biete eine intensive Freundschaft an, die<br />

es der ukraine aber weiterhin erlaube,<br />

andere Bündnisse einzugehen.<br />

Ausgerechnet Janukowitsch, der als<br />

Kreml-Marionette galt, hat viele von der<br />

Eu geforderten reformen umgesetzt.<br />

Justizsystem und strafrecht wurden modernisiert,<br />

handelsbeschränkungen abgebaut<br />

und einige politische Gefangene<br />

freigelassen. „Er hat mehr reformen umgesetzt<br />

als die prowestliche Vorgängerregierung<br />

unter Timoschenko“, sagt ein<br />

Eu-unterhändler.<br />

Allerdings wurde die Demokratisierung<br />

vielfach nur halbherzig durchgeführt.<br />

Laut der organisation Freedom house<br />

sind die demokratischen Grundrechte in<br />

Anwärterstaaten wie der ukraine nicht<br />

gestärkt worden, im Gegenteil: Die staatliche<br />

Gängelung habe zugenommen.<br />

Trotzdem glaubte sich die Eu sicher,<br />

die ukraine für den Westen gewonnen<br />

zu haben – und vernachlässigte, dass sich<br />

da zwei Welten mit grundverschiedenen<br />

Denkweisen gegenüberstehen.<br />

Auf der einen seite sind da die Europäer,<br />

die glaubten, Kiew würde sich automatisch<br />

dem Westen zuwenden. ist<br />

nicht fast die hälfte der Bevölkerung für<br />

eine Annährung an die Eu? Leben nicht<br />

mehr ukrainische Gastarbeiter im Westen<br />

als in russland? Außerdem basierte ihre<br />

Argumentation auf wirtschaftlicher nachhaltigkeit,<br />

sie glaubten, mit langfristigen<br />

Wachstumsraten von gut sechs prozent<br />

Janukowitsch überzeugen zu können. im<br />

Gegensatz dazu würde eine Zollunion<br />

mit russland das Wirtschaftswachstum<br />

der ukraine auf lange sicht reduzieren.<br />

Präsidenten Putin, Janukowitsch bei einer Kirchenfeier: Zweckehe, nicht Liebeshochzeit<br />

Auf der anderen seite steht Wiktor<br />

Janukowitsch, der vielleicht tumb wirken<br />

mag, aber ein gerissener pokerspieler<br />

ist. sein wichtigstes Ziel ist Machtsicherung,<br />

2015 will er wiedergewählt werden,<br />

dafür braucht er eine rasche Verbesserung<br />

der wirtschaftlichen Lage. Denn die<br />

ukraine ist in die rezession gerutscht<br />

und mög licherweise bald zahlungsun -<br />

fähig. immer wieder stuften die ratingagenturen<br />

die Kreditwürdigkeit des<br />

Landes herab. Außerdem ist die ukraine<br />

abhängig vom russischen Gas, schon<br />

dreimal hat russland im Winter den<br />

hahn zugedreht.<br />

Daher braucht Janukowitsch präsident<br />

putin, der in den vergangenen Monaten<br />

unmissverständlich klargemacht hat, welche<br />

Folgen ein Assoziierungsabkommen<br />

ITAR-TASS / IMAGO<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3 99


Ausland<br />

haben würde. im August etwa wurden<br />

sämtliche Lastwagen aus der ukraine<br />

penibel kontrolliert, die Waren über die<br />

Grenze nach russland bringen wollten.<br />

Der ukrainische oligarch Wiktor pin -<br />

tschuk durfte keine stahlrohre mehr einführen,<br />

ein Ex-Minister seine schokolade<br />

nicht verkaufen.<br />

Auf diese Weise sind die Exporte seit<br />

2011 um ein Viertel gesunken. Ein Drittel<br />

der ukrainischen Ausfuhren geht nach<br />

russland und in andere staaten der Exsowjetunion,<br />

25 prozent gehen in die<br />

Eu. Außerdem drohte russland, künftig<br />

müssten ukrainer Visa beantragen.<br />

offenbar in Absprache mit dem Kreml<br />

wandten sich dann – drei Tage nach dem<br />

Moskauer Geheimtreffen – ukrainische<br />

oligarchen an Janukowitsch, mit der Bitte,<br />

die Assoziierung mit der Eu doch um<br />

ein Jahr aufzuschieben.<br />

Der Kreml hat keine Zweifel daran<br />

gelassen, dass die schikanen dauerhaft<br />

werden könnten. sergej Glasjew, putins<br />

Berater für die wirtschaftliche reintegration<br />

der nach dem Zerfall der sowjetunion<br />

unabhängig gewordenen republiken, hatte<br />

Kiew eine „wirtschaftliche Katastrophe“<br />

prophezeit, sollte es das Abkommen<br />

mit der Eu unterzeichnen. „Die ukraine<br />

opfert ihre souveränität“, drohte er bei<br />

einer Konferenz ausgerechnet auf der<br />

Krim – ehemals russisches Gebiet.<br />

in einer der hinteren reihen saß Wladislaw<br />

surkow, ideologischer Vordenker<br />

des Kreml, der in ungnade gefallen, aber<br />

dann vor zwei Monaten von putin zurückgeholt<br />

worden war – mit der Mission,<br />

die Vorherrschaft über die staaten der<br />

Ex-sowjetunion zurückzuerobern.<br />

Wenn einer wie surkow auftaucht,<br />

heißt das: Jetzt wird mit allen Mitteln intrigiert.<br />

in russland hat surkow parteien<br />

gegründet und sterben lassen, so wie es<br />

putin nutzte. in der ukraine könnte er<br />

das Gleiche tun und unter Janukowitschs<br />

prorussischen Wählern wildern. Der präsident<br />

hätte kaum eine chance auf eine<br />

Wiederwahl.<br />

Es ist nicht bekannt, ob putin all diese<br />

Drohungen beim Treffen mit Janukowitsch<br />

aussprechen musste. Vermutlich<br />

war es gar nicht mehr notwendig. Janukowitsch<br />

hatte auch so verstanden: seine<br />

einzige chance, politisch zu überleben,<br />

ist an der seite russlands.<br />

Begleitet wurden die Drohungen zugleich<br />

von Versprechungen: putin stellte<br />

Janukowitsch Kredite, günstigere Gaspreise<br />

und schuldenerlass bei Gazprom<br />

in Aussicht, dort ist die ukraine mit 1,3<br />

Milliarden Dollar verschuldet.<br />

Wladimir putin scheint die nöte des<br />

ukrainischen präsidenten schneller erkannt<br />

zu haben als die Eu. Dabei waren<br />

sich die Experten in Brüssel durchaus dar -<br />

über im Klaren, dass die russischen Anreize<br />

„kurzfristiger“ wirken würden als<br />

die eigenen Angebote.<br />

ähnlich wie dem Assoziierungsabkommen<br />

könnte es auch einem anderen projekt<br />

ergehen: einem unter obhut der Eu<br />

fertig ausgehandelten Gasvertrag, der vorigen<br />

Freitag unterzeichnet werden sollte.<br />

Auch da war eigentlich alles beschlossen,<br />

doch dann ging es plötzlich wieder um<br />

kleine technische Details, die angeblich<br />

noch nicht geklärt seien. „Das geht jetzt<br />

schon seit über einem Jahr hin und her“,<br />

sagt einer der Verhandlungsführer genervt.<br />

Dabei hatten alle mit einem Abschluss<br />

gerechnet, weil die ukrainer sich damit<br />

aus der russischen umklammerung befreien<br />

könnten, zumal sie derzeit für russisches<br />

Gas deutlich mehr zahlen als westliche<br />

Großkunden wie der deutsche Energiekonzern<br />

rWE. Der neue Vertrag sieht<br />

vor, dass die pipelines im Eu-Land slowakei<br />

für eine schubumkehr umgebaut<br />

werden, so könnte das für Westeuropa<br />

bestimmte Gas in Zukunft auch die<br />

ukraine versorgen.<br />

Doch Janukowitsch zögert. Der Deal<br />

mit dem Westen hat einen schönheitsfehler:<br />

Wegen der nötigen umbauarbeiten<br />

könnte das Gas aus dem Westen frühestens<br />

im nächsten september fließen.<br />

Zumindest in diesem Winter wären die<br />

ukrainer erpressbar. Zudem scheinen die<br />

Verhandlungen um den neuen Vertrag<br />

Janukowitsch schon geholfen zu haben:<br />

Die russen signalisieren deutliche preisnachlässe.<br />

Es sieht so aus, als habe Janukowitsch<br />

gut gepokert, wieder einmal.<br />

nur wenige tausend ukrainer demon -<br />

strierten Ende vergangener Woche gegen<br />

Janukowitschs Abkehr von der Eu. Da<br />

half es wenig, dass der oppositionspolitiker<br />

und Boxweltmeister Vitalij Klitschko<br />

rief: „Millionen ukrainer wollen dieses<br />

Abkommen, Millionen wollen in der<br />

Eu leben und nicht nach dem recht, welches<br />

unsere regierung uns vorschlägt.“<br />

in Brüssel bemühte sich Erweiterungskommissar<br />

stefan Füle am vorigen Freitag<br />

um haltung: „Erst wenn der Gipfel<br />

offiziell beginnt, werden wir endgültig<br />

wissen, ob die ukraine nun unterzeichnen<br />

will oder nicht.“ Doch eine rasche<br />

Einigung erwartet niemand mehr. Auch<br />

Füle denkt bereits über mögliche nächste<br />

schritte nach. Allerdings ist ratlosigkeit<br />

spürbar, wenn er sagt, keinesfalls wolle<br />

man einen Wettlauf mit russland führen,<br />

es handele sich ja nicht um einen schönheitswettbewerb.<br />

Als sei das nicht längst<br />

geschehen.<br />

„Es ist schwer zu sagen, wann die Verhandlungen<br />

wiederaufgenommen werden“,<br />

sagt Vermittler Kwaśniewski. Kommendes<br />

Jahr wird erst mal das Euro -<br />

päische parlament gewählt, es wird Wechsel<br />

in der Eu-Kommission geben, und<br />

2015 ist dann die präsidentenwahl in der<br />

ukraine. „Mir scheint, die pause wird<br />

eher länger als kürzer sein.“<br />

christoph pauly, Jan puhl, Matthias schepp,<br />

Gregor peter schmitz, christoph schult<br />

100<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3


Ausland<br />

102<br />

Zuckerrohrernte in der Provinz Kandal<br />

K A M B O D S C H A<br />

Bitterer Zucker<br />

Ausländische Agrarkonzerne nehmen jedes Jahr Tausenden<br />

Bauern ihre Felder weg – mit Hilfe der Regierung. Welche<br />

Rolle spielen deutsche Entwicklungshelfer bei dem Landraub?<br />

Es war der 19. Mai 2006, an dieses schlug es als Wanderarbeiter nach Thailand<br />

und Malaysia.<br />

Datum erinnern sich alle noch genau:<br />

Am Morgen fuhren an der Wie den Dörflern aus Chouk ergeht<br />

Nationalstraße <strong>48</strong>, die den Ort Chouk<br />

durchschneidet, Bulldozer auf. Männer<br />

des Unternehmens Khon Kaen Sugar Industrie<br />

PCL aus Thailand präsentierten<br />

den kambodschanischen Dorfbewohnern<br />

Papiere und erklärten: „Dieses Land gehört<br />

jetzt uns.“<br />

Als die Bulldozer begannen, Reisfelder<br />

zu planieren, versuchten Dutzende Bauern,<br />

sie zu stoppen. Die Polizei kam, es<br />

fielen Schüsse, eine Demonstrantin wurde<br />

verletzt. Heute wächst auf den Feldern<br />

Zuckerrohr, um die Plantage herum ist<br />

Stacheldraht gespannt. Bauer Teng Kao,<br />

53, windet sich durch Zäune, springt über<br />

Gräben und weist schließlich in die Ferne:<br />

„Da hinten, da lagen<br />

es sehr vielen Kambodschanern: Firmen<br />

und privilegierte Landsleute – oft Mitglieder<br />

der regierenden Kambodschanischen<br />

Volkspartei unter Premierminister<br />

Hun Sen – eignen sich Felder und Wälder<br />

an. Häufig sind es ausländische Unternehmen,<br />

die von der Regierung „Wirtschaftliche<br />

Landkonzessionen“ erhalten,<br />

wenn sie Grundstücke für Plantagen und<br />

Fa briken brauchen. Rund 400000 Menschen<br />

wurden seit 2003 vertrieben, schätzen<br />

kambodschanische Nichtregierungsorganisationen.<br />

Landraub ist ein weltweites Phänomen<br />

– doch in Kambodscha spielt auch<br />

die Bundesregierung eine umstrittene<br />

Rolle. Mit deutschen Steuer -<br />

meine Felder.“<br />

geldern fördere sie ein Programm,<br />

das sie ungewollt in<br />

200 Familien aus Chouk<br />

THAILAND LAOS<br />

verloren ihre Lebensgrundlage.<br />

„Wir sind nicht arm, KAMBODSCHA<br />

die Nähe der Landräuber rücke,<br />

kritisieren Menschenrechtler.<br />

wir sind jetzt sehr arm“, sagt<br />

Phnom Penh<br />

die Bäuerin Chea Sok, „drei<br />

„Wir sind auf dem Weg in<br />

Mahlzeiten am Tag kann ich<br />

VIETNAM eine Gesellschaft der Großgrundbesitzer“,<br />

klagt Lao<br />

mir nicht mehr leisten.“ Junge<br />

Leute sind inzwischen Chouk 300 km Mong Hay, ein Veteran unter<br />

weggegangen, einige ver-<br />

Kambodschas Bürgerrecht-<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

lern, der mit seinem weißen Bart aussieht<br />

wie ein Konfuzius-Gelehrter. „Die regierende<br />

Elite verbündet sich mit dem Big<br />

Business, und dann machen sie gemeinsam<br />

schnelles Geld.“ Er presst die Finger<br />

aneinander, um diese unheilige Allianz zu<br />

demonstrieren. „Es braucht nur das Land,<br />

ein paar Sägen, ein paar Traktoren“, sagt<br />

er, „und schon ist der Wald abgeholzt.“<br />

Die Unternehmen nutzen die unklare<br />

Rechtslage. Niemand weiß so recht, welches<br />

Land Privateigentum ist und welches<br />

dem Staat gehört. Tatsächlich sind die<br />

entsprechenden Dokumente seit Jahren<br />

verschwunden. Die Roten Khmer, die<br />

zwischen 1975 und 1979 herrschten, erklärten<br />

jeden Quadratzentimeter Kambodschas<br />

zu Staatseigentum.<br />

Inzwischen hat das Parlament Gesetze<br />

verabschiedet, die jedem Kambodschaner<br />

das Land zusprechen, das er mindestens<br />

fünf Jahre lang bebaut hat. Wird es ihm<br />

weggenommen, soll er entschädigt werden.<br />

Dabei, sagt Lao Mong Hay, herrsche<br />

aber „große Ungerechtigkeit. Es gibt nur<br />

schlechte Gesetze, die auch noch schlecht<br />

verwirklicht werden“.<br />

Christina Warning von der Deutschen<br />

Welthungerhilfe hat es erlebt: „In einem<br />

Dorf wurden die Leute betrunken gemacht,<br />

bis sie ihren Fingerabdruck unter<br />

einen Vertrag setzten. Als Entschädigung<br />

bekamen sie lediglich Kleidung, Medikamente,<br />

Mobiltelefone.“ Ihre Felder waren<br />

sie los.<br />

Von der Vergabe der Landkonzessionen<br />

profitiere nur eine Minderheit, meldete<br />

auch der Uno-Sonderberichterstatter<br />

für Menschenrechte in Kambodscha im<br />

vergangenen Jahr. Die Unternehmen operierten<br />

„hinter einem Schleier der Verschwiegenheit“.<br />

PRING SAMRANG / REUTERS


Das Geschehen in Kambodscha wirft<br />

aber auch die Frage auf, wieweit ausländische<br />

Entwicklungshelfer mit einem autoritären<br />

Regime zusammenarbeiten können.<br />

Der Landraub dürfte Thema der<br />

deutsch-kambodschanischen Beratungen<br />

Anfang Dezember in Phnom Penh werden.<br />

Der Grünen-Politiker Thilo Hoppe<br />

fordert, notfalls die „staatliche Zusammenarbeit<br />

auszusetzen“. Die Weltbank<br />

hat es vorgemacht: Sie stoppte bereits<br />

2011 aus Protest gegen Vertreibungen Kredite<br />

an Kambodscha.<br />

Immerhin: Kambodschas Regierung<br />

verspricht, mehr Rechtssicherheit zu<br />

schaffen. Alle Bürger sollen ihr Grund -<br />

eigentum registrieren lassen können. Dafür<br />

wird eine Katasterbehörde geschaffen.<br />

Bis Ende 2012 hatten rund zwei Millionen<br />

Menschen einen Landtitel.<br />

Beim Aufbau der Behörde erhält die<br />

Regierung Hilfe aus Deutschland. Seit<br />

2002 stehen ihr Kataster-Experten der Gesellschaft<br />

für Internationale Zusammenarbeit<br />

(GIZ) zur Seite. Doch mittlerweile<br />

seien „die Deutschen Teil des Problems<br />

geworden“, sagt Eang Vuthy von der<br />

Nichtregierungsorganisation Equitable<br />

Cambodia. Auch andere Bürgerrechtler<br />

und deutsche Entwicklungshelfer werfen<br />

der GIZ vor, Regierungschef Hun Sen nutze<br />

das Projekt nur, um den Anschein zu<br />

erwecken, die Kungeleien seien legal. Er<br />

denke nicht daran, den Bodenbesitz gerecht<br />

zu verteilen.<br />

So dürfen die Deutschen zum Beispiel<br />

nicht aufs Land reisen, um zu kontrollieren,<br />

wie die Zuteilung der Grundstückstitel<br />

umgesetzt wird. Premier Hun Sen<br />

sähe es als Einmischung in innere Angelegenheiten<br />

an, wenn die Deutschen<br />

überprüfen würden, ob ihr Projekt auch<br />

tatsächlich Gerechtigkeit schafft. „Die<br />

Deutschen müssen doch wissen, was mit<br />

ihren Steuergeldern passiert“, sagt Eang<br />

Vuthy.<br />

In einem Haus nahe des Unabhängigkeitsdenkmals<br />

in Phnom Penh sitzt der<br />

GIZ-Regionalchef Adelbert Eberhardt.<br />

Die Kritik an seinem Programm kennt er.<br />

Aber: „Wenn Sie etwas realisieren wollen,<br />

dann müssen Sie mit staatlichen Stellen<br />

zusammenarbeiten. Das bietet Angriffsflächen.<br />

Den Spagat müssen wir aushalten.“<br />

Die Vorteile des Programms, meint<br />

er, seien größer als die Nachteile: „Wir<br />

werden für sechs Millionen Menschen<br />

Rechtssicherheit schaffen, zwei Millionen<br />

haben sie schon.“<br />

Auch das Berliner Außenministerium<br />

verteidigt die Zusammenarbeit mit Hun<br />

Sen. Die Bundesregierung könne ihn ja<br />

zu nichts zwingen, befand ein Diplomat<br />

in einer internen Diskussion mit Experten<br />

in Phnom Penh über das Landprogramm.<br />

„Konstruktives Engagement“ sei besser,<br />

als die Zusammenarbeit mit ihm aufzukündigen:<br />

„Wir können nicht alles überall<br />

gleichzeitig schaffen.“<br />

Ein paar Kilometer vom örtlichen GIZ-<br />

Chef entfernt arbeitet Manfred Hornung<br />

von der Heinrich-Böll-Stiftung: „Die GIZ-<br />

Leute haben keine Belege über die zwei<br />

Millionen Landtitel. Die waren ja nicht<br />

draußen im Lande, die wissen gar nicht,<br />

was stattfindet“, sagt er.<br />

Noch umstrittener ist die Politik der<br />

EU – sie fördert indirekt die Landräuber.<br />

Seit 2009 gewährt Brüssel Kambodscha<br />

das Recht, zollfrei Zucker in die Union<br />

zu exportieren. Damit habe sich das<br />

Problem verschärft, sagt Evi Schüller, US-<br />

Juristin bei der kambodschanischen Menschenrechtsorganisation<br />

Licadho. „Tausende<br />

leiden darunter, wenn sie ihr Land<br />

für Zuckerrohrplantagen verlieren.“<br />

Das Europaparlament hat zwar 2012<br />

eine Resolution auch zum bitteren Geschäft<br />

mit dem Zucker verabschiedet. Es<br />

kritisiert darin die „schweren Menschenrechtsverletzungen<br />

im Zusammenhang<br />

mit den Landkonzessionen“. Die EU-<br />

Kommission weigert sich allerdings, die<br />

Zoll-Privilegien auszusetzen: „Sie erkennt<br />

den Bericht des Uno-Berichterstatters<br />

nicht an“, sagt Schüller, „sie will stattdessen<br />

einen vom Uno-Menschenrechtsrat<br />

in Genf. Das ist absurd.“<br />

ANDREAS LORENZ


Ausland<br />

I T A L I E N<br />

Der Ausverkauf<br />

Lange war Mailand Symbol für Wachstum und Fortschritt, für den erfolgreichen<br />

Norden des Landes. Das ist vorbei: Ausländische Investoren sichern sich<br />

die besten Adressen der Stadt, mehrere Konzernchefs stehen unter Betrugsverdacht.<br />

104<br />

Beppe Severgnini beschreibt Italien<br />

wie kaum einer sonst. Seine Bücher<br />

sind Bestseller. Auch weil sie<br />

Titel tragen wie diesen: „Überleben in<br />

Italien – ohne verheiratet, überfahren<br />

oder verhaftet zu werden“.<br />

Severgnini ist gefragt, nicht nur daheim.<br />

Selbst bei BBC und „Economist“ schätzen<br />

sie den kauzigen Kolumnisten; die<br />

britische Königin schlug ihn vor zwölf<br />

Jahren zum Ritter. An diesem regnerischen<br />

Novembertag aber sitzt der Weitgereiste<br />

in Mailand, schüttelt sein schlohweißes<br />

Haupt und sagt, er verstehe die<br />

Welt nicht mehr. „Innerhalb eines Tages<br />

haben sie meine Fußballmannschaft und<br />

den Stammsitz meiner Zeitung verkauft.“<br />

Die Zeitung, die Severgninis Kolumnen<br />

druckt, heißt „Corriere della Sera“ und<br />

ist Mailands Stolz seit 1876. Der Fußballverein,<br />

dem er drei Bücher gewidmet und<br />

sein Herz geschenkt hat, ist der F.C. Inter -<br />

nazionale, kurz Inter, gegründet 1908,<br />

mehrfacher Europapokal-Sieger und als<br />

einziger Club Italiens ununterbrochen<br />

erstklassig.<br />

Inter und „Corriere“ gehören zu Mailand<br />

wie Scala und Dom. Beziehungsweise:<br />

gehörten.<br />

Denn an diesem traurigen Novembertag<br />

meldet der „Corriere“, dass Inter nach<br />

105 Jahren in italienischem Besitz nun<br />

veräußert werde – zu 70 Prozent, an<br />

einen indonesischen Investor. Der Eigen -<br />

tümer und bisherige Inter-Präsident<br />

Massimo Moratti, Raffineriebesitzer aus<br />

bester Mailänder Familie, hatte nach Investitionen<br />

von geschätzt 1,2 Milliarden<br />

Euro genug.<br />

Zeitgleich wird auch das Ende von<br />

109 Jahren „Corriere“ in der Via Solfe -<br />

rino bekanntgegeben: Der historische<br />

Palazzo des Verlags, ein weiteres Stück<br />

Mailänder Tafelsilber, 30 000 Quadrat -<br />

meter in bester Lage, geht für 120 Millionen<br />

Euro an den US-Finanzinvestor<br />

Black stone; die bisherigen Hausherren<br />

dürfen als Mieter noch ein wenig verweilen.<br />

Ihr Stammhaus sei von den eigenen<br />

Aktionären an „Spekulanten“ verhökert<br />

worden, empörte sich die Redaktion.<br />

„Amerikaner können sich vieles kaufen,<br />

nur Geschichte nicht“, sagt Beppe<br />

Severgnini bitter. „Und das hier ist Geschichte:<br />

In diesem Gebäude haben alle<br />

geschrieben – Pasolini, Pirandello, Scia -<br />

scia und Moravia. Wir stehen hier auf den<br />

Schultern von Riesen.“<br />

Es war einer dieser Riesen, Indro Montanelli,<br />

der einst sagte, Mailand sei „die<br />

eigentliche Hauptstadt des Landes“.<br />

Denn was in der Hauptstadt der Lombardei<br />

seinen Anfang nimmt, erfasst für gewöhnlich<br />

bald ganz Italien, im Guten wie<br />

im Bösen. Das war beim Mussolini-Faschismus<br />

ab 1919 so wie auch beim Berlusconismus<br />

ein Dreivierteljahrhundert<br />

„Corriere della Sera“-Chefredakteur de Bortoli<br />

Das Ende einer liberalen Bastion<br />

später; das galt fürs Wirtschaftswunder<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg wie für die<br />

Zerschlagung der Parteienlandschaft in<br />

den neunziger Jahren. Viele der 3200 Prozesse<br />

wegen Korruption und illegaler Parteienfinanzierung<br />

fanden damals, während<br />

der Aktion „Mani pulite“, saubere<br />

Hände, im Mailänder Justizpalast statt –<br />

es war ein Signal für das ganze Land.<br />

Ist es jetzt mehr als eine Laune des<br />

Schicksals, dass mit Inter und dem „Corriere“-Stammhaus<br />

gleich zwei der wichtigsten<br />

Institutionen Mailands fallen?<br />

Wird der Ausverkauf weiterer italienischer<br />

Marken folgen? Die traditionellen<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

MARCO DI LAURO / GETTY REPORTAGE / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Modeunternehmen Gucci, Fendi, Bulgari,<br />

Valentino und Loro Piana sind bereits in<br />

ausländische Hände übergegangen. Versace<br />

bringt gerade ein Aktienpaket auf<br />

den Markt.<br />

„Der Dom von Mailand wird wahrscheinlich<br />

bald von Kanadiern gekauft“,<br />

spottete der „Corriere“ noch im September,<br />

bevor es ihn selbst traf, „und Nutella<br />

von den Pakistanern.“ In kaum ein ande -<br />

res Land der EU sind in den vergangenen<br />

Jahren so wenig ausländische Direkt -<br />

investitionen geflossen wie nach Italien<br />

– auch deshalb nimmt der Druck auf<br />

die bisher familiengeführten Unternehmen<br />

nun zu, sich für das globale Kapital<br />

zu öffnen.<br />

Doch die Angst davor ist groß. „Die<br />

Gnome von McKinsey möchten uns in<br />

ein Volk ehrwürdigster Kellner, Gitarristen,<br />

Geiger und Altenpfleger verwandeln“,<br />

klagte der Mailänder Wirtschaftsprofessor<br />

Giulio Sapelli.<br />

Der „Corriere della Sera“ ist die älteste<br />

und noch immer auflagenstärkste Zeitung<br />

des Landes. Eine liberale Bastion, der<br />

Konferenztisch ist dem Vorbild bei der<br />

Londoner „Times“ nachempfunden; in<br />

den angrenzenden Büros dunkles Holz,<br />

schwere Ledersessel, gesetzte Herren in<br />

Hemd und Krawatte.<br />

Das Verzeichnis der Anteilseigner bei<br />

der „Corriere“-Mutter RCS liest sich wie<br />

ein Best-of des überwiegend ortsansässigen<br />

Industrie- und Finanzadels. Wer sich<br />

zum Mailänder „salotto buono“ zählt, zur<br />

guten Stube, zur eng verbandelten Oberschicht<br />

in der Millionenmetropole, will<br />

beim „Corriere“ dabei sein. Fiat, Pirelli,<br />

Mediobanca, Banca Intesa, Tod’s, Benetton<br />

und Ligresti gehören zu den Aktionären.<br />

Mailands gute Stube ist eine italienische<br />

Variante der Deutschland AG – gedacht<br />

jedoch als Trutzburg. Durch inein -<br />

ander verschränkte Aktienbeteiligungen<br />

stützte man sich. Und geriet daher seit<br />

Ausbruch der Weltwirtschaftskrise gemeinsam<br />

ins Trudeln.<br />

„In unserem Verwaltungsrat saß früher<br />

das italienische Establishment; heute ist<br />

dort die geschwächte Wirtschaftsmacht<br />

dieses Landes versammelt“, sagt Fer -<br />

ruccio de Bortoli, der Chefredakteur.


Luxusgeschäft im Zentrum: Jeder zehnte der 14000 Obdachlosen ist Akademiker<br />

MARCO DI LAURO / GETTY REPORTAGE / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Eine gerahmte Erstausgabe des „Corriere“<br />

vom 5. März 1876 vor sich, hadert er<br />

mit der Entscheidung, für eine Handvoll<br />

schnellen Geldes den „Corriere“-Mythos<br />

aufs Spiel zu setzen – „und durch den<br />

Verkauf des Gebäudes den Niedergang<br />

des ganzen Konzerns zu beglaubigen“.<br />

De Bortoli will bei Bedarf weiterhin,<br />

wie bisher, unfreundliche Artikel über<br />

die eigenen Aktionäre drucken. Zur<br />

Rücksicht auf Fiat und andere Teilhaber<br />

mit Milliardenumsätzen fühle er sich<br />

nicht verpflichtet: „Den ‚Corriere‘ gibt es<br />

schließlich schon länger als seine Shareholder.“<br />

Und die sorgen in jüngster Zeit<br />

oft für negative Schlagzeilen.<br />

Pirelli-Chef Mario Tronchetti Provera<br />

etwa, 2011 mit einem Jahressalär von<br />

14,5 Millionen Euro Italiens bestbezahlter<br />

Manager, wurde im Juli wegen Wirtschaftsspionage<br />

zu 20 Monaten Haft auf<br />

Bewährung verurteilt. Der schwerreiche<br />

Salvatore Ligresti steht unter Hausarrest<br />

wegen des Verdachts auf Korruption und<br />

Bilanzfälschung. Auch die Mediobanca,<br />

Herzstück der alten Italien AG, ist Gegenstand<br />

von Ermittlungen.<br />

Und dann wurde noch am 1. August<br />

der vierfache Ex-Premier und Mailänder<br />

Medienunternehmer Silvio Berlusconi<br />

erstmals rechtskräftig verurteilt – wegen<br />

Steuerbetrugs.<br />

Alle Verurteilten oder Beschuldigten<br />

bestreiten die gegen sie erhobenen Vorwürfe.<br />

Probt da also eine im Angesicht<br />

leerer Staatskassen wildgewordene Justiz<br />

den Kahlschlag? Oder zeichnet sich eine<br />

Zeitenwende ab, das Ende der postfeudalen<br />

Vorherrschaft einiger weniger Industrie-<br />

und Finanzbosse?<br />

„Mailand wurde lange Zeit als moralische<br />

Hauptstadt Italiens bezeichnet, eine<br />

Stadt mit dem nötigen Bürgersinn, um<br />

die sogenannte italienische Krankheit zu<br />

bekämpfen“, sagt Chefredakteur de Bortoli.<br />

„Wenn wir die derzeitige Krise überwinden<br />

wollen, dann muss das von Mailand<br />

ausgehen.“<br />

Wer sich im dritten Jahr anhaltender<br />

Rezession ein Bild von Mailand machen<br />

möchte, von der reichsten Großstadt Italiens,<br />

wer sich in den Luxusgalerien,<br />

Suppen küchen und dem Unicredit-Hochhaus<br />

umhört, der sieht: eine Stadt in rasantem<br />

Wandel, auf der Suche nach sich<br />

selbst.<br />

Die Krise in Mailand hat viele Gesichter.<br />

Die unvermieteten Büros in den Wolkenkratzern<br />

hinterm Garibaldi-Bahnhof<br />

gehören dazu. Aber auch die 2000 Quadratmeter<br />

in der feinen Galleria Vittorio<br />

Emanuele II, die von der klammen Stadtverwaltung<br />

an den Raststättenbetreiber<br />

„Autogrill“ vermietet werden mussten.<br />

Ein paar Schritte weiter, an der Außenwand<br />

des Mailänder Doms, werben Nespresso<br />

und Samsung für ihre Produkte.<br />

Zur Krise gehört, dass allein 2615 Mailänder<br />

Unternehmen in den vergangenen<br />

zwei Jahren ihre Werkstore schlossen und<br />

dass im „Rigolo“, dem Stammlokal vieler<br />

„Corriere“-Journalisten, abends die Hälfte<br />

der Tische frei ist. Selbst in einfacheren<br />

Trattorien gehen die Gäste inzwischen<br />

vom Salat direkt zum Kaffee über.<br />

Und gleich neben dem Restaurant<br />

„Gold“ von Dolce&Gabbana, wo zum<br />

iberischen Schwein glasierte Kastanien<br />

serviert werden, stehen ab elf Uhr die<br />

ersten Hungrigen Schlange, um bei den<br />

Kapuzinern an der Piazza Tricolore was<br />

Warmes zu kriegen. 800000 Mahlzeiten<br />

für die Ärmsten Mailands werden hier inzwischen<br />

jährlich verteilt.<br />

Wer so lange nicht warten mag, pilgert<br />

in den Süden der Stadt. Dort, gleich hinter<br />

der privaten Elite-Universität Bocconi,<br />

stehen die Ersten schon im Morgengrauen<br />

an auf der Suche nach Essen. Hier ist<br />

der Sitz von Pane quotidiano, „tägliches<br />

Brot“, einer Wohltätigkeitsorganisation,<br />

die seit 1898 hilft, den Hunger zu bekämpfen.<br />

In Mailand hat sie zwei Filialen.<br />

Hier, in der Viale Toscana, steigt jetzt<br />

ein Mann aus einem Porsche Carrera 4S,<br />

der aussieht, als hätte er sich auf dem<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 105


Mode-Shooting in der Ladenpassage Vittorio Emanuele II: „Das hier ist Geschichte“<br />

Finanzmanager Rossi (r.) bei Essensverteilung: Im Porsche Carrera zum Spendensammeln<br />

106<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

MARCO DI LAURO / GETTY REPORTAGE / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

MARCO DI LAURO / GETTY REPORTAGE / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Weg nach Hollywood verfahren: Gletscherbräune,<br />

Rolex, Maßgeschneidertes<br />

für mehrere tausend Euro. Es ist Luigi<br />

Rossi, im Ehrenamt verantwortlich bei<br />

Pane quotidiano. Ein Spendensammler,<br />

wie es ihn nur in Mailand geben kann.<br />

Rossi arbeitet in der Finanzbranche – das<br />

hilft, wenn es darum geht, sich jenen zu<br />

nähern, die er im Kampf gegen den Hunger<br />

braucht: Leute aus den Chefetagen<br />

der Banken, vom „Corriere“ und von der<br />

Scala, mit denen er Wohltätigkeitskonzerte<br />

veranstalten kann. Oder Manager<br />

von Beretta oder Lindt, die Wurst und<br />

Schokolade verschenken.<br />

„Als ich hier begann, kamen tausend<br />

Leute pro Tag“, sagt Rossi, er ist seit<br />

zwölf Jahren dabei. „Inzwischen kommen<br />

dreimal so viele, der größte Andrang<br />

herrscht an Samstagen, wenn die Leute<br />

ihre Kinder mitbringen.“<br />

Es sind Menschen wie Elisabetta di<br />

Rosa aus der Wohnsiedlung Montegani:<br />

eine Frau von 43 Jahren, die sich mit Putzund<br />

Näharbeiten müht, zwei Kinder und<br />

einen Enkel über die Runden zu bringen.<br />

Ihr erster Mann ist verschollen, der zweite<br />

verstorben. Sie lebt von 500 Euro im<br />

Monat; nötig wären, so sagt sie ohne Bitterkeit,<br />

zumindest 800 Euro. An diesem<br />

Morgen hat sie sich eingereiht, um Bananen<br />

und Milch zu holen, es ist der Geburtstag<br />

ihres Jüngsten.<br />

In der 1,3 Millionen Einwohner zählenden<br />

Hauptstadt der Lombardei leben laut<br />

Statistikbehörde inzwischen 225000 Menschen<br />

in Armut. 18000 Wohnungen von<br />

säumigen Zahlern in Stadt und Provinz<br />

wurden 2012 zwangsgeräumt. Es gibt nun<br />

14000 Obdachlose, jeder zehnte ist Akademiker.<br />

Unweit der Mailänder Börse, wo eine<br />

Marmorskulptur mit ausgestrecktem Mittelfinger<br />

den Niedergang der Hochfinanz<br />

bebildert, hat der Stadtrat für Handel<br />

und Tourismus sein Büro. Franco d’Alfonso<br />

machte überregional Schlagzeilen,<br />

als er im Juli, ohne die frisch verurteilten<br />

Modemacher Dolce und Gabbana namentlich<br />

zu nennen, der Stadt Mailand<br />

mehr Zurückhaltung bei der Frage nahelegte,<br />

mit wem man sich bei der Modewoche<br />

schmückt: „Wir haben es nicht nötig,<br />

uns von Steuerflüchtlingen vertreten<br />

zu lassen.“<br />

Die auf ein Milliardenvermögen geschätzten<br />

Modemacher Domenico Dolce<br />

und Stefano Gabbana, erstinstanzlich zu<br />

je 20 Monaten Bewährungsstrafe plus insgesamt<br />

400 Millionen Euro Rückzahlung<br />

verurteilt, schlossen daraufhin ihre Mailänder<br />

Boutiquen „wegen Empörung“<br />

vier Tage lang. Und Gabbana twitterte,<br />

er finde Mailands linke Stadtregierung<br />

„zum Kotzen“.<br />

Stadtrat d’Alfonso will dazu am liebsten<br />

gar nichts mehr sagen, nur so viel:<br />

Steuerbetrug in Zeiten der Krise sei „moralisch<br />

verwerflich“. Seine Stadt war bis<br />

vor kurzem mit vier Milliarden Euro verschuldet,<br />

aus Rom ist keine Hilfe zu erwarten.<br />

Die Kommune musste zwischenzeitlich<br />

sogar den Zuschuss zur Mindestrente<br />

für Bedürftige beschneiden. Mehr<br />

als 2000 Milliarden Euro Staatsverschuldung<br />

lasten schwer auf dem ganzen<br />

Land.<br />

„Italien, das ist der Garten der Welt,<br />

das klingt nach Sonne und Mandolinen“,<br />

spottet d’Alfonso. „Mailand hingegen hatte<br />

schon immer einen schlechten Ruf:<br />

Hier bei uns gibt’s nur harte Arbeit und<br />

schlechtes Wetter.“<br />

Bis auf weiteres ruhen jetzt alle Hoffnungen<br />

auf der Expo 2015, die in Mailand<br />

stattfinden soll. Über 20 Millionen Besucher<br />

werden erwartet, von mehr als drei<br />

Milliarden Euro an Investitionen ist die<br />

Rede, die das Doppelte an Umsatz garantieren<br />

sollen. Eine Initialzündung für die<br />

Stadt, eine Trendwende zum Besseren,<br />

am Ende gar für das ganze Land? Taxifahrer,<br />

Gastronomen, Hotelbetreiber hoffen<br />

darauf. In gehobenen Mailänder Hotels<br />

zahlen Besucher bereits jetzt fünf<br />

Euro Sondersteuer pro Nacht an die<br />

Stadtverwaltung.<br />

Der Startschuss für das Großereignis<br />

allerdings ging schon mal schief. Die feier -<br />

liche Präsentation der Projekte rund um<br />

die Expo durch Regierungschef Enrico<br />

Letta wurde am vergangenen Donnerstag<br />

kurzfristig abgesagt. Italiens Premier<br />

blieb lieber in Rom. Er hatte Wichtigeres<br />

zu tun.<br />

WALTER MAYR


Ausland<br />

S P I E G E L - G E S P R Ä C H<br />

„Schwierig, schmerzhaft, blutig“<br />

Der Politiker Amr Mussa über das Ringen um eine neue Verfassung,<br />

die besondere Rolle des Militärs – und darüber, warum Ägypten nach Revolution und<br />

Islamisten-Regierung nun eine Übergangsperiode von bis zu zehn Jahren braucht<br />

Mussa, 77, war unter Staatschef Husni<br />

Mubarak von 1991 bis 2001 Außenminister<br />

Ägyptens, anschließend Generalsekretär<br />

der Arabischen Liga; nach der Revolution<br />

2011 kandidierte er bei der Präsidentenwahl,<br />

die der Islamist und Muslimbruder<br />

Mohammed Mursi gewann. Nach dessen<br />

Sturz setzten die Militärs eine Übergangsregierung<br />

ein, für die der Jurist Mussa<br />

eine neue Verfassung ausarbeitet, über<br />

die zur Jahreswende ein Referendum abgehalten<br />

werden soll.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Herr Mussa, innerhalb von 60 Tagen<br />

musste Ihre Kommission eine neue<br />

Verfassung ausarbeiten. War das auf seriöse<br />

Weise zu schaffen?<br />

Mussa: Wir haben nur noch wenig Zeit,<br />

aber wir nähern uns dem Ende unserer<br />

Arbeit. Ich bin zuversichtlich, dass wir<br />

108<br />

bereits Ende dieser Woche einen ersten<br />

Entwurf ausgearbeitet haben. Dann ist<br />

immer noch eine Woche Zeit bis zum geplanten<br />

Vorstellungstermin.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie können die Verfassung also<br />

am 3. Dezember der Übergangsregierung<br />

von Präsident Adli Mansur vorlegen?<br />

Mussa: Ja, auch wenn wir noch zwei, drei<br />

Punkte ausdiskutieren müssen, etwa eine<br />

Quotenregelung. Einige der 50 Ausschussmitglieder<br />

wollten den Arbeitern<br />

und Bauern im Parlament eine Anzahl<br />

von Sitzen sichern. Das ist vom Tisch.<br />

Aber offen ist, ob es nicht eine Quote für<br />

Frauen und die Jugend geben sollte.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Auch Präsident Mohammed Mursi<br />

hatte eine Verfassung ausarbeiten lassen,<br />

die per Referendum angenommen<br />

wurde. Wie viele der 236 Artikel haben<br />

Sie umgeschrieben oder aufgehoben?<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Mussa: Unsere Arbeit sollte nicht an einer<br />

bestimmten Zahl von Änderungen gemessen<br />

werden. Wir haben die ganze<br />

Ausrichtung der Mursi-Verfassung geändert.<br />

Unser Entwurf ist von einem anderen<br />

Geist geprägt. Wir haben den Frauen<br />

ihre Rechte zurückgegeben …<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: … die Mursi durch eine Stärkung<br />

der Scharia, der islamischen Rechtsordnung,<br />

eingrenzen wollte …<br />

Mussa: … und wir haben die Artikel über<br />

die Rechte und Freiheiten der Bürger neu<br />

geschrieben. Auch jene Artikel wurden<br />

geändert, die diskriminierend waren …<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: … beispielsweise gegenüber religiösen<br />

Minderheiten.<br />

Mussa: Wir haben zudem eine neue Institution<br />

aufgenommen, eine Art Anti-<br />

Diskriminierungsrat, der Fälle von Benachteiligung<br />

prüfen und dafür sorgen


wird, dass Verantwortliche zur Rechenschaft<br />

gezogen werden. Er soll kompetent<br />

besetzt werden, etwa mit hohen<br />

Richtern.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie stehen nicht nur zeitlich unter<br />

Druck, sondern auch durch die eigentlich<br />

Mächtigen im Lande, die Militärs.<br />

Mussa: Das Militär soll auf mich Druck<br />

ausüben? Auf unsere Verfassungsversammlung?<br />

Nein, das stimmt nicht. Das<br />

Militär betreibt Lobbyarbeit, natürlich.<br />

Wie die verschiedensten Gruppen versucht<br />

es, seine Interessen zu wahren. Aber<br />

es bevormundet uns nicht. Die Lobby -<br />

arbeit der Generäle beschränkt sich auf<br />

die Artikel, die das Militär betreffen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Und eben damit wollen die Generäle<br />

ihre Sonderrolle festschreiben.<br />

Mussa: Es gibt keine Sonderrolle, für niemanden.<br />

Was es geben wird, sind einige<br />

AHMED HAYMAN / DPA<br />

Koptische Christen in der von Islamisten<br />

zerstörten Kirche von Dalga<br />

„Von einem anderen Geist geprägt“<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

TARA TODRAS-WHITEHILL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Artikel, die auf die gegenwärtige Situa -<br />

tion im Lande Rücksicht nehmen, die<br />

aber nur für die Übergangsperiode gelten,<br />

in der wir uns derzeit befinden.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Manche Gruppen haben eine<br />

schwache Lobby, die Militärs haben eine<br />

gewaltige. Glauben Sie wirklich, die Generäle<br />

geben ihre durch den Staatsstreich<br />

gegen Präsident Mursi gewonnene Macht<br />

wieder her?<br />

Mussa: Erstens sprechen wir nicht von einem<br />

Staatsstreich. Zweitens ist es mir<br />

egal, wie Sie es nennen. Mursi musste gehen.<br />

Punkt. Das war eine Volksbewegung,<br />

entstanden nach einem Jahr unter<br />

einer ineffizienten Regierung der Muslimbrüder,<br />

die das Land an den Rand der<br />

Katastrophe geführt haben. Eine Regierung<br />

mit solch falschen Prioritäten, die<br />

ihre eigenen Vorstellungen von einem<br />

Staat über die Interessen des Volkes stellte,<br />

konnte Ägypten nicht hinnehmen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Mursi war ein demokratisch gewählter<br />

Präsident.<br />

Mussa: Gewählt oder nicht gewählt, Demokratie<br />

hin oder her: Mursi und die<br />

Muslimbruderschaft waren dabei, Ägypten<br />

zu ruinieren. Die Zukunft des Landes<br />

stand auf dem Spiel. Das sollten solche<br />

Experten wie Sie vom <strong>SPIEGEL</strong> doch<br />

wissen. Mursi und seine Leute haben versucht,<br />

die Macht an sich zu reißen und<br />

das ganze System zu verändern. Spätestens<br />

am 22. November vergangenen Jahres,<br />

als sich Mursi mit einem Dekret über<br />

die Gesetze stellte, müssen das auch Sie<br />

gemerkt haben.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Mursis Versuch, sich und seine<br />

Entscheidungen unantastbar zu machen,<br />

wurde weltweit verurteilt.<br />

Mussa: Danke. Aber für uns ging es um<br />

Ägyptens Zukunft. Sie als Deutsche<br />

müssten wissen, wohin das führt, wenn<br />

die Demokratie benutzt wird. So sind bei<br />

Ihnen die Nazis an die Macht gekommen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie wollen doch nicht Mohammed<br />

Mursi mit Adolf Hitler vergleichen?<br />

Mussa: Richtig ist, dass Mursi unserem<br />

Land allein in seinem ersten Jahr einen<br />

so unermesslichen Schaden zugefügt hat,<br />

wie andere es in Jahrzehnten nicht geschafft<br />

hätten. Deshalb konnten wir nicht<br />

abwarten. Wir mussten handeln. Wissen<br />

Sie, was für uns zählt? Dass wir der Herrschaft<br />

der Muslimbrüder ein Ende bereitet<br />

haben. Jetzt kümmern wir uns um die<br />

Gegenwart und um unsere Zukunft …<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: … die eine Militärdiktatur sein<br />

könnte.<br />

Mussa: Nein, denn unsere Zukunft wird<br />

aufgebaut auf jener Verfassung, an der<br />

wir gerade arbeiten. Und die ist ein Bekenntnis<br />

zur Demokratie. Sie schafft die<br />

Voraussetzung für ein starkes Parlament,<br />

regelt die Rechte und Pflichten des Präsidenten<br />

und gewährt den Menschen<br />

Rechte und Freiheiten.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wenn Sie in der Verfassung festschreiben<br />

wollen, dass der Verteidigungsminister<br />

grundsätzlich ein General sein<br />

muss, dann ist Misstrauen angebracht.<br />

Mussa: So wird das nicht in der Verfassung<br />

stehen. Aber für eine gewisse Zeit<br />

wird es so sein, dass der Verteidigungsminister<br />

ein Mann des Militärs ist. Ich<br />

sprach ja davon, dass wir uns in einer<br />

Übergangsperiode befinden.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Das würden wir gern etwas genauer<br />

erklärt bekommen.<br />

Mussa: Nein, das werde ich jetzt nicht erklären.<br />

Die Besetzung von Ministerien<br />

ist eine Angelegenheit der Regierung.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: In fast allen Demokratien muss<br />

das Militär seinen Etat detailliert offenlegen.<br />

Ihnen aber reicht es aus, wenn die<br />

Militärs die ungefähre Höhe ihres Budgets<br />

angeben. Damit entziehen sich die<br />

Offiziere weiterhin der Kontrolle.<br />

Mussa: Es wird Transparenz geben. Bestimmte<br />

Stellen, auch Parlamentarier,<br />

werden Einblick in den Militäretat er -<br />

halten.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wollen Sie eine Kontrolle der Armee<br />

durch das Parlament einführen, wie<br />

wir sie aus Deutschland kennen?<br />

Mussa: Sie können unsere Situation nicht<br />

mit Ihrer in Deutschland vergleichen. Wir<br />

müssen hier in Ägypten behutsam vorgehen,<br />

schrittweise. Aber machen Sie sich<br />

keine Sorgen: Wir wissen, dass in einer<br />

Demokratie alle Institutionen der Regierung<br />

unterstehen müssen und einige auch<br />

der Aufsicht durch das Parlament.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Schon die Regierung von Präsident<br />

Mursi hatte den Militärs Sonderrechte<br />

in der Verfassung eingeräumt, um die<br />

Machtansprüche der Generäle zu erfüllen.<br />

Das übernehmen Sie nun.<br />

Mussa: Unsere Verfassung wird das nicht<br />

so übernehmen, aber da sind wir noch<br />

mittendrin in einer sehr harten Diskus -<br />

sion mit den Militärs.<br />

Politiker Mussa<br />

„Wir sprechen nicht von einem Staatsstreich“<br />

109


<strong>SPIEGEL</strong>: Das ist die diplomatische Formel<br />

für das, was wir vorhin „Druck durch die<br />

Militärs“ genannt haben.<br />

Mussa: Sie und andere im Westen denken,<br />

Ihr Weg sei der einzig Richtige. Aber wir<br />

Ägypter müssen unseren Weg gehen,<br />

ohne Rücksicht darauf, ob das dem einen<br />

oder anderen im Westen gefällt. Und wir<br />

gehen ihn in Richtung Demokratie.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie können nicht von einer Demokratie<br />

sprechen, wenn Sie der Armee<br />

das Recht einräumen, jeden Zivilisten<br />

festzunehmen, von dem sie sich angegriffen<br />

oder kritisiert fühlt.<br />

Mussa: Sie darf nicht „jeden“ festnehmen.<br />

Das ist falsch, absolut falsch, und es hat<br />

auch nichts mit unserer Verfassung zu<br />

tun. Vielleicht hat es aber damit zu tun,<br />

dass Sie etwas gegen das Militär haben?<br />

Sind Sie bei den Grünen?<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wir haben etwas gegen Menschenrechtsverletzungen<br />

– egal, von wem<br />

sie begangen werden.<br />

Mussa: Wie leben hier in einer schwierigen<br />

Situation: Chaos, Gewalt, Wirtschafts -<br />

krise. Trotzdem wird unsere Verfassung<br />

den Anforderungen an Demokratie und<br />

Zivilgesellschaft Rechnung tragen und allen<br />

Institutionen Grenzen setzen. Aber<br />

aufgrund der besonderen Umstände brauchen<br />

wir eine Übergangsregelung.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Und die bleibt dann auf Jahrzehnte<br />

hinaus in Kraft.<br />

Mussa: Nein, die Übergangsphase wird<br />

vielleicht fünf Jahre dauern, vielleicht<br />

zehn. Doch auch während dieser Zeit<br />

werden die Grundpfeiler unserer Verfassung<br />

in Kraft bleiben.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Aber richtig ist doch, dass Ihre<br />

Verfassung die Sonderrechte für das Militär<br />

nicht einschränkt.<br />

Mussa: „Sonderrechte“ ist der falsche Begriff.<br />

Richtig ist, dass es drei oder vier<br />

Artikel geben wird, die festschreiben,<br />

dass unsere Armee eine Institution, eine<br />

Ausland<br />

Ex-Präsident Mursi (r.) im Gerichtssaal: „Er muss sich verantworten, wie Mubarak“<br />

110<br />

Säule unseres Staates ist. Ihre Verantwortung<br />

wird definiert.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Können die Generäle auch nach<br />

der neuen Verfassung noch Zivilisten vor<br />

Militärgerichten anklagen und zu Strafen<br />

verurteilen lassen, gegen die kein Einspruch<br />

zugelassen wird?<br />

Mussa: Grundsätzlich nein. Aber es wird<br />

bestimmte Ausnahmen geben, die noch<br />

nicht festgelegt sind.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Ausnahmen werden schnell zur<br />

Regel. Tatsächlich ist die Repression heute<br />

größer als unter Husni Mubarak. Allein<br />

seit dem Putsch im Juli sitzen weit<br />

über 2000 Mursi-Anhänger im Gefängnis.<br />

Wie stellen Sie sich so eine Aussöhnung<br />

mit Millionen von Muslimbrüdern<br />

vor?<br />

Mussa: Ich bezweifle sehr, dass Mursi und<br />

die Muslimbrüder so viele Millionen Anhänger<br />

haben. Und es ist auch nicht die<br />

Aufgabe des Staates, die Muslimbrüder<br />

wieder in die Politik zurückzuholen. Sie<br />

selbst müssen sich entscheiden, ob sie am<br />

Rand stehen bleiben wollen, um von dort<br />

auf uns zu schießen, oder ob sie zurück<br />

wollen in die Gesellschaft.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wenn Sie Präsident Mursi vor<br />

Gericht stellen und Tausende ins Gefängnis<br />

stecken, müssen Sie sich doch nicht<br />

wundern, dass die Muslimbrüder dem<br />

poli tischen Betrieb fernbleiben.<br />

Mussa: Danke für Ihre Expertise. Ich würde<br />

mich freuen, wenn Sie auch über unsere<br />

Opfer sprechen würden, über jene,<br />

die von den Muslimbrüdern erschossen<br />

wurden. Sehen Sie diese andere Seite?<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Von Ausgleich und Versöhnung<br />

zu reden und zugleich Mursi anzuklagen,<br />

das widerspricht sich. Auch die EU-Außenminister<br />

fordern seine Freilassung.<br />

Mussa: Es wurde gegen Mursi ermittelt,<br />

nun bekommt er seinen Prozess und muss<br />

sich vor Gericht verantworten – so wie<br />

auch der frühere Präsident Mubarak.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

DPA<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Müssen sich auch Militär und Sicherheitskräfte<br />

für die vielen hundert Toten<br />

verantworten, die es allein bei der<br />

brutalen Räumung der beiden islamistischen<br />

Protestlager in Kairo gab?<br />

Mussa: Ja, es hat Exzesse der Sicherheitskräfte<br />

gegeben; die werden untersucht,<br />

und die Verantwortlichen werden zur Rechenschaft<br />

gezogen. Auch beim Militär.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Der erste demokratisch gewählte<br />

Präsident im Gefängnis, die Armee als<br />

angeblicher Retter in der Not und immer<br />

wieder gewaltsame Proteste – was ist<br />

schiefgelaufen bei dem vor gut drei Jahren<br />

so euphorisch begrüßten Arabischen<br />

Frühling?<br />

Mussa: Ich nenne es nicht den „Arabischen<br />

Frühling“, das klingt sehr verklärend.<br />

Was wir erlebt haben und noch immer<br />

erleben, ist eine starke Bewegung,<br />

die genug hat von den alten Verhältnissen,<br />

die nach Veränderung ruft und ihren<br />

eigenen Weg sucht. Nun befinden wir uns<br />

in einem langwierigen Wandel, mit vielen<br />

Aufs und Abs, nicht nur in Ägypten, sondern<br />

in der ganzen arabischen Welt: Er<br />

ist schwierig, schmerzhaft, blutig. Aber<br />

die Menschen in dieser Region, die Libyer,<br />

die Syrer, die Jemeniten, sie alle verdienen<br />

eine bessere Zukunft.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Warum ist der ohnehin nicht<br />

leichte Weg zur Demokratie in dieser Region<br />

so besonders schwierig?<br />

Mussa: Weil wir es in der Auseinandersetzung<br />

mit Organisationen zu tun haben,<br />

die den Glauben instrumentalisieren, um<br />

ihre Vorstellung von einem politischen<br />

Islam, von einer großen muslimischen<br />

Nation durchzusetzen. Hinzu kommen<br />

Probleme, die von außen in die arabische<br />

Welt hineingetragen wurden, wie das Palästina-Problem.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie meinen damit die Gründung<br />

des Staates Israel?<br />

Mussa: Oder auch den Nuklearstreit zwischen<br />

Iran und dem Westen, dessen Lösung<br />

sich jetzt abzeichnet. Und hinter all<br />

diesen Konflikten stehen auch noch große<br />

Mächte, die wieder ihre ganz eigenen Interessen<br />

vertreten. Das Einzige, was sicher<br />

ist: In den nächsten zwei bis fünf Jahren<br />

wird sich diese Region drastisch wandeln.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Angesichts des Bürgerkriegs in<br />

Syrien und der Gewalt in Libyen fällt es<br />

schwer, an eine Wende zum Besseren zu<br />

glauben.<br />

Mussa: Zumindest für Ägypten bin ich<br />

zuversichtlich. Was Syrien anbelangt,<br />

muss sich der Westen selbst kritisieren.<br />

Ihre Regierungen sind zögerlich und haben<br />

Interessenkonflikte. Was haben die<br />

USA nicht alles angekündigt? Baschar al-<br />

Assad müsse gehen. Sie würden ihn abstrafen.<br />

Und? Jetzt reden sie über Verhandlungen<br />

in Genf. Was wird das bringen?<br />

Alle werden Zeit gewinnen, nur<br />

nicht das syrische Volk. Wenn den Menschen<br />

geholfen werden soll, sollte die<br />

Weltgemeinschaft im Uno-Sicherheits -


at die nötigen Entscheidungen treffen.<br />

Kraftvolle Entscheidungen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie plädieren für ein militärisches<br />

Eingreifen gegen Präsident Assad?<br />

Mussa: Jedenfalls muss gehandelt werden.<br />

Entschlossen. Dazu muss man auch mit<br />

den Iranern sprechen. Die Iraner spielen<br />

auf beiden Seiten des Konflikts eine wichtige<br />

Rolle.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Kairo hatte in der arabischen<br />

Welt oft eine Führungsrolle. Wo sehen<br />

Sie Ihr Land in zehn Jahren, wenn es vielleicht<br />

100 Millionen Einwohner zählt?<br />

Mussa: Wenn wir das Richtige tun, werden<br />

wir wieder eine wesentliche Rolle<br />

spielen in der Region. Wir könnten eine<br />

Kraft sein, auf die man hört, als Nation<br />

mit großer „Soft Power“, die Einfluss<br />

nimmt durch ihre Kultur, gelebte Demokratie,<br />

Prinzipientreue und Verlässlichkeit,<br />

auch gegenüber unseren arabischen<br />

Brüdern in Palästina.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Auch gegenüber Israel?<br />

Mussa: Ja. Wir haben einen Friedensvertrag<br />

miteinander, und den werden wir<br />

einhalten. Daran gibt es keinen Zweifel.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Israels Sorge vor einer schleichenden<br />

Islamisierung, der irgendwann<br />

der Frieden mit Jerusalem geopfert wird,<br />

ist gleichfalls unbegründet?<br />

Mussa: Ja, das neue Ägypten soll ein moderner<br />

Staat werden. Aber natürlich können<br />

wir unsere Religion nicht beiseite -<br />

wischen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Bleibt Ägypten ein strategischer<br />

Partner des Westens, auch wenn die<br />

Übergangsregierung gerade die Kontakte<br />

zu Moskau intensiviert?<br />

Mussa: Aber natürlich. Die Vereinigten<br />

Staaten sind die Großmacht in der Re -<br />

gion. An der Partnerschaft zu rütteln<br />

wäre sicherlich sonderbar.<br />

* Mit den Redakteuren Klaus Brinkbäumer und Dieter<br />

Bednarz in seinem Büro in Kairo.<br />

Ausland<br />

Tote Mursi-Anhänger, Trauernde in Kairo: „Es hat Exzesse der Sicherheitskräfte gegeben“<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Nachdem Washington einen<br />

Großteil seiner jährlichen Militärhilfe von<br />

1,3 Milliarden Dollar demonstrativ ausgesetzt<br />

hat, war Kairos Einladung an die<br />

russischen Minister für Außenpolitik und<br />

Verteidigung doch kein Zufall.<br />

Mussa: Russland ist ein wichtiges Land,<br />

doch es geht nicht darum, den einen<br />

durch den anderen zu ersetzen. Aber<br />

Moskau und Kairo haben gemeinsame<br />

Perspektiven, etwa im Handel, auch bei<br />

der strategischen Ausrichtung. Außerdem<br />

ist die russische Diplomatie, wie wir gerade<br />

an Syrien sehen, effektiv und zielstrebig.<br />

Wir sehen doch gerade, dass sich<br />

bei vielen Ländern strategische Partnerschaften<br />

verändern.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie meinen die Annäherung zwischen<br />

Iran und den USA?<br />

Mussa: Die Ausrichtungen verändern sich.<br />

Auch wir müssen sehen, wo wir stehen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Kairo steht Iran heute näher als<br />

früher.<br />

Mussa: Wir haben immer noch unsere<br />

Probleme. Besonders das Verhältnis zwischen<br />

den arabischen Golfstaaten und<br />

Iran ist nicht frei von Spannungen und<br />

beschäftigt auch uns. Doch Ägypten verfolgt<br />

keine gegen Iran gerichtete Politik,<br />

und das sollte auch umgekehrt gelten.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Gegenüber Europa verhält sich<br />

Kairo hingegen eher distanziert, nachdem<br />

Mussa beim <strong>SPIEGEL</strong>-Gespräch*<br />

„Sind Sie bei den Grünen?“<br />

MOSAAB EL SHAMY / DPA<br />

TARA TODRAS-WHITEHILL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

die EU das Vorgehen des Militärs gegen<br />

Präsident Mursi und die Muslimbrüder<br />

kritisiert hat.<br />

Mussa: Nein. Es gibt vielfältige Bindungen<br />

zwischen Europa und Ägypten: kulturell,<br />

ökonomisch, politisch. Diese Beziehungen<br />

müssen wir erhalten und ausbauen.<br />

Und ich darf daran erinnern, dass in meiner<br />

Amtszeit als Außenminister die Entwicklung<br />

einer „vierten Dimension“ vor -<br />

angetrieben wurde: die Mittelmeerunion.<br />

Wir sind Partner in diesem Raum.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Berlin liegt nicht am Mittelmeer.<br />

Mussa: Deutschland ist die führende Nation<br />

in Europa. Wir Ägypter haben großen<br />

Respekt vor dem, was Deutschland<br />

leistet, politisch wie ökonomisch. Wir<br />

hoffen sehr auf die Hilfe Ihres Landes bei<br />

der Gestaltung unserer Zukunft und werden<br />

unseren Teil dazu beitragen, dass die<br />

deutsche Hilfe effizient umgesetzt wird.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wir dachten, die Golfstaaten seien<br />

für Ihre Außenpolitik inzwischen<br />

wichtiger als Europa.<br />

Mussa: Wir dürfen Saudi-Arabien, die<br />

Vereinigten Arabischen Emirate oder Kuwait<br />

nicht aus den Augen verlieren. Diese<br />

Länder helfen uns derzeit sehr, und das<br />

wissen wir zu schätzen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Dank dieser Hilfe wird Ihr Land<br />

nicht abgleiten in einen Strudel aus Unruhen<br />

und religiöser Militanz?<br />

Mussa: Ich hoffe das. Die Welt sieht, was<br />

derzeit in Syrien geschieht.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Ägypten wird im Jahr 2023 also<br />

ein ziviler, demokratischer Staat sein und<br />

keine Militärdiktatur?<br />

Mussa: Seien Sie unbesorgt. Ägypten wird<br />

ein ziviler Staat sein, ganz gewiss.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Und das „zivil“ ist auch in der<br />

neuen Verfassung festgeschrieben?<br />

Mussa: Ja, das wird in der Verfassung stehen,<br />

auch wenn ich Ihnen jetzt noch nicht<br />

die genaue Formulierung sagen kann.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Das wird General Abd al-Fattah<br />

al-Sisi kaum hindern, bei der Präsidentenwahl<br />

im Frühsommer zu kandidieren.<br />

Wie einst Mubarak müsste er nur die Uniform<br />

gegen einen Anzug tauschen.<br />

Mussa: Wer für das Präsidentenamt kandiert,<br />

steht noch nicht zur Debatte. Zuvor<br />

müssen wir noch die Parlamentswahl abhalten.<br />

Aber ich glaube ohnehin nicht,<br />

dass General Sisi kandidieren wird. Zum<br />

einen habe ich von ihm nicht gehört, dass<br />

er das beabsichtige. Zum anderen macht<br />

er als Oberbefehlshaber der Armee eine<br />

wirklich gute Arbeit.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Werden Sie erneut kandidieren?<br />

Mussa: Nein, ich möchte keine Ämter<br />

mehr übernehmen, sondern meinem<br />

Land als Bürger dienen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wer wird die Wahl gewinnen?<br />

Mussa: Das weiß ich nicht. Aber eines<br />

kann ich Ihnen sagen: Falls General Sisi<br />

kandieren sollte, bekäme er die überwältigende<br />

Mehrheit der Stimmen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Herr Mussa, wir danken Ihnen<br />

für dieses Gespräch.<br />

112<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Ausland<br />

LONDON<br />

Consommé mit Grashüpfer<br />

GLOBAL VILLAGE: Warum vier Londoner die<br />

Europäer vom Insektenessen überzeugen wollen<br />

Julene Aguirre weiß, dass der Anfang<br />

für ihre Gäste meist das Schlimmste<br />

ist. „Bereit?“, fragt sie mit hochgezogenen<br />

Augenbrauen. Dann schaltet sie<br />

den Mixer an. Innerhalb weniger Sekunden<br />

werden Hunderte Wachsmottenlarven<br />

püriert. „Das ist für Pfannkuchen“,<br />

erklärt Aguirre und schüttet die Masse<br />

durch ein Sieb, um die Larven von ihrer<br />

Chitinhülle zu trennen. Danach mischt<br />

sie Mehl und Wasser unter den Larvenbrei<br />

und schöpft alles in eine Pfanne, in<br />

der heißes Fett brutzelt.<br />

Vergisst man für einen<br />

Moment die Larven, sieht<br />

es so aus, als würde die gebürtige<br />

Mexikanerin in ihrer<br />

Küche in London einfach<br />

nur Pfannkuchen zubereiten.<br />

Lediglich der Behälter<br />

neben der Spüle, in dem<br />

sich die Überreste der Larven<br />

lila verfärben, erinnert<br />

daran, dass hier etwas anders<br />

ist.<br />

Julene Aguirre, 28, will<br />

den Menschen das Insekten -<br />

essen schmackhaft machen.<br />

Die Schwierigkeit ist allerdings,<br />

dass viele Europäer<br />

Larven, Maden und Heuschrecken<br />

für Ungeziefer<br />

halten. „Und es ekelt viele,<br />

dass die Tiere tot genauso<br />

aussehen wie lebendig“,<br />

sagt sie, während sie die<br />

Pfannkuchen wendet. „Deshalb<br />

muss sich als Erstes<br />

die Wahrnehmung ändern.“<br />

Das Insekt darf nicht aussehen wie ein<br />

Insekt, auf dem Teller sollen nicht Flügel<br />

und Köpfe zu sehen sein, sondern Speisen,<br />

die Europäer gewohnt sind.<br />

Aguirre hat daher mit drei befreundeten<br />

Designern und Ingenieuren „Ento“<br />

gegründet, abgeleitet von „Entomophagie“:<br />

Verzehr von Insekten. Ihre Mission<br />

ist es, die Krabbeltiere eines Tages sogar<br />

in britische Supermärkte zu bringen. Seit<br />

einem knappen Jahr macht Ento zudem<br />

Catering für Veranstaltungen, es geht vor<br />

allem um Aufmerksamkeit für ihr Projekt.<br />

Im August haben sie in einem temporären<br />

Restaurant drei Tage lang Fünf-Gänge-<br />

Menüs serviert, darunter eine Consommé<br />

mit Grashüpfer-Dumplings, ein Medaillon<br />

aus Wachsmottenlarven und Panna cotta<br />

mit Drohnenlarven der Honigbiene.<br />

114<br />

Köchin Aguirre: Ohne Flügel und Köpfe<br />

Die Jungunternehmer wurden für ihre<br />

Idee bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet.<br />

Dabei war es Zufall, dass<br />

Aguirre zur Insektenköchin wurde. Während<br />

ihres Studiums am Londoner Royal<br />

College of Art besuchte sie ein Seminar,<br />

das sich mit der schlichten Frage beschäftigte:<br />

Vor welchen Herausforderungen<br />

wird die Menschheit in Zukunft stehen –<br />

und wie werden sie sich lösen lassen?<br />

Bei ihren Recherchen stießen Aguirre<br />

und ihre Kommilitonen auf ein Problem,<br />

das die Wissenschaft seit langem beschäftigt:<br />

Im Jahr 2050 könnte es nicht mehr<br />

genug Nahrung für die Weltbevölkerung<br />

geben. Neun Milliarden Menschen werden<br />

dann auf der Erde leben, so die Pro -<br />

gnosen der Uno; der Proteinbedarf wird<br />

steigen. Aber wenn in den reichen Ländern<br />

und den aufstrebenden Regionen<br />

weiterhin so viel Fisch und Fleisch gegessen<br />

wird, werden die Anbauflächen nicht<br />

reichen, um den Rest der Welt zu ernähren.<br />

Insekten könnten die Lösung sein.<br />

Grillen verwandeln zwei Kilogramm<br />

Futter in ein Kilogramm Gewicht. Mastrinder<br />

verwandeln im Schnitt zehn Kilogramm<br />

Futter in ein Kilogramm Gewicht.<br />

Das Rind ist also fünfmal weniger effizient.<br />

Außerdem können Insekten mit<br />

Bioabfällen gefüttert werden und produzieren<br />

weniger Treibhausgase.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Auch für die Jungunternehmer war das<br />

Insektenessen neu. Deshalb sind sie nach<br />

der Gründung von Ento in ein Restaurant<br />

gegangen, das Insekten serviert, Käfer im<br />

Salat und gegrillte Heuschrecken. Sie merkten:<br />

Mit solchen Gerichten kriegen wir vielleicht<br />

die Abenteurer zum Insektenessen,<br />

aber nicht den Durchschnittseuropäer.<br />

Monatelang experimentierten die vier<br />

Gründer mit Rezepten: Sie buken Cracker<br />

aus Insektenmehl, brieten Burger<br />

aus Insektenfleisch, frittierten ganze Insekten<br />

zu Tempura. Mit dem Abstrakten,<br />

dem Cracker, hatte kaum<br />

ein Testesser ein Problem.<br />

„Die Menschen sind immer<br />

überrascht, dass diese Gerichte<br />

nicht abartig, sondern<br />

nicht viel anders schmecken<br />

als das, was wir sonst zu uns<br />

nehmen“, sagt Aguirre.<br />

Das gilt auch für die Pfannkuchen,<br />

die sie an diesem<br />

Abend gebacken hat: Sie<br />

sind luftig wie American Pancakes,<br />

dünn wie französische<br />

Crêpes und herzhaft wie<br />

Fleisch. Allerdings kostet der<br />

Larvenpfannkuchen auch so<br />

viel wie ein Filet Mignon.<br />

Aguirre bezieht ihre Insekten<br />

von britischen Farmen,<br />

die diese als Tiernahrung<br />

ANDREA ARTZ / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

züchten, etwa für Echsen.<br />

„Wir hoffen natürlich, dass<br />

sich mit steigender Nachfrage<br />

das Angebot reguliert“,<br />

sagt Aguirre. „Dann werden<br />

auch die Preise fallen.“<br />

Catering und Fünf-Gänge-Menüs sind<br />

erst der Anfang, im kommenden Jahr<br />

wollen die Unternehmensgründer in ausgewählten<br />

Cafés Lunchboxen mit Gemüse-Insekten-Würfeln<br />

verkaufen, die mit<br />

Stäbchen gegessen werden.<br />

Wenn sich die Menschen daran gewöhnt<br />

haben, hoffentlich in wenigen<br />

Jahren, will Ento Fertigprodukte für Supermärkte<br />

anbieten, Heuschrecken-Bolognese<br />

etwa.<br />

Im Jahr 2020 sollen die Supermärkte<br />

dann die Rohprodukte führen. Aguirre<br />

glaubt, dass die Europäer bis dahin ihre<br />

Essgewohnheiten verändert haben werden.<br />

„Früher konnte sich auch niemand<br />

in Europa vorstellen, rohen Fisch zu essen.<br />

Inzwischen wundert sich niemand<br />

mehr über Sushi.“ THERESA BREUER


Serie<br />

AFRIKA (II) Die digitale Revolution könnte Millionen<br />

aus der Armut befreien. Eine neue Generation von<br />

kreativen Computerexperten entwickelt Apps, die<br />

genau zugeschnitten sind auf die Bedürfnisse der<br />

Afrikaner. Zugleich wächst der Markt für Smart -<br />

phones nirgendwo schneller. In einer dreiteiligen<br />

Serie beschreibt der <strong>SPIEGEL</strong> den Wandel eines<br />

Kontinents, den der Westen schon abgeschrieben<br />

hatte. Und der jetzt Unternehmergeist und neues<br />

Selbstbewusstsein zeigt.<br />

Im Silicon Savannah<br />

Mit Handy und Internet findet der Kontinent endlich Anschluss an den Rest der Welt.<br />

118<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Ein Loft, hohe Fenster, Holzfußböden<br />

und an langen Tischen junge Menschen,<br />

die sich über ihre Laptops<br />

beugen: keine Nerds, sondern Frauen, die<br />

ihr Haar zu Zöpfchen geflochten haben,<br />

und Männer mit bunten T-Shirts. Sie sind<br />

Studenten, Blogger, Internetdesigner, Programmierer,<br />

nicht irgendwo in Kalifornien,<br />

sondern in der Ngong Road, Nairobi.<br />

Hier, im iHub, treffen sich jene, die am<br />

unwahrscheinlichsten aller Orte an der<br />

Zukunft des Internets arbeiten: in Afrika.<br />

Menschen wie Wesley Kirinya, 30, ein Internetunternehmer,<br />

der vor drei Jahren<br />

sein Medizinstudium abgebrochen und<br />

die Firma Leti Games gegründet hat – inzwischen<br />

beschäftigt er sechs Angestellte,<br />

in ganz Afrika.<br />

Er hat einen eineinhalb Meter langen<br />

Tisch vor den Fenstern gemietet. Solange<br />

Leti Games sich noch in der Start-up-<br />

Phase befindet, ist das hier sein Firmensitz,<br />

nur wenige Schritte entfernt von<br />

dem Café des iHub. Dort kauft er sich<br />

jetzt einen Latte macchiato, die Rechnung<br />

bezahlt er per SMS, 100 kenianische<br />

Schilling. Er tippt die Telefonnummer<br />

der Bar ein, dann eine Geheimzahl, zuletzt<br />

drückt er die Verbindungstaste: gebucht.<br />

M-Pesa heißt das Bezahlsystem, „M“<br />

steht für mobil, „Pesa“ für Bargeld in der<br />

Landessprache Kisuaheli. M-Pesa macht<br />

das Handy zugleich zum Bankkonto, zur<br />

Kreditkarte und zur Geldbörse. Erfunden<br />

wurde es in Kenia, genutzt wird es inzwischen<br />

in fast allen Entwicklungsländern.<br />

Ein Drittel der Wirtschaftsleistung in Kenia<br />

wird bereits über M-Pesa abgewickelt<br />

– während in Europa gerade mal einige<br />

Großstädte damit experimentieren, Parkgebühren<br />

per Handy zu kassieren.<br />

Kirinya programmiert Handy-Spiele,<br />

sein jüngstes Projekt heißt „Ananse“, dar -<br />

in ringt ein spinnenartiges Wesen aus der<br />

ghanaischen Mythologie mit skrupellosen<br />

Politikern. „Wir haben ,Ananse‘ in die<br />

Gegenwart gebeamt“, sagt Kirinya. Im<br />

Oktober ist das Spiel in Ghana und Kenia<br />

auf den Markt gekommen, mehr als<br />

100000-mal wurde es bisher heruntergeladen.<br />

Ab Januar soll „Ananse“ auch<br />

Geld bringen, dann verlangt Kirinya für<br />

das Download einen Dollar, Updates kos-<br />

FRE<strong>DER</strong>IC COURBET / PANOS JB RUSSELL / PANOS<br />

ROBIN HAMMOND / PANOS<br />

GEORGE OSODI / PANOS<br />

Handy-Nutzer in Afrika<br />

SVEN TORFINN / PANOS<br />

MIKKEL OSTERGAARD / PANOS<br />

SVEN TORFINN / PANOS<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 119


ten extra und gezahlt wird natürlich per<br />

M-Pesa.<br />

Inzwischen hat Kirinya sich einen Namen<br />

in der Szene erworben, nicht nur in<br />

Afrika. Im März ist er mit Kollegen zu<br />

einer Computerspielmesse nach San Francisco<br />

geflogen. „Die haben uns Afrikaner<br />

dort absolut ernst genommen“, sagt er.<br />

„Wir fühlen uns plötzlich sehr global, endlich<br />

gehören wir dazu.“<br />

Natürlich seien die Amerikaner technisch<br />

viel weiter, sie arbeiteten unter Bedingungen,<br />

von denen er nur träumen<br />

könne. „Doch wir haben gemerkt, dass<br />

sie zu schätzen wissen, was wir mit unseren<br />

Mitteln schaffen.“ Etwa Lowtech-<br />

Spiele, wie Kirinya sie für den afrikanischen<br />

Markt entwickelt. Die Amerika -<br />

ner, sagt Kirinya, hätten sich ein wenig<br />

an ihre eigene Pionierzeit erinnert gefühlt.<br />

Zwölf Stunden am Tag arbeitet er im<br />

iHub an seiner Karriere. Manchmal auch<br />

länger, dann ist seine Frau wütend, quengeln<br />

die Kinder. Aber Kirinya hat große<br />

Träume, er sieht all die Möglichkeiten,<br />

die Afrika ihm bietet. Seine nächste Idee:<br />

Er will ein afrikanisches Nachrichten -<br />

portal für Mobiltelefone entwickeln. Anderswo<br />

wäre er vielleicht ein Phantast,<br />

hier haben seine Träume eine Chance,<br />

wahr zu werden.<br />

So sind sie alle im iHub, das ein Zukunftslabor<br />

für Kenias Computerelite<br />

sein soll, gefördert von dem Ebay-Erfinder<br />

Pierre Omidyar. 2007 ließ er das Gebäude,<br />

ein ehemaliges Einkaufszentrum,<br />

mit bezahlbaren Arbeitsplätzen und Internetcafé<br />

einrichten, gedacht als eine Art<br />

digitaler Entwicklungshilfe.<br />

Vorbild ist Indien, wo in den achtziger<br />

Jahren ein IT-Boom begann, der aus dem<br />

Entwicklungsland eine aufstrebende Nation<br />

machte, in der heute Millionen Menschen<br />

Software entwickeln, Spiele programmieren<br />

oder in Callcentern arbeiten.<br />

In Kenia trägt der Informations- und<br />

Kommunikationssektor bereits mehr als<br />

fünf Prozent zur Wirtschaftsleistung bei.<br />

Auch Weltkonzerne wie Google, Microsoft,<br />

IBM und Cisco haben inzwischen<br />

das Potential Afrikas erkannt – und sich<br />

in der Nachbarschaft des iHub ange -<br />

siedelt. Die Ngong Road heißt hier jetzt:<br />

Silicon Savannah.<br />

Das ist kein Witz, sondern Verheißung,<br />

denn Afrika südlich der Sahara ist der<br />

weltweit am schnellsten wachsende<br />

Markt für Mobiltelefone, Tablets und Laptops.<br />

Auf dem Kontinent sind schon mehr<br />

SIM-Karten in Betrieb als in Nordamerika.<br />

Fast die Hälfte der Bevölkerung von<br />

900 Millionen Menschen ist jünger als 15<br />

Jahre. Experten schätzen, dass es hier bis<br />

Serie<br />

Smartphones schaffen, was die meisten Regierungen versäumt<br />

haben: Sie ersetzen fehlende Infrastruktur.<br />

120<br />

PHIL MOORE / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Internetunternehmer Kirinya in Nairobi: „Wir fühlen uns sehr global“<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

2050 mehr als eine Milliarde zusätzliche<br />

Handy-Nutzer geben wird.<br />

Mobilfunk und Internet haben in kaum<br />

zehn Jahren den Alltag vieler Afrikaner<br />

so dramatisch verändert wie zuvor nur<br />

die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten.<br />

Damals hofften die Afrikaner,<br />

endlich zum Rest der Welt aufzuschließen.<br />

Heute, nach 50 Jahren Hunger, Kriegen<br />

und Korruption, scheint das Ziel erreichbar.<br />

Denn Smartphones schaffen,<br />

was die meisten Regierungen versäumt<br />

haben: Sie ersetzen fehlende Infrastruktur,<br />

das Haupthindernis für Entwicklung.<br />

Wo es Mobiltelefone gibt, muss man<br />

weniger Festnetzanschlüsse legen, Autobahnen,<br />

Kliniken oder Schulen bauen.<br />

Denn die Handys sind alles in einem:<br />

Bankfiliale, Wetterwarte, Arztpraxis, Atlas,<br />

Kompass, Schulbuch, Radio- und Fernsehstation.<br />

Afrikaner verschicken heute<br />

per Tastendruck Geld durch Dschungel<br />

oder Steppe; Händler vergleichen Preise;<br />

Bauern holen Klimadaten für die Ernte<br />

ein oder lassen sich vom Tierarzt beraten.<br />

Blogger und Mitglieder sozialer Netzwerke<br />

kontrollieren die Mächtigen, als Ersatz<br />

für eine freie Presse. Für all das reicht<br />

eine Mobilfunkantenne – und die bauen<br />

Unternehmen, nicht Staaten.<br />

„Es ist heute technisch leichter, ein Dorf<br />

mit einem Internetanschluss zu versorgen<br />

als mit sauberem Wasser.“ Das sagt Mo<br />

Ibrahim, der wie kaum ein anderer für<br />

die digitale Revolution in Afrika verantwortlich<br />

ist. Das Magazin „Time“ hält<br />

den Sudanesen für einen der einflussreichsten<br />

Menschen unserer Zeit.<br />

Er ist dabei, wenn sich die Mächtigen<br />

treffen, wie im vergangenen Juni, als er<br />

mit dem Sänger Bono, IWF-Präsidentin<br />

Christine Lagarde und Facebook-Chefin<br />

Sheryl Sandberg in New York über die<br />

Bekämpfung von HIV diskutierte, moderiert<br />

von Bill Clinton.<br />

1998 gründete Ibrahim seine Firma Celtel,<br />

einen der ersten Mobilfunkanbieter<br />

Afrikas. Eine Karriere als Ingenieur bei<br />

der British Telecom und als Gründer einer<br />

IT-Beratungsfirma in London hatte<br />

er da schon hinter sich. Doch das reichte<br />

ihm nicht: „Ich bin nie ganz Europäer geworden,<br />

Afrika ist einfach in mir.“ Und<br />

so warb er bei seinen Kollegen aus der<br />

Telekombranche um Risikokapital – um<br />

ausgerechnet in Afrika zu investieren.<br />

Einziger Standortvorteil damals: Mobilfunklizenzen,<br />

die in Europa und den<br />

USA für Milliardenbeträge versteigert<br />

wurden, gab es in Afrika für ein paar Millionen.<br />

Und niemand wollte sie haben –<br />

außer Mo Ibrahim.<br />

In den darauffolgenden Jahren expandierte<br />

Celtel in 13 Länder, 24 Millionen<br />

Menschen nutzten das Netz, er beschäftigte<br />

5000 Angestellte. Als Mo Ibrahim<br />

Celtel 2005 an das Mobilfunkunternehmen<br />

MTC aus Kuwait verkaufte, erhielt<br />

er 3,4 Milliarden Dollar.<br />

Der Sohn eines nubischen Baumwollhändlers<br />

hat Afrika ins IT-Zeitalter katapultiert.<br />

„Afrika ist die Zukunft“, sagt er.<br />

„Wir sind jetzt endlich Teil des globalen<br />

Prozesses.“ Er sagt das in Marrakesch,<br />

wo er als Ehrengast zu einer Tagung der


Guinea<br />

Mobilfunkverträge<br />

je 100 Einwohner, 2012<br />

unter 25<br />

Quelle: ITU<br />

Marokko<br />

Mauretanien<br />

25 bis 49<br />

50 bis 74<br />

75 bis 99<br />

100 bis 149<br />

150 und mehr<br />

keine Daten<br />

Mali<br />

Burkina<br />

Faso<br />

Ghana<br />

Algerien<br />

Tunesien<br />

Niger<br />

Nigeria Zentralafr.<br />

Republik<br />

Kamerun<br />

zum<br />

Vergleich<br />

USA<br />

98<br />

Simbabwe<br />

Deutschland<br />

131<br />

Gabun<br />

Libyen<br />

Tschad<br />

Rep.<br />

Kongo<br />

Angola<br />

Namibia<br />

Dem. Rep.<br />

Kongo<br />

Sambia<br />

Botswana<br />

Südafrika<br />

Ägypten<br />

Sudan<br />

Südsudan<br />

Uganda<br />

auf IT-Kongressen. Ihr Wissen ist geschätzt,<br />

denn afrikanische IT-Entwickler<br />

müssen besonders kreativ sein. Ihr größtes<br />

Problem: dass auf dem Kontinent bisher<br />

nur ein kleiner Teil der Telefone internetfähig<br />

ist. Aber afrikanische Programmierer<br />

haben Wege gefunden, auch<br />

aus einfachen Mobiltelefonen mehr Funktionen<br />

herauszuholen. Spezielle Programme<br />

verwandeln SMS in E-Mails. Die eingehenden<br />

Informationen werden etwa<br />

von Behörden, Hochschulen oder Banken<br />

verarbeitet und im Internet weiterverschickt.<br />

In Südafrika funktioniert das soziale<br />

Netzwerk Mxit auf diese Weise. Um an<br />

Chats teilzunehmen, Statusmeldungen<br />

oder Posts hochzuladen, versenden die<br />

mehr als sieben Millionen Nutzer lediglich<br />

Textnachrichten. Mxit bietet eigene<br />

Chatrooms, kann User aber auch mit<br />

Facebook oder Yahoo verbinden.<br />

Eine weitere erfolgreiche App aus Afrika<br />

funktioniert auf SMS-Basis: das Programm<br />

iCow. Die kenianische Farmerin<br />

Su Kahumbu hatte die Idee, eine britische<br />

Stiftung bezahlte die Entwicklung und<br />

technische Umsetzung der App.<br />

Heute melden sich Kleinbauern im ganzen<br />

Land mit dem Code *285# an – dann<br />

können sie ihre Kühe mit Alter, Rasse,<br />

Gewicht, Geschlecht und letztem Kalbungsdatum<br />

registrieren lassen. Automatisch<br />

verschickt iCow dann von Tierärzten<br />

entwickelte Ratschläge zu Futter,<br />

Krankheiten oder Fruchtbarkeitszyklen.<br />

Damit auch Analphabeten mitmachen<br />

können, funktioniert das System sogar<br />

mit Sprachnachrichten. Die Zahl der Nutzer<br />

geht in die Zigtausende.<br />

Auch kranken Menschen hilft das Internet.<br />

Kaum ein Arzt praktiziert heute<br />

noch offline, selbst in abgelegenen Orten.<br />

Sogar Dorfpraxen verschicken inzwischen<br />

ihre Laborwerte an Universitätskliniken<br />

und erhalten Diagnose und Therapievorschläge.<br />

Mit solchen Meldesystemen<br />

können Beginn und Ausbreitung<br />

einer Epidemie frühzeitig erkannt werden.<br />

Auch die Echtheit und Qualität von<br />

Medikamenten kann mit Hilfe der Mobiltelefone<br />

festgestellt werden – in Afrika,<br />

wo Tausende Menschen im Jahr an gefälschten<br />

Präparaten sterben, eine sehr<br />

wichtige Anwendung. Computerexperten<br />

aus Ghana entwickelten dazu ein einfaches<br />

Sicherheitsprogramm: Die Patienten<br />

scannen mit ihrem Handy den Strichcode<br />

auf der Verpackung oder notieren die<br />

Identifikationsnummer. Die schicken sie<br />

an eine Zentrale, wo die Echtheit der Medikamente<br />

überprüft und das Ergebnis,<br />

zusammen mit Dosierungstipps, zurückgeschickt<br />

wird. Das MPedigree genannte<br />

System wird in Westafrika von staat -<br />

lichen Gesundheitsbehörden und Pharma-Firmen<br />

unterstützt.<br />

Aber Mobiltelefone helfen in Afrika<br />

nicht nur Kranken, Bauern und Kin-<br />

Afrikanischen Entwicklungsbank eingeladen<br />

ist. Das Thema seines Vortrags an<br />

diesem Tag lautet: Der Rechtsstaat und<br />

Transparenz als Voraussetzung für Afrikas<br />

Fortschritt. Mo Ibrahim sagt, er habe<br />

Celtel aufgebaut, ohne Bestechungsgeld<br />

zu zahlen.<br />

Der Milliardär läuft allein durch das<br />

Tagungshotel, er hat es nicht nötig, mit<br />

Gefolge aufzutreten wie all die anderen<br />

afrikanischen Würdenträger. Er hält nicht<br />

Hof, seine Gesprächspartner bittet er<br />

nicht zu sich, sondern holt sie persönlich<br />

an der Rezeption ab. Und selbst der Finanzminister<br />

von Madagaskar wartet geduldig,<br />

bis er an die Reihe kommt.<br />

Mo Ibrahim sieht nicht aus wie ein<br />

schneidiger Geschäftsmann, eher wie<br />

einer, der seine Worte abwägt, wie ein<br />

Intellektueller. Er trägt eine runde Brille<br />

und unauffällige Anzüge, nur die eingestickten<br />

Initialen verraten den Maßschneider.<br />

Ab und zu klingelt sein Mobiltelefon,<br />

ein erstaunlich altes Modell von Samsung.<br />

All das passt nur wenig zu jemandem,<br />

der Wohnsitze in London und Monaco<br />

unterhält und im Hafen von Monte Carlo<br />

eine Segelyacht liegen hat. Er sei nur sehr<br />

selten zu Hause, sagt Ibrahim. Meistens<br />

reise er durch die Welt und werbe für<br />

Afrika. Seine Frau, eine Radiologin, hat<br />

sich dar an gewöhnt, Sohn und Tochter<br />

sind erwachsen.<br />

Der Milliardär hat eine Stiftung gegründet,<br />

die jedes Jahr ein Ranking aufstellt:<br />

Welche Staaten in Afrika sind gut verwaltet<br />

und regiert, welche nicht? Freie<br />

Wahlen bringen Pluspunkte, Korruption<br />

einen Malus. Außerdem vergibt die Mo-<br />

Ibrahim-Stiftung jedes Jahr einen Preis<br />

für „good governance“, fünf Millionen<br />

Eritrea<br />

Äthiopien<br />

Kenia<br />

Tansania<br />

Mosambik<br />

Malawi<br />

Dschibuti<br />

Somalia<br />

Madagaskar<br />

Dollar für einen vorbildlichen<br />

afrikanischen Politiker.<br />

Doch zum zweiten<br />

Mal in Folge befand die<br />

Jury in diesem Jahr niemanden<br />

für würdig.<br />

Wird also doch nicht<br />

alles besser in Afrika?<br />

Mo Ibrahim schüttelt den<br />

Kopf, er glaubt, dass<br />

der Kontinent sich ent -<br />

wickelt – vor allem dank<br />

Handy und Internet.<br />

„Das Mobiltelefon ist ein<br />

wichtiges Werkzeug der<br />

Zivilgesellschaft. Wenn<br />

dich ein Zöllner an der<br />

Grenze erpresst, fotografiere<br />

ihn mit deinem<br />

Handy und stelle sein<br />

Bild ins Internet. Wenn<br />

jemand dich bei einer<br />

Wahl unter Druck setzt,<br />

mach dasselbe.“<br />

Selbst Spannungen<br />

zwischen Stämmen oder<br />

Ethnien könnten überwunden<br />

werden, wenn<br />

die Menschen per Internet vernetzt sind,<br />

statt in ihren Dörfern ein isoliertes Dasein<br />

zu führen: „Je mehr wir voneinander wissen,<br />

desto schwieriger ist es, Zwietracht<br />

zu säen. Durch die moderne Kommunikation<br />

werden die Afrikaner lernen, dass<br />

es besser ist, Geschäfte miteinander zu<br />

machen, als sich zu hassen.“<br />

Der Milliardär Mo Ibrahim und der<br />

Internetunternehmer Wesley Kirinya, sie<br />

sind zwei Gesichter des neuen Afrika:<br />

Der eine ist mit einer guten Idee bereits<br />

in der Zukunft angekommen, der andere<br />

macht sich gerade erst auf den Weg – und<br />

mit ihm eine ganze Generation junger<br />

Afrikaner. Noch hat der Kontinent keinen<br />

Internetmilliardär hervorgebracht, doch<br />

das wird kommen. „Gebt uns noch ein<br />

paar Jahre“, sagt Kirinya selbstbewusst.<br />

Immer öfter sprechen schon jetzt Afrikaner<br />

nicht nur als Bittsteller auf Geberkonferenzen,<br />

sondern auch als Experten<br />

BRUNO AMSELLEM / SIGNATURES / LAIF<br />

Mobilfunk-Milliardär Mo Ibrahim<br />

Eine Stiftung und eine Yacht in Monaco<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 121


Serie<br />

TIM FRECCIA / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Schüler mit Tablets in Äthiopien: Das Internet hat den Alltag so verändert wie einst die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten<br />

dern – auch bei Katastrophen und Kriegen<br />

können sie Leben retten. Das beste<br />

Beispiel ist eine Entwicklung der Firma<br />

Ushahidi aus Kenia, deren Büros ebenfalls<br />

im iHub-Gebäude an der Ngong<br />

Road liegen. Ushahidi bedeutet „Zeugenaussage“<br />

auf Kisuaheli, und so heißt auch<br />

das Programm, das es ermöglicht, Kämpfe,<br />

Korruption und Seuchen zu kartieren.<br />

Ushahidi stellt eine frei herunterlad -<br />

bare Software zur Verfügung, mit der interaktive<br />

Katastrophenkarten erstellt werden.<br />

Opfer, Zeugen oder Helfer können<br />

so per Kurzmitteilung Lageberichte verschicken<br />

– die Ushahidi-Software zeigt<br />

diese dann als Ereignis auf einer Landkarte<br />

an.<br />

Der Politikwissenschaftler Daudi Were,<br />

34, gehört zu jenen, die Ushahidi ent -<br />

wickelt haben. Nicht weil er so ein Technikfanatiker<br />

sei, sagt er. Sondern weil<br />

ihn die politischen Aspekte daran inter -<br />

essierten. Er war einer der bekanntesten<br />

Blogger des Landes, damals vor sechs<br />

Jahren, als Kenia einen neuen Präsidenten<br />

wählte – und in der Silvesternacht<br />

die Gewalt explodierte und sich Anhänger<br />

beider Kandidaten bekämpften. Innerhalb<br />

weniger Stunden verwandelte<br />

sich auch die Ngong Road in ein Schlachtfeld.<br />

Mehr als 1500 Menschen starben damals<br />

in Kenia.<br />

„Wir waren erschüttert“, sagt Were.<br />

„Niemand kannte das wahre Ausmaß der<br />

Gewalt – und den Verlautbarungen der<br />

Regierung war nicht zu trauen.“ Also<br />

setzte er sich mit befreundeten Program-<br />

mierern zusammen und entwickelte in<br />

nur sechs Tagen die Ushahidi-Software.<br />

Mehr als 5000 Zeugen und Opfer der Gewalt<br />

schickten ihre Erlebnisse per SMS<br />

an die Plattform.<br />

Heute gibt es im Internet rund 45000<br />

Karten auf Basis des Programms, das<br />

Daudi Were und seine Freunde damals<br />

in wenigen Nächten zusammenbastelten.<br />

Menschenrechtler, die Uno und Rettungsdienste<br />

setzen es inzwischen weltweit ein.<br />

Auch die libyschen Rebellen, die 2011 den<br />

Diktator Muammar al-Gaddafi stürzten,<br />

ließen per Ushahidi Karten von Kämpfen<br />

und Truppenbewegungen erstellen. In<br />

Mazedonien nutzt die Organisation<br />

Transparency Watch die Software, um<br />

Korruptionsfälle zu protokollieren. Der<br />

Fernsehsender al-Dschasira kartierte damit<br />

im Herbst 2011 die Verwüstungen<br />

nach einem Erdbeben in der Türkei. Und<br />

auch die von dem verheerenden Taifun<br />

„Haiyan“ auf den Philippinen angerichteten<br />

Schäden haben Wissenschaftler der<br />

Universität Heidelberg in einer Ushahidi-<br />

Karte zusammengeführt.<br />

„Diese Karten erfüllen zwei Funktionen“,<br />

sagt Were, „sie geben einen Überblick<br />

über die Größenordnung einer<br />

Krise und erlauben es zudem Hilfsmannschaften,<br />

mit Opfern und Zeugen in Verbindung<br />

zu treten. So konnte schon manches<br />

Menschenleben gerettet werden.“<br />

Das ist möglich, weil diejenigen, die<br />

einen Eintrag vornehmen, ihre Telefonnummer<br />

oder E-Mail-Adresse hinter -<br />

lassen können.<br />

Das nächste Projekt der Ushahidi-Macher<br />

heißt nun Brck, benannt nach seinem<br />

Äußeren: ein ziegelsteingroßer Apparat.<br />

Und im Inneren: ein mobiler<br />

Router, der bis zu 20 Mobiltelefone, Laptops<br />

oder Tablets mit dem Internet verbinden<br />

kann, auch in den abgeschiedensten<br />

Dörfern. Ein Akku überbrückt bis zu<br />

acht Stunden lang Stromausfälle.<br />

Derzeit reisen die Brck-Erfinder in entlegene<br />

Ecken Kenias, etwa an den Turkana-See,<br />

um die ersten Prototypen Stresstests<br />

unter extremen Bedingungen zu unterziehen.<br />

Bald soll der Klotz in Serie<br />

produziert werden.<br />

Die ersten Exemplare werden wohl in<br />

Asien hergestellt, aber Daudi Were hofft,<br />

dass die Produktion irgendwann nach Afrika<br />

verlegt werden kann. Der Brck wäre<br />

dann die erste Hardware-Komponente, die<br />

von Afrikanern auf dem Kontinent angefertigt<br />

würde. Bisher gibt es 700 Vorbestellungen,<br />

besonders interessiert sind Hilfsorganisationen<br />

und die Uno, die damit<br />

ihre Rettungsteams ausstatten wollen.<br />

Daudi Were hält die Exportchancen für<br />

hervorragend: 4,3 Milliarden Menschen<br />

auf der Welt seien noch immer nicht online.<br />

Und außerdem gelte: „Was in Afrika<br />

funktioniert, funktioniert überall.“<br />

JAN PUHL<br />

Lesen Sie im nächsten Heft:<br />

Afrikas Frauen begehren auf gegen Tabus<br />

und Männerherrschaft, sie wollen<br />

die Zukunft des Kontinents mitgestalten.<br />

122 D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Szene<br />

Sport<br />

D O P I N G<br />

Schweigegeld für die Ex<br />

Nachdem Lance Armstrong vor einem<br />

Jahr des Dopings überführt worden<br />

war und er den Betrug in einer US-<br />

Fernsehshow gestanden hatte, war es<br />

still um den Texaner geworden. Damit<br />

ist es vorbei. Armstrongs Vergangenheit<br />

beschäftigt derzeit intensiv Juristen<br />

und Medien. Vorigen Mittwoch<br />

stimmte der ehemalige Radprofi einem<br />

außergerichtlichen Vergleich mit der<br />

Versicherungsgesellschaft Acceptance<br />

Insurance zu, die ihm von 1999 bis 2001<br />

drei Millionen Dollar Erfolgsprämien<br />

gezahlt hatte und ihr Geld zurückverlangte.<br />

Damit verhinderte Armstrong<br />

einen Prozess, in dem heikle Fragen zu<br />

klären gewesen wären. In der Klageschrift<br />

wird unter anderem behauptet,<br />

Armstrong habe seiner Frau Kristin bei<br />

der Scheidung im Herbst 2003 zehn<br />

Millionen Dollar gezahlt, damit sie<br />

über seine Dopingaktivitäten schweige.<br />

Dazu hat er sich bislang nicht geäußert,<br />

in einem Prozess hätte er jedoch unter<br />

Eid aussagen müssen. Zwei weitere<br />

Klagen könnten ihn noch teuer zu stehen<br />

kommen: Eine andere Versicherung,<br />

SCA Promotions, hätte gern 12<br />

Millionen Dollar Prämien wieder, und<br />

Armstrongs langjähriger Teamsponsor<br />

erhält womöglich 100 Millionen zurück.<br />

Auch amerikanische Filmemacher und<br />

Journalisten widmen sich dem tief gestürzten<br />

Superstar. In den Kinos der<br />

USA ist gerade der zweistündige Dokumentarfilm<br />

„The Armstrong Lie“ von<br />

Oscar-Preisträger Alex Gibney angelaufen.<br />

Gibney geht der Frage nach,<br />

warum Armstrong so lange die Welt<br />

belügen konnte, ohne als Doper überführt<br />

zu werden. Außerdem wird im<br />

März das Buch „Cycle of Lies“ erscheinen,<br />

geschrieben von Juliet Macur. Die<br />

Reporterin der „New York Times“ kündigt<br />

an, es enthalte Neuigkeiten zu<br />

Armstrongs Fall. Die Filmrechte am<br />

Buch sind bereits verkauft.<br />

Armstrong 2004<br />

STEFANO RELLANDINI / REUTERS<br />

Mevoli vor den<br />

Cayman Islands 2012<br />

Der Amerikaner Nicholas Mevoli war<br />

ein Neuling in der Szene, vergangenes<br />

Jahr nahm er zum ersten Mal an einem<br />

Wettbewerb im Freitauchen teil, seit<br />

vorvergangenem Sonntag ist er tot. Er<br />

kam bei dem Versuch ums Leben, 72<br />

Meter tief zu tauchen, mit nur einem<br />

Atemzug und ohne Flossen. Es geschah<br />

in Dean’s Blue Hole vor der Bahamas-<br />

Insel Long Island: Nach drei Minuten<br />

und 38 Sekunden unter Wasser kam<br />

Mevoli zurück an die Oberfläche, er<br />

nahm die Schwimmbrille ab und signalisierte,<br />

alles sei okay – dann verlor<br />

er das Bewusstsein. Freitauchen, auch<br />

Apnoetauchen genannt, ist ein Sport<br />

mit vielen Disziplinen und Rekorden.<br />

„Zahlen haben meinen Kopf infiziert,<br />

und das Bedürfnis, diese Tiefen zu erreichen,<br />

wurde zur Obsession. Obsessionen<br />

können töten“, schrieb Mevoli<br />

vor zwei Monaten in einem Blog. 2005<br />

starben 21 Freitaucher, 2008 waren es<br />

schon 60, aktuelle Zahlen gibt es nicht,<br />

aber Mevolis Tod zeigt, dass das Risiko<br />

FREITAUCHEN<br />

Tödliche Tiefe<br />

noch immer unterschätzt wird. Zwei<br />

Tage bevor er starb, hatte sich Mevoli<br />

nach einem abgebrochenen Tauchgang<br />

übergeben müssen, seine Nase blutete.<br />

Trotzdem machte er weiter. In 72 Meter<br />

Tiefe wirkt ein Druck von acht Bar<br />

auf den Körper, die Lunge wird stark<br />

zusammengepresst. Blut aus den Armen<br />

und Beinen fließt in den Brustkorb,<br />

der Blutdruck steigt, Blutgefäße<br />

können überdehnen und reißen. Als<br />

Mevoli aufgetaucht sei, habe er nicht<br />

mehr richtig atmen können, sagt Barbara<br />

Jeschke, Wettkampfärztin vor Ort,<br />

die am Klinikum Sindelfingen-Böblingen<br />

arbeitet. Mevoli ist möglicherweise<br />

erstickt, weil seine Lungen nicht mehr<br />

in der Lage waren, Sauerstoff aufzunehmen.<br />

Im Krankenhaus stellten die<br />

Ärzte ein Ödem fest, 800 Milliliter Flüssigkeit<br />

zogen sie aus der Lunge. Jeschke,<br />

selbst Freitaucherin, sagt, man müsse<br />

nun versuchen zu verhindern, dass<br />

sich unerfahrene Taucher zu schnell in<br />

große Tiefen wagen.<br />

ALAMY / MAURITIUS IMAGES<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 125


Sport<br />

T A N Z E N<br />

Kampf der<br />

Gummimänner<br />

Breakdance, der Tanzstil der New Yorker Straßengangs in<br />

den achtziger Jahren, ist bei Jugendlichen wieder<br />

schwer angesagt. Die Wettbewerbe sind artistische Spektakel,<br />

bei denen es vor allem um eines geht: Lässigkeit.<br />

JOHANN SEBASTIAN HÄNEL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong> (3) (FOTOMONTAGE)


Der Preis, den Khaled Chaabi für<br />

seine Karriere als Tänzer bezahlen<br />

muss, ist eine Glatze.<br />

Berlin an einem Freitagabend, kurz<br />

nach 23 Uhr, die „B-Town Allstars“ proben<br />

im ersten Stock eines Bürogebäudes<br />

in der Nähe des Alexanderplatzes. Früher<br />

war hier mal das Fernmeldeamt der<br />

DDR-Regierung untergebracht, von der<br />

Decke hängen lose Stromkabel herunter,<br />

der Boden ist mit grünem, spiegelglattem<br />

PVC ausgelegt.<br />

Ein guter Untergrund für Breakdancer.<br />

Aus zwei Boxen dröhnen HipHop-<br />

Beats. Die Künstler, junge Kerle, durchtrainiert,<br />

Haare gestylt wie Models, schlagen<br />

Salti, verbiegen ihren Körper wie<br />

Gummimänner zum Rhythmus der Musik.<br />

Dann tritt Khaled Chaabi vor, er<br />

macht einen Kopfstand, holt Schwung<br />

und dreht sich um seine Körperachse,<br />

dreimal, fünfmal, zehnmal, wie ein<br />

menschlicher Kreisel rotiert er auf der<br />

Schädeldecke.<br />

Die Figur nennt sich Headspin, sie ist<br />

Chaabis Spezialität. Er hat den Headspin<br />

schon so oft gemacht, dass sich auf seinem<br />

Kopf eine kahle Stelle gebildet hat,<br />

so groß wie eine Untertasse. Wahrscheinlich,<br />

sagt Chaabi, werde er irgendwann<br />

gar keine Haare mehr haben.<br />

Nach einer Stunde riecht es im Probenraum<br />

nach Schweiß und verbrauchter<br />

Luft. Seit drei Monaten trainieren die<br />

Tänzer fast jeden Tag und sehr oft auch<br />

in der Nacht. Die Allstars proben für den<br />

„Battle of the Year“, die Breakdance-<br />

Weltmeisterschaft, die dieses Jahr in<br />

Deutschland ausgetragen wird.<br />

„Ich hab gehört, dass die Koreaner<br />

sechs Stunden am Tag für die WM üben“,<br />

sagt einer aus der Gruppe.<br />

„Dann müssen es bei uns eben sieben<br />

oder acht werden“, sagt Chaabi.<br />

Sie wollen den Titel nach Berlin holen.<br />

Breakdance, das ist eigentlich achtziger<br />

Jahre, die Zeit der Ghettoblaster und<br />

Jacken in Neonfarben. Damals wurde der<br />

Tanzstil in den USA populär. In den<br />

Neunzigern war er dann fast verschwunden,<br />

Breakdance war out, aber jetzt hat<br />

die Generation Facebook den Tanz wiederentdeckt.<br />

In U-Bahn-Stationen und<br />

auf Busbahnhöfen, in Tanzschulen und<br />

Jugendhäusern sieht man wieder Jugendliche<br />

jene akrobatischen Figuren üben,<br />

die den Breakdance prägen. Das Internet<br />

Tänzer der „B-Town Allstars“ aus Berlin (Fotosequenz)


Breakdance-Weltmeisterschaft in Braunschweig: Im Kopfstand über die Bühne<br />

FOTOS: JOHANN SEBASTIAN HÄNEL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

ist voll mit Filmen von Tanzgruppen aus<br />

aller Welt. Selbst konservative Länder<br />

wie Saudi-Arabien und Kuwait hat die<br />

Welle erfasst.<br />

Breakdancer nennen sich B-Boys und<br />

B-Girls. In Deutschland gibt es über hundert<br />

Gruppen, Crews, die regelmäßig an<br />

Tanzwettbewerben, den sogenannten<br />

Battles, teilnehmen.<br />

Die B-Town Allstars gehören zu den<br />

Stars der Szene. Zwölf Berliner Jungs, von<br />

denen viele in den schwierigen Ecken der<br />

Stadt groß geworden sind. Einer arbeitete<br />

früher in der Druckerei, ein anderer machte<br />

eine Lehre als Maler. Jetzt sind sie alle<br />

Profitänzer, sie tragen Künstlernamen wie<br />

Snoop oder AfroKilla. Zwei von ihnen haben<br />

deutsche Wurzeln, die anderen stammen<br />

aus Marokko, Südafrika, Palästina,<br />

der Dominikanischen Republik.<br />

Ein paar Tage vor ihrem WM-Start treten<br />

die Tänzer vor dem Hotel Adlon in<br />

der Nähe des Brandenburger<br />

Tors auf. Sie wirbeln über das<br />

Pflaster wie Zirkusartisten.<br />

Passanten bleiben stehen,<br />

staunen, applaudieren, ein<br />

Rentner ruft laut: „Bravo!“<br />

Breakdance ist Ghettokunst,<br />

ein Produkt der Straßenkultur.<br />

Erfunden wurde<br />

der Tanzstil von Gangs in der<br />

New Yorker Bronx. Die Idee<br />

war, sich nicht mehr zu prügeln<br />

oder gegenseitig abzuknallen,<br />

sondern sich in Form<br />

von Tanzduellen zu messen.<br />

Das Motto des Breakdance<br />

lautet: Du kannst aus nichts<br />

alles machen.<br />

128<br />

Profitänzer Chaabi<br />

„Magischer Moment“<br />

Khaled Chaabis Künstlername ist KC1.<br />

Er stammt aus Syrien. Seine Eltern zogen<br />

kurz vor seiner Geburt von Homs nach<br />

Berlin, in einen Wohnblock im Stadtteil<br />

Wedding. Chaabi hat sieben Brüder und<br />

fünf Schwestern. Sein Vater, erzählt er,<br />

habe ihnen früh gesagt: „Kinder, ihr<br />

müsst für euch selbst sorgen.“<br />

Chaabi wuchs auf der Straße auf, ein<br />

„bad boy“, wie er sagt, er prügelte sich,<br />

klaute, hatte mehr mit Polizisten zu tun<br />

als mit Lehrern. Manche Freunde von damals<br />

sitzen heute im Gefängnis, „wegen<br />

Messerstechereien und so“, sagt Chaabi,<br />

er selbst habe „gerade noch die Kurve<br />

gekriegt“.<br />

Mit 13 Jahren sah er im Jugendzentrum<br />

zum ersten Mal eine Gruppe, die Breakdance<br />

machte. „Das war ein magischer<br />

Moment“, sagt Chaabi, „ich verstand<br />

nicht, wie ein Mensch solche Bewegungen<br />

machen kann, ohne in der Mitte auseinanderzubrechen.“<br />

Er begann<br />

zu trainieren. „In meiner<br />

Gang ging es um den<br />

schnellen Kick, das schnelle<br />

Geld. Breakdance ist genau<br />

das Gegenteil: Du brauchst<br />

viele Jahre, bis eine Figur, ein<br />

Move, klappt. Ich habe gelernt,<br />

lange an einer Sache<br />

dranzubleiben, geduldig zu<br />

sein, Frust wegzustecken.“<br />

Inzwischen verdient Chaabi<br />

mit dem Tanzen gutes<br />

Geld, er tritt mit den Flying<br />

Steps auf, einer Showtruppe,<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

die von Red Bull gesponsert<br />

wird und zu klassischer Musik<br />

tanzt. Er hatte schon Engagements<br />

überall auf der Welt, im hintersten<br />

Winkel von Australien kennt man<br />

seinen Headspin.<br />

Die Weltmeisterschaft ist für Chaabi<br />

der Höhepunkt seiner Karriere. Für<br />

Breakdancer gibt es nichts Größeres als<br />

den Battle of the Year.<br />

Ausgedacht hat sich das Event ein<br />

Deutscher. Thomas Hergenröther, 44,<br />

kommt aus Hannover, er wollte eigentlich<br />

Sport- und Englischlehrer werden,<br />

dann kam ihm die Idee mit dem Battle.<br />

Er ist jetzt Chef einer Eventagentur, die<br />

jedes Jahr die Weltmeisterschaft orga -<br />

nisiert.<br />

Früher musste Hergenröther bekiffte<br />

Tänzer von der Bühne zerren, andere zerlegten<br />

ihre Hotelzimmer. „Jetzt kommen<br />

B-Boys mit dem Rockstar-Image nicht<br />

mehr weit“, sagt er. Die Szene ist professioneller<br />

geworden, die Tänzer achten<br />

auf ihre Ernährung, manche meditieren<br />

vor der Show. „Ich sah coole Jungs hinter<br />

der Bühne weinen, nachdem sie ihren<br />

Battle verloren hatten. Das ist Hochleistungssport<br />

geworden“, sagt Hergenröther.<br />

Im vergangenen Jahr wurde die Weltmeisterschaft<br />

in Montpellier ausgetragen,<br />

das Team aus Frankreich, eine europäische<br />

Hochburg des Breakdance, holte<br />

den Titel. Diesmal hat Hergenröther die<br />

Volkswagenhalle in Braunschweig gebucht.<br />

Braunschweig? „Na ja“, sagt er, „ein<br />

bisschen Untergrund gehört zum Breakdance<br />

dazu.“<br />

Die B-Town Allstars sind mit dem Bus<br />

angereist. Schon Stunden bevor die Show<br />

beginnt, strömen die Zuschauer in die<br />

Arena. Die Halle ist ausverkauft, 8000


Berliner Tanzcrew vor dem Auftritt: Die Schwerkraft besiegen<br />

Fans aus ganz Europa, Festivalstimmung.<br />

DJs legen HipHop, Funk und Soul auf.<br />

Überall wird getanzt.<br />

Eine Crew aus Nigeria eröffnet die<br />

Show, die Tänzer springen in den Spagat,<br />

verknoten ihre Beine wie Schnürsenkel.<br />

Das Team aus Venezuela rutscht im Kopfstand<br />

über die Bühne, die Niederländer<br />

rotieren auf dem Rücken wie Flaschen<br />

beim Flaschendrehen, die Franzosen drehen<br />

in der Luft Schrauben und wirbeln<br />

mit gespreizten Beinen über den Boden<br />

als wären sie Windräder.<br />

Beim Breakdance geht es darum, die<br />

Schwerkraft zu besiegen und dabei möglichst<br />

entspannt rüberzukommen. Zwei<br />

Gruppen treten in einem Battle gegen -<br />

einander an, sie schicken abwechselnd<br />

ihre besten Tänzer nach vorn. Eine Jury<br />

bewertet die Choreografien und entscheidet<br />

am Ende über die Sieger.<br />

Erster Auftritt des deutschen Teams.<br />

Die Berliner schlagen Flickflacks, machen<br />

Überschläge. Dann kommt der Headspin<br />

von Khaled Chaabi. 42-mal rotiert er um<br />

seine Körperachse, es sieht aus, als wollte<br />

er mit seinem Schädel ein Loch in den<br />

Bühnenboden bohren.<br />

Das Publikum tobt, Hunderte heben<br />

und senken die Arme wie bei einem Hip-<br />

Hop-Konzert, andere brüllen einfach nur<br />

„Yeah“. Die Allstars kommen eine Runde<br />

weiter.<br />

Zur Jury in Braunschweig gehört auch<br />

Ken Swift, der 47-jährige New Yorker gilt<br />

als Urvater des Breakdance. „Was wir mit<br />

unserem Körper auf der Bühne zeigen,<br />

ist etwas sehr Persönliches“, sagt Swift,<br />

„es ist eine Unterschrift, die wir nicht mit<br />

einem Stift, sondern durch Bewegungen<br />

130<br />

abgeben.“<br />

Im Breakdance kommt es auf den Coolness-Faktor<br />

an. Leistung wird dort neu<br />

definiert. Bei den Battles bewerten die<br />

Juroren nicht nur die Kreativität der Tänzer,<br />

sondern vor allem die Lässigkeit, mit<br />

der die Künstler ihre Bewegungen vortragen,<br />

den Style.<br />

Wer einen guten Style hat, kann beim<br />

Battle weit kommen. Aber ohne halsbrecherische<br />

Akrobatik reicht es nicht zum<br />

Sieg.<br />

Es sind noch ein paar Minuten bis zum<br />

zweiten Auftritt der B-Town Allstars. Khaled<br />

Chaabi liegt hinter der Bühne auf einer<br />

Massagebank und lässt sich die Hüftmuskulatur<br />

von einem Physiotherapeuten<br />

durchkneten.<br />

„Alles verhärtet“, sagt er und streift mit<br />

seinem Zeigefinger vom Becken über seinen<br />

Oberschenkel, „ich merke schon, wie<br />

ich jedes Jahr ein bisschen steifer werde.“<br />

Er steigt von der Liege und fängt an,<br />

Stretching-Übungen mit einem Gummiband<br />

zu machen.<br />

Die Powermoves, so heißen die akrobatischen<br />

Elemente im Breakdance, werden<br />

immer schwieriger, immer schneller,<br />

immer spektakulärer. Es gibt Tänzer, die<br />

schaffen 20 Pirouetten am Stück – auf ihrem<br />

Ellbogen. Die Drehungen und Sprünge<br />

der Breakdancer sind inzwischen fast<br />

so anspruchsvoll wie die Übungen der<br />

Bodenturner bei Olympia.<br />

Breakdance bedeutet auch, Schmerzen<br />

ertragen zu können. Es geht nicht immer<br />

alles gut, wenn sich die Tänzer für eine<br />

Figur aus knapp zwei Meter Höhe mit<br />

Absicht auf den Rücken, die Schulter<br />

oder das Becken fallen lassen. Laut einer<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

JOHANN SEBASTIAN HÄNEL / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Studie, die an der Essener Universitätsklinik<br />

entstand, kommen auf zehn Tänzer<br />

im Schnitt mehr als fünf Knochenbrüche,<br />

vor allem an Händen und Sprunggelenken.<br />

Viele B-Boys haben Brandblasen<br />

und chronisch offene Wunden auf der<br />

Haut, wegen der Drehungen.<br />

Khaled Chaabis Liste an Verletzungen<br />

ist lang: drei Knieoperationen, mehrere<br />

Bänderrisse, einige Finger ausgekugelt.<br />

Eigentlich ist er ziemlich fertig.<br />

Mit 26 Jahren hat er das beste Alter für<br />

Breakdance fast schon überschritten, doch<br />

heute, bei der Weltmeisterschaft, will er<br />

es noch mal wissen. Er streift sich einen<br />

schwarzen Ellbogenschoner über den<br />

Arm. Dann sucht er sich eine ruhige Ecke<br />

hinter der Bühne, er hält seine Hände<br />

nach oben, schließt die Augen und betet.<br />

Draußen brüllen die Zuschauer „Battle,<br />

Battle, Battle“. Im Halbfinale trifft das<br />

deutsche Team auf die Mannschaft aus<br />

Südkorea, den Top-Favoriten. In Süd -<br />

korea ist Breakdance unter Jugendlichen<br />

eine Art Volkssport, die besten Gruppen<br />

werden vom Staat finanziell gefördert.<br />

Die Deutschen tippeln und zucken<br />

über die Bühne, als würde ihnen jemand<br />

Elektroschocks versetzen. Eine gute<br />

Show. Aber die Südkoreaner springen<br />

wie Flummis über die Bühne, einer<br />

spreizt in der Luft die Beine, landet auf<br />

den Handflächen – und lächelt dabei.<br />

Die Jury stimmt mit 3:2 für Südkorea.<br />

Kurz darauf fliegen ein paar Flaschen<br />

und Stühle durch die Umkleidekabine<br />

der Berliner B-Boys. Khaled Chaabi sitzt<br />

erschöpft und niedergeschlagen auf dem<br />

Boden, er hat sich ein Handtuch um den<br />

Hals gelegt.<br />

„Wir sehen uns ja eigentlich nicht als<br />

Sportler, sondern eher als Künstler“, sagt<br />

er, „aber das tut jetzt schon verdammt<br />

weh.“<br />

Sein Blick fällt auf einen Flachbildschirm,<br />

der in der Ecke des Raumes hängt.<br />

Darauf wird das Finale übertragen, das<br />

gerade draußen beginnt. Südkorea trifft<br />

auf die Mannschaft aus den Niederlanden.<br />

Die Holländer schicken als ersten Tänzer<br />

einen kleinen Jungen nach vorn. Der<br />

Knirps macht einen Headspin und dreht<br />

dabei so schnell wie ein Wirbelsturm,<br />

dann stoppt er abrupt ab und verschränkt<br />

lässig, fast angeberisch die Arme vor dem<br />

Bauch.<br />

Chaabi, der Meister des Headspins,<br />

staunt. „Wie alt ist der denn, bitte<br />

schön?“, fragt er in den Raum.<br />

„Zwölf“, antwortet jemand neben ihm.<br />

Chaabi schüttelt den Kopf, packt seine<br />

Klamotten in seinen Rollkoffer und sucht<br />

den Ausgang.<br />

LUKAS EBERLE<br />

Video: Die „B-Town Allstars“<br />

beim Training<br />

spiegel.de/app<strong>48</strong>2013breakdance<br />

oder in der App <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong>


F U S S B A L L<br />

Ein neuer Xavi<br />

Die schwere Verletzung des Anführers<br />

Sami Khedira trifft die<br />

Nationalelf scheinbar hart. Doch<br />

von einem WM-Aus für den Madrider<br />

könnte ihr Spiel profitieren.<br />

Sport<br />

Es war wie ein Schuss, der nach hinten<br />

losgeht, der Versuch eines Foulspiels,<br />

bei dem sich der Attackierende<br />

selbst zurichtete. Über das Malheur,<br />

das dem Nationalspieler Sami Khedira im<br />

Zweikampf mit Andrea Pirlo in der 65.<br />

Minute des Länderspiels gegen Italien<br />

passierte, wird noch immer geredet wie<br />

über ein Desaster. Bundestrainer Joachim<br />

Löw wählte einen Begriff aus der Tierschlachtung.<br />

„Ein richtiger Genickschlag“<br />

sei die niederschmetternde Verletzung<br />

Khediras für ihn und die Mannschaft, als<br />

läge da nun ein erstarrtes Kaninchen.<br />

Sami Khedira hat seine Operation gut<br />

überstanden. Die Diagnose, Innenbandriss<br />

und Riss des vorderen Kreuzbandes<br />

und damit ein Totalschaden im rechten<br />

Knie, hat jedoch den gesamten DFB-Tross<br />

seit dem vorvergangenen Wochenende in<br />

einen Schock zustand versetzt. Löw konnte<br />

sich gar nicht erinnern, wann es „eine<br />

so schwere Verletzung“ bei einem Nationalspieler<br />

zuletzt gegeben habe.<br />

Vielleicht erinnert er sich an den Vormittag<br />

des 17. Mai 2010. Damals, kurz vor<br />

der WM in Südafrika, ereilte ihn die<br />

Nachricht vom Ausmaß der Verwüstungen<br />

im Fuß Michael Ballacks: Riss des<br />

Innenbandes und Teilriss des vorderen<br />

Syndesmosebandes im rechten oberen<br />

Sprunggelenk, erlitten im englischen<br />

Pokal finale.<br />

Damals im WM-Trainingslager auf Sizilien<br />

wirkte Löw weniger niedergeschlagen<br />

als heute, wahrscheinlich weil er sofort<br />

begriff: In dem WM-Aus für den deutschen<br />

Capitano liegt auch eine Chance.<br />

Es war die Chance für den Nachrücker<br />

Khedira und für die junge Spielergeneration,<br />

die ebendieser tunesischstämmige<br />

Schwabe anführte. Spieler wie Mesut<br />

Özil, Jérôme Boateng und Khedira selbst<br />

würden sich in Ab wesenheit des dominanten<br />

Stars Ballack, der das Wort in<br />

rauer Tonart geführt hatte, besser und<br />

schneller entfalten.<br />

Es kam genau so. Könnte es jetzt wieder<br />

so kommen?<br />

Noch würde Löw der These heftig widersprechen,<br />

dass in dem mehr als wahrscheinlichen<br />

WM-K.-o. für Khedira nun<br />

wieder der Ursprung einer Vervollkommnung<br />

liegen könnte, einer belebenden<br />

Neugestaltung der Teamhierarchie und<br />

eines spielerischen Fortschritts. Zu sehr<br />

ist er daran gewöhnt, in dem Mann von<br />

Real Madrid eine sogenannte Führungsfigur<br />

zu sehen, einen Eckpfeiler des Spiels<br />

und etwas vermeintlich Unverzichtbares:<br />

das kernige Element im zentralen Mittelfeld,<br />

einen letzten Rest ehemals typisch<br />

deutscher Fußballtugenden.<br />

Man kann es auch anders sehen. Die<br />

oft beschworene Sehnsucht nach Führungsspielern<br />

in Deutschland ist nur eine<br />

Erfindung von Journalisten. Und der Leitwolf<br />

Khedira sei nun mal „ein Alphatier<br />

alter Prägung“, präsent vor allem durch<br />

Körperlichkeit und mit der Zeit zum Strategen<br />

„überhöht“, sagt ein Beobachter<br />

aus dem Umfeld der Nationalelf.<br />

Moderne Ball-Eroberer und Aufbauspieler,<br />

heutzutage auch Umschaltspieler<br />

genannt, kontrollieren das Spielzentrum<br />

eher mit Wendigkeit und Geschick, ihre<br />

Waffen sind der präzise Pass und perfekte<br />

Technik. Experten messen ihre Leistung<br />

an jenem Output, das Fußballfeuilletonisten<br />

in Spanien „Kadenz“ nennen, ein<br />

Ausdruck aus der Harmonielehre – gemeint<br />

ist die Frequenz ihrer Pässe.<br />

Khediras Verdienste sind unbestritten.<br />

Doch seine Rolle, die er ungehindert beanspruchte,<br />

war zu groß geworden. In<br />

Madrid hatte sein früherer Trainer und<br />

Förderer José Mourinho den Einfluss klar<br />

begrenzt, Khedira fielen die Aufgaben eines<br />

Zerstörers zu. „Ein Verteidiger, der<br />

als Mittelfeldspieler getarnt wird“, murrten<br />

die Kritiker, in Madrid an mehr Brillanz<br />

gewöhnt. Für das Sportblatt „Marca“<br />

ist der Deutsche heute ein „guter Assistent<br />

oder Schildknappe“, keiner, dem man<br />

die Regie überträgt.<br />

Nur im Deutschland-Trikot durfte Khedira<br />

weiter mit wehendem Haar durchs<br />

Mittelfeld pflügen. Gemessen an seinen<br />

Qualitäten war er zu wichtig.<br />

Die junge Generation braucht die starke<br />

Schulter nicht mehr. Selbst Özil, der<br />

noch bei der letzten EM seinem Gefährten<br />

Khedira auf Schritt und Tritt durchs<br />

Quartier folgte wie ein Hündchen, hat<br />

sich emanzipiert.<br />

Wie die Leichtfüßigen aufblühen, das<br />

sieht man schon jetzt an Toni Kroos. Der<br />

kreative Greifswalder, unter Trainer Pep<br />

Guardiola bei Bayern München taktisch<br />

weiter gereift, hatte zu Zeiten der Regentschaft<br />

Khediras im Nationalteam nicht<br />

mal einen festen Arbeitsplatz. Im letzten<br />

Länderspiel des Jahres, beim 1:0-Sieg in<br />

England, wurde nun erkennbar: Kroos<br />

wird ein neuer Xavi.<br />

An dem Barcelona-Star, Vorbild aller<br />

Umschaltspieler, schätzt Kroos, dass er<br />

„ohne großes Aufsehen und Spektakel<br />

immer spielbestimmend“ sei. Dem Hochbegabten<br />

von der Ostsee, von Trainer<br />

Jürgen Klinsmann einst bei Bayern missachtet<br />

und von Jupp Heynckes in Leverkusen<br />

und München geschliffen, liegt<br />

diese unauffällige Präsenz auch. Kroos<br />

sagt, er definiere sein Spiel über Pass -<br />

genauigkeit und Ballsicherheit. Egal wer<br />

am Ende seine Partner im deutschen<br />

WM-Mittelfeld sein werden, ob Ilkay<br />

Gündogan, Bastian Schweinsteiger oder<br />

Philipp Lahm: Löw bekommt ein spielstarkes<br />

und doch widerstandsfähiges<br />

Zentrum.<br />

Es sind moderne Führungsspieler.<br />

Kroos war sogar mal Deutschlands Kapitän.<br />

Bei der U-17-WM vor sechs Jahren<br />

in Südkorea kürten sie ihn zum besten<br />

Spieler des Turniers. JÖRG KRAMER<br />

Verletzter Nationalspieler Khedira, Teamkollege Kroos (l.): Die Leichtfüßigen blühen auf<br />

DINO PANATO / GETTY IMAGES<br />

ULLSTEIN BILD<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 131


Prisma<br />

KES<br />

M E D I Z I N<br />

„Das ist Kindesmisshandlung“<br />

Vor fast einem Jahr wurde<br />

das Beschneidungs -<br />

gesetz verabschiedet.<br />

Der Präsident der Deutschen<br />

Gesellschaft für<br />

Kinderchirurgie, Bernd<br />

Tillig, 58, kritisiert die<br />

Umsetzung in der Praxis.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Das Gesetz soll minderjährigen<br />

Jungen bei einem medizinisch<br />

nicht notwendigen Eingriff „unnötige<br />

Schmerzen“ ersparen. Was heißt für<br />

Sie „unnötig“?<br />

Beschneidung bei Neugeborenem<br />

Tillig: Die Ärzte müssen dafür sorgen,<br />

dass bei der Prozedur für die Kinder<br />

keinerlei Schmerzen entstehen<br />

und auch danach eine ausreichende<br />

Schmerzbehandlung garantiert ist.<br />

Das war immer eine unserer Minimalforderungen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Im Jüdischen Krankenhaus<br />

in Berlin verlässt man sich bei der<br />

Neugeborenen-Beschneidung in den<br />

ersten 14 Lebenstagen allein auf<br />

die Verwendung der „Emla-Salbe“,<br />

obwohl eine ausreichend betäubende<br />

Wirkung hierfür mittlerweile von<br />

MICHAEL NAGLE / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF<br />

Experten angezweifelt wird. Ist das<br />

vertretbar?<br />

Tillig: Nein, dieses Vorgehen erfüllt<br />

offenbar lediglich eine Alibifunktion.<br />

Dem Beschneidungsgesetz soll so<br />

Genüge getan werden, aber man missachtet<br />

die erforderliche Sorgfalt<br />

gegenüber den Kindern. Eine Beschneidung<br />

ohne Schmerzausschaltung ist<br />

aus unserer ärztlichen Sicht Kindesmisshandlung.<br />

Damit meine ich auch<br />

Beschneidungen unter ausschließlicher<br />

Verwendung dieser Salbe.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Welche Alternative wäre<br />

denkbar?<br />

Tillig: Eine Lösung des Problems kann<br />

nur von den Kollegen am Jüdischen<br />

Krankenhaus kommen. Die Krux ist:<br />

Eine Narkose, die hier eigentlich erforderlich<br />

wäre, verbietet sich, da es bei<br />

Neugeborenen keine medizinische Notwendigkeit<br />

für eine Beschneidung gibt.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Nach Angaben der Kassenärztlichen<br />

Bundesvereinigung ist die<br />

Zahl der ambulanten Beschneidungen<br />

von Jungen im Alter von null bis fünf<br />

Jahren zwischen 2008 und 2011 um<br />

34 Prozent gestiegen. Weshalb ist das<br />

Ihrer Meinung nach so?<br />

Tillig: Dafür wird es mehrere Antworten<br />

geben. Fest steht, dass eine medizinische<br />

Indikation allein nicht die<br />

Ursache sein kann. Die Daten müssen<br />

nun zunächst transparent und differenziert<br />

analysiert werden. Die Deutsche<br />

Gesellschaft für Kinderchirurgie<br />

bemüht sich um Aufklärung und ruft<br />

alle beteiligten Fachgesellschaften<br />

aus den Disziplinen Urologie und Chir -<br />

urgie zur Mithilfe auf.<br />

KOMMENTAR<br />

Schluss mit der<br />

Klimakonferenz!<br />

Von Gerald Traufetter<br />

Zu einem der Rituale bei Weltklimakonferenzen<br />

zählt der Preis „Fossil<br />

des Tages“. Das war auch in Warschau<br />

nicht anders; und die Schmäh-Auszeichnungen<br />

fielen den üblichen Verdächtigen<br />

zu: dem Kohleland Polen,<br />

dem Erdölexporteur Saudi-Arabien.<br />

Doch bislang sind die Umweltaktivisten,<br />

die jenen Preis vergeben, noch<br />

nicht auf die Idee gekommen, die<br />

Veranstaltung selbst zum Fossil zu erklären.<br />

Die Zeit wäre reif. Im EM-Stadion der<br />

polnischen Hauptstadt, in dem die<br />

Konferenz stattfand, herrschte eine<br />

gespenstische Atmosphäre. Natürlich,<br />

alle waren sich mal wieder einig:<br />

Nicht weniger als die Zukunft der<br />

Menschheit entscheide sich bei diesem<br />

Treffen. Doch über das eigentliche<br />

Ziel, nämlich Treibhausgase zu reduzieren,<br />

redet mittlerweile kaum mehr<br />

jemand.<br />

Die Klimakonferenz ist nämlich gar<br />

keine mehr. Es ist eine Konferenz zum<br />

Thema Entwicklungshilfe, denn dar -<br />

um geht es hier: um Milliarden für die<br />

Ärmsten, um sich gegen Dürren und<br />

Fluten zu schützen.<br />

Die Delegierten sind es nicht, die<br />

das Klima retten werden. Das werden<br />

Ingenieure erledigen, indem sie<br />

die Energiewende vorantreiben, das<br />

heißt auf lange Sicht erneuerbare<br />

Energien billiger machen als Kohle<br />

und Kernkraft. It’s the economy,<br />

stupid.<br />

Was Windkraft betrifft, wird diese<br />

Schwelle bald überschritten. Bei der Solarenergie<br />

spielt sich die Revolution weiter<br />

südlich ab. Dort wird von den Solarpaneelen<br />

jene Milliarde Menschen profitieren,<br />

die bislang ohne Strom lebt.<br />

Längst hat sich China auf den Weg zur<br />

Energiewende gemacht. In Warschau<br />

zählte der Generalsekretär des chinesischen<br />

Ökostrom-Verbandes genüsslich<br />

auf, in welch gigantischem Ausmaß<br />

die Volksrepublik in Sonnenenergie,<br />

Wind- und Wasserkraft investiert.<br />

Dann sagte er lächelnd, dass es keiner<br />

Einsparziele beim Kohlendioxid be -<br />

dürfe, wenn im Jahr 2050 die meiste<br />

Energie sowieso aus klimafreund -<br />

lichen Quellen stamme. Recht hat er.<br />

Die technischen Probleme der Er -<br />

neuerbaren müssen schnell gelöst werden.<br />

Doch das werden sie ganz bestimmt<br />

nicht in den überheizten Sälen<br />

der Weltklimakonferenz.<br />

132<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Wissenschaft · Technik<br />

Puschel am Po Ein wunderlich<br />

aussehendes Insekt überraschte<br />

ein Team von Wissenschaftlern<br />

auf ihrer Expedition<br />

durch den Regenwald Surinams:<br />

Das Tier ist etwa fünf Millimeter<br />

lang und hat einen markanten<br />

Büschel aus Wachsfäden am Hinterleib.<br />

Es machte den Forschern<br />

gleich zweimal Ärger. Erstens:<br />

Es ließ sich nicht bestimmen, ist<br />

noch zu jung dafür, im Larven -<br />

stadium der Entwicklung. Klar, es<br />

gehört zu den Zikaden, aber zu<br />

welcher Art? Zweitens: Es ließ<br />

sich nicht fangen, nur fotografieren.<br />

Jetzt wird man niemals<br />

wissen, was das Geschöpf mal<br />

wird, wenn es groß ist.<br />

p s y C h o L o g i E<br />

SMS schaden der Liebe<br />

Dass es kein guter stil ist, eine Beziehung<br />

per Telefonat zu beenden, ist bekannt.<br />

Doch auch wer meint, existentielle<br />

Fragen der partnerschaft per<br />

kurznachricht klären zu können, dürfte<br />

schlecht beraten sein. Wissen -<br />

schaftler der amerikanischen Brigham<br />

young University folgten den sMsgewohnheiten<br />

von 276 jungen Leuten,<br />

die Ehe- oder jedenfalls feste partner<br />

TEUTOPRESS / IMAGO<br />

CATERS NEWS<br />

hatten. Das Ergebnis: ständige kommunikation<br />

per sMs kann das Liebes -<br />

verhältnis im echten Leben schwächen.<br />

Über 80 prozent der Teilnehmer gaben<br />

an, mehrmals täglich mit ihrem<br />

partner über kurzbotschaften zu kommunizieren.<br />

Viele der paare schickten<br />

sich nicht nur Alltägliches, sondern<br />

auch Texte, in denen sie ihre Beziehung<br />

verhandelten. Dabei ließ sich ein<br />

Unterschied zwischen Frauen und<br />

Männern feststellen: sMs, die für Entschuldigungen,<br />

zur Entscheidungs -<br />

findung oder zur Lösung von Differenzen<br />

genutzt wurden, assoziierten<br />

Frauen mit einer schlechten Beziehungsqualität.<br />

Bei Männern führte dagegen<br />

vor allem eine hohe Zahl von<br />

Nachrichten dazu, dass sie ihre Beziehung<br />

als schlechter einschätzten.<br />

„kurznachrichten verengen den Blick<br />

und verhindern, dass man den anderen<br />

in all seinen Facetten sieht“, sagt<br />

Jonathan sandberg, einer der Autoren.<br />

Nachrichten mit kleinen Nettigkeiten<br />

wurden hingegen sowohl von Männern<br />

als auch von Frauen positiv bewertet.<br />

Dabei wurde das Absenden<br />

sogar deutlich höher eingeschätzt als<br />

das Erhalten.<br />

B i o p h y s i k<br />

Fett weg im Schlaf<br />

Fett zu verbrennen und sich dafür nicht bewegen zu müssen<br />

– das wäre der Traum vieler Menschen. Ein Eiweiß im<br />

körper könnte da helfen: Mit hilfe des proteins UCp1 hal -<br />

ten sich jedenfalls winterschlafende Tiere, aber auch Babys<br />

warm, ohne dafür einen Muskel bewegen zu müssen. UCp1<br />

findet sich beim Menschen ausschließlich im sogenannten<br />

braunen Fettgewebe. Lange dachten Wissenschaftler, dass<br />

es nach den Babyjahren verschwinde, bis sie vor einigen Jahren<br />

kleine inseln davon auch bei Erwachsenen fanden. Ein<br />

Forscherteam der Veterinärmedizinischen Universität Wien<br />

hat nun entdeckt, dass eine spezielle Aldehydverbindung<br />

das UCp1 aktivieren kann. „Fänden wir heraus, wie dieses<br />

protein reguliert werden kann, könnten wir eventuell auch<br />

die Fettverbrennung ankurbeln“, sagt Elena pohl, Biophy si -<br />

kerin an der Wiener Uni. Die Forscher hoffen, einen<br />

Ansatz zur Fettverbrennung im körper gefunden zu haben<br />

und damit langfristig Fettleibigkeit therapieren zu können.<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3 133


Grundschülerin bei Schreibübung<br />

B I L D U N G<br />

Tiger mit „ie“<br />

Viele deutsche Schüler lernen, nach Lauten zu schreiben – oft mit katastrophalen<br />

Spätfolgen für die Orthografie. Daran dürfte sich in Zukunft wenig ändern.<br />

Etliche angehende Lehrer haben selber Schwierigkeiten mit ihrer Muttersprache.<br />

134<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Wissenschaft<br />

UTE GRABOWSKY (L.); DDP IMAGES (O.)<br />

Andrea Krug wollte wissen, was<br />

ihre achtjährige Tochter in der<br />

Schule eigentlich den ganzen Tag<br />

über so macht. Deshalb hospitierte sie,<br />

wie dies auch andere Eltern gelegentlich<br />

tun, im Unterricht.<br />

Zunächst war Krug (die ihren echten<br />

Namen zum Schutz der Tochter hier nicht<br />

nennen will) ziemlich begeistert. Die Kinder<br />

zeigten sich fröhlich, lernwillig und<br />

konzentriert, die Lehrerin war außer -<br />

ordentlich nett und das Thema im Sachunterricht<br />

spannend, es ging um Katzen.<br />

„Welche Katzen gibt es?“, war eine der<br />

Fragen, zu der die Kinder Antworten sammelten,<br />

die die Lehrerin dann an die Tafel<br />

schrieb. Unter „Hauskatze“, „Löwe“ und<br />

„Siamkatze“ schrieb sie „Tieger“.<br />

Tiger mit „ie“.<br />

Krug hielt die Luft an. „Um es milde<br />

auszudrücken“, sagt sie, „ich war be -<br />

fremdet.“<br />

Dass sich die Rechtschreibleistung von<br />

Schülern in den vergangenen Jahrzehnten<br />

dramatisch verschlechtert hat, belegen<br />

inzwischen mehrere Studien. Viele<br />

Experten machen das lautgetreue Schreiben<br />

in den ersten Schuljahren dafür verantwortlich.<br />

Unter viel Lob bringen die<br />

Kinder nach diesem Konzept Wörter wie<br />

„fil“ (statt „viel“) zu Papier, „ir“ („ihr“)<br />

oder „ser“ („sehr“). Eltern und Wissenschaftler,<br />

ja sogar einige Schüler fordern<br />

inzwischen die Rückkehr zu einem Unterricht,<br />

bei dem von Anfang an auf korrekte<br />

Schreibweise geachtet wird.<br />

Doch die ersten Jahrgänge fröhlicher<br />

Rechtschreibanarchisten sind inzwischen<br />

erwachsen geworden – und einige von<br />

ihnen Lehrer. Es deutet vieles darauf hin,<br />

dass etliche von ihnen gar nicht mehr die<br />

Voraussetzungen dafür mitbringen, Kindern<br />

richtiges Schreiben beizubringen.<br />

Das belegt auch eine teilweise noch<br />

unveröffentlichte Studie der Universität<br />

Duisburg-Essen: Die Forscher haben Lehramtsstudenten<br />

dreier nordrhein-westfälischer<br />

Hochschulen jeweils zwei verschiedenen<br />

Tests unterzogen. Mit dem ersten<br />

wurden die allgemeinen Sprach- und<br />

Rechtschreibfähigkeiten von fast 2900 Studenten<br />

geprüft. Dabei erwies sich jeder<br />

fünfte angehende Lehrer als stark oder<br />

sehr stark förderbedürftig.<br />

Im zweiten Test, an dem fast 300 Studenten<br />

teilnahmen, sollte ein Zeitungs -<br />

artikel mit eigenen Worten zusammen -<br />

gefasst werden. Jeder achte künftige Päd -<br />

agoge gebrauchte dabei vielfach Wörter<br />

im falschen Sinnzusammenhang, mehr<br />

als jeder dritte machte häufig Grammatikfehler.<br />

Studierende mit Migrations -<br />

hintergrund, die noch schlechter abschnitten,<br />

sind dabei nicht mitgerechnet.<br />

„Der Test war leichter als eine Abituraufgabe“,<br />

sagt Studienautor Dirk Scholten-Akoun<br />

vom Zentrum für Lehrer -<br />

bildung der Universität Duisburg-Essen.<br />

Trotzdem hätten viele Teilnehmer of -<br />

fenbar die Struktur des Zeitungstextes<br />

gar nicht verstanden. „Und Orthografie<br />

und Kommasetzung waren oft katastrophal.“<br />

Verzweifelte Studenten wenden sich<br />

gern an Peter Kruck, der als freier Lektor<br />

Seminar- und Examensarbeiten „aufpoliert“,<br />

wie er sagt. Was er, auch von Lehramtsstudenten,<br />

auf den Schreibtisch bekommt,<br />

klingt dann zum Beispiel so: „Folgedessen<br />

hat sich die Medienpädagogik<br />

in den letzten Jahren zu einer wichtigen<br />

Abteilung gereift.“ Oder so: „Vermutlicher<br />

weise sind die ankündigten Schlüsse<br />

eine vielmehr allgemeine negative Sichtweise<br />

des Fernsehverbrauchs von Kindern<br />

wiederspiegeln.“<br />

Eine <strong>SPIEGEL</strong>-Umfrage, auf die 22<br />

Hochschulen mit dem Studienangebot<br />

Grundschullehramt antworteten, ergab,<br />

dass zwar einige Universitäten Rechtschreibkontrollen<br />

im Studium durchführen<br />

– dass aber an keiner der Unis ein<br />

Rechtschreibtest vor dem Studium bestanden<br />

werden muss. „Dabei wären solche<br />

Tests eine Chance, Studenten, die Probleme<br />

haben, rechtzeitig zu erkennen und in<br />

Vorkursen auf das für Lehrer erforderliche<br />

Niveau zu bringen“, glaubt Kruck.<br />

Zwar können schwache Studenten heute<br />

an vielen Hochschulen Rechtschreibwerkstätten<br />

oder -kurse besuchen. Aber<br />

das reicht oft nicht. „Wie sollen wir diesen<br />

Studenten im universitären Rahmen noch<br />

helfen?“, fragt Albert Bremerich-Vos, Professor<br />

für Linguistik an der Universität<br />

Duisburg-Essen und Leiter der Studentenstudie.<br />

„Das müssten sie doch eigentlich<br />

alles in der Schule lernen.“<br />

Um Grundschülern Rechtschreibung<br />

und Grammatik beibringen zu können,<br />

muss man die deutsche Sprache aber<br />

nicht nur beherrschen, sondern auch verstehen.<br />

Nur wer wisse, dass die 35 häufigsten<br />

Wortbausteine 50 Prozent eines<br />

Textes ausmachen, sagt Gisela Dorst, Autorin<br />

des Sprachbuchs „Lollipop“, dem<br />

sei klar, wie wichtig es ist, diese Morpheme<br />

korrekt schreiben zu können (siehe<br />

Interview Seite 136). „Wenn ich das aber<br />

nie im Studium gelernt habe, dann bringe<br />

ich das den Schülern auch nicht bei.“<br />

Doch bei manchen Studierenden hapere<br />

es schon bei den einfachsten Fragen,<br />

sagt Bremerich-Vos. „Zum Beispiel bei<br />

der Bestimmung der Wortart oder der<br />

Satzglieder. Das sollte eigentlich spätestens<br />

in der sechsten oder siebten Klasse<br />

gemacht werden – aber es ist nicht da.“<br />

Die <strong>SPIEGEL</strong>-Umfrage ergab, dass manche<br />

Hochschulen immer noch darauf verzichten,<br />

Vorlesungen zu den Grundlagen<br />

der Sprachwissenschaft für alle Grundschullehramtsstudenten<br />

vorzuschreiben.<br />

Erst ab 2018, so die Kultusminister kon -<br />

ferenz, sollen „fachwissenschaftliche und<br />

-didaktische Studieninhalte aus den<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 135


Fächern Deutsch und Mathematik“ für alle<br />

Studierenden verpflichtend sein.<br />

Doch selbst wenn diese Veranstaltungen<br />

an einer Universität vorgeschrieben sind,<br />

heißt das nicht, dass die angehenden Lehrer<br />

mit den dort gelehrten Inhalten auch<br />

etwas anfangen können. „Oft ist eine solche<br />

Vorlesung viel zu abstrakt“, kritisiert<br />

Günther Thomé, Sprachdidaktiker an der<br />

Goethe-Universität Frankfurt. „Viele Linguistikprofessoren<br />

verstehen nichts von<br />

Didaktik – aber andererseits die Pädagogikprofessoren<br />

auch nichts von Sprach -<br />

wissenschaft.“ Es fehle an Sprachdidaktikprofessoren.<br />

Sein Fazit: „Die Deutschlehrerausbildung<br />

ist mangelhaft.“<br />

Allerdings interessierten sich auch<br />

nicht alle Studenten für die Sprachwissenschaften,<br />

sagt Renate Valtin vom Vorstand<br />

der Deutschen Gesellschaft für<br />

Lesen und Schreiben. Wenn sie in der<br />

Vorlesung das Wort „Graphem“ erwähnt<br />

habe, berichtet die Professorin, „war bei<br />

einigen Studenten sofort die Aufmerksamkeit<br />

weg.“ Und bei der Nennung von<br />

„Graphem-Phonem-Korrespondenzen“,<br />

da muss Valtin selbst ein bisschen lachen,<br />

„sind die ersten rausgerannt“.<br />

Hinzu kommt, dass die Unis der Methode<br />

des lautgetreuen Schreibens ohne Fehlerkorrektur<br />

nicht viel entgegensetzen –<br />

auch wenn dieses Konzept von vielen Experten<br />

für die Rechtschreibkatastrophe verantwortlich<br />

gemacht wird. Nur zwei Hochschulen,<br />

Freiburg und Oldenburg, gaben<br />

in der <strong>SPIEGEL</strong>-Umfrage an, die angehenden<br />

Grundschullehrer explizit vor der entsprechenden<br />

Methode „Lesen durch Schreiben“<br />

zu warnen. Alle anderen Universi -<br />

täten teilten mit, sie würden den Studenten<br />

jenes Konzept lediglich wissenschaftlich<br />

mit seinen Vor- und Nachteilen darstellen.<br />

Aber das wappnet die zukünftigen Lehrer<br />

womöglich schlecht für die Realität:<br />

Schulen, die seit Jahren mit „Lesen durch<br />

Schreiben“ arbeiten, Fortbildungen mit charismatischen<br />

Vertretern des Konzeptes und<br />

ein Grundschulverband, der von Verfechtern<br />

dieser und ähnlicher Methoden dominiert<br />

wird und in seiner Verbandszeitschrift<br />

aggressiv gegen Gegner Stellung bezieht.<br />

Vor allem aber ist die Lautschreiberei<br />

ohne Korrektur einfach herrlich bequem<br />

im Schulalltag. Es gibt sie nun einmal:<br />

durchschnittliche und schlechte Lehrer,<br />

und „Lesen durch Schreiben“ gebe ihnen<br />

„ein quasi wissenschaftliches Alibi, sich<br />

weniger steuernd und fördernd zu engagieren“,<br />

sagt Wolfgang Steinig, Sprach -<br />

didaktiker an der Uni Siegen.<br />

Denn die Verfechter von „Lesen durch<br />

Schreiben“ gehen davon aus, dass es sich<br />

beim Schreibenlernen um einen natür -<br />

lichen Entwicklungsprozess handelt, irgendwann<br />

könne ein Schüler das dann<br />

schon. „Aber viel zu viele Kinder“, sagt<br />

Steinig, „schaffen es leider nie zu einem<br />

einigermaßen angemessenen Niveau.“<br />

VERONIKA HACKENBROCH<br />

136<br />

MATTHIAS GROPPE / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

„Von Mutter zu Futter“<br />

Wie bringt man Kindern die Schriftsprache von Anfang an richtig<br />

bei? Die Rechtschreibexpertin Gisela Dorst erklärt,<br />

wie wichtig es ist, schon die ganz Kleinen zu korrigieren.<br />

Dorst, 61, Lehrerin und Fachleiterin<br />

Deutsch aus Naumburg/Hessen, hält es<br />

für einen Irrweg, Kinder lange Zeit lautgetreu<br />

schreiben zu lassen, bevor erste<br />

Rechtschreibregeln eingeführt werden.<br />

Das ist bei der Lehrmethode „Lesen durch<br />

Schreiben“ und ihren Ablegern üblich,<br />

etwa bei dem vor allem in Nordrhein-<br />

Westfalen verbreiteten „Tinto“-Lehrgang,<br />

der „Rechtschreibwerkstatt“ oder Fibeln<br />

wie „Zebra“ und „Konfetti“. Die Anlauttabelle,<br />

in der jedem Buchstaben ein Gegenstand<br />

oder Tier zugeordnet ist, etwa<br />

der Igel dem I, macht es den Kindern<br />

möglich, schon früh eigene Texte zu verfassen.<br />

Ob sie orthografisch korrekt schreiben,<br />

spielt keine Rolle. Aus mehr als drei<br />

Jahrzehnten Berufserfahrung hat Dorst für<br />

das Sprachbuch „Lollipop“ ein Konzept<br />

entwickelt, mit dem die Schüler von Anfang<br />

an richtig schreiben lernen sollen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Ihr Konzept schnitt in einer Studie<br />

um Längen besser ab als die von der<br />

Methode „Lesen durch Schreiben“ in -<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

spirierte „Rechtschreibwerkstatt“. Was<br />

macht „Lollipop“ anders?<br />

Dorst: Entscheidende Weichen werden<br />

schon am Anfang der ersten Klasse gestellt.<br />

Nie wird der falsche Eindruck<br />

erweckt, das Deutsche hätte eine laut -<br />

getreue Schreibweise, in der alles so<br />

geschrieben wird, wie es klingt. Im Gegenteil.<br />

Bei uns machen die Lehrer und<br />

Lehrerinnen von Anfang an klar: Viele<br />

Wörter schreibt man nicht so, wie sie<br />

klingen. Wer richtig schreiben will, muss<br />

etwas über die Wörter wissen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Und das wird schon in den ersten<br />

Wochen nach dem Schulstart vermittelt?<br />

Dorst: Ja, absolut, je früher, desto besser.<br />

Die Buchstaben müssen langsam und<br />

gründlich eingeführt werden, und alle<br />

Kinder lernen zum Beispiel von Anfang<br />

an, dass ein Vokal lang oder kurz klingen<br />

kann. Beim kurzen a in „Lack“ etwa klatschen<br />

sie dann in die Hände und markieren<br />

ihn, wenn sie ihn schreiben, mit einem<br />

Punkt. Beim langen a in „Lama“<br />

hingegen ziehen sie die Hände ausein -


Technik<br />

A U T O M O B I L E<br />

Artisten<br />

des Prüfstands<br />

Nicht nur der Diesel rußt,<br />

auch Benziner stoßen Partikel aus.<br />

Filter würden helfen,<br />

aber die sind der Autoindustrie<br />

offenbar zu teuer.<br />

Vom Feind zu lernen gilt im Kriegshandwerk<br />

als Zeichen besonderer<br />

Klugheit. Die Entwickler von Benzinmotoren<br />

gingen vor gut zehn Jahren<br />

einen ähnlichen Weg: Sie entliehen der<br />

Dieseltechnik die dort bereits bewährte<br />

Direkteinspritzung des Kraftstoffs in den<br />

Zylinder.<br />

Das Prinzip wurde erneut ein Erfolg –<br />

und der Benziner dem Dieselmotor immer<br />

ähnlicher. Er übernahm dessen Tugend,<br />

die Sparsamkeit, aber auch sein<br />

Laster: Bei der Verbrennung bilden sich<br />

Rußpartikel in kritischer Menge.<br />

Der unerwünschte Effekt ist dem hohen<br />

Tempo geschuldet, mit dem sich das<br />

Benzin-Luft-Gemisch nach der direkten<br />

Einspritzung in die Brennräume der Motoren<br />

bilden muss. Es bleibt schlicht nicht<br />

genug Zeit, alle Kraftstoffmoleküle mit<br />

Sauerstoff zu vereinigen. Ins Abgas entweichen<br />

unvollständig verbrannte, mikroskopisch<br />

kleine Kohlenstoffklümpchen.<br />

138<br />

Moderner<br />

Benzin-Pkw<br />

ohne Partikelfilter<br />

600<br />

Diesel-Pkw<br />

mit Partikelfilter<br />

100<br />

Diesel-Pkw<br />

ohne Partikelfilter<br />

10 000<br />

Kampf den Krümeln<br />

Zahl der Rußpartikel in Autoabgasen,<br />

in Milliarden je gefahrenen Kilometer<br />

Den Zulieferern der Autoindustrie gab<br />

dieses Problem bereits Anlass zu einer neuen<br />

Initiative: Sie entwickelten inzwischen<br />

Prototypen von Rußfiltern für Benzinmotoren.<br />

Als Favorit gilt derzeit ein Kombi-<br />

Instrument namens Vier-Wege-Kat; es besteht<br />

in einer Verschmelzung des üblichen<br />

Drei-Wege-Katalysators, der gasförmige<br />

Gifte unschädlich macht, mit einem Filter,<br />

der den nicht minder schädlichen Schwarzstaub<br />

einfängt und geregelt verbrennt.<br />

Dies sei die günstigste Lösung, erklärt<br />

der leitende Entwickler eines großen Zulieferbetriebs,<br />

der sich offizielle Aussagen<br />

lieber verkneift. Das Thema ist delikat.<br />

Noch sieht es nicht so aus, als wollten die<br />

Autohersteller das Putzgerät überhaupt<br />

haben.<br />

Rußpartikel, so viel ist medizinisch erwiesen,<br />

können tödlich sein; sie steigern<br />

das Lungenkrebsrisiko und sind nicht<br />

ganz unschuldig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen.<br />

Für Dieselmotoren, lange<br />

die mit Abstand größten Rußprodu zenten<br />

im Straßenverkehr, wurden deshalb inzwischen<br />

so strenge Abgasgesetze erlassen,<br />

dass Neuwagen nur noch mit Par -<br />

tikelfilter ausgeliefert werden können.<br />

Benziner mit Direkteinspritzung, seit<br />

gut zehn Jahren auf dem Markt und zunächst<br />

nicht als Rußproblem erkannt,<br />

blieben von der Vorschrift verschont. Erst<br />

2017 wird eine EU-Norm den zulässigen<br />

Höchstwert generell auf das<br />

Niveau senken, das heute<br />

schon für Diesel-Pkw gilt: 600 Milliarden<br />

Partikel pro Kilo meter.<br />

Die Zahl scheint absurd hoch, kam<br />

für den Diesel aber einer Filterpflicht<br />

gleich. Denn ohne Filter entlassen diese<br />

Motoren mehr als zehn Billionen Teilchen,<br />

mit Filter nur noch um die hundert<br />

Milliarden.<br />

Bei den betroffenen Benzinmotoren<br />

wird das nun anders aussehen: Die besten<br />

von ihnen bleiben schon heute auch ohne<br />

Filter haarscharf unter dem 600-Milliarden-Limit.<br />

Den Autokonzernen bleibt<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

also die Chance, sich günstiger aus der<br />

Affäre zu ziehen. Und die werden sie<br />

wohl nutzen.<br />

Kein einziger Hersteller hat bisher<br />

die Absicht bekundet, einen Vier-Wege-<br />

Kat oder separaten Rußfilter im Benzinauto<br />

einzuführen. Volkswagen, Daimler<br />

und BMW erklärten auf Anfrage unisono,<br />

die Hürde nach Möglichkeit mit „innermotorischen<br />

Maßnahmen“ nehmen zu<br />

wollen.<br />

Klaus Land, Leiter der Emissionszertifizierung<br />

der Daimler AG, setzt auf besonders<br />

feine „Piezo-Injektoren“ bei der<br />

Einspritzung; mit diesen, so glaubt er, ließen<br />

sich „die künftigen Gesetzesanforderungen<br />

sicher erfüllen“.<br />

Derlei Maßnahmen können jedoch unter<br />

anderem dazu führen, dass nur solche<br />

Partikel aus dem Abgas verschwinden,<br />

die größer als 23 Nanometer sind und<br />

damit ins Prüfspektrum fallen. Kleinere<br />

Rußteile bleiben bei der amtlichen<br />

Abgasmessung noch immer<br />

unberücksichtigt, sind aber<br />

nach Schätzung von Medizinern<br />

noch schädlicher, weil sie<br />

besonders tief in die Atemwege<br />

dringen. Und genau diese<br />

Minipartikel könnten durch die<br />

innermotorischen Kunstgriffe<br />

vermehrt entstehen. Eine wissenschaftliche<br />

Untersuchung im Auftrag<br />

der EU warnt ausdrücklich<br />

vor dieser Tendenz.<br />

Obendrein wird die Prüfstand-Artistik<br />

im Jahr 2017<br />

noch durch weitere neue Vorschriften<br />

erschwert. So will die<br />

EU unter dem Begriff „Real Driving<br />

Emis sions“ (RDE) Abgasmessungen<br />

an beliebig ausgewählten<br />

Autos im realen Fahr betrieb<br />

durchführen lassen, deren Ergebnisse<br />

nur um einen bestimmten (noch nicht<br />

festgelegten) Faktor von den Normangaben<br />

abweichen dürfen.<br />

Tests des ADAC und Untersuchungen<br />

im Auftrag der EU-Kommission haben<br />

bereits gezeigt, dass der Rußausstoß bei<br />

Autobahnfahrten um ein Vielfaches<br />

über dem des amtlichen Normwerts<br />

liegt. Den Realitätscheck werden die Autohersteller<br />

nur bestehen können, wenn<br />

sie sich einen entsprechend hohen Überschreitungsfaktor<br />

einräumen lassen.<br />

Doch dann wäre das ganze Projekt eine<br />

Farce.<br />

Die schon beim Diesel bewährten Filter<br />

hingegen könnten all diese Trickserei<br />

überflüssig machen. Sie fangen mehr als<br />

99 Prozent der Partikel ein. Selbst auf<br />

Messfahrt bei Vollgas bliebe ein Benzinauto<br />

mit diesem Gerät weit unter dem<br />

zulässigen Grenzwert.<br />

Ein in Großserie produzierter Rußfilter<br />

für einen Standard-Pkw kostet etwa hundert<br />

Euro – offenbar zu viel für die Autohersteller.<br />

CHRISTIAN WÜST


Wissenschaft<br />

Die Website der chinesischen<br />

Organhändler<br />

klingt fast schon poetisch:<br />

„Mehr und mehr sterbende<br />

Patienten aus der ganzen<br />

Welt kommen nach China auf<br />

der Suche nach Wiedergeburt.“<br />

Für diese Klientel bietet die<br />

Agentur unter der Internetadresse<br />

www.cntransplant.com<br />

den geeigneten Service. Chinesische<br />

Ärzte seien weltweit anerkannt,<br />

der Erfolg der Transplantationen<br />

betrage fast 100<br />

Prozent. Und vor allem: „Leben<br />

ist unbezahlbar.“<br />

Heißt das, ausländische Patienten<br />

mit entsprechend dickem<br />

Portemonnaie kommen<br />

in China tatsächlich an neue Organe?<br />

Wer dies überprüfen will,<br />

muss nur ein bereitgestelltes<br />

Formular auf der Cntransplant-<br />

Website ausfüllen – etwa mit<br />

den Daten eines fiktiven 47-jährigen<br />

Patienten namens Hartmut<br />

Schmidt, der eine neue<br />

Niere braucht, aber noch bei so<br />

guter Gesundheit ist, dass er in<br />

Deutschland wenig Chancen<br />

auf eine baldige Transplanta - Cntransplant-Internetseite: „Garantiert eine gute Niere“<br />

tion hat.<br />

Nur Stunden später antwortet ein Arzt Den ausländischen Kunden von<br />

der chinesischen Agentur, es sei „kein Cntransplant geht es da deutlich besser.<br />

Problem hier“, eine neue Niere zu bekommen,<br />

nur der Preis sei aufgrund der Agentur Herrn Schmidt, er werde „ga-<br />

In einer weiteren Mail versichert die<br />

Knappheit etwas gestiegen: 350000 Dollar,<br />

inklusive Klinikkosten und Unterbrin-<br />

werden viele internationale Patienten<br />

rantiert eine gute Niere“ bekommen. „Sie<br />

gung. Falls der Patient einen eigenen hier sehen, und die Chirurgen sind sehr<br />

Spender mitbringe, gestalte sich die Sache<br />

deutlich billiger: 55000 Dollar. Für einen ersten medizinischen Check<br />

erfahren.“<br />

Spenderorgane sind in China extrem solle er einfach nach Peking fliegen, wo<br />

knapp. Zwar liegt das Land, was die absolute<br />

Zahl von Nieren- und Lebertrans-<br />

werde: „Informieren Sie mich ein paar<br />

er auf Wunsch am Flughafen abgeholt<br />

plantationen betrifft, weltweit auf Platz Tage vor Ihrem Flug.“ Die Kosten für die<br />

zwei, hinter den USA. Inzwischen verzeichnen<br />

die zuständigen Stellen in der Hartmut Schmidt solle sie bar begleichen:<br />

Untersuchungen lägen bei 3500 Dollar,<br />

Regierung aber einen Abwärtstrend: Während<br />

2004 noch mehr als 12000 Nieren Sie im Hotel sind.“<br />

„Die Geldübergabe an mich erfolgt, wenn<br />

und Lebern verpflanzt wurden, waren es Zwar ist der Organhandel seit 2007<br />

im vorigen Jahr nur noch knapp 7900. auch in China gesetzlich verboten, doch<br />

Offiziellen Schätzungen zufolge warten der Graumarkt wird von Peking bis heute<br />

rund 1,5 Millionen Chinesen auf eine offenbar geduldet. Daher bietet die Agentur,<br />

die mit Hartmut Schmidt Hundert-<br />

Transplantation – weniger als ein Prozent<br />

der Patienten dürfen in China auf ein neues<br />

Herz, eine Niere oder Leber hoffen. Dienste unverhohlen im Internet<br />

tausende Dollar verdienen will, ihre<br />

an.<br />

140<br />

M E D I Z I N<br />

„Geldübergabe im Hotel“<br />

China will sich von der Praxis verabschieden, Organe exekutierter<br />

Strafgefangener zu transplantieren. Doch der<br />

Handel mit Nieren, Lebern und Lungen floriert noch immer.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

International geächtet ist die chinesische<br />

Methode der Organbeschaffung:<br />

Noch heute stammen mehr als die Hälfte<br />

aller Nieren, Lebern oder Lungen, die<br />

transplantiert werden, von exekutierten<br />

Häftlingen. Insgesamt wurden in China<br />

seit 1969 nach zurückhaltender Schätzung<br />

mehr als 100000 Organe getöteten Häftlingen<br />

entnommen.<br />

Womöglich sind in China Gefangene<br />

gar auf Bestellung hingerichtet worden.<br />

So ließe sich erklären, dass angereiste<br />

Herzpatienten in anderen Ländern<br />

der Welt monatelang auf<br />

eine Transplantation warten<br />

müssen, Ausländer in China<br />

aber durchaus innerhalb von nur<br />

zwei Wochen ein neues Herz bekommen<br />

können, wie zwei israelische<br />

Patienten berichten.<br />

Eines der Grundprinzipien<br />

der Transplantationsmedizin ist<br />

die Freiwilligkeit. Angeblich<br />

stimmen auch die Gefangenen<br />

in China der Organentnahme<br />

„freiwillig“ zu, doch der Weltärztebund<br />

sowie die interna -<br />

tionale Transplantationsgesellschaft<br />

TTS erkennen dies nicht<br />

an. Gefängnisinsassen könnten<br />

nicht frei entscheiden – deshalb<br />

dürften ihre Organe grundsätzlich<br />

nicht verwendet werden.<br />

Die anrüchige Praxis führte<br />

in den vergangenen Jahren zur<br />

Isolation Chinas. Wer sich als<br />

Chirurg im Reich der Mitte mit<br />

der Transplantation von Organen<br />

Hingerichteter die Hände<br />

schmutzig macht, darf weder<br />

auf internationalen Kongressen<br />

Forschungsergebnisse präsen -<br />

tieren noch in hochrangigen<br />

Fachzeitschriften publizieren.<br />

Selbst die Reise in die USA ist<br />

erschwert: Laut US-Bundesrecht kann<br />

Personen, die an einer erzwungenen Organentnahme<br />

beteiligt waren, die Einreise<br />

verweigert werden.<br />

Aus dieser Schmuddelecke will China<br />

jetzt raus: Mehrmals verkündete der frühere<br />

Vize-Gesundheitsminister Huang Jiefu<br />

bereits, man wolle die „Abhängigkeit“<br />

von den Organen Exekutierter beenden.<br />

Langfristig bleibt China auch gar nichts<br />

anderes übrig, denn die Zahl der Hinrichtungen<br />

geht zurück. Zudem sind Strafgefangene<br />

häufig mit Hepatitis B infiziert.<br />

Bisher folgten den chinesischen Versprechungen<br />

oft keine Taten. Die jüngste<br />

Ankündigung jedoch hat den Segen von<br />

höchster Stelle: Die chinesische Gesundheitsministerin<br />

Li Bin erklärte, dass China<br />

ab Mitte nächsten Jahres gar keine Organe<br />

hingerichteter Häftlinge mehr verwenden<br />

wolle. Auch der Organhandel solle<br />

unterbunden werden.<br />

Der Schwenk passt zur Charme-Offensive,<br />

die die chinesische Regierung in die-


Zurschaustellung Strafgefangener in Ostchina 2004: Auf Bestellung hingerichtet?<br />

sen Tagen der Welt präsentiert: Umerziehungslager<br />

gehörten abgeschafft, die<br />

Ein-Kind-Politik gelockert, den Bauern<br />

sollten mehr Rechte eingeräumt werden.<br />

Für die Transplantation versprach Li<br />

Bin nicht nur den Abschied von ver -<br />

werflichen Praktiken, sondern präsentierte<br />

einen Fünfpunkteplan für ein System<br />

nach westlichen Standards: So soll es<br />

eine computergesteuerte Warteliste geben<br />

und die Organvergabe rein nach<br />

medizinischer Notwendigkeit geregelt<br />

werden. Dem Chinesischen Roten Kreuz<br />

kommt die Aufgabe zu, Organspendekampagnen<br />

im gesamten Land zu organisieren.<br />

Jede Transplantation soll künftig<br />

in einem Register erfasst und das<br />

Befinden des Empfängers in der Folge<br />

beobachtet werden.<br />

TTS feiert die chinesischen Pläne schon<br />

als Durchbruch. Zur Unterzeichnung dieser<br />

sogenannten Hangzhou-Erklärung<br />

Ende Oktober reiste der TTS-Präsident<br />

und Harvard-Professor Francis Delmonico<br />

an, auch sein designierter Nachfolger,<br />

der Australier Philip O’Connell, war zur<br />

Stelle.<br />

China brauche nun internationale Unterstützung,<br />

schreibt Delmonico in einem<br />

Bericht zur Hangzhou-Erklärung. Bereits<br />

jetzt haben TTS und die Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO ihre Teilnahme an<br />

einer großen Transplantationskonferenz<br />

im Juni 2014 in China signalisiert. Voraussetzung<br />

sei allerdings, dass der Fünfpunkteplan<br />

umgesetzt sei und keine Organe<br />

von Hingerichteten mehr entnommen<br />

würden.<br />

Allerdings haben erst 40 von 169 lizenzierten<br />

Transplantationszentren erklärt,<br />

dass sie künftig auf Häftlingsorgane verzichten<br />

wollen. Wann die übrigen Kliniken<br />

folgen und ob es Sanktionen geben<br />

wird, wenn Kliniken sich weigern, ist ungewiss.<br />

Wie der seit Jahren gesetzlich verbotene<br />

Organhandel in der Praxis be -<br />

endet werden soll, wird ebenfalls nicht<br />

klar gesagt.<br />

AFP<br />

Wie kommt China aber nun zu Spenderorganen,<br />

wenn die Hauptquelle dafür<br />

versiegt? Wenn aus den Gefängnissen<br />

kein Nachschub mehr kommt?<br />

Als 2010 erstmals die bürgerbasierte<br />

Organspende in einem Pilotprojekt propagiert<br />

wurde, gab es zunächst klägliche<br />

Ergebnisse. Ganze 63 Organspender wurden<br />

im ersten Jahr rekrutiert. Die Sache<br />

nahm erst Fahrt auf, als das Rote Kreuz<br />

die Angehörigen von Verstorbenen im<br />

Gegenzug für eine Organspende finanziell<br />

zu unterstützen begann; mehrere<br />

tausend Dollar erhalten die Familien.<br />

In den ländlichen Regionen Chinas, wo<br />

die meisten Spender rekrutiert werden,<br />

ist das ein Vermögen. Viele Menschen<br />

dort leben unter der Armutsgrenze, mit<br />

einem Einkommen von rund 280 Euro<br />

im Jahr.<br />

So kann die Erfolgsmeldung von Ministerin<br />

Li Bin, wonach man dieses Jahr<br />

bereits 3175 Organe von 1161 verstorbenen<br />

Spendern verzeichnen könne, nicht<br />

wirklich überzeugen. „Angehörigen Geld<br />

für Organe zu bezahlen“, sagt TTS-Präsident<br />

Delmonico, „das widerspricht den<br />

Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation<br />

und der TTS.“ Dies beschädige das<br />

Vertrauen der Bevölkerung in das neue<br />

System; deshalb seien weitere Gespräche<br />

nötig, sagt Delmonico dem <strong>SPIEGEL</strong>.<br />

Es sind vor allem Mediziner aus den<br />

USA, die seit vielen Jahren die chinesische<br />

Regierung beraten: teils ganz offiziell<br />

wie Wu Youmin aus dem US-Bundesstaat<br />

New York und Michael Millis,<br />

Cheftransplanteur der University of Chicago;<br />

und teils inoffiziell, wie es der TTS-<br />

Funktionär John Fung nach eigenen Angaben<br />

tut. Alle drei Chirurgen haben an<br />

ihrer jeweiligen US-Klinik chinesische<br />

Ärzte in der Transplantationsmedizin<br />

weitergebildet. Millis hat zudem eine Kooperation<br />

seiner Uni versität mit dem Peking<br />

Union Medical College in Gang gesetzt,<br />

Wu Youmin ein Lebertransplantationsprogramm<br />

in China aufgebaut.<br />

Fung teilt auf Anfrage mit, er engagiere<br />

sich seit 20 Jahren in der Ausbildung chinesischer<br />

Transplanteure. In zwei Fällen<br />

habe er in China zu Demonstrations -<br />

zwecken bei einer Lebertransplantation<br />

assistiert. Zur Quelle der transplantierten<br />

Organe äußert er sich nicht.<br />

Auch das Deutsche Herzzentrum in<br />

Berlin (DHZB) arbeitet mit mehr als 30<br />

Krankenhäusern in China zusammen, dar -<br />

unter Transplantationskliniken. Auf die<br />

Frage, wie viele Herzen dort unter Be -<br />

teiligung von DHZB-Mitarbeitern trans -<br />

plantiert wurden und woher die Organe<br />

stammten, hat Roland Hetzer, Direktor<br />

des Herzzentrums, bis Freitag voriger Woche<br />

nicht geantwortet. Im Dunkeln bleibt<br />

auch, was man im Herzzentrum davon<br />

hält, exekutierten Strafgefangenen Organe<br />

zu entnehmen.<br />

MARKUS GRILL,<br />

MARTINA KELLER<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 141


Anschlag auf das Heidelberger Schloss von 1693 (Animation)<br />

C O M P U T E R<br />

Inferno<br />

im Odenwald<br />

Historiker entdecken<br />

die Technik für sich: Mit Hilfe<br />

aus gefeilter Animationen<br />

lassen sie längst vergangene Baudenkmäler<br />

wiederauferstehen.<br />

Ohrenbetäubender Lärm dröhnt<br />

vom Königstuhl her durch das Tal.<br />

Nach mehreren Donnerschlägen<br />

wabern gigantische schwarzgraue Rauchsäulen<br />

durch die liebliche Gegend am Neckar.<br />

Erst als sich der beißende Schwefelrauch<br />

allmählich lichtet, wird das Ausmaß<br />

der Zerstörung sichtbar.<br />

Das über Heidelberg thronende Schloss<br />

der Wittelsbacher ist zu Klump gebombt<br />

worden. „Das muss für die Leute wie 9/11<br />

gewesen sein“, sagt der Mannheimer Historiker<br />

Alexander Schubert.<br />

Das Inferno im Odenwald legte die pfälzische<br />

Zentrale eines der wichtigsten<br />

Adelsgeschlechter Europas in Schutt und<br />

Asche.<br />

Auf Befehl des französischen Königs<br />

hatten Soldaten der royalen Armee das<br />

Fort der pfälzischen Kurfürsten gekapert<br />

und mit Minen zerlegt. Wie die spektakuläre<br />

Sprengung vor sich ging, hat freilich<br />

kein heute noch Lebender gesehen: Das<br />

Drama ereignete sich im September 1693.<br />

Doch nun zeigt ein Film die verhängnisvollen<br />

Vorgänge von einst gestochen<br />

scharf und in Farbe.<br />

144<br />

Technik<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

CES / FABERCOURTIAL<br />

Für die Ausstellung „Die Wittelsbacher<br />

am Rhein“ der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen<br />

ließ Historiker Schubert das<br />

Heidelberger Schloss vor und während<br />

der Verwüstung durch die Truppen des<br />

Sonnenkönigs virtuell rekonstruieren. Im<br />

Vogelflug zieht der Blick des Zuschauers<br />

zunächst über den legendären Schloss -<br />

garten, der wegen seiner Pracht von den<br />

damaligen Zeitgenossen als „achtes Weltwunder“<br />

gepriesen wurde.<br />

Dann nähert sich die Kamera dem noch<br />

unversehrten Palast von schräg oben –<br />

eine Perspektive, die in dieser Weise kein<br />

Mensch je auf den vollständigen Prunkbau<br />

der Wittelsbacher genießen konnte.<br />

Die pittoreske Tour endet jäh, wenn<br />

das Bild mächtig zu rumpeln beginnt und<br />

große Teile der steinernen Feste unter der<br />

Wucht der Detonationen bersten.<br />

Die Heidelberger Ruine, Ergebnis dieses<br />

frühneuzeitlichen Militärschlags, haben<br />

voriges Jahr mehr als eine Million<br />

Besucher besichtigt. Besonders Touristen<br />

aus Amerika berauschen sich am Mythos<br />

der illustren Adelssippe, die über Jahrhunderte<br />

große Teile Deutschlands kontrollierte.<br />

Dem Haus Wittelsbach entstammen in<br />

Vergessenheit geratene Provinzfürsten<br />

wie Rudolf I., der Stammler, oder Adolf,<br />

der Redliche; in Erinnerung geblieben<br />

sind Geschichtskundigen Herrscher wie<br />

Ludwig II., der Strenge: Der impulsive<br />

Regent ließ 1256 seine Frau Maria aus Eifersucht<br />

köpfen.<br />

Nach der Sprengung plünderten Anwohner<br />

unbehelligt den prominenten<br />

Steinbruch für ihren privaten Hausbau.<br />

Mehr als 150 Jahre interessierte sich kaum<br />

jemand für Deutschlands bekannteste<br />

Schlossruine. Dann forderten wilhelminische<br />

Kulturbeamte plötzlich die Rekonstruktion<br />

des Gemäuers – es entfaltete<br />

sich eine Debatte ähnlich der über den<br />

Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses<br />

heute.<br />

Doch damals verloren die sentimentalen<br />

Lobbyisten. Um 1900 trat der Denkmalschützer<br />

Georg Dehio auf den Plan<br />

und prägte die Zukunft des zerschossenen<br />

Bauwerks mit einem Motto von zeit -<br />

untypischer Bescheidenheit: „Conserviren,<br />

nicht restauriren“.<br />

Abgesehen von dezenten Sanierungen<br />

bietet der Torso aus Sandstein am Fuß<br />

des Königstuhls noch immer jenen zernagten<br />

Anblick, den die Franzosen vor<br />

mehr als 300 Jahren geschaffen haben.<br />

Nicht wenige Feinde der Ruine träumen<br />

unvermindert davon, dass der einstige<br />

Monarchensitz im alten Glanz wieder -<br />

auferstehen möge. Da kommt die Rekonstruktion<br />

im Auftrag der Reiss-Engelhorn-<br />

Museen gerade recht – selbst wenn sie nur<br />

am Computer entstanden ist.<br />

Die digitale Neuschöpfung historischer<br />

Orte liegt im Trend medialer Geschichtsvermittlung.<br />

Das ZDF etwa möbelte seine<br />

Historienserie „Die Deutschen“ mit etlichen<br />

Sequenzen aus dem Computer auf.<br />

Verantwortlich für das TV-Spektakel war<br />

die Produktionsfirma FaberCourtial aus<br />

Darmstadt, die nun auch das Heidelberger<br />

Schloss wiederbelebte.<br />

Mit den Möglichkeiten moderner Rechner<br />

können die Erbauer virtueller Städte<br />

inzwischen faszinierend wirklichkeits -<br />

getreue Szenerien erschaffen. Noch vor<br />

wenigen Jahren ermöglichte die Technik<br />

nur eine vergleichsweise grobe Darstellung<br />

von Gebäuden und Landschaften.<br />

Anders jetzt: Kürzlich bauten die Animateure<br />

aus Darmstadt im Zuge eines<br />

größeren Projekts den historischen Altstadtkern<br />

von Konstanz am Bildschirm<br />

wieder auf und erarbeiteten dabei eine<br />

ungeheure Detailfülle: „Wir mussten uns<br />

sehr genau mit der Beschaffenheit der<br />

Dachziegel beschäftigen“, berichtet Jörg<br />

Courtial, Chef der Produktions firma.<br />

Reichtum im Detail war auch die Vorgabe<br />

für das Heidelberger Schloss. „Das<br />

sollte nicht aussehen wie ein Telespiel“,<br />

so Historiker Schubert. Diese Hürde wurde<br />

genommen. Doch steht der Film auch<br />

für historische Wahrheit?<br />

Penibel habe man selbst die Flora ums<br />

Schloss herum nach historischem Vorbild<br />

wiedererschaffen, heißt es bei FaberCourtial.<br />

Den Rauchsäulen jedoch, die aus den<br />

Mauern quellen, sei zugunsten des Effekts<br />

ein wenig nachgeholfen worden.<br />

Courtial gesteht: „Die waren damals<br />

bei den Franzosen vermutlich nicht so<br />

spektakulär wie bei uns.“<br />

FRANK THADEUSZ<br />

Animation: Die Sprengung<br />

des Heidelberger Schlosses<br />

spiegel.de/app<strong>48</strong>2013schloss<br />

oder in der App <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong>


F O T O G R A F I E<br />

Knips-Kugeln<br />

Flächige Bilder für die Diashow<br />

sind von gestern. Eine neue<br />

Generation von Digitalkameras<br />

erstellt sphärische Panoramen.<br />

Sie drücken das Knöpfchen, wir machen<br />

den Rest“ – mit diesem Slogan<br />

revolutionierte der Kodak-Gründer<br />

George Eastman 1888 die Fotografie, indem<br />

er seinen Kunden die mühsame Filmentwicklung<br />

abnahm. Seitdem ist eine<br />

Menge geschehen in der Fototechnik. Nur<br />

der Auslöser, der musste immer noch gedrückt<br />

werden.<br />

Jetzt wird sogar das Knöpfchen überflüssig.<br />

„Panono“ heißt eine neue Kamera, die<br />

seit zwei Wochen im Netz angeboten<br />

wird. Die Panono ähnelt einem Handball<br />

aus schwarzem Plastik, gespickt<br />

mit 36 winzigen Kameras, die in genauso<br />

viele Richtungen blicken. Wirft der Fotograf<br />

den Kameraball in die Luft, löst<br />

das Teil automatisch am höchsten Punkt<br />

aus.<br />

Ergebnis: ein Kugelpanorama. Direkt<br />

unter der Kamera ist meist der Werfer zu<br />

sehen, mit ausgestreckten Händen, bereit,<br />

das teure Gerät aufzufangen. Es kostet<br />

fast 550 Dollar, wiegt 300 Gramm und<br />

kann 400 Bilder speichern.<br />

Panono ist nicht allein in der neuen<br />

Welt der Kugelsicht. Die „Theta“ des<br />

Kameraherstellers Ricoh zum Beispiel<br />

nimmt sphärische Rundumfotos auf, aller -<br />

dings nur mit zwei Linsen, die jeweils<br />

nach vorn und hinten zeigen. Diese<br />

Knauserei führt dort, wo die Einzelbilder<br />

zusammengerechnet werden, zu starken<br />

Verzerrungen.<br />

Die Lust aufs Rundumfoto ist im Fall<br />

des Panono-Erfinders Jonas Pfeil inspiriert<br />

vom Blick auf schönste Südsee -<br />

strände: „Ich hatte die Idee auf einer<br />

Urlaubsreise nach Vanuatu“, erzählt Pfeil,<br />

der inzwischen gemeinsam mit zwei Kommilitonen<br />

von der TU Berlin eine Firma<br />

gegründet hat.<br />

Noch haben die Kugelpanoramen leichte<br />

Macken, so klappt beispielsweise das<br />

Technik<br />

saubere Zusammenfügen der<br />

36 Einzelbilder an den Rändern<br />

nicht immer. Und bei schwachem<br />

Licht in Innenräumen rät<br />

Pfeil dazu, die Kugelkamera auf ein<br />

Stativ zu montieren, damit die Bilder<br />

nicht verwackeln.<br />

Dennoch haben Pfeil und seine Kollegen<br />

einen Nerv bei der Kundschaft getroffen:<br />

Nur zehn Tage nach Angebotsstart<br />

waren Bestellungen im Wert von mehr als<br />

einer viertel Million Euro eingegangen.<br />

Als er vorige Woche von Panono hörte,<br />

war Steve Hollinger nicht amüsiert. Der<br />

Erfinder aus Boston hatte schon 2012 ein<br />

Patent erhalten für eine werfbare „Kamera<br />

für Aufklärung oder Freizeit“. Sein<br />

Prototyp namens „Squito“, klein wie ein<br />

Baseball, macht nicht nur Fotos, sondern<br />

sogar Filme mit Hilfe von mehreren Hochgeschwindigkeitskameras.<br />

Bestellen kann<br />

man Squito allerdings noch nicht.<br />

Der Trend zum Kugelblick lässt sich<br />

mit den fallenden Preisen für Digital -<br />

„Panono“-Bildausschnitt mit Fotograf<br />

Eine Art außerkörperliche Erfahrung<br />

kameras erklären, aber auch mit der Verfügbarkeit<br />

von Apps und Diensten, die<br />

es ermöglichen, die vielen Einzelbilder<br />

in der Cloud zur Kugel zusammenzurechnen.<br />

Außerdem ist das größte Problem<br />

eines Kugelpanoramas gelöst: Die runden<br />

Bilder passen nicht auf Papier – und das<br />

müssen sie nun auch nicht mehr.<br />

Die Panono-Panoramen etwa betrachtet<br />

man am besten am iPad: Dreht man<br />

sich um sich selbst, dreht sich das Bild<br />

mit. Man blickt dann von oben auf sich<br />

selbst, kurz nach dem Wurf – eine Art<br />

außerkörperliche Erfahrung.<br />

„Die Sehgewohnheiten der Leute haben<br />

sich verändert“, sagt Pfeil, „durch<br />

Google Street View haben wir uns daran<br />

Panono<br />

Kugel-Fotos mit 36 Kameras,<br />

11 cm Durchmesser, 300 g,<br />

72 Megapixel, Bluetooth,<br />

USB, WLAN<br />

ca. 450 Euro<br />

gewöhnt, durch Bilder zu navigieren.<br />

Schon einjährige Kinder kapieren sofort,<br />

wie sie sich mit dem Handy durch ein<br />

Panono-Bild bewegen.“<br />

Pfeils größter Konkurrent ist „Bubl“<br />

aus Toronto. Die kanadische „Blasen“-<br />

Kamera überträgt Video und Ton per<br />

WLAN ins Internet wie eine Webcam<br />

mit Rundumblick. „Ich bin auf die Idee<br />

gekommen, als meine damals dreijährige<br />

Tochter ein Familienvideo geschaut hat,<br />

auf dem das Gesicht ihrer Oma abgeschnitten<br />

war“, erzählt Sean Ramsay,<br />

der Gründer. „Sie wischte mit der Hand<br />

über den Bildschirm, um auch die Großmutter<br />

zu sehen.“ Genau das bietet die<br />

Bubl, wie eine Art Rundum-Skype –<br />

praktisch etwa bei Wohnungsbesichti -<br />

gungen.<br />

Die Bildauflösung allerdings ist bei der<br />

Bubl eher gering, und hochwerfen sollte<br />

man sie besser auch nicht – aber das soll<br />

bald kommen. Bubl hat seit Anfang November<br />

schon rund 200000 Euro auf der<br />

Crowdfunding-Plattform Kickstarter eingeworben.<br />

Sind die Kugel-Knipser nun Revolution<br />

oder Schnickschnack? Eine Spielerei wie<br />

die Holografie oder die Kippelpostkarten,<br />

die man heute als Souvenir-Trash kauft?<br />

„Panoramen sind ein alter Hut“, sagt Hubertus<br />

von Amelunxen, Mitherausgeber<br />

des Buchs „Theorie der Fotografie“. „Es<br />

gibt sie seit rund 500 Jahren, die Hochphase<br />

lag im 19. Jahrhundert“, winkt auch<br />

der Kunsthistoriker Martin Kemp ab,<br />

Emeritus der University of Oxford. „Ich<br />

persönlich finde die Panono revolutionär!“,<br />

schwärmt dagegen Anna Gripp,<br />

Mitgründerin der Zeitschrift „Photonews“.<br />

Hinterher hat man es immer vorher gewusst.<br />

Die Firma Eastman Kodak zum<br />

Beispiel entwickelte 1975 die erste tragbare<br />

Digitalkamera: ein hässliches Ungetüm,<br />

das 30 verrauschte Pixelbildchen auf<br />

einer Musikkassette speicherte. Dies neumodische<br />

Zeugs habe keine Zukunft im<br />

Unternehmen, hieß es danach. Die Entwicklung<br />

wurde gestoppt.<br />

Voriges Jahr meldete Kodak Insolvenz<br />

an.<br />

HILMAR SCHMUNDT<br />

Alles sehende Augen<br />

Eine neue Generation von Panoramakameras<br />

Squito<br />

Kugel-Videos mit<br />

mehreren Kameras<br />

in einem tennisballgroßen<br />

Gehäuse<br />

Konzept<br />

Theta (Ricoh)<br />

Kugel-Panoramen,<br />

zwei Linsen auf einem<br />

Stativ, 13 cm hoch,<br />

ca. 95 g, USB, WLAN<br />

ca. 380 Euro<br />

Bubl<br />

Kugel-Videos mit vier<br />

Linsen auf einem Stativ,<br />

Baseballgröße, Micro-<br />

SD-Karte, USB, WLAN<br />

ca. 350 Euro<br />

146


Szene<br />

VINCENT MOSCH / IMAGEWORKSHOP<br />

V E R L A G E<br />

„Hart und schroff“<br />

Der Übersetzer und<br />

Linguist Bernd-Jürgen<br />

Fischer, 70, über<br />

seine Übertragung<br />

von Marcel Prousts<br />

Mammut-Roman<br />

„Auf der Suche nach<br />

der verlorenen Zeit“,<br />

an der er ohne Auftrag<br />

zehn Jahre lang<br />

gearbeitet hat<br />

Proust um 1900<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Herr Fischer, Sie haben auf<br />

eigene Faust alle sieben Teile des mehr<br />

als 4000 Seiten umfassenden Romanwerks<br />

„A la recherche du temps perdu“<br />

von Marcel Proust neu übersetzt.<br />

Wie kommt man auf so eine Idee?<br />

Fischer: Im Urlaub ist mir der Lesestoff<br />

ausgegangen. Das war in Saigon, und<br />

ich habe dort nichts Ver nünftiges gefunden<br />

außer der franzö sischen Ausgabe<br />

der „Suche“. Ich kannte bis dahin nur<br />

Übersetzungen und war verblüfft, wie<br />

anders mir der Ton vorkam.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Und dann haben Sie<br />

sich hingesetzt und einfach<br />

EVERETT COLLECTION / ACTION PRESS<br />

mit der eigenen Übersetzung begonnen?<br />

Fischer: Nein, das war daheim. Mich<br />

interessierte, ob ich diesen Ton ins<br />

Deutsche retten kann. Und als ich einmal<br />

angefangen hatte, kam ich nicht<br />

mehr davon los.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie hatten keinen Auftrag.<br />

Wie kam dann doch der Kontakt zu<br />

einem Verlag zustande?<br />

Fischer: Durch meine Frau, die Journalistin<br />

ist. Sie hat sich über meine diesbezügliche<br />

Untätigkeit geärgert und<br />

die Sache selbst in die Hand genommen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Und bei Reclam hat man<br />

gleich zugegriffen?<br />

Fischer: Das ging dann rasch.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie haben auch gleich noch<br />

einen umfangreichen Anmerkungsund<br />

Erläuterungsteil mitgeliefert.<br />

Wann haben Sie den noch geschrieben?<br />

Fischer: Der ist parallel zur Über -<br />

setzung entstanden. Sie können das ja<br />

nicht den ganzen Tag machen, dann<br />

kommt nur noch Unsinn dabei raus.<br />

Also habe ich mich nachmittags in die<br />

Forschungsliteratur vertieft.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Ihre Syntax folgt dem Original<br />

strenger als frühere Übersetzungen.<br />

Hat das damit zu tun, dass Sie von<br />

Haus aus Linguist sind?<br />

Fischer: Einige vermissen eine gewisse<br />

Geschmeidigkeit, ich weiß. Für<br />

mein Gefühl haben manche Übersetzer<br />

zu sehr mit Weichzeichner ge -<br />

arbeitet, zu viel geglättet. Die Syntax<br />

von Proust ist sehr hart und schroff.<br />

Er mutet dem Leser etwas zu.<br />

KINO IN KÜRZE<br />

„Tage am Strand“ beruht auf der<br />

Erzählung „Die Großmütter“, einem Spätwerk<br />

der Mitte November verstorbenen<br />

britischen Literaturnobelpreisträgerin<br />

Doris Lessing. Der Film schildert die Geschichte<br />

zweier Freundinnen (Robin<br />

Wright, Watts in „Tage am Strand“<br />

Wright und Naomi Watts). Schon als Kinder<br />

spielten sie zusammen am Strand.<br />

Mittlerweile sind sie um die vierzig und<br />

haben halbwüchsige Söhne. Die beiden<br />

Frauen verlieben sich neu: ausgerechnet<br />

in den Sohn der jeweils anderen. Die luxemburgische<br />

Regisseurin Anne Fontaine<br />

hat diese Geschichte in Australien verfilmt;<br />

an der mondänen<br />

Côte d’Azur wäre sie<br />

aber möglicherweise<br />

besser aufgehoben<br />

gewesen. Großartig gespielt<br />

(vor allem von<br />

Robin Wright), trägt der<br />

Film schwer an der Last<br />

seiner inzestuösen Konstellation.<br />

Bis zum Ende<br />

wird der Zuschauer das<br />

Gefühl nicht los, dass<br />

hier der Stoff für eine<br />

beschwingte erotische<br />

Komödie viel zu ernst<br />

genommen wurde.<br />

CONCORDE FILMVERLEIH<br />

„The Counselor“. Selten zuvor<br />

wurden in einem Film so viele Stars geköpft<br />

wie in diesem Gewaltepos von<br />

Regisseur Ridley Scott. Brad Pitt, Cameron<br />

Diaz, Penélope Cruz, Javier Bardem<br />

und Michael Fassbender lieben<br />

und töten einander nach einem Drehbuch<br />

des Schriftstellers Cormac<br />

McCarthy. In seinem Roman „No Country<br />

for Old Men“, von Joel und Ethan<br />

Coen grandios verfilmt, hatte McCarthy<br />

bereits die Drogenkriminalität an der<br />

Grenze zwischen den USA und Mexiko<br />

thematisiert. Auch „The Counselor“<br />

spielt in dieser Region. Doch die Geschichte<br />

eines Anwalts (Fassbender),<br />

der sich mit Verbrechern einlässt, um<br />

ein Luxusleben führen zu können,<br />

kommt nur mühsam in Gang. McCarthy<br />

und Scott reihen große Auftritte<br />

ihrer Stars aneinander,<br />

das Erzähltempo ist schleppend<br />

und nicht annähernd<br />

so hoch wie die Todesrate.<br />

1<strong>48</strong><br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Kultur<br />

Szene aus „The Lego Movie“<br />

H O L L Y W O O D<br />

Gelbe Gefahr<br />

Hollywoods neuer Star ist noch kleiner als Tom Cruise, nämlich<br />

nur vier Zentimeter hoch, er lächelt wie erstarrt und hat<br />

gelbe Haut: Er heißt Emmet und ist ein Lego-Männchen.<br />

Die Abenteuer des Plastikzwergs stehen im Mittelpunkt des<br />

Animationsfilms „The Lego Movie“, einer Co-Produktion<br />

des US-Studios Warner Bros. mit dem dänischen Spielzeughersteller.<br />

Lego arbeitet seit Jahren mit der Filmindustrie<br />

zusammen, bislang allerdings vor allem als Lizenznehmer:<br />

Kinohelden wie Indiana Jones erobern als Lego-Figuren auch<br />

die Kinderzimmer. Die Macher des Lego-Films, der im Frühjahr<br />

2014 weltweit in die Kinos kommt, hoffen nun auf einen<br />

Erfolg nach dem Vorbild der „Transformers“. Die Plastik -<br />

roboter, hergestellt vom Spielzeugkonzern Hasbro, galten<br />

lange bei Kindern als uncool, bis im Jahr 2007 der Regisseur<br />

Michael Bay einen Actionfilm mit den Figuren inszenierte.<br />

Inzwischen werden mit „Transformers“-Produkten Milliarden<br />

umgesetzt, im Kino ebenso wie in Spielzeugläden. Auch<br />

andere Hersteller versuchen seitdem, mit Hollywoods Hilfe<br />

neue Kunden zu gewinnen. Der Barbie-Hersteller Mattel,<br />

größter Spielzeugkonzern der Welt, hat jetzt sogar ein eigenes<br />

Studio namens Playground Productions gegründet,<br />

um Filme, Fernsehserien und Computerspiele zu entwickeln.<br />

COURTESY OF WARNER BROS.<br />

L I T E R A T U R<br />

Kuckuck und Cormoran<br />

Robert<br />

Galbraith<br />

Der Ruf des<br />

Kuckucks<br />

Aus dem Englischen<br />

von<br />

Kristof Kurz, Christoph<br />

Göhler, Wulf<br />

Bergner. Blanvalet<br />

Verlag, München;<br />

640 Seiten;<br />

22,99 Euro.<br />

Lula Landry, ein berühmtes Model,<br />

stürzt vom Balkon ihrer Londoner<br />

Wohnung in den Tod. Ein tragischer<br />

Unfall? Selbstmord? Die Polizei ermittelt<br />

und erkennt auf Suizid. Der Adoptivbruder<br />

der Toten, ein Anwalt, mag<br />

das nicht glauben. Er ist sich sicher,<br />

dass seine Schwester, die ihre Freunde<br />

Kuckuck nannten, ermordet wurde,<br />

und heuert einen Privatdetektiv an.<br />

Dieser Cormoran Strike, ein Kriegs -<br />

veteran mit Beinprothese, soll das Rätsel<br />

um Lula Landry lösen. Klassischer<br />

Krimi-Stoff. Als Autor von „Der Ruf<br />

des Kuckucks“ firmiert ein gewisser Robert<br />

Galbraith. Als das Buch in Großbritannien<br />

im Frühjahr herauskam, erhielt<br />

der Autor freund liche Besprechungen.<br />

Der Verkauf hielt<br />

sich in Grenzen. Dann berichtete<br />

eine Zeitung, dass Robert<br />

Galbraith ein Pseud onym von<br />

Joanne K. Row ling sei. Der Verkauf<br />

zog deutlich an. Für die<br />

deutsche Ausgabe, die am<br />

29. November erscheint, belässt<br />

es der Verlag bei Galbraith,<br />

nicht ohne auf die wirkliche<br />

Autorin hinzuweisen. Rowling<br />

hat einen soliden, an Verdäch -<br />

tigen, Handlungssträngen und<br />

möglichen Motiven überreich<br />

ausgestatteten Roman geschrieben.<br />

Ihr Detektiv ist eine hinreichend<br />

originelle Figur mit einer<br />

patenten Aushilfssekretärin, die<br />

zu seinem Dr. Watson avanciert.<br />

In allem schimmert die<br />

gute alte englische Krimi-Tradition<br />

durch, von Arthur Conan<br />

Doyle über Dorothy L. Sayers<br />

zu P. D. James. Es scheint, als<br />

wollte die „Harry Potter“-Mil -<br />

liardärin Rowling sich und der<br />

Welt beweisen, dass sie auch<br />

dieses Genre beherrscht.<br />

Sprachlich kommt das Buch<br />

ohne übertriebene Eleganz aus,<br />

inhaltlich arbeitet es mit einem<br />

Trick. Über die Person, die aller<br />

moralischen und psychologischen<br />

Wahrscheinlichkeit nach<br />

nicht als Täter in Frage kommt,<br />

wird dem Leser erst in letzter<br />

Minute die entscheidende Information<br />

mitgeteilt. Nach den<br />

klassischen Regeln des Genres<br />

ist das ein fragwürdiges Vorgehen.<br />

Dennoch: Der Roman ist<br />

unterhaltsam und nicht ohne<br />

Charme.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 149


ANTON CORBIJN / CONTOUR BY GETTY IMAGES<br />

S P I E G E L - G E S P R Ä C H<br />

„Wenn es Zeit wird für Verrat“<br />

Wo endet die Loyalität gegenüber einem Staat? Ein Leben lang hat sich<br />

John le Carré mit Fragen von Moral und Treue auseinandergesetzt. Das neue Buch<br />

des Ex-Agenten wirkt wie ein Schlüsselroman zum Fall Snowden.


Kultur<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Mr. le Carré, wer ist Edward<br />

Snowden – ein Held, ein Verräter? Einer,<br />

der unser Leben sicherer gemacht hat –<br />

oder einer, der den Qaida-Terroristen in<br />

die Hände spielt, wie der Chef des britischen<br />

Auslandsgeheimdienstes meint?<br />

Le Carré: Zunächst einmal: Gut gemacht,<br />

junger Mann! Snowden hat eine für ihn<br />

sicher sehr schwierige und sein weiteres<br />

Leben bestimmende Entscheidung getroffen:<br />

Er hat Gesetze gebrochen und sei -<br />

nen Arbeitgeber verraten, um einen viel<br />

schwerer wiegenden Gesetzesbruch der<br />

NSA zu enthüllen. Ich wünschte, er bekäme<br />

dafür einen Orden oder seine Freiheit<br />

zurück.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Das wird nicht passieren.<br />

Le Carré: Stimmt. Ich denke nicht, dass er<br />

in Putins Russland gut aufgehoben ist, und<br />

ich halte es für höchst unwahrscheinlich,<br />

dass er in Deutschland oder sonst einem<br />

Staat Asyl bekommt. Es wäre eine großartige<br />

Geste Ihrer Regierung, aber dafür<br />

ist der Einfluss Washingtons zu groß.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: John Kornblum, der frühere amerikanische<br />

Botschafter in Deutschland,<br />

hat behauptet, Snowden wäre nichts passiert,<br />

hätte er sich an das amerikanische<br />

Whistleblower-Gesetz gehalten und sich<br />

an seine Vorgesetzten gewandt.<br />

Le Carré: Völliger Unsinn. Ein Geheimdienst<br />

kann schon aus Prinzip Whistleblower<br />

nicht straffrei ausgehen lassen.<br />

Also, Herr Snowden, machen Sie sich<br />

keine Illusionen! Sie werden verfolgt und<br />

wohl irgendwann geschnappt werden,<br />

denn Sie haben eine Todsünde begangen<br />

– Sie haben die US-Regierung und<br />

Corporate America wie Idioten aussehen<br />

lassen. Und die denken: Dafür ist die<br />

Todesstrafe noch zu milde.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Waren Sie überrascht, als Sie<br />

vom Ausmaß des NSA-Programms hörten,<br />

vom Abhören auch der deutschen<br />

Kanzlerin?<br />

Le Carré: Mir war bewusst, wie staubsaugerhaft<br />

die Amerikaner alles abschöpfen.<br />

Aber ich verstehe nicht, was das bringen<br />

soll, der Aufwand der Auswertung steht<br />

in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Und<br />

JOHANNES EISELE / AFP<br />

Aktion für Snowden vor dem Reichstag in Berlin<br />

„Gut gemacht, junger Mann!“<br />

natürlich ist es illegal. Die Amerikaner<br />

scheinen bereit zu sein, ziemlich alle ihrer<br />

hart erkämpften Freiheiten aufzugeben.<br />

Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten –<br />

und am meisten verwundert mich, wie<br />

ruhig wir all diese Ungeheuerlichkeiten<br />

hinnehmen, dieses zweitklassige Niveau<br />

unserer politischen Führung im Westen,<br />

diese drittklassige Kontrolle, die unsere<br />

Parlamentarier ausüben.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Beginnt da nicht gerade ein Umdenken?<br />

In den USA regt sich die Kritik<br />

in der Bevölkerung, die die NSA für eine<br />

Bedrohung hält. In Deutschland fordern<br />

einige Politiker und viele wichtige Persönlichkeiten<br />

des öffentlichen Lebens<br />

Asyl für Snowden.<br />

Le Carré: In meiner Heimat hält sich die<br />

Aufregung über die ganze Affäre sehr in<br />

Grenzen. Mit Ausnahme des „Guardian“<br />

hält die Presse völlig still, auch die BBC.<br />

Es gibt keine öffentliche Debatte um Geheimdienstübergriffe.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Stattdessen offene Drohungen<br />

des Premiers gegenüber Journalisten.<br />

Woran liegt das?<br />

Le Carré: Zum einen an dem fast mythischen<br />

Charakter, den bei uns der Secret<br />

Service hat. Es existiert eine unheilige<br />

Allianz zwischen den britischen Geheimdiensten<br />

und der Öffentlichkeit. Das liegt<br />

John le Carré<br />

ist der Künstlername des britischen<br />

Schriftstellers David Cornwell, 82.<br />

Seit mehr als 50 Jahren schreibt er Polit-<br />

Thriller und Agentenromane. „Der Spion,<br />

der aus der Kälte kam“ (1963) machte<br />

ihn weltberühmt. Le Carré kennt das Milieu<br />

seiner Geschichten aus eigener<br />

Anschauung: Von 1959 bis 1964 arbeitete<br />

er selbst als Agent für den britischen<br />

Geheimdienst, zeitweise in Bonn und<br />

Hamburg. Bis in die achtziger Jahre<br />

hinein prägte der Kalte Krieg le Carrés<br />

Werk; später schrieb er, nach langen<br />

Recherchen, Romane über die kriminellen<br />

Machenschaften westlicher Pharma -<br />

konzerne in Afrika („Der ewige Gärtner“),<br />

den internationalen Waffenhandel („Der<br />

Nacht-Manager“) oder über islamistischen<br />

Terrorismus („Marionetten“). Viele<br />

seiner Bücher wurden verfilmt, dar -<br />

unter „Das Russland-Haus“ oder „Dame,<br />

König, As, Spion“. Le Carrés neuer<br />

Roman „Empfindliche Wahrheit“ (Ullstein<br />

Verlag, Berlin; 392 Seiten; 24,99 Euro)<br />

weist erstaunliche Parallelen zum Fall<br />

Edward Snowden auf.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 151


152<br />

SAMMLUNG RICHTER / CINETEXT<br />

KINOWELT / CINETEXT<br />

Plakate von Le-Carré-Verfilmungen, Debütant le Carré 1964: „Eine grausame Zeit“<br />

auch in der engen historischen Verflechtung<br />

und der Komplizenschaft mit den<br />

USA begründet. Wir haben für die Amerikaner<br />

oft das dreckige Geschäft besorgt,<br />

beispielsweise die Informationen für den<br />

1953 von der CIA betriebenen Sturz des<br />

gewählten Ministerpräsidenten Mossadegh<br />

in Iran geliefert – etwas, was wir<br />

verdrängen, was aber kein Perser je vergessen<br />

wird. Wir waren die Lehrmeister<br />

von CIA und NSA. Und jetzt haben wir<br />

Dienste, die zu Monstern geworden sind –<br />

zu groß, zu mächtig, als dass sie noch effektiv<br />

zu kontrollieren wären.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Dann hat es Sie als ehemaligen<br />

Geheimdienstagenten Ihrer Majestät nicht<br />

überrascht, dass auch die Briten aus ihrer<br />

Berliner Botschaft deutsche Politiker ausspähen<br />

sollen?<br />

Le Carré: Überrascht hat mich allenfalls,<br />

wie ungeschickt sie sich dabei anstellen.<br />

Und natürlich ist es lachhaft, wenn all<br />

diese millionenfachen Abhörmaßnahmen<br />

mit dem Kampf gegen den Terror erklärt<br />

werden. Nein, sie hören ab, weil sie es<br />

können. Und sie bekommen niemals genug.<br />

Jeder ist a priori ein Verdächtiger.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: „Wer die Wahrheit ausspricht,<br />

begeht kein Verbrechen“, schreibt Snow -<br />

den in einem Brief an den <strong>SPIEGEL</strong>. Sie<br />

stellen Ihrem neuen Buch den Oscar-<br />

Wilde-Satz voran: „Wer die Wahrheit sagt,<br />

wird früher oder später dabei ertappt.“<br />

Le Carré: Man könnte sagen, das ergänzt<br />

sich. Ich liebe mein Land, aber mir widerstrebt<br />

seine Klassengesellschaft, diese<br />

Sozialstruktur, die sich in den letzten<br />

Jahrzehnten so gut wie gar nicht verändert<br />

hat. Es ist eine elitäre Welt, deren<br />

Herzstück das Geheime ist. Nirgendwo,<br />

mit Ausnahme vielleicht von Israel, sind<br />

Establishment und Secret Service so untrennbar<br />

miteinander verbunden.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: „Empfindliche Wahrheit“ heißt<br />

Ihr Buch, das gerade in Deutschland erschienen<br />

ist, es ist Ihr 23. Darin kommen<br />

so ziemlich alle aktuellen britischen Probleme<br />

vor, alle denkbaren Rechtsbrüche:<br />

illegale Abhörpraktiken, versuchte Verschleppung<br />

Verdächtiger, die Auslagerung<br />

kriegsähnlicher Einsätze an private Sicherheitsfirmen,<br />

ein Komplott der in London<br />

gut vernetzten amerikanischen Tea-<br />

Party-Fundamentalisten. Es geht um einen<br />

Whistleblower, um Treue und Verrat,<br />

der eine höhere Form von Treue sein<br />

kann. So nah an der Wirklichkeit, dass<br />

man denkt, es könnte ein Tatsachenbericht<br />

sein.<br />

Le Carré: Ich respektiere sehr, wenn meine<br />

Schriftstellerkollegen sich mit der Vergangenheit<br />

beschäftigen und daraus ihre<br />

Stoffe beziehen, bei mir aber geht es immer<br />

um die Gegenwart. Und ich porträtiere<br />

in meinen Romanen gern Menschen,<br />

die mir vertraut sind. In diesem Buch vor<br />

allem mich.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wie meinen Sie das?<br />

Le Carré: Ich habe, diesmal eher im Unterbewusstsein,<br />

ein Doppelporträt meiner<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

RALPH CRANE / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES<br />

Person gezeichnet, aus unterschiedlichen<br />

Zeiten. Da ist einmal Toby Bell, Mitte<br />

dreißig, aufstrebender Stern im britischen<br />

Außenministerium. Ganz der ehrgeizige<br />

Typ, der ich in dem Alter selbst war, bis<br />

ich meine Geheimdienstkarriere mit dem<br />

Schreiben von „Der Spion, der aus der<br />

Kälte kam“ verpfuscht habe. Toby erledigt<br />

die dubiosen Jobs, weil er denkt, einer<br />

muss das ja tun. Bis er merkt, dass er<br />

seine Toleranzschwelle überschritten hat<br />

und vom guten Soldaten zum Mann im<br />

Untergrund wird.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Und der andere ist Sir Christopher<br />

Probyn, ein ebenfalls geheimdienst -<br />

erprobter Diplomat.<br />

Le Carré: Probyn wurde zum Botschafter<br />

in der Karibik befördert, weit weg von<br />

der Zentrale mit ihren vertuschten Skandalen,<br />

und genießt jetzt im ländlichen<br />

Cornwall seine Pension. Bis Probyn<br />

merkt, dass die bösen Geister der Vergangenheit<br />

ihn einholen. Ich mag seine<br />

Selbstzweifel, seine Einsicht in Fehler und<br />

wie er den Pakt mit dem Teufel akzeptiert,<br />

den er am Ende schließen muss. Ich<br />

kann mich in ihm wiedererkennen: Wir<br />

dachten, wir hätten uns erfolgreich betrogen,<br />

aber wir kamen nicht durch damit.<br />

Es gibt eine Zeit für Treue, es gibt<br />

eine Zeit für Verrat.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Waren Sie nicht selbst immer<br />

Teil des britischen Establishments, das<br />

Sie so ablehnen? Ihr Vater hat Ihnen den<br />

Besuch einer Privatschule ermöglicht.<br />

Le Carré: Na ja, meine Mutter hat uns verlassen,<br />

als ich fünf war. Ich bin mit meinem<br />

Vater aufgewachsen, der nun nicht gerade<br />

der fürsorglichste und unproblematischste<br />

aller Charaktere war. Aber dafür ein recht<br />

aufregender Mann. Graham Greene hat<br />

einmal gesagt, das Bankkonto eines jeden<br />

Schriftstellers sei seine Kindheit – so gesehen<br />

wuchs ich auf als Multi millionär. Ich<br />

konnte aus dem Vollen schöpfen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Warum?<br />

Le Carré: Mein Vater war ein Betrüger der<br />

Sonderklasse, wurde wegen Versicherungsdiebstahls<br />

zu einer Gefängnisstrafe<br />

verurteilt. In seinen Glanzzeiten besaß<br />

er ein Rennpferd auf einem Gestüt bei<br />

Paris, er dealte mit einer Truppe von Varieté-Tänzerinnen,<br />

reiste mit einem ehemaligen<br />

Londoner Bürgermeister zum<br />

Spielen ins Casino von Monte Carlo. Er<br />

war offensichtlich so überzeugend, dass<br />

er allen alles verkaufen konnte. Aber das<br />

war nur die eine Seite, die Sonnenseite,<br />

sein steiler sozialer Aufstieg.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Und die andere?<br />

Le Carré: Zeigte sich, wenn er aufzufliegen<br />

drohte, wenn er auf der Flucht war. Vor<br />

der Polizei, vor brutalen Unterwelttypen,<br />

die eine Rechnung mit ihm offenhatten.<br />

Ich erinnere mich, dass wir manchmal<br />

alle Lichter im Haus löschen mussten, um<br />

Abwesenheit vorzutäuschen. Ein Abenteurerleben<br />

mit dem Charme des Kri -<br />

minellen, wie es die Nachbarjungs nicht


Le Carré (r.), <strong>SPIEGEL</strong>-Redakteur*<br />

„Jeder ist ein Verdächtiger“<br />

Kultur<br />

<strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

kannten. Andererseits empfand ich es<br />

als demütigend, wenn der Gerichtsvollzieher<br />

dann kam und in meinen Kleidern<br />

und Spielsachen wühlte. Ich fühlte mich<br />

schmutzig.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wieso haben Sie eigentlich so<br />

eine Nähe zu Deutschland?<br />

Le Carré: Der Motor jedes schriftstellerischen<br />

Schaffens hat drei wesentliche<br />

Bauteile: Kindheit, Erziehung, Erfahrung.<br />

Und auf jedem dieser Bauteile<br />

steht: „Made in Germany“. Ich habe Zuflucht<br />

gesucht während meiner Zeit auf<br />

dem Internat bei der deutschen Literatur,<br />

die eine Muse für mich war. Der<br />

Bildungs roman blieb zeitlebens mein<br />

Modell, die Geschichte des Unschuldigen,<br />

der durch eine Mischung aus harten<br />

Erfahrungen und Glück seinen Weg in<br />

die Welt findet. Und dann habe ich in<br />

Oxford Deutsch studiert. Als ich später<br />

Diplomat wurde, habe ich einige der prägendsten<br />

Erfahrungen in Bonn und Hamburg<br />

gemacht – und natürlich in West-<br />

Berlin. Ich habe zwei Jahre lang in Eton<br />

Deutsch und Französisch gelehrt. Die Tätigkeit<br />

als britischer Botschaftsangehöriger<br />

mit einem Spionageauftrag des Auslandsgeheimdienstes<br />

MI6 fand ich dann<br />

reizvoller.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie haben sich in Bonn um mögliche<br />

sowjetische Spione gekümmert?<br />

Le Carré: Über meine genauen Aufgaben<br />

von damals darf ich auch heute noch<br />

nicht sprechen. Aber es hat Spaß gemacht.<br />

Die Jungs vom MI6 waren eine<br />

lustige Truppe, vielseitig interessiert, es<br />

war ein bisschen so, als arbeitete man bei<br />

einer tollen investigativen Zeitung.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wurde der Geheimdienst eine<br />

Art Ersatzfamilie?<br />

Le Carré: Er war ein Refugium, ein Schutzschild,<br />

hinter dem ich mich gut verstecken<br />

konnte – ironischerweise auch ein Schutz<br />

vor der Realität. Mit der Zeit lernte ich,<br />

meinen eigenen moralischen Kompass<br />

zu finden. Ich begann zu dichten, über<br />

den Kalten Krieg und die moralische<br />

Ambivalenz der Geheimdienste, deren<br />

Arbeit sich nicht mehr in Schwarz und<br />

Weiß, die Guten hier, die Bösen da, unterscheiden<br />

ließ. Zwei Bücher. Dann<br />

schrieb ich innerhalb von fünf Wochen<br />

„Der Spion, der aus der Kälte kam“. Ich<br />

musste das anmelden. Meine Arbeitgeber<br />

haben mir die Veröffentlichung nach längerem<br />

Zögern erlaubt, allerdings nicht<br />

unter meinem Namen. Ich entschied mich<br />

für das Pseudonym John le Carré. Das<br />

klang gut.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Das ist jetzt ziemlich genau ein<br />

halbes Jahrhundert her, Ihr Weltbestseller<br />

wird aus diesem Anlass neu aufgelegt. Es<br />

war die Hoch-Zeit der Ost-West-Spionage,<br />

des großen Dramas. Trauern Sie diesen<br />

Zeiten nach?<br />

Le Carré: Ich empfinde keine Kalter-Krieg-<br />

Nostalgie. So viele ließen ihr Leben, weil<br />

sie hereingelegt und bloßgestellt wurden.<br />

Eine grausame Zeit, in der viele Ideale<br />

verraten wurden. Von allen Seiten.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie sind George Smiley, Ihrem<br />

fiktiven Chef und Anti-Bond, in vielen<br />

nachfolgenden Büchern treu geblieben.<br />

Und Karla, seinem großen Gegenspieler<br />

in Moskau – die beiden wurden zu Symbolfiguren<br />

des Kalten Krieges.<br />

Le Carré: Ich wollte die geheime Welt zu<br />

einem Schauplatz, zu einer Bühne für die<br />

große, nichtgeheime Welt machen. Dass<br />

ich zwischen diesen beiden Welten keine<br />

großen Unterschiede feststellen konnte,<br />

machte die Herausforderung noch verführerischer.<br />

Aber meine Protagonisten<br />

hatten ihre Zeit, und die hörte auf mit<br />

dem Ende des Kalten Krieges.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Aung San Suu Kyi, die burmesische<br />

Friedensnobelpreisträgerin, hat in<br />

ihrem jahrelangen Hausarrest, wie sie<br />

sagt, mit Ihren Büchern „Kontakt zur Außenwelt“<br />

gehalten. Der russische Premier<br />

und Ex-Auslandsspionage-Chef Jewgenij<br />

Primakow sagte Ende der neunziger Jahre<br />

einmal, Smiley sei seine Lieblingsfigur<br />

in Ihren Romanen.<br />

Le Carré: Ich habe ihn später kennengelernt.<br />

Aber Smiley war da längst Geschichte.<br />

In Smileys Abschiedsrede vor<br />

jungen Rekruten lasse ich ihn in die Zukunft<br />

blicken und sagen: Jetzt, da wir den<br />

Kommunismus besiegt haben, müssen die<br />

Auswüchse des Kapitalismus unser Ziel<br />

sein.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie haben sich dann mit CIA-Machenschaften<br />

in Südostasien und Mittelamerika<br />

beschäftigt, machten den Nahost-Konflikt<br />

und die Perestroika zu Ihrem<br />

Thema, beschrieben die Ausbeutung Afrikas<br />

genauso wie den internationalen<br />

Waffenhandel. Sie haben in einem Ihrer<br />

Bücher, kaum verhüllt, mit Tony Blair<br />

abgerechnet. Enttäuschte Liebe?<br />

Le Carré: Als Blair nach all den Jahren einer<br />

ausgelaugten Tory-Herrschaft Regierungschef<br />

geworden war, hatte ich mich<br />

sehr gefreut. Umso größer die Enttäuschung.<br />

Er hat uns in diesen unseligen<br />

Irak-Krieg geführt, mit Lügen, an die<br />

er womöglich sogar geglaubt hat. Er wurde<br />

zum Minnesänger des üblen George<br />

W. Bush – eine Schande für unser Land.<br />

Ich bin damals auf die Straße gegangen.<br />

Aber meine Heimat wurde eine De-facto-<br />

* Erich Follath in London.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 153<br />

Der digitale<br />

<strong>SPIEGEL</strong><br />

In dieser Ausgabe:<br />

Aufruhr an der Ruhr<br />

Video über die Koalitionsempörung<br />

der SPD-Basis<br />

Der Meisterregisseur<br />

Video-Spezial über die Filme von<br />

Bernardo Bertolucci<br />

Breakdance-Boom<br />

Eine Tanzstunde im Video<br />

Die neue Art zu lesen.<br />

Mit zusätzlichen Hintergrundseiten.<br />

Mit exklusiv produzierten Videos.<br />

Mit 360°-Panoramafotos, interaktiven<br />

Grafiken und 3-D-Modellen.<br />

Alles immer schon ab Sonntag 8 Uhr!<br />

<strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

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über unser Testangebot.<br />

SD13-107


Kultur<br />

Kolonie der USA, sie hat ihre Außenpoli -<br />

tik sklavisch an Washington gekoppelt.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Anders als Deutschland?<br />

Le Carré: Ich denke schon. Ich habe eine<br />

Art „deutsche Seele“ entwickelt.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Was Sie nicht daran hindert, auch<br />

die Deutschen hart zu kritisieren.<br />

Le Carré: Gerade Ihr Geheimdienst hat<br />

viele Leichen im Keller. Die Bundes -<br />

regierung machte unter Anleitung der<br />

Amerikaner Reinhard Gehlen, den früheren<br />

Befehlshaber Hitlers an der Ostfront,<br />

zum ersten Chef des Bundesnachrichtendienstes,<br />

Heinz Felfe, früherer SS-<br />

Mann, wurde Chef der Gegenspionage.<br />

Aber ich glaube, die Nachkriegsdeutschen<br />

haben ein natürliches Misstrauen,<br />

eine Distanz zu ihrem Geheimdienst entwickelt.<br />

Mir scheint er – trotz aller Fehler<br />

– besser kontrolliert als der amerikanische<br />

und der britische.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie haben immer Wert darauf gelegt,<br />

Ihre Geschichten vor Ort zu recherchieren.<br />

Sie waren in Palästina, im Ostkongo,<br />

manchmal unter Lebensgefahr.<br />

Le Carré: Es geht nicht ohne persönlichen<br />

Eindruck, wenngleich Sie mich da heroischer<br />

machen, als ich je war. Ich habe<br />

in Beirut zehn Tage mit Jassir Arafat verbracht.<br />

In Goma traf ich mich mit kongolesischen<br />

Rebellen. Die Israelis führten<br />

mir in der Negev-Wüste in einem Geheimgefängnis<br />

eine abgefangene deutsche<br />

Terroristin vor, die von einer Auschwitz-Überlebenden<br />

bewacht wurde. Aber<br />

mein beeindruckendstes Treffen war mit<br />

Andrej Sacharow in Moskau, den ich für<br />

seine Standfestigkeit im Angesicht von<br />

Gulag und KGB-Schikanen grenzenlos<br />

bewunderte.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sie haben ein Treffen mit dem<br />

Spionagechef Markus Wolf abgelehnt,<br />

der in mancherlei Beziehung Ihrem fiktiven<br />

Sowjetspionagechef Karla ähnelte.<br />

Warum?<br />

Le Carré: Er hatte so viel Blut an den Händen.<br />

Bei aller moralischen Ambivalenz:<br />

Für mich macht es immer noch einen Unterschied,<br />

ob man für einen demokratischen<br />

Staat oder ein autoritäres Regime<br />

spioniert.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Salman Rushdie hat Sie einen<br />

„arroganten Esel“ genannt, weil Sie ihm<br />

damals nach der Fatwa „Selbstgerechtigkeit“<br />

unterstellt haben. Er warf Ihnen vor,<br />

sich de facto mit den islamistischen Hass -<br />

predigern gemeinzumachen.<br />

Le Carré: Gott sei Dank haben wir diesen<br />

Streit jetzt, nach 15 Jahren, beigelegt. Ich<br />

bewundere Salman für seine Arbeit und<br />

seinen Mut, und natürlich finde ich die<br />

Fatwa gegen ihn verwerflich. Ich respektiere<br />

seinen Standpunkt zur Religion,<br />

wenngleich er nicht meiner ist. Ich hoffe,<br />

es kommt bald zu einem Treffen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Welche Autoren bewundern Sie<br />

noch?<br />

Le Carré: Philip Roth fiele mir ein, der<br />

auch privat ein witziger Bursche ist. Und<br />

Bestseller<br />

Belletristik<br />

1 (–) Jonas Jonasson<br />

Die Analphabetin,<br />

die rechnen<br />

konnte<br />

Carl’s Books; 19,99 Euro<br />

Ein Mädchen aus den<br />

Slums von Soweto<br />

landet als Asylsuchende<br />

in Schweden – mit<br />

einer Bombe im Gepäck<br />

2 (7) Jo Nesbø<br />

Koma<br />

Ullstein; 22,99 Euro<br />

3 (1) Khaled Hosseini<br />

Traumsammler<br />

S. Fischer; 19,99 Euro<br />

4 (4) Elizabeth George<br />

Nur eine böse Tat<br />

Goldmann; 24,99 Euro<br />

5 (3) Henning Mankell<br />

Mord im Herbst<br />

Zsolnay; 15,90 Euro<br />

6 (2) Jussi Adler-Olsen<br />

Erwartung<br />

dtv; 19,90 Euro<br />

7 (13) Horst Evers<br />

Wäre ich du, würde ich mich lieben<br />

Rowohlt Berlin; 16,95 Euro<br />

8 (8) Timur Vermes<br />

Er ist wieder da<br />

Eichborn; 19,33 Euro<br />

9 (6) Cecelia Ahern<br />

Die Liebe deines Lebens<br />

Fischer Krüger; 16,99 Euro<br />

10 (5) Stephen King<br />

Doctor Sleep<br />

Heyne; 22,99 Euro<br />

11 (9) Ferdinand von Schirach<br />

Tabu<br />

Piper; 17,99 Euro<br />

12 (11) Dan Brown<br />

Inferno<br />

Bastei; 26 Euro<br />

13 (10) Rebecca Gablé<br />

Das Haupt der Welt<br />

Ehrenwirth; 26 Euro<br />

14 (12) Ulrich Tukur<br />

Die Spieluhr<br />

Ullstein; 18 Euro<br />

15 (17) Håkan Nesser<br />

Himmel über London<br />

btb; 19,99 Euro<br />

16 (14) Robert Harris<br />

Intrige<br />

Heyne; 22,99 Euro<br />

17 (–) Suzanne Collins<br />

Die Tribute von Panem –<br />

Flammender Zorn Oetinger; 18,95 Euro<br />

18 (15) Daniel Kehlmann<br />

F<br />

Rowohlt; 22,95 Euro<br />

19 (18) Atze Schröder<br />

Und dann kam Ute<br />

Wunderlich; 19,95 Euro<br />

20 (–) Frederick Forsyth<br />

Die Todesliste<br />

C. Bertelsmann; 19,99 Euro<br />

154<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Im Auftrag des <strong>SPIEGEL</strong> wöchentlich ermittelt vom<br />

Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl -<br />

kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller<br />

Sachbücher<br />

1 (2) Guido Maria Kretschmer<br />

Anziehungskraft<br />

Edel Books; 17,95 Euro<br />

2 (1) Christopher Clark<br />

Die Schlafwandler<br />

DVA; 39,99 Euro<br />

3 (3) Florian Illies<br />

1913 – Der Sommer des<br />

Jahrhunderts S. Fischer; 19,99 Euro<br />

4 (4) Malala Yousafzai mit Christina Lamb<br />

Ich bin Malala<br />

Droemer; 19,99 Euro<br />

5 (5) Rolf Dobelli<br />

Die Kunst des klaren Denkens<br />

Hanser; 14,90 Euro<br />

6 (9) Bronnie Ware<br />

5 Dinge, die Sterbende am meisten<br />

bereuen Arkana; 19,99 Euro<br />

7 (12) Christiane zu Salm<br />

Dieser Mensch war ich<br />

Goldmann; 17,99 Euro<br />

8 (6) Iris Radisch<br />

Camus – Das Ideal der Einfachheit<br />

Rowohlt; 19,95 Euro<br />

9 (10) Rüdiger Safranski<br />

Goethe – Kunstwerk des Lebens<br />

Hanser; 27,90 Euro<br />

10 (18) Christine Westermann<br />

Da geht noch was<br />

Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro<br />

11 (8) Ruth Maria Kubitschek<br />

Anmutig älter werden<br />

Nymphenburger; 19,99 Euro<br />

12 (11) Jennifer Teege/Nikola Sellmair<br />

Amon<br />

Rowohlt; 19,95 Euro<br />

13 (7) Meike Winnemuth<br />

Das große Los<br />

Knaus; 19,99 Euro<br />

14 (14) Stephen Emmott<br />

Zehn Milliarden<br />

Suhrkamp; 14,95 Euro<br />

15 (16) Ronald Reng<br />

Spieltage<br />

Piper; 19,99 Euro<br />

16 (13) Eben Alexander<br />

Blick in die Ewigkeit<br />

Ansata; 19,99 Euro<br />

17 (–) Stefan Lukschy<br />

Der Glückliche<br />

schlägt<br />

keine Hunde<br />

Aufbau; 19,99 Euro<br />

Loriots Regieassistent<br />

plaudert aus dem<br />

Nähkästchen und erzählt<br />

von der Entstehung<br />

legendärer Sketche<br />

18 (–) Rolf Dobelli<br />

Die Kunst des klugen Handelns<br />

Hanser; 14,90 Euro<br />

19 (–) Simon Singh<br />

Homers letzter Satz<br />

Hanser; 21,50 Euro<br />

20 (–) Zlatan Ibrahimović/<br />

David Lagercrantz<br />

Ich bin Zlatan Malik; 22,99 Euro<br />

von denen, die nicht mehr unter uns sind,<br />

Thomas Mann. Ich habe ihn mal getroffen,<br />

1949 in Bern. Er hielt einen Vortrag<br />

und wurde von deutschen Studenten ausgebuht,<br />

die ihm allen Ernstes vorwarfen,<br />

durch sein Exil in Kalifornien „anglisiert“<br />

worden zu sein. Ich ging nach der Rede<br />

zu ihm. Was wollen Sie, fragte er ungehalten.<br />

Nur aus Solidarität Ihre Hand<br />

schütteln, sagte ich. Bitte, hier ist sie, sagte<br />

er. Das war’s.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Hat die Welt Fortschritte gemacht<br />

in den gut 50 Jahren, die Sie jetzt Romane<br />

schreiben?<br />

Le Carré: Wir stehen im Grunde noch immer<br />

vor ähnlichen Problemen: Wie weit<br />

können wir bei der Verteidigung unserer<br />

westlichen Bürgerrechte gehen, ohne diese<br />

Bürgerrechte im Kern zu gefährden?<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Ihre Antwort?<br />

Le Carré: Der sogenannte Krieg gegen<br />

den Terror hat vieles verschlimmert, und<br />

dass wir aus vergangenen Fehlern gelernt<br />

hätten, kann ich nicht sagen. Ich denke<br />

manchmal, es sind dieselben Männer,<br />

nur mit besserem Haarschnitt und smarteren<br />

Anzügen, die uns erklären, war -<br />

um mittelalterliche Folter-Verhörmethoden<br />

sein müssten, warum das Töten aus<br />

der Luft chirurgisch genau und risikofrei<br />

sei, obwohl es ständig „Kollateralschäden“<br />

gibt, warum Medikamente in der<br />

Dritten Welt getestet werden müssten,<br />

weil dort ein Leben angeblich nicht ganz<br />

so viel zählt. Und es regt mich wahn -<br />

sinnig auf, wenn unser Außenminister<br />

William Hague zur NSA-Affäre sagt, niemand<br />

müsse etwas befürchten, wenn er<br />

nichts Böses getan habe – ein Satz, auf<br />

den Joseph Goebbels stolz gewesen<br />

wäre!<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wird es Roman Nummer 24<br />

geben?<br />

Le Carré: Ich habe einen Pakt mit meiner<br />

Familie geschlossen. Sie hat mir geschworen,<br />

es mir zu sagen, wenn ich nicht mehr<br />

gut schreibe. Erfolg ist kein Kriterium<br />

mehr für mich. Ich könnte heute auch<br />

Geld für die Veröffentlichung des Telefonbuchs<br />

bekommen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Was halten Sie von folgendem<br />

Plot für Ihr neues Werk? Junger Amerikaner<br />

stiehlt geheime Daten, zieht über<br />

Hongkong nach Moskau und hält mit seinen<br />

Veröffentlichungen die Welt in Atem,<br />

dann muss er nach Ablaufen seines<br />

Visums in Sibirien untertauchen. Oder<br />

vielleicht: Ein palästinensischer Terrorist,<br />

der zum Staatsmann und Friedensnobelpreisträger<br />

geworden ist, wird kurz vor<br />

der Pensionierung von seinen Feinden<br />

mit einem geheimen, aus der Atombombenfabrik<br />

gestohlenen Material vergiftet.<br />

Die Witwe startet neun Jahre nach dem<br />

Tod eine Verfolgungsjagd.<br />

Le Carré: Bisschen weit hergeholt, beides.<br />

Aber nicht schlecht.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Mr. le Carré, wir danken Ihnen<br />

für dieses Gespräch.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 155


Kultur<br />

E s s a y<br />

Die große Erschöpfung<br />

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in diesem Land immer noch ein Traum.<br />

Von Claudia Voigt<br />

Kinofilm „Eltern“*: „Ich hätte, ich sollte, ich müsste“<br />

OLIVER VACCARO<br />

Emma brüllt und zappelt, ihr Vater Konrad ist gerade von<br />

der arbeit nach Hause gekommen, in der Wohnung<br />

herrscht Chaos, das au-pair-Mädchen liegt mit schwangerschaftsübelkeit<br />

im Bett, die andere, große Tochter hat Hunger,<br />

und mit Christine, der Mutter, ist erst in stunden zu rechnen,<br />

sie arbeitet als anästhesistin im Krankenhaus. Der erschöpfte<br />

Konrad nimmt seine fünfjährige Tochter, drückt ihr<br />

einen Glasbehälter voller schokoriegel in den arm, setzt sie<br />

vor einen Laptop und schaltet irgendein Computerspiel ein.<br />

Ruhe. Wenigstens für einen augenblick.<br />

Robert Thalheims großartiger Kinofilm „Eltern“ ist Komödie<br />

und Horrorfilm in einem. Er erzählt von einer Woche aus dem<br />

Leben einer Familie mit zwei berufstätigen Eltern, er zeigt Überforderung<br />

und Liebe, streit, Vernachlässigung und Verzweiflung,<br />

er zeigt, wie es zugeht in Familien, in denen die Mutter und der<br />

Vater Vollzeit arbeiten, mindestens acht stunden täglich, fünf<br />

Tage die Woche. Irgendwann sind alle grenzen los erschöpft.<br />

In diesem Land wird seit mehr als 30 Jahren über die Vereinbarkeit<br />

von Familie und Beruf diskutiert, politisch ist das Thema<br />

längst vom Gedöns zum Dauerbrenner aufgestiegen. Und trotzdem<br />

haben Millionen Männer und Frauen das Gefühl, persönlich<br />

daran zu scheitern. Über 60 Prozent der Eltern fühlen sich<br />

durch ihren Job gestresst, das ergab eine studie der Techniker<br />

Krankenkasse, die Ende Oktober veröffentlicht wurde. Nahezu<br />

* Mit Christiane Paul (l.).<br />

156<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3<br />

die Hälfte der Befragten leidet unter den anstrengungen durch<br />

familiäre Konflikte und unter den Belastungen der Kindererziehung.<br />

Vor allem Frauen der sogenannten sandwich-Generation,<br />

die 35- bis 45-Jährigen, kennen das Gefühl „Es ist zu viel“.<br />

Es geht vieles durcheinander bei diesem Thema: ideologische<br />

Ziele und persönliche scham, die Notwendigkeit, Geld zu verdienen,<br />

und die sehnsucht, mehr Zeit für die eigenen Kinder<br />

zu haben. Jeder von uns nimmt teil an sehr unterschiedlichen<br />

Diskussionen. Da ist das politische Gerede über das Betreuungs -<br />

geld und über Kita-Plätze. Da sind die Gespräche bei abendessen,<br />

in denen andere Eltern ihre glücklichen Kinder preisen<br />

und in feiner Bescheidenheit auf berufliche Erfolge hinweisen.<br />

Dann gibt es die streitigkeiten am heimischen Küchentisch<br />

über unerledigte schularbeiten; und schließlich ist da eine innere<br />

stimme, besonders laut in schlaflosen Nächten, die flüstert:<br />

„Ich hätte, ich sollte, ich müsste.“<br />

Für die große Erschöpfung ist nicht allein die Politik verantwortlich,<br />

diese Erschöpfung entsteht auch im Privaten. sie entsteht,<br />

weil es zu wenig erlebte Erfahrung gibt für einen alltag<br />

mit zwei berufstätigen Eltern und Kindern. Viele 40-Jährige<br />

versuchen, dieses Leben irgendwie hinzubekommen, aber ihnen<br />

fehlen die Vorbilder. sie sind oft noch in alleinverdienerfamilien<br />

groß geworden, mit klarer Rollenverteilung und einer<br />

Mutter, die mittags ein warmes Essen bereithielt.<br />

Das Thema Hausarbeit ist unendlich unattraktiv, es taugt<br />

für kein Tischgespräch, und in Beziehungen führt es garantiert


zum streit. Waschen, spülen, Putzen. auch in einem Haushalt,<br />

in dem niemand mehr eine Hausfrau ist, muss die Hausarbeit<br />

erledigt werden. Nur: von wem? Die statistik zeigt, auch<br />

bei Paaren, bei denen beide Vollzeit arbeiten, übernimmt die<br />

Partnerin den größeren Teil der Familienarbeit, das geben die<br />

Männer ganz offen zu – in einer studie zum Thema Gleichberechtigung<br />

des Instituts für Demoskopie allensbach aus diesem<br />

Herbst. Über 60 Prozent der befragten Männer glauben, dass<br />

Frauen für Hausarbeit ein besonderes Talent besäßen, und<br />

über 80 Prozent der 18- bis 44-Jährigen meinen, Frauen könnten<br />

besonders gut bügeln.<br />

Wie blöd sind wir Frauen eigentlich, dass im Jahr 2013 bei<br />

der Mehrzahl der Männer noch solche Überzeugungen herrschen?<br />

Wieso lassen wir uns um den Preis der eigenen Erschöpfung<br />

einreden, wir seien begabt für sinnlose Tätigkeiten? Einer -<br />

seits fordern wir mehr Frauen in Führungspositionen, und ande -<br />

rerseits bemühen wir uns, faltenfreie Hemden zu bügeln?<br />

Hausarbeit ist eine Frage der Organisation. Und das gilt<br />

leider für das ganze Familienleben berufstätiger Eltern. Wenn<br />

es halbwegs rundlaufen soll, muss unentwegt geplant und im<br />

Vor aus an unendlich vieles gedacht werden, damit nicht wie<br />

im Film „Eltern“ die Mutter im Krankenhaus Dienst hat und<br />

der Vater ein neues Theaterprojekt startet,<br />

während die Kinder Herbstferien haben und<br />

14 stunden am Tag beschäftigt sein wollen.<br />

Hausarbeit ist auch deshalb ein solches<br />

Reizthema, weil sie Zeit raubt, die Väter<br />

und Mütter lieber anders verbringen würden,<br />

viele von ihnen am liebsten mit ihren Kindern.<br />

Das Gefühl „Ich sehe meine Kinder zu selten“<br />

ist vermutlich der ständige Begleiter der<br />

allermeisten berufstätigen Eltern. Und es<br />

geht bei diesem Gefühl nicht nur darum, die<br />

sogenannte Quality-Time zu erfüllen, irgendwelche<br />

standards, die Kinderpsychologen in<br />

Ratgebern empfehlen, wie: „Nehmen sie sich am Geburtstag<br />

einen Tag frei.“ Es ist im großen Reden über die Vereinbarkeit<br />

von Familie und Beruf bisher viel zu kurz gekommen, wie viel<br />

spaß es macht, mit den eigenen Kindern zusammen zu sein.<br />

Dass man ihnen gern mal nach der schule die Haustür öffnet,<br />

um auf den ersten Blick zu wissen, dass die Lateinarbeit nicht<br />

so gut gelaufen ist, und um mit einer Umarmung die sache etwas<br />

leichter zu machen. Es geht darum, dass Kinder von wichtigen<br />

Dingen nie auf Knopfdruck erzählen, sondern eher so<br />

nebenbei. Und darum, dass ein gemeinsam vertrödelter Nachmittag<br />

Nähe und Glück bedeuten kann. Um es in aller Deutlichkeit<br />

zu sagen: Quality-Time ist schwachsinn. Die existiert<br />

nur auf dem Papier irgendwelcher soziologen. In Familien<br />

führt der Druck, Quality-Time miteinander verbringen zu müssen,<br />

zu anspannung und streit.<br />

Viele Familien<br />

sind heute auf zwei<br />

Einkommen<br />

an gewiesen, und in<br />

vielen dieser<br />

Familien sind die<br />

Kräfte verbraucht.<br />

Das Leben berufstätiger Eltern ist überfrachtet mit ansprüchen<br />

an sich selbst. Im Job möchten sie nicht hinter<br />

den Kollegen ohne Kinder zurückstehen; eine interessante<br />

aufgabe abzulehnen mit der Begründung, der Kindergarten<br />

habe gerade geschlossen und es bliebe einem zu wenig<br />

Zeit und Konzentration, ist nicht nur unprofessionell, sondern<br />

auch frustrierend. Und im Privaten wird besonders an Kindergeburtstagen<br />

oder in der Vorweihnachtszeit gebacken und gebastelt,<br />

um anderen Eltern zu demonstrieren, wie liebevoll<br />

man sich um die Kleinen kümmert. Den Kindern ist das meistens<br />

übrigens herzlich egal. Zurück bleiben Mütter und Väter,<br />

die während der abendnachrichten auf dem sofa einschlafen.<br />

Viele Frauen, die heute gerade dreißig sind, wollen es deshalb<br />

anders machen. schon werden unter jüngeren Frauen wieder<br />

stimmen laut, die von einem reichen Ehemann phantasieren<br />

und von kreativer arbeit daheim. In der „Frankfurter allgemeinen<br />

sonntagszeitung“ schrieb antonia Baum: „Ich wünschte,<br />

mein Mann wäre so reich, dass ich nicht arbeiten müsste<br />

und zu Hause bleiben könnte, wo ich, in ganz langsamer arbeit,<br />

Bücher schreiben würde, von denen ich nicht leben kann.“<br />

Hm. Und wenn der reiche Mann sich irgendwann in eine andere<br />

kreative Frau verliebt?<br />

Eine handfestere Idee ist, dass Vater und Mutter jeweils<br />

nur 80 Prozent arbeiten sollten, so könnte jeder von<br />

ihnen an zwei Nachmittagen zu Hause sein. Das schlechte<br />

Gewissen käme zur Ruhe, das in unserer Zeit des Über-Psycho -<br />

logisierens so verhängnisvoll sein kann: Weil über uns allen<br />

noch das biedermeierliche Ideal der deutschen Mutter schwebt,<br />

wird die Begründung für schwierige Phasen der Kinder oft in<br />

der Berufstätigkeit der Eltern gesucht.<br />

Es wäre schön, wenn die anerkennung wachsen würde für<br />

arbeitnehmer, die statt auf eine 40-stunden-Woche auf eine 32-<br />

stunden-Woche setzen, wenn Führungspositionen geteilt werden<br />

könnten und wenn die Männer dabei mitmachen würden.<br />

Kitas in ehemaligen schlecker-Märkten mit unzulänglich ausgebildeten<br />

Erzieherinnen sind jedenfalls keine Lösung. Im Gegenteil.<br />

Es erhöht die Belastung aller Eltern, wenn sie ihr Kind<br />

nicht gut untergebracht wissen. Bei den Koalitionsverhandlungen<br />

werden die großen Themen gerade wieder<br />

in kleine Kompromisse zerlegt: Einerseits<br />

soll die Teilzeitarbeit mit einem länger ausgezahlten<br />

Elterngeld gefördert werden, andererseits<br />

wird es vermutlich weiterhin das Betreuungsgeld<br />

geben. 195 Milliarden Euro werden<br />

in Deutschland jedes Jahr für Familien<br />

ausgegeben. Die Politik könnte vielen Familien<br />

mit berufstätigen Eltern das Leben erleichtern,<br />

wenn sie sich bei der Verteilung<br />

des Geldes an deren alltag im Jahr 2013 orien -<br />

tieren würde. Vielleicht könnten Horst seehofer,<br />

angela Merkel und sigmar Gabriel mal<br />

ins Kino gehen und sich „Eltern“ anschauen.<br />

Es hat sich in den vergangenen Jahren eine Kluft aufgetan<br />

zwischen der Realität und den Bildern, die davon produziert<br />

werden. Die berufstätige Mutter ist binnen eines Jahrzehnts<br />

vor allem in den städten zu einem anerkannten Rollenmodell<br />

geworden, keine Frauenzeitschrift kommt mehr ohne sie aus.<br />

Und in einer großen Umfrage für die „Brigitte“, geleitet von<br />

Jutta allmendinger, der Präsidentin des Wissenschaftszentrums<br />

Berlin für sozialforschung, zeigte sich, dass sich 76 Prozent<br />

der Männer eine Frau, die nicht berufstätig ist, an ihrer seite<br />

nicht vorstellen können.<br />

Eine große Mehrheit ist anscheinend damit einverstanden,<br />

dass auch junge Mütter Karriere machen. Doch die Probleme,<br />

zu denen das führt, möge bitte jeder selbst und daheim lösen.<br />

Das ist die eigentliche Definition jener Wahlfreiheit, die<br />

Kristina schröder als Familienministerin so unentwegt gepriesen<br />

hat. seit Jahren wird eine große Unentschlossenheit von<br />

der Politik an die Familien weitergereicht, darin liegt die wesentliche<br />

Ursache für die Erschöpfung.<br />

Familie und Beruf werden sich niemals reibungslos mitein -<br />

ander vereinbaren lassen. aber zahlreiche Familien in Deutschland<br />

sind heute auf zwei Einkommen angewiesen. Und in vielen<br />

dieser Familien sind die Kräfte verbraucht, weil die Jahre ins<br />

Land gehen, die Kinder vom Kindergarten in die Grundschule<br />

kommen und schnell größer werden, während familienpolitisch<br />

die Zeit verplempert wird. Nils Minkmar schreibt in seinem Buch<br />

„Der Zirkus“, die Politik solle den Bürgern dienen und ihr Leben<br />

leichter machen. Das gilt besonders für die Familienpolitik.<br />

In der schlussszene von „Eltern“ sagt Christine zu ihrem<br />

Mann: „Egal wie es weitergeht, ich bin dir dankbar dafür, dass<br />

du mich überredet hast, Kinder zu bekommen.“ Erschöpfung<br />

und Freude, davon ist das Grundgefühl der allermeisten berufstätigen<br />

Eltern in diesem Land geprägt. Es wäre schön, wenn<br />

die Freude überwiegen könnte.<br />

◆<br />

d e r s p i e g e l 4 8 / 2 0 1 3 157


Kultur<br />

S T A R S<br />

„Kanakt mich nicht an!“<br />

Der Schauspieler Elyas M’Barek ist dank<br />

der Schulkomödie „Fack Ju Göthe“ der Held des Jahres<br />

im deutschen Kino. Verdientermaßen.<br />

Es ist noch Dämmerstunde in der Bar<br />

des Soho House hoch oben über<br />

Berlin-Mitte an diesem Vormittag<br />

kurz nach zehn, ein paar demonstrativ<br />

muffelige Frauen und Männer kauern in<br />

Plüschsesseln und starren auf ihre Laptops<br />

oder durchs Fenster auf die regennassen<br />

Dächer der Stadt. Elyas M’Barek<br />

aber ist topgelaunt, er soll früh zu Dreharbeiten<br />

antreten und hat außerdem noch<br />

den Wecker falsch gestellt, „eine Stunde<br />

zu früh, aus Blödheit“, wie er sagt.<br />

Mit ernstem Blick und leicht erhobener<br />

Stimme hält er eine Lobrede auf das gute<br />

Benehmen. „Hände in den Hosentaschen<br />

sieht nicht gut aus“, sagt er. „Mitten im<br />

Gespräch auf dem Handy herumtippen<br />

kommt bei älteren Menschen ganz<br />

schlecht an. Ich finde Rücksicht auf solche<br />

Dinge absolut wichtig. Ich will auf keinen<br />

Fall arrogant oder unhöflich sein!“<br />

Das passt zu der menschenfreund -<br />

lichen Tageslosung, die M’Barek auf<br />

seiner Facebook-Seite noch früher an<br />

diesem Regentag an seine Fans ausge -<br />

geben hat: „Morgen! Seid nicht so scheiße<br />

zu Euren Lehrern heute! Oder zu<br />

Euren Schülern!“<br />

In Wahrheit ist Elyas M’Barek derzeit<br />

der Rotzlöffel der Nation. „Fack Ju Göthe“<br />

heißt die Schulkomödie, die Anfang<br />

November in den Kinos angelaufen ist<br />

und in nur zwei Wochen zweieinhalb Mil -<br />

lionen Zuschauer anlockte; so viele wie<br />

kaum ein deutscher Film zuvor. M’Barek<br />

spielt in dem Film den Kleingangster<br />

Zeki Müller. Der muss nach seiner Entlassung<br />

aus dem Knast feststellen, dass<br />

die Beute seines letzten Raubzugs unter<br />

einer neuen Schulturnhalle verscharrt ist.<br />

Deshalb lässt er sich als Aushilfslehrer<br />

anstellen und bringt eine Horde von rebellischen<br />

und bildungsresistenten Zehntklässlern<br />

auf Kurs – indem er ihnen selbst<br />

Streiche spielt: bierrülpsend, fäusteschwingend<br />

und mit Sprüchen wie „Ich<br />

geh jetzt eine rauchen, bevor ich einem<br />

von euch in die Fresse haue!“ oder: „Ka-<br />

nakt mich nicht an!“<br />

M’Barek ist 31 Jahre alt und hat schon<br />

öfter in deutschen Filmen die Rolle des<br />

Prolls mit Herz gespielt. Zum Beispiel<br />

einen Mann namens Cem Öztürk in der<br />

Fernsehserie und im Kinofilm „Türkisch<br />

für Anfänger“ oder den jungen Bushido<br />

in der Rapper-Biografie „Zeiten ändern<br />

158<br />

dich“. Diesmal aber heißt die Figur, die<br />

er verkörpert, Müller. Zeki Müller.<br />

„Ich finde es sehr lässig, dass sich keiner<br />

im Film über den Namen Müller wundert“,<br />

sagt M’Barek. Im realen Leben seien Familiennamen<br />

auch überschätzt. Seinen hat<br />

M’Barek vom Vater, der aus Tunesien<br />

stammt. Die Mutter ist Österreicherin. Er<br />

ist in München geboren und aufgewachsen<br />

und „100 Prozent Münchner“, sagt er.<br />

Ziemlich gesittet und unspektakulär sei es<br />

in seiner Jugend in Sendling zugegangen,<br />

keiner seiner Freunde habe sich darum gekümmert,<br />

ob die Eltern der Kumpane aus<br />

urbayerischen Familien stammten oder<br />

aus anderen Ländern. „Erst als ich beim<br />

Film anfing, war ich total überrascht, dass<br />

dort fast alle über meinen Migrations -<br />

hintergrund redeten.“<br />

So ähnlich erging es auch dem Regisseur<br />

und Drehbuchautor Bora Dagtekin,<br />

der in Hannover aufwuchs, vier Jahre<br />

älter ist als der Darsteller M’Barek, sich<br />

schon „Türkisch für Anfänger“ ausgedacht<br />

hat und nun in „Fack Ju Göthe“<br />

den klassischen deutschen Pennälerfilm<br />

(„Hurra, die Schule brennt!“) auffrischt.<br />

Uschi Glas beispielsweise, die in einigen<br />

alten Schulfilmen das süße Mädchen<br />

schlechthin verkörperte, spielt nun eine<br />

vom Burnout gepeinigte Lehrerin, die<br />

sich aus dem ersten Stock des Schulgebäudes<br />

stürzt. Katja Riemann ist als zickigdurchgeknallte<br />

Schuldirektorin zu sehen,<br />

die den zwielichtigen Zeki Müller engagiert.<br />

Karoline Herfurth spielt eine ökologisch<br />

und pädagogisch superkorrekte<br />

Referendarin, deren Herz der Held unter<br />

anderem dadurch erobert, dass er ihr<br />

beim Schwimmunterricht seine tätowierte<br />

Muskelpracht vorführt.<br />

Erwachsene Frauen und Teenagermädchen<br />

seufzen im Kollektiv in vollgepackten<br />

Kinosälen, wenn M’Barek in Bade -<br />

hose zum Beckenrand schlurft. Der Film<br />

zeige, behauptete die „Frankfurter Allgemeine“<br />

zum Start, eine „auf Frauendiskreditierung<br />

setzende Geschichte“,<br />

feiere die für kluge Lehrer undenkbare<br />

„Ranschmeißerei“ an Schüler und ein<br />

ödes „Märchenprinzenideal“. Vor allem<br />

aber sei das Werk des Regisseurs Bora<br />

Dagtekin bedauerlicherweise so schlicht,<br />

„dass niemals komische Energie entsteht“.<br />

M’Barek lacht, als man ihm die Kritiker -<br />

sätze vorliest. „Auf jeder Party gibt es<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

„Fack Ju Göthe“-Hauptdarsteller M’Barek: In<br />

einen, der grundsätzlich alles scheiße findet.<br />

In diesem Fall aber wusste ich selber<br />

schon beim Lesen des Drehbuchs, dass<br />

es ein Geniestreich ist.“<br />

Tatsächlich gelingt Dagtekin und M’Barek<br />

in „Fack Ju Göthe“ fast eine Art Epochenbruch<br />

im deutschen Kino. Mit einer<br />

Sorte Komik, die frisch ist und schnell und<br />

gnadenlos. „Fack Ju Göthe“ nimmt Themen<br />

wie Mobbing, Gewalt und computerspielbedingte<br />

Verblödung durch, als handelte<br />

es sich um lustige Small-Talk-Themen<br />

– und kommt stets zu einer noblen<br />

Schlussfolgerung: Man sieht dem Mistkerl<br />

Zeki Müller dabei zu, wie er erst seine<br />

Schüler mit Paintball-Gewehr, Türschubsern<br />

und harten Sprüchen („Chantal, heul<br />

leiser!“) das Fürchten lehrt und sie dann<br />

zu einer lehrreichen Exkursion zu Drogen -<br />

kranken und zerlumpten Kriminellen<br />

mitschleppt. Der Sozialkundeunterricht<br />

erweist sich hier als brechtianisches Lehrtheater,<br />

Furcht und Mitleid inklusive.


vollgepackten Kinosälen seufzen erwachsene Frauen und Teeniemädchen im Kollektiv<br />

Natürlich bedient sich „Fack Ju Göthe“<br />

aus dem Waffenschrank amerikanischer<br />

Highschool-Komödien wie „School of<br />

Rock“. Es wird geteert und gefedert, mit<br />

Snack-Automaten Unfug getrieben und<br />

gegen alle Regeln der moralischen Korrektheit<br />

verstoßen, dass es ein Vergnügen<br />

ist. Zugleich nimmt der Film klug und<br />

dreist ebenjene Welt aufs Korn, in der er<br />

spielt – die durch und durch sozialdemokratisierte<br />

Gegenwart des deutschen<br />

Schulalltags. „Fack Ju Göthe“ ist eine Attacke<br />

gegen die Wohlfühlpädagogik, aber<br />

auch gegen den Alarmismus, mit dem in<br />

den Lehranstalten sogenannter Problembezirke<br />

sogleich der pädagogische Notstand<br />

ausgerufen wird, wenn die Abiturientenquote<br />

unter 50 Prozent rutscht. Der<br />

Film ist ein Hohngesang auf die Gleichberechtigung<br />

der Geschlechter, die Lehrpläne,<br />

die Drogenpolitik. Und, wie der<br />

Titel andeutet, auch auf die Rechtschreibreform.<br />

M’Bareks Figur Zeki Müller wirkt in<br />

diesem Katastrophenklamauk so, als wolle<br />

er die Volten der Handlung keinesfalls<br />

ernster nehmen als unbedingt nötig. Von<br />

plötzlichem Mitleid mit den Schülern geknickt,<br />

durch die Liebe zur Lehrerkollegin<br />

zum lammfrommen Softie gezähmt,<br />

schlenzt er die Rolle des charmanten<br />

Schlitzohrs hin bis zum Happy End, als<br />

wäre er nur zufällig in diesen Schlamassel<br />

geraten. So frei von jeder sichtbaren Anstrengung,<br />

so hemmungslos von sich und<br />

der Welt begeistert, versieht derzeit kein<br />

anderer deutscher Kinoschauspieler sein<br />

Handwerk.<br />

Inzwischen zählt M’Barek neben Matthias<br />

Schweighöfer und Til Schweiger zu<br />

den Schauspielern, die beinahe automatisch<br />

ein großes Publikum anziehen.<br />

Schon „Türkisch für Anfänger“ war ein<br />

Hit, mit 2,4 Millionen Zuschauern der erfolgreichste<br />

deutsche Kinofilm im Jahr<br />

2012, demnächst wird M’Barek in der<br />

CHRISTOPH ASSMANN / CONSTANTIN FILM<br />

Bestsellerverfilmung „Der Medicus“ zu<br />

sehen sein, wenn auch nur in einer wichtigen<br />

Nebenrolle.<br />

M’Barek sagt, dass er mit Kinozuschauer -<br />

zahlen nicht viel anfangen könne. Mit<br />

den Klicks für seine Facebook-Seite sei<br />

das anders. „Die explodiert gerade. Irgendwie<br />

begreif ich das eher. Und es freut<br />

mich wirklich.“ Mehr als eine Million Face -<br />

book-Fans hat er neuerdings, vor drei Monaten<br />

waren es noch nicht halb so viele.<br />

„Hier poste ich selbst, jederzeit. Solange<br />

ich Netz habe. Herzlich willkommen!“,<br />

begrüßt er seine Facebook-Besucher. Er<br />

zeigt sich auf Fotos mit Kumpel und Bier<br />

beim Oktoberfest (Bildtext: „Bierzeltproleten“)<br />

oder mit dem Fußballer Lukas<br />

Podolski (den er vorstellt mit der Zeile:<br />

„Geil, Schweini ist auch hier!“), und er<br />

fragt seine Facebook-Gemeinde nachts<br />

um eins: „Wer hat gerade auch keinen<br />

Sex?“ Am nächsten Morgen hat er dafür<br />

fast 25000 Likes seiner Fans.<br />

Als er vor 13 Jahren, kurz vor dem Abitur,<br />

zum ersten Mal vor einer Kamera<br />

spielte, in einer kleinen Rolle für den Film<br />

„Mädchen, Mädchen“, sei das „eher ein<br />

Hobby“ gewesen. M’Barek entschied sich<br />

damals übrigens gegen eine Schauspielerausbildung,<br />

auch aus Mangel an Identifikationsfiguren:<br />

„An wen hätte ich mich<br />

halten sollen? Erol Sander war so anders,<br />

Hilmi Sözer schon eher mein Fall, Mehmet<br />

Kurtulus kam so langsam. Ansonsten<br />

gab es damals keine Menschen mit Migrationshintergrund<br />

im deutschen Film.“<br />

Einerseits will Elyas M’Barek unbedingt<br />

als deutscher Normalo durchgehen,<br />

andererseits hat er nie vergessen, dass er<br />

als Darsteller in einer Welt antrat, in der<br />

er bis heute meist den Exoten spielt. Der<br />

Schabernack, den er in seinen Filmrollen<br />

mit den krassesten Migrantenklischees<br />

treibt, dürfte auch eine Art Rache sein.<br />

Als der Schauspieler kurz nach dem<br />

sensationellen „Fack Ju Göthe“-Filmstart<br />

in der Fernsehshow „Wetten, dass ..?“ zu<br />

Gast war, regten sich der Regisseur der<br />

Sendung und ein paar Zuschauer hinterher<br />

lauthals darüber auf, dass M’Barek<br />

mitten in der Sendung auf der Gästecouch<br />

auf seinem Handy herumtippte,<br />

was schrecklich schlechte Manieren offenbare.<br />

„Ich entschuldige mich ernsthaft<br />

dafür. Aber ich bin mir keiner Schuld bewusst.<br />

Die Redaktion hatte uns Gäste aufgefordert,<br />

den ganzen Tag lang zu twittern,<br />

was das Zeug hält. Ich habe diesen<br />

Auftrag brav befolgt.“ M’Barek stöhnt.<br />

„Ich bin manchmal erschlagen davon, wie<br />

plötzlich alles, was ich sage oder tue,<br />

schrecklich wichtig genommen wird.“<br />

Um seine Zukunft mache er sich keine<br />

Sorgen. „Ich bin nicht gierig.“ Er blickt<br />

im Raum herum. Draußen regnet es<br />

immer noch. „Wenn es in 20 Jahren mit<br />

der Schauspielerei nichts mehr ist, stehe<br />

ich vielleicht im Soho House hinter der<br />

Bar.“<br />

WOLFGANG HÖBEL<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 159


Kultur<br />

K I N O<br />

Der Freigeist<br />

Seit den Filmen „Der letzte Tango in Paris“ und „1900“ gilt Bernardo<br />

Bertolucci als Regisseur der erotischen und<br />

sozialen Utopien. Seit Jahren sitzt er im Rollstuhl. Nun dreht er wieder.<br />

Bernardo Bertolucci schaut aus dem<br />

Fenster über die Dächer von London.<br />

Er mag diesen Blick über Notting<br />

Hill, über die vielen Kirchen. „Aber<br />

finden Sie nicht auch“, sagt er nach einer<br />

Weile, „dass die Weite etwas Beunruhigendes<br />

hat?“<br />

Der 73-jährige Bertolucci hat vor einiger<br />

Zeit einen neuen Begriff geprägt:<br />

Klaustrophilie. Der Regisseur ist überzeugt,<br />

dass wahre Grenzüberschreitungen<br />

nur in geschlossenen Räumen möglich<br />

sind. Sein neuer Film „Ich und du“ spielt<br />

fast vollständig in einem Keller.<br />

Vor gut 40 Jahren drehte der aus Parma<br />

stammende Regisseur das berühmteste<br />

Kammerspiel des Kinos. In „Der letzte<br />

Tango in Paris“ erzählt er von einem<br />

Amerikaner (Marlon Brando), der mit einer<br />

knapp halb so alten Französin (Maria<br />

Schneider) in einem leeren Appartement<br />

eine sexuelle Beziehung beginnt.<br />

Bertolucci zeigt die beiden als<br />

Menschen, die nur über ihren Körper<br />

kommunizieren und miteinander<br />

schlafen, ohne den Namen des<br />

anderen zu kennen. Die Sexszenen<br />

des Films sorgten für einen Skandal,<br />

in Italien wurden Brando und Bertolucci<br />

wegen „Obszönität“ zu zwei<br />

Mo naten Gefängnis auf Bewährung<br />

verurteilt.<br />

Doch der Film machte aus Bertolucci<br />

einen Regisseur von Weltrang.<br />

Mit Robert De Niro und Gérard<br />

Depardieu drehte er 1974 das Fünf-<br />

Stunden-Epos „1900“ über den<br />

Kampf zwischen Großgrundbesitzern<br />

und Bauern in der Emilia<br />

Romagna.<br />

Der Film sei ein „Denkmal für<br />

den Kommunismus“, sagt Berto -<br />

lucci, der 1968 in die Kommunistische<br />

Partei Italiens eingetreten war.<br />

Noch heute ist er stolz darauf, aus<br />

Hollywood für dieses Projekt mehrere<br />

Millionen Dollar bekommen<br />

zu haben.<br />

Seither gilt Bertolucci als Regisseur<br />

der großen erotischen und<br />

politischen Utopien. Immer wieder<br />

stellt er sich in seinen Filmen die<br />

Frage, was wir aus unserem Leben<br />

machen würden, wenn wir uns<br />

160<br />

allen Autoritäten entziehen könnten. Er<br />

zeigt, was passiert, wenn sich Menschen<br />

alle Freiheiten nehmen.<br />

Vor zehn Jahren zog sich Bertolucci<br />

bei einem Sturz in Rom eine Rückenverletzung<br />

zu. Die nachfolgende Operation<br />

misslang, seither muss er ein Leben im<br />

Rollstuhl führen. „Diese Wohnung hier“,<br />

sagt er, „ist kein utopischer Ort wie viele<br />

der Wohnungen in meinen Filmen. Sie<br />

wurde von Notwendigkeiten diktiert.“<br />

Sie liegt im fünften Stock eines Apparte -<br />

mentgebäudes aus hellem Backstein. Die<br />

Flure und Türen sind sehr breit, er liebe<br />

es, gedankenverloren von Raum zu Raum<br />

zu fahren, erzählt Bertolucci. Er lebt hier<br />

mit seiner britischen Frau Clare Peploe,<br />

mit der er seit 1990 verheiratet ist. Sie sei,<br />

sagt er flüsternd, „die heimliche Autorin<br />

meiner Drehbücher“.<br />

Auch Peploes Bruder Mark arbeitet<br />

hier. Er schrieb mit Bertolucci an einigen<br />

Regisseur Bertolucci: „Auf Augenhöhe mit den Kindern“<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Filmen. Die kreative Dreiecksbeziehung,<br />

die Bertolucci mit den Peploes führt,<br />

spiegelt sich in dem Film „Die Träu -<br />

mer“ (2003). Darin zieht ein amerika -<br />

nischer Student im Paris des Jahres 1968<br />

bei zwei Kinonarren ein, Bruder und<br />

Schwester.<br />

„Meine Filme haben stark mit mir zu<br />

tun“, sagt er. „Als ich den ,Letzten Tango‘<br />

drehte, ging es mir darum, Grenzen zu<br />

verletzen, egal wie. Heute sitze ich im<br />

Rollstuhl. Der Keller ist mir da einfach<br />

näher als das Penthouse. Wohl deshalb<br />

fühlte ich mich zu dem Buch von Niccolò<br />

Ammaniti hingezogen.“<br />

Ammanitis Roman, auf dem sein neuer<br />

Film basiert, spielt in Rom und erzählt<br />

von dem 14-jährigen Lorenzo (Jacopo<br />

Olmo Antinori), der sich heimlich im Keller<br />

eines Mehrfamilienhauses einquartiert.<br />

Eines Tages stöbert ihn seine ältere Stiefschwester<br />

Olivia (Tea Falco) dort auf.<br />

„Als ich erfuhr, dass ich ein Leben<br />

im Rollstuhl führen muss, dachte ich,<br />

ich würde nie mehr Filme drehen<br />

können“, erzählt er. „Ich war schon<br />

dabei, mir etwas anderes zu über -<br />

legen, vielleicht wieder Gedichte zu<br />

schreiben wie damals, als ich Anfang<br />

zwanzig war. Dann merkte ich:<br />

Diesen Stoff kriege ich hin.“<br />

Mit viel Zartgefühl beschreibt<br />

Bertolucci, wie sich Lorenzo und<br />

Olivia, die sich kaum kennen, sich<br />

aber von ihren Eltern gleichermaßen<br />

missverstanden fühlen, einander<br />

annähern. Wer in den Keller<br />

gehe, wolle in den Bauch seiner<br />

Mutter zurück, habe ihm einer seiner<br />

vielen Psycho analytiker einmal<br />

verraten, erzählt Bertolucci.<br />

Sein Werk ist von der Psychoanalyse<br />

geprägt. Fast manisch erzählt<br />

der Regisseur von inzestuösen Beziehungen,<br />

von Söhnen, die ihre<br />

Mutter begehren und ihren Vater<br />

töten. „Würdest du mit mir schlafen,<br />

wenn wir die beiden letzten Menschen<br />

auf Erden wären?“, fragt Lorenzo<br />

seine Mutter.<br />

Über 20 Jahre lang ist Bertolucci<br />

zur Analyse gegangen. Beim „Letzten<br />

Tango“ wollte er seinen damaligen<br />

Analytiker sogar mit in den<br />

GIANFILIPPO DE ROSSI / POLARIS / LAIF


SNAP-PHOTO / INTERTOPICS<br />

KOOL FILMDISTRIBUTION<br />

Bertolucci-Filme „Ich und du“, 2013, „Der letzte Tango in Paris“, 1972, „Die Träumer“, 2003: „Als würde man den Eltern beim Sex zusehen“<br />

INTERFOTO USA / SIPA / DDP IMAGES<br />

Vorspann aufnehmen, das Drehbuch entstand<br />

in weiten Teilen auf der Couch, sagt<br />

er lächelnd.<br />

Das erste Mal zur Analyse ging Bertolucci<br />

im Jahr 1969. Er hatte bereits einige<br />

Filme gedreht, die auf Festivals gezeigt<br />

wurden, aber kaum Zuschauer fanden.<br />

„Ich führte in den Filmen Monologe. Mein<br />

Analytiker brachte mir bei, mit dem Publikum<br />

zu kommunizieren.“<br />

Damals, in den späten sechziger Jahren,<br />

habe er sich zur Welt hin geöffnet, sagt<br />

er heute. Bertolucci, der aus einer großbürgerlichen<br />

Familie stammt und Sohn<br />

eines berühmten Dichters ist, hält es nicht<br />

für einen Zufall, dass er in der Zeit des<br />

Aufbruchs ein anderer Mensch wurde.<br />

Immer wieder kehrt er in seinen Filmen<br />

in das Paris jener Zeit zurück, für<br />

ihn ist es der große Sehnsuchtsort, an<br />

dem alles möglich ist. Er selbst lebte als<br />

junger Mann einige Jahre in Paris, es war<br />

eine Zeit wilder Leidenschaften, alles<br />

drehte sich um Sex, Marx und Kino.<br />

Als Bertolucci Anfang der siebziger Jahre<br />

Marlon Brando nach Paris holte, um mit<br />

ihm den „Letzten Tango“ zu drehen, hatte<br />

auch im Kino eine neue Zeitrechnung begonnen.<br />

Die Grenzen zwischen Hollywood-<br />

Mainstream und europäischem Autorenfilm<br />

schienen durch brochen, vielleicht sogar<br />

die zwischen Kunst und Pornografie.<br />

Brando sei nackt vor die Kameras getreten,<br />

erzählt Bertolucci. „Es hat ihm<br />

überhaupt nichts ausgemacht, der ganzen<br />

Welt seinen Pimmel zu zeigen. Wir wollten,<br />

dass alles völlig natürlich wirkt, geradezu<br />

unschuldig.“ Am Ende schnitt Bertolucci<br />

die Nacktaufnahmen heraus.<br />

In einer Szene zeigt er, wie Brando den<br />

Hintern von Maria Schneider mit Butter<br />

einreibt, und deutet an, dass er sie gegen<br />

ihren Willen anal penetriert. Beide Schauspieler<br />

wurden von Bertolucci erst am<br />

Drehort über den Inhalt der Szene informiert.<br />

Schneider warf dem Regisseur deshalb<br />

später vor, sie missbraucht zu haben.<br />

„Ich hatte nie die Gelegenheit, sie um<br />

Vergebung zu bitten“, sagt er über die<br />

2011 verstorbene Schauspielerin. Für fünf<br />

Jahre seien ihm damals in Italien die Bür-<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 161


gerrechte entzogen worden, weil die Richter<br />

den Film als Pornografie einstuften.<br />

„Ich durfte nicht wählen, und ich war ein<br />

leidenschaftlicher Kommunist!“<br />

„Einen Film zu machen ist so, als würde<br />

man den eigenen Eltern beim Sex zu -<br />

sehen.“ So lautet sein Credo. Ein guter<br />

Film zeige die Figuren ständig in Situationen,<br />

in denen niemand von anderen<br />

Menschen beobachtet werden möchte.<br />

Bertolucci entwickelte eine Theorie,<br />

nach der die Positionen der Kamera den<br />

Stellungen beim Sex entsprechen. Wegen<br />

seiner Fixierung auf den Sex hielten ihn<br />

einige seiner politischen Weggefährten für<br />

einen eher dubiosen Salonkommunisten.<br />

„Bei ,Ich und du‘ erwarten viele Zuschauer,<br />

dass Lorenzo und Olivia mit -<br />

einander schlafen werden“, meint er. „Ich<br />

fand es aber viel schöner, dass die zwei<br />

einfach eng umschlungen miteinander<br />

tanzen, das war für mich ein Moment großer<br />

Innigkeit.“<br />

Seit fünf Jahrzehnten beschäftigt sich<br />

Bertolucci in seinen Filmen mit Heranwachsenden,<br />

auch „Der letzte Kaiser“,<br />

für den er zwei Oscars gewann, ist letztlich<br />

eine Entwicklungsgeschichte. Bertolucci<br />

kommt nicht weg von der Adoleszenz,<br />

in der nichts entschieden und noch<br />

alles möglich ist. Erwachsenwerden ist<br />

für ihn der Tod der Freiheit.<br />

„Meine Sicht auf die Dinge hat sich verändert,<br />

seit ich im Rollstuhl sitze, genau<br />

genommen um 30 bis 40 Zentimeter“,<br />

sagt er schelmisch. „Jetzt bin ich wieder<br />

auf Augenhöhe mit den Kindern.“<br />

Wenn Bertolucci in „Ich und du“ den<br />

Keller verlässt und sich auf die Straße<br />

begibt, lässt er den Blick seiner Kamera<br />

an den Häuserfassaden in die Höhe<br />

gleiten, bis zum Dach. Dies ist der Blick<br />

eines Mannes, der sich wieder daran<br />

gewöhnen muss, zu anderen Menschen<br />

aufzublicken.<br />

„Ich bin nicht nach Lourdes gefahren“,<br />

sagt er und steckt sich eine Zigarette an.<br />

„Doch Sie sehen einen fröhlichen Mann<br />

vor sich. Einen Film zu drehen, das ist<br />

für mich einfach das reine Glück, da wird<br />

es unwichtig, dass ich im Rollstuhl sitze.“<br />

Er erzählt von Jean Renoir, dem Sohn<br />

des Malers Auguste Renoir. Mitte der siebziger<br />

Jahre traf er ihn in Hollywood, Renoir<br />

war fast achtzig und saß im Rollstuhl.<br />

Stundenlang hätten sie sich unterhalten,<br />

erzählt Bertolucci. „Wo immer du<br />

drehst, lass stets eine Tür offen!“, habe<br />

ihm Renoir geraten.<br />

Am Ende des Gesprächs habe Bertolucci<br />

den Regisseur auf den kahlen Schädel<br />

geküsst. Renoir, sagt er, habe gerochen<br />

wie sein eigener Großvater.<br />

LARS-OLAV BEIER<br />

Video: Ausschnitte aus<br />

Bertoluccis Filmen<br />

spiegel.de/app<strong>48</strong>2013bertolucci<br />

oder in der App <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

162<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3


Kultur<br />

Im Fernsehen war er nur noch ein<br />

seltener Gast in den letzten Jahren.<br />

Dieter Hildebrandt tourte stattdessen<br />

durch die Republik. Er las aus seinen<br />

Büchern, machte sich auf Kleinkunstbühnen<br />

über Angela Merkel<br />

lustig und genoss die Liebe seines Publikums.<br />

Weit über 80 Jahre alt, trat<br />

er Abend für Abend auf, alt geworden<br />

zwar, aber nie müde.<br />

Wer ihn dort erlebte, bekam ein<br />

neues Bild von ihm. Natürlich, er<br />

blieb der Kritiker, der Moralist,<br />

der Aufrüttler, den die<br />

Marke Hildebrandt seit je<br />

versprach. Diese Marke, die<br />

seinen Namen zum Syn -<br />

onym nahm für Kabarett<br />

in Deutschland. Doch an<br />

diesen Abenden zeigte er,<br />

dass er nicht bloß ein Grantler<br />

war, sondern auch, und<br />

vielleicht vor allem: ein<br />

Humorist.<br />

Er war keiner, der die<br />

Menschen nur belehren<br />

wollte, kein verkniffener,<br />

magenkranker Besserwisser,<br />

kein Moralapostel. Dazu hatte<br />

er viel zu viel Spaß daran,<br />

die Mächtigen zu ärgern und<br />

sein Publikum zu erheitern.<br />

Wie er an solchen Abenden<br />

etwa mit dem Gehstock<br />

in der Hand einen Rentner-<br />

Rap vorführte, rasend schnell,<br />

sicher im Rhythmus, halb<br />

bissig, halb belustigt beweisend,<br />

dass sich das Alter vor<br />

der Jugend nicht verstecken<br />

muss – das war große Kunst.<br />

In diesen Kabinettstückchen<br />

zeigte sich die leichte Seite<br />

von Hildebrandt. Seine Sucht<br />

nach Witz, auch seine Lust<br />

auf kluge Albernheit.<br />

Er konnte eben nicht nur<br />

große Politik. In seinem Programm<br />

„Ausgebucht“ plauderte<br />

er über die Frühstücke<br />

mit seiner Frau Renate und<br />

über seine Angewohnheit, ihre Fragen<br />

nach Kaffee, Ei und Marmelade hinter<br />

der Zeitung verborgen mit einem mürrischen<br />

„Jetzt nicht, vielleicht später“<br />

zu beantworten. Er drehte diese Banalität<br />

mit großer Freude immer weiter.<br />

„Kannst du mir sagen, wie spät<br />

es ist?“ – „Jetzt nicht, vielleicht später.“<br />

Er machte das sehr eigen, sehr<br />

fein und sehr komisch. Und sehr<br />

selbstironisch.<br />

Es fällt einem auf, wenn man die<br />

alten Fernsehauftritte jetzt wieder<br />

sieht, deren tagespolitische Anlässe<br />

fast vergessen sind, wie exakt sein<br />

Sprachwitz war. Die besten Szenen<br />

haben das Zeug zum Klassiker, sie<br />

funktionieren heute noch, weil Hildebrandt<br />

dieses absolute Gehör für<br />

Timing und Pointen, aber auch für<br />

Wort-Müll und Floskel-Irrsinn hatte.<br />

In einer Parodie gab er Helmut Kohl,<br />

der das Lied „Der Mond ist aufgegangen“<br />

aufsagt und den Text in einem<br />

Schwall von Phrasen ertränkt. Kurz<br />

nach Hildebrandts Tod war das Video<br />

N A C H R U F<br />

Dieter Hildebrandt<br />

1927– 2013<br />

ein Renner in sozialen Netzwerken,<br />

auch bei Menschen, die mit Kohl als<br />

Kanzler fast nichts mehr verbinden.<br />

Oder seine Version der nie gehaltenen<br />

Abschiedsrede von Herbert Wehner.<br />

Hildebrandt sah den SPD-Strategen<br />

vermutlich viel zu positiv. Der Auftritt<br />

ist ein Meisterwerk. Auch wer nie<br />

einen Satz von Wehner gehört hat,<br />

wird lachen, wenn er das heute sieht.<br />

Der Schlusssatz der angeblichen<br />

Wehner-Rede, „Ich hoffe, das Hohe<br />

Haus wird mir meine Leidenschaft<br />

verzeihen, ich hätte Ihnen die Ihre<br />

auch gerne verziehen“, ist längst ein<br />

Klassiker der komischen Kunst. Es ist,<br />

wenn es so etwas gibt, ein perfekter<br />

komischer Satz.<br />

Wie groß seine Freude am Witz<br />

war, merkte jeder, der das Glück hatte,<br />

nach einer solchen Vorstellung mit<br />

ihm, seiner Frau Renate und einer<br />

kleinen Schar seiner Freunde und Getreuen<br />

beisammenzusitzen. Da war<br />

er wie auf der Bühne. Er regte sich<br />

viel auf, und er war ständig komisch.<br />

Bei ihm war das kein Entweder-oder.<br />

Zorn und Humor<br />

waren bei ihm ein und<br />

derselbe Naturzustand, den<br />

MAX KOHR / CINETEXT<br />

musste er auf der Bühne<br />

bloß abrufen. Er musste niemanden<br />

spielen. Er war.<br />

Hildebrandt fand Politik<br />

an sich schon komisch und<br />

hat dann nur noch dafür<br />

gesorgt, dass das Publikum<br />

das Komische auch zu sehen<br />

bekommt. Vielleicht wurde<br />

er deshalb nie zum Zyniker,<br />

war er nicht verbittert, blieb<br />

sein Humor deshalb warm<br />

und menschenfreundlich.<br />

Vielleicht war er deshalb so<br />

beliebt.<br />

Dass er das Maß allen poli -<br />

tischen Humors in Deutschland<br />

war, machte es jüngeren<br />

Kollegen nicht leicht, ein<br />

eigenes Profil zu entwickeln.<br />

Er war übermächtig. Kabarett<br />

machte man entweder<br />

im Stile Hildebrandts oder<br />

als Antityp. Hildebrandts<br />

Überzeugung, dass ein Kabarettist<br />

Partei ergreifen<br />

müsse und nicht bloß ironisch,<br />

sarkastisch oder zynisch<br />

über die Dinge hinweggehen<br />

dürfe, folgten die Jüngeren<br />

nicht mehr. Er verbot<br />

ihnen, den Titel „Scheibenwischer“<br />

für etwas zu verwenden,<br />

was für ihn kein<br />

Kabarett, keine komische<br />

Kunst mehr war, sondern nur Pointen -<br />

hascherei, nur noch Comedy.<br />

Am Dienstag vergangener Woche<br />

wurde publik, dass Hildebrandt an<br />

Krebs erkrankt war.<br />

Am Mittwoch, als die Zeitungen<br />

mit der Schlagzeile „Noch bin ich<br />

nicht tot“ auf den Markt kamen, war<br />

er bereits gestorben. Zwei Wochen<br />

zuvor hatte er am Telefon erzählt,<br />

dass er im Dezember wieder auf die<br />

Bühne wolle. Möglicherweise ist er<br />

dem Tod mit einer Pointe begegnet:<br />

„Jetzt nicht, vielleicht später.“<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 163


Kultur<br />

M Ü N C H N E R K U N S T F U N D<br />

„Empathie allein hilft nicht weiter“<br />

Der bayerische Justizminister Winfried Bausback verteidigt<br />

die umstrittene Beschlagnahme der Bilder und fordert eine Lex Gurlitt.<br />

Bausback, <strong>48</strong>, ist Juraprofessor und seit<br />

Oktober Mitglied der bayerischen Landesregierung.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Herr Bausback, hat sich die Staatsanwaltschaft<br />

Augsburg im Fall Gurlitt stets<br />

und uneingeschränkt korrekt verhalten?<br />

Bausback: Die Beschlagnahme erfolgte<br />

aufgrund eines Gerichtsbeschlusses. Das<br />

habe ich als Minister nicht zu kommentieren.<br />

Es gibt aber eine zweite Ebene,<br />

bei der es auch um unsere Verantwortung<br />

für die Aufarbeitung der Verbrechen des<br />

nationalsozialistischen Terrors geht und<br />

die für das Ansehen Bayerns und Deutsch -<br />

lands in der Welt bedeutsam ist. Und auf<br />

dieser Ebene ist seit der Beschlagnahme<br />

der Bilder 2012 zu viel Zeit vergangen,<br />

ohne dass wir bei der Klärung der Frage,<br />

woher viele dieser Werke stammen, ausreichend<br />

vorangekommen sind. Diese<br />

Aufgabe hätte von Anfang an von allen<br />

Beteiligten bei Bund und Land mit mehr<br />

Druck und Ressourcen angepackt werden<br />

sollen, keine Frage.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wer hat das verbummelt?<br />

Bausback: Als frisch in dieses Amt gekommener<br />

Minister will ich da keine Schuldzuweisung<br />

treffen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Bei einer Zollkontrolle aufgefallen<br />

ist Herr Gurlitt bereits im September<br />

2010. Ab wann war das Justizministerium<br />

informiert?<br />

Bausback: Es gab lange Vorermittlungen,<br />

bis es zu der Wohnungsdurchsuchung und<br />

Beschlagnahme kam. Aus der Zeit bis zur<br />

Veröffentlichung des Falles in den Medien<br />

gibt es fünf Berichte hier im Haus, von<br />

denen zwei das Ministerbüro erreicht<br />

haben, allerdings offensichtlich nicht die<br />

politische Spitze des Hauses.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Auf welche Strafvorwürfe stützt<br />

sich denn die Beschlagnahme?<br />

Bausback: Auf steuerrechtlich relevante<br />

Vorwürfe im Zusammenhang mit Kunstgegenständen.<br />

Die Bilder und anderen<br />

Dinge wurden als Beweismittel beschlagnahmt.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Eigentlich ging es ja um den Verkauf<br />

eines einzigen Bildes. Und da muss<br />

man gleich den gesamten Kunstschatz<br />

mitnehmen, den Herr Gurlitt in seiner<br />

Wohnung hatte?<br />

Bausback: Nochmals: Zu Details des Falles<br />

möchte ich schon wegen des Steuergeheimnisses<br />

und der Rechte von Herrn<br />

164<br />

Gurlitt und weil das Verfahren ja noch<br />

läuft, öffentlich keine Stellung nehmen.<br />

Generell gilt: Gegen eine solche Beschlagnahme<br />

sind Rechtsmittel möglich, die<br />

kann jeder Beschuldigte in einem Strafverfahren<br />

einlegen<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Herr Gurlitt meint, er bekomme<br />

die Bilder auch so zurück. Sind Sie froh,<br />

dass er sich immer noch keinen Anwalt<br />

genommen hat?<br />

Bausback: Es ist sein gutes Recht zu entscheiden,<br />

ob er sich anwaltlich vertreten<br />

lässt und wie er sich verteidigt.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Sollte Herr Gurlitt bei dem Verkauf<br />

des erwähnten Bildes Steuern hinterzogen<br />

haben, wäre das verjährt – der<br />

Verkauf liegt gut 20 Jahre zurück. Auch<br />

der Vorwurf der Unterschlagung, auf den<br />

sich die Staatsanwaltschaft offenbar stützt,<br />

wäre verjährt. Wenn er fremdes Eigentum<br />

unterschlagen hat, geschah das bereits<br />

1967, da hat er die Bilder bereits geerbt.<br />

Eine Beweismittelbeschlagnahme etwa ist<br />

doch bei verjährten Straftaten unzulässig?<br />

Bausback: Die rechtliche Bewertung ist<br />

Aufgabe der Staatsanwaltschaft.<br />

Schwung statt Schärfe<br />

Ingeborg Berggreen-Merkel leitet die Taskforce, die die Herkunft der<br />

Bilder klären und den Staat vor einer Blamage bewahren soll.<br />

Juristin Berggreen-Merkel<br />

„Höflichkeit und Fairness“<br />

DOMINIK BUTZMANN / <strong>DER</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Es sind viele Fehler gemacht worden,<br />

einige von Ingeborg Berggreen-<br />

Merkel, 64. Sie gibt das zu. Die Verwaltungsjuristin<br />

soll den Staat in Schutz<br />

nehmen, sie kann das, sie kennt sich aus<br />

in der Bürokratie dieses Staates. Sie war<br />

36 Jahre lang im bayerischen Kultus -<br />

ministerium tätig. 2008 wechselte sie nach<br />

Berlin ins Kanzleramt, wo sie für Kulturstaatsminister<br />

Bernd Neumann arbeitete,<br />

zuletzt als seine Stellvertreterin. Im April<br />

2013 ging sie in den Ruhestand. Jetzt ist<br />

sie zurück.<br />

In der Sache Gurlitt haben sich viele<br />

blamiert. Vor 21 Monaten wurde die<br />

Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt<br />

durchsucht, wegen vermuteter Steuer -<br />

delikte, dann nahmen die Fahnder seinen


STEPHAN RUMPF / SUEDDEUTSCHER VERLAG<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Dann können Sie leider auch dem<br />

Eindruck nicht entgegentreten, dass hier<br />

ein ziemlich großer staatlicher Raubzug<br />

stattgefunden hat.<br />

Bausback: Die Beschlagnahme von Beweismitteln<br />

in einem Ermittlungsverfahren<br />

auf der Grundlage eines richterlichen<br />

Beschlusses ist für mich kein Raubzug.<br />

Die Staatsanwaltschaft hat doch nicht die<br />

Absicht, sich oder anderen die Bilder<br />

rechtswidrig zuzueignen.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Aber hier wird doch auf dem<br />

Rücken von Herrn Gurlitt deutsche Ge-<br />

schichte aufgearbeitet. Wer meint, Eigentum<br />

an diesen Bildern zu haben,<br />

müsste sich an Herrn Gurlitt wenden.<br />

Normalerweise beschlagnahmt kein<br />

Staatsanwalt ein Bild, nur weil jemand<br />

sagt, das gehört eigentlich mir. Und Sie<br />

können nur deshalb Ihre Taskforce dar -<br />

auf ansetzen, weil dieser Schatz nun in<br />

Staatshänden ist.<br />

Bausback: Beschlagnahmen erfolgen nach<br />

der Strafprozessordnung an Gegenständen,<br />

die als Beweismittel von Bedeutung<br />

sind. Sie vermischen die Ebenen.<br />

Justizminister Bausback<br />

„Komplexe Fragen, komplexe Lösungen“<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Nun sollen Bilder zurückgegeben<br />

werden, die „zweifelsfrei“ im Eigentum<br />

von Herrn Gurlitt stehen. Wird da nicht<br />

die Unschuldsvermutung umgedreht?<br />

Bausback: Im Gegenteil, dadurch werden<br />

seine Rechte gewahrt. Nicht mehr erforderliche<br />

Beweismittel sind grundsätzlich<br />

dem letzten Gewahrsamsinhaber zurückzugeben.<br />

Besteht erst einmal der Verdacht,<br />

dass Bilder immer noch anderen<br />

gehören, sieht das anders aus. Weiß die<br />

Staatsanwaltschaft, dass begründete Ansprüche<br />

Dritter etwa an Raubkunst bestehen,<br />

darf sie sie nicht dem letzten Gewahrsamsinhaber<br />

zurückgeben.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Daran äußern von uns befragte<br />

Rechtsexperten erhebliche Zweifel.<br />

Bausback: Ich gehe davon aus, dass die<br />

Rechte von Herrn Gurlitt in diesem Verfahren<br />

gewahrt werden. Es geht um<br />

komplexe Rechtsfragen, da bedarf es<br />

komplexer Lösungen. Es geht natürlich<br />

Bilderbesitz mit. Die Vorwürfe jedoch<br />

reichen schwerlich für die Beschlagnahme<br />

einer ganzen Sammlung.<br />

Der Vater des alten Mannes, Hildebrand<br />

Gurlitt, war nach dem Krieg ein<br />

geachteter Kunstvereinsleiter – aber vor<br />

1945 auch ein Händler im Dienste der<br />

Nazis. Sein Erbe, die Bilder, die er für<br />

sich persönlich zusammentrug, fand<br />

man in der Wohnung. Eine Kunsthistorikerin<br />

erforschte seinen Bilderbesitz,<br />

die Staatsanwaltschaft (in diesem Falle<br />

die Augsburger) und die Bundesregierung<br />

hielten das und alles andere an dieser<br />

Geschichte geheim. Vor drei Wochen<br />

kam alles heraus, der Unmut, gerade<br />

bei jüdischen Verbänden, ist groß.<br />

Nun soll ein ganzes Team den Bestand<br />

bearbeiten, Berggreen-Merkel leitet es.<br />

Das Team nennt sich Taskforce. Das<br />

klingt amerikanisch, zupackend. Die Juristin<br />

soll Schwung in die Sache bringen<br />

und ihr zugleich die Schärfe nehmen.<br />

Sie soll den Respekt für die Opfer deutlich<br />

machen, aber auch solche erreichen,<br />

die fast schon Mitleid mit Gurlitt haben.<br />

Und sie soll ihn selbst erreichen. Sie sagt,<br />

sie möchte Cornelius Gurlitt kennenlernen,<br />

weil das „Höflichkeit und Fairness“<br />

so gebieten würden. Sie möchte „erfahren,<br />

was er über die Herkunft dieser<br />

Kunstwerke weiß“. Gespräche seien<br />

„jetzt der beste Weg, um untereinander<br />

zu Lösungen zu kommen, die für alle<br />

tragbar sind“. Sie sagt aber auch: „Herrin<br />

des Ermittlungsverfahrens ist die<br />

Staatsanwaltschaft Augsburg.“ Und:<br />

„Die Staatsanwaltschaft ist aufgerufen,<br />

in alle Richtungen zu ermitteln, also<br />

auch zugunsten des Beschuldigten.“<br />

Indirekt arbeitet Berggreen-Merkel<br />

dem bayerischen Justizminister zu, dem<br />

die Staatsanwälte in Augsburg unterstehen.<br />

Sie selbst gehörte zu denen, die besonders<br />

frühzeitig in die Sache mit dem<br />

Fund eingeweiht waren: Die Behörde<br />

von Kulturstaatsminister Neumann wurde<br />

um Rat gefragt. Nun meint sie: „Von<br />

Bilder aus der Sammlung Gurlitt<br />

Respekt für die Opfer<br />

heute aus betrachtet, hätten danach alle<br />

beteiligten Stellen sicherlich besser kommunizieren<br />

sollen. Das muss man einräumen.“<br />

Inzwischen wird Cornelius Gurlitt in<br />

aller Öffentlichkeit vom Staat wie ein<br />

Schuldiger behandelt, obwohl es keinen<br />

Prozess gab, obwohl nicht einmal eine<br />

Anklage vorliegt.<br />

Berggreen-Merkel macht moralische<br />

Verpflichtungen geltend: „Eines muss<br />

in diesem Zusammenhang klar sein: Das<br />

grauenvolle Geschehen im ,Dritten<br />

Reich‘, das unfassbare Leid, das Morden<br />

– das verlangt, dass wir alles tun,<br />

um das wiedergutzumachen. Das bewegt<br />

mich auch persönlich zutiefst. Meine<br />

Aufgabe ist es nun, Provenienzen zu<br />

klären.“<br />

Sie sagt: „Auch Herrn Gurlitt gegenüber<br />

würde ich gern zum Ausdruck bringen,<br />

was die Herkunft seiner Bilder bedeutet<br />

und wem sie etwas bedeuten.“<br />

ULRIKE KNÖFEL, MICHAEL SONTHEIMER<br />

PUBLIC PROSECUTOR OFFICE'S AUGSBURG / DPA / VG BILDKUNST BONN, 2013 (3); PUBLIC PROSECUTOR OFFICE'S AUGSBURG / DPA (6);<br />

STAATSANWALTSCHAFT AUGSBURG / DPA (3)<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 165


Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Augsburg: „Beweismittel beschlagnahmt“<br />

noch um andere Fragen, insbesondere<br />

bezüglich der Bilder, die als Raubkunst<br />

und „Entartete Kunst“ zu qualifizieren<br />

sind, und die sollten in einem Dialog<br />

gelöst werden.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: An dem Dialog mit Herrn Gurlitt<br />

hat es bisher gefehlt.<br />

Bausback: Ich denke, ich habe ein sehr<br />

deutliches Signal ausgesandt und werde<br />

mich weiter darum bemühen. Ich halte<br />

es aber für sinnvoll, dass jetzt zunächst<br />

jemand aus der Taskforce, der Kunstverstand<br />

hat, mit Herrn Gurlitt redet.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wenn er sich weigert, der Rückgabe<br />

von Raubkunst oder unter NS-Recht<br />

enteigneter Bilder an die Erben der damaligen<br />

Opfer zuzustimmen? Selbst wenn<br />

diese weiter als Eigentümer zu gelten hätten,<br />

ihre darauf gestützten zivilrechtlichen<br />

Herausgabeansprüche verjähren nach 30<br />

Jahren. Die sind längst vorbei.<br />

Bausback: Es wäre für mich schwer erträglich,<br />

wenn man Rückgabeforderungen<br />

solcher Eigentümer nun entgegenhalten<br />

würde, dass ihre Ansprüche verjährt sind.<br />

Ich habe mein Haus deshalb einen Gesetzesvorschlag<br />

erarbeiten lassen, den wir<br />

demnächst zur Diskussion stellen wollen.<br />

Danach dürfte jemand, der beim Erwerb<br />

bösgläubig war, der also wusste, dass die<br />

Bilder oder andere Gegenstände, die er<br />

kauft oder erbt, ihrem Eigentümer abhandengekommen<br />

sind, sich nicht auf die<br />

zivilrechtliche Verjährung berufen.<br />

MARC MÜLLER / DPA<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Würde das dann auch rückwirkend,<br />

also auch für diesen Fall gelten?<br />

Bausback: Ja. Das ist verfassungsrechtlich<br />

zwar nicht unproblematisch, aber wir<br />

meinen, dass man das rechtfertigen kann.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Wollen Sie den Druck auf Herrn<br />

Gurlitt erhöhen, damit er eher nachgibt?<br />

Bausback: Nein. Ich will keinen Druck,<br />

sondern Dialog. Aber ich will ein generelles<br />

Problem anpacken, das mir am Herzen<br />

liegt. Was ich auch klarstellen möchte:<br />

Einen Kuhhandel der Art, Straffreiheit<br />

gegen Verzicht auf Bilder, wird es nicht<br />

geben. Es geht in dem Dialog um den<br />

weiteren Umgang mit den Bildern, nicht<br />

um das Strafverfahren. Ich hoffe, dass<br />

Herr Gurlitt sich dem nicht verschließt.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Vielleicht hätten Sie mehr Glück<br />

bei Herrn Gurlitt, wenn Sie mehr Verständnis<br />

für ihn aufbringen würden?<br />

Bausback: Ich kann mich als Mensch ein<br />

Stück weit in Herrn Gurlitt hineinversetzen.<br />

Aber allein Empathie zu zeigen hilft<br />

nicht weiter.<br />

<strong>SPIEGEL</strong>: Aber vielleicht hätten Sie eine<br />

Botschaft an Herrn Gurlitt?<br />

Bausback: Ich würde es anerkennen, wenn<br />

es ihm gelingen würde, zu einer konstruktiven<br />

Lösung beizutragen. Ich wünsche<br />

ihm jedenfalls, dass er die Kraft hat, mit<br />

der Situation so umzugehen, dass auch<br />

er am Ende zufrieden ist.<br />

INTERVIEW: DIETMAR HIPP, CONNY NEUMANN


Kultur<br />

Was habt ihr getan?<br />

COMIC-KRITIK: Der Zeichner Volker Reiche erzählt in einer Graphic Novel<br />

sein Leben und fragt nach der Schuld der Kriegsgeneration.<br />

Die graubraunen späten vierziger<br />

Jahre des vergangenen Jahrhunderts:<br />

Flüchtlinge in Baracken<br />

und Behelfsunterkünften, verteilt auf das<br />

kaputte Land. Verstörte Familien, traumatisierte<br />

Erwachsene, dazwischen Kinder,<br />

die sich aus alten Brettern Gewehre<br />

basteln und spielen, was<br />

alle am besten können:<br />

Krieg.<br />

Die Geschichte, die Volker<br />

Reiche in seinem<br />

autobiografischen Comic-<br />

Roman erzählt, ist alles<br />

andere als neu. Neu ist<br />

ihre Form. Der 1944 geborene<br />

Künstler, der mehr<br />

als 20 Jahre lang die „Mecki“-Geschichten<br />

für die<br />

Zeitschrift „Hörzu“ erfand,<br />

für Disney als Entenhausen-Zeichner<br />

gearbeitet<br />

hat und für die<br />

„Frankfurter Allgemeine“<br />

in seinem Strip namens<br />

„Strizz“ die aktuelle Lage<br />

kommentierte, hat sich<br />

für eine Bildergeschichte<br />

entschieden.<br />

In zwei Etappen vergegenwärtigt<br />

Reiche seine<br />

Vergangenheit, als Kind<br />

von vier bis neun Jahren<br />

und als junger Erwachsener,<br />

der seinen lange verschollenen<br />

Vater besucht.<br />

In der Gegenwart, die<br />

als Rahmenerzählung in<br />

seinem Buch „Kiesgru-<br />

ben nacht“ fungiert, diskutiert<br />

er seine Erinnerung –<br />

aller dings nicht mit Menschen,<br />

sondern mit den<br />

tierischen Protagonisten<br />

aus „Strizz“.<br />

Der schlaue, egoistische<br />

Kater namens Herr<br />

Paul, der so sanfte wie<br />

kluge Dackel namens Müller und der verträumte<br />

Hofhund namens Tassilo bilden<br />

das reflek torische Dreieck, in dem jeder<br />

Autor kämpft: die Angst zu scheitern, die<br />

der kritische Kater repräsentiert, das<br />

endlose Hin und Her der Abwägung, das<br />

der gebildete Dackel verkörpert, und die<br />

Volker Reiche: „Kiesgrubennacht. Graphic Novel“. Suhrkamp<br />

Verlag, Berlin; 232 Seiten; 21,99 Euro.<br />

naive Ermutigung, die von dem emotionalen<br />

Hofhund ausgeht.<br />

Wer will diese traurigen Geschichten<br />

hören? Worum geht es im Kern, und woher<br />

weißt du das? Und wie geht es weiter?<br />

Das sind die Fragen, die der Erzähler mit<br />

seinen Geschöpfen diskutiert und mit<br />

Graphic Novel „Kiesgrubennacht“: Angst zu scheitern<br />

denen er dem Publikum die Skrupel und<br />

Fährnisse bewusst macht, die das Ent -<br />

stehen jeder Erinnerungsliteratur, wenn<br />

sie denn gut ist, begleiten.<br />

Und gut ist alles, was wir hier sehen:<br />

die Vergegenwärtigung einer Kindheit als<br />

Kosmos aus Freuden, Gefahren und Unglück,<br />

von dem die Eltern nichts wissen<br />

und von dem sie vergessen haben, dass<br />

es ihn gibt. Die Beschreibung der Kollisionen,<br />

die daraus entstehen, und das Einsickern<br />

erster Wahrneh mungen von Fehlbarkeit<br />

der Erzieher. Die Nachzeichnung<br />

der Verstörung, die daraus folgt. Und<br />

schließlich die Kon frontation der erwachsenen<br />

Kinder mit ihren alt gewordenen<br />

Eltern, die über Generationen in Deutschland<br />

in immer derselben<br />

Frage gipfelte: Wo wart<br />

ihr während des Krieges,<br />

und was habt ihr getan?<br />

Der Vater des Ich-Erzählers<br />

war Propagandist<br />

des NS-Regimes. Reiche<br />

illustriert in seiner Graphic<br />

Novel eine von dessen<br />

Hymnen und bricht<br />

zu diesem Zweck aus der<br />

Zeichentechnik des Comics<br />

aus: keine beruhigend<br />

klaren Konturen,<br />

keine niedlichen Sprechblasen,<br />

keine mit Anmut<br />

getuschten Flächen. Stattdessen<br />

expressionistische<br />

Orgien, in denen sich die<br />

Überwältigung durch das<br />

Entsetzen im Bild wiederholt,<br />

in denen die Figuren<br />

zu groß sind für das Format<br />

und so brutal wie das<br />

Geschehen. Noch als Erwachsenen,<br />

gesteht er<br />

seinen Geschöpfen, fas -<br />

ziniert ihn nichts so sehr<br />

wie die Gewalt. Nur hat<br />

er es, moralisch beruhigend,<br />

in seinen geliebten<br />

Computerspielen ja nicht<br />

mit Menschen zu tun, sondern<br />

mit „digitalen Dä -<br />

monen“.<br />

„Es ist eine alte Geschichte,<br />

/ Doch bleibt sie<br />

immer neu, / Und wem<br />

sie just passieret, / Dem<br />

bricht das Herz entzwei.“<br />

Als Heinrich Heine diese<br />

berühmte Strophe dichtete, Anfang des<br />

19. Jahrhunderts, dachte er an die Liebe.<br />

War um man in Deutschland da an etwas<br />

ganz anderes denken kann, das hat Volker<br />

Reiche wieder gezeigt. So verständlich<br />

und klar und so eindringlich und<br />

verstörend zugleich, dass man es sich –<br />

aber wirklich nur unter anderem – als<br />

Schullektüre wünscht. Für alle Nach -<br />

geborenen.<br />

ELKE SCHMITTER<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 167


Impressum<br />

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion)<br />

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MULTIMEDIA Jens Radü; Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard<br />

Riedmann<br />

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Holger Wolters (stellv.)<br />

SCHLUSSREDAKTION Anke Jensen; Christian Albrecht, Gesine Block,<br />

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Kruse, Maika Kunze, Stefan Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen,<br />

Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels<br />

PRODUKTION Solveig Binroth, Christiane Stauder, Petra Thormann;<br />

Christel Basilon, Petra Gronau, Martina Treumann<br />

BILDREDAKTION Michaela Herold (Ltg.), Claudia Jeczawitz, Claus-<br />

Dieter Schmidt; Sabine Döttling, Susanne Döttling, Torsten Feldstein,<br />

Thorsten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Matthias<br />

Krug, Parvin Nazemi, Peer Peters, Karin Weinberg, Anke Wellnitz<br />

E-Mail: bildred@spiegel.de<br />

<strong>SPIEGEL</strong> Foto USA: Susan Wirth, Tel. (001212) 30759<strong>48</strong><br />

GRAFIK Martin Brinker, Johannes Unselt (stellv.); Cornelia Baumermann,<br />

Ludger Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena Kornfeld, Gernot<br />

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SONNTAG, 1. 12., 23.30 – 0.15 UHR | RTL<br />

<strong>SPIEGEL</strong> TV MAGAZIN<br />

Razzia gegen Automafia<br />

Gestohlen, zerlegt und verschoben –<br />

Grenzverkehr mit geklauten Luxusautos;<br />

Vom Jugendamt abgeholt – Eine<br />

Mutter kämpft um ihre Kinder; Von<br />

Beruf Heiratsschwindler – Wenn Frauen<br />

zur Einkommensquelle werden.<br />

FREITAG, 29. 11., 8.30 – 8.55 UHR | ARTE<br />

X:ENIUS<br />

Energiesparlampe – Was steckt<br />

in ihr?<br />

An der von der EU verordneten<br />

Energiesparlampe scheiden sich die<br />

Geister. Sie wurde den Verbrauchern<br />

als stromsparende Alternative zu<br />

Glühbirnen angepriesen. Eine<br />

dreiköpfige Familie könne durch<br />

den Austausch aller Lampen 150 Euro<br />

pro Jahr sparen, so das deutsche<br />

Umweltbundesamt. Doch die<br />

Energiesparlampe hat nicht nur Vor-,<br />

sondern auch Nachteile: Ihr Licht<br />

wird von vielen als kalt empfunden,<br />

sie enthält giftiges Quecksilber<br />

und muss aufwendig entsorgt werden.<br />

Und auch die Haltbarkeit ist ein<br />

heikles Thema: Mehrere Jahre sollen<br />

Energiesparlampen nach Her -<br />

stellerangaben leuchten. Doch nicht<br />

OLED-Leuchten<br />

alle halten so lange durch. Wird<br />

der Verbraucher hinters Licht<br />

geführt? Für das Wissensmagazin<br />

X:enius geht <strong>SPIEGEL</strong> TV der<br />

Frage nach, welche Vor- und Nach -<br />

teile die Energiesparlampe hat<br />

und inwieweit Halogen-, LED- oder<br />

die neuen OLED-Lampen<br />

denkbare Alternativen sind.<br />

<strong>SPIEGEL</strong> TV<br />

<strong>SPIEGEL</strong> TV<br />

Doris Lessing, 94. Am 11. Oktober 2007<br />

erfuhr sie, dass sie den Nobelpreis für Literatur<br />

erhalten würde – beinahe ein halbes<br />

Jahrhundert nachdem ihr bestes und<br />

einflussreichstes Werk, „Das goldene Notizbuch“,<br />

1962 erschienen war. Die alte<br />

Dame, die ihr weißes Haar zu einem<br />

Knoten geschlungen hatte, eine blaue<br />

Weste im Ethnostil und solide Schuhe<br />

trug, fiel bei der Nachricht überhaupt<br />

nicht aus allen Wolken. Sie habe alle<br />

Preise bekommen, die es in Europa gebe,<br />

erteilte sie den vor ihrem Reihenhaus<br />

wartenden Journalisten freundlich Bescheid,<br />

„every bloody one“, da sei das<br />

jetzt auch nicht mehr so aufregend, und<br />

jetzt müsse sie den Taxifahrer bezahlen.<br />

In dieser Manier, ungezwungen und<br />

selbstbewusst, waren ihre Bücher geschrieben<br />

– stilistisch unaufwendig bis<br />

zur Fahrlässigkeit, aber immer beschäf -<br />

tigt mit den großen Fragen der Zeit.<br />

Die Tochter weißer Farmer in Südrho -<br />

desien war konfrontiert mit Rassismus,<br />

mit Frauenverachtung und Antisemi -<br />

tismus, sie kämpfte gegen den Stalinis -<br />

mus in der englischen kommunistischen<br />

Partei und gegen die Naturzerstörung des<br />

Kapitalismus; nichts war ihr zu groß,<br />

wenig zu gering. Nur die Belanglosigkeit<br />

selbst verstörte sie: „Inzwischen“, schrieb<br />

sie 1997, „hat es zwei Generationen gegeben,<br />

die nie über etwas anderes reden<br />

als über Einkäufe und den neuesten<br />

Klatsch, und wenn ich mit ihnen zusammen<br />

bin, frage ich mich, wie sie diese<br />

winzige, eng umgrenzte Welt ertragen<br />

können, in der sie leben.“ Lessing, die<br />

ihren ersten Ehemann und die beiden<br />

Kinder aus dieser Ehe verlassen hatte,<br />

lebte seit 1949 in London. Aus ihren<br />

Erfahrungen entstand ein geradezu<br />

schlenkerndes Werk – angelegt zwischen<br />

Märchen und Fabel, Science-Fiction, erzählendem<br />

Realismus und Gelegenheits -<br />

essay. Kein ästhetisches Projekt, sondern<br />

die Erkundung von außen und innen<br />

ihrer Existenz –die einer bemerkens -<br />

wert freien Frau. Doris Lessing starb am<br />

17. November in London.<br />

170<br />

GESTORBEN<br />

JOHN DOWNING<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

Hans-Jürgen Heise, 83. „Seit dem Verlust<br />

des Transzendenzbegriffs befindet sich die<br />

Menschheit im freien Fall. Zwar ist der<br />

Sturz noch nicht beendet, doch gleichen<br />

wir den Insassen eines<br />

abstürzenden Flugzeugs,<br />

die sich an ihre<br />

Sitze klammern – an<br />

die Haltegriffe der<br />

technischen Zivilisa -<br />

tion“, so pessimistisch<br />

beurteilte der zu den<br />

bedeutendsten Lyrikern<br />

Deutschlands gehörende<br />

Heise am<br />

Ende seines Lebens<br />

das Weltgeschehen. In Pommern geboren,<br />

zog er mit seiner Familie nach Berlin und<br />

versuchte sich im Journalismus. 1961 debütierte<br />

er mit dem die Grenzen des<br />

Wachstums voraussehenden Gedichtband<br />

„Vorboten einer neuen Steppe“. Sein Werk<br />

umfasst neben Essays und Reisebüchern<br />

rund 30 Gedichtsammlungen. Hans-Jürgen<br />

Heise starb am 13. November in Kiel.<br />

UWE PAESLER<br />

Artur Braun, 88. Die Radio-Plattenspieler-<br />

Kombination „Phonosuper SK 4“, die wegen<br />

der Abdeckhaube aus Plexiglas auch<br />

Schneewittchensarg genannt wurde, war<br />

eines der ersten Produkte einer Design-<br />

Ära, die unter der Mitwirkung des jungen<br />

Ingenieurs Mitte der Fünfziger entstand.<br />

Braun, der zusammen mit seinem Bruder<br />

das Elektrokleingeräte-Unternehmen übernommen<br />

hatte, gab der Marke ein neues<br />

Gesicht. Er setzte auf geometrisch proportionierte<br />

Formen und machte mit seinem<br />

Team die Linie zum Kultobjekt. Das Unternehmen<br />

wurde 1967 an Gillette verkauft.<br />

Artur Braun starb am 3. November.<br />

Frederick Sanger, 95. „Ich war nur ein<br />

Bursche, der in seinem Labor herumwurstelte“,<br />

sagte er 2007 über seine Arbeit.<br />

Das war British Understatement<br />

vom Feinsten. Denn der Biochemiker aus<br />

Cambridge las in Molekülen wie andere<br />

in Abenteuerromanen. In den fünfziger<br />

Jahren enthüllte er die Struktur des Insulins,<br />

dessen Mangel typisch für die Zuckerkrankheit<br />

ist. In den Siebzigern entwickelte<br />

Sanger ein Verfahren, mit dem<br />

sich die Reihenfolge der DNA-Bausteine<br />

bestimmen lässt. Die Methode wurde<br />

später für die Entschlüsselung des menschlichen<br />

Genoms eingesetzt.<br />

Sanger legte<br />

Grundlagen für das<br />

machtvolle Instrumen -<br />

ta rium der Gentechnik.<br />

Er erhielt zwei<br />

Nobelpreise, eine seltene<br />

Ehrung. Fre -<br />

derick Sanger starb<br />

am 19. November in<br />

Cambridge.<br />

DAVID LEVENSON / GETTY IMAGES


Personalien<br />

Schuld und Bühne<br />

Seit März sitzt er in Untersuchungshaft,<br />

kurz davor trat er noch im Bolschoi-<br />

Theater auf. Bald soll Pawel Dmitri -<br />

tschenko, 29, russischer Tänzer, wieder<br />

vor Gericht aussagen. Er wird beschuldigt,<br />

die Säureattacke auf den Bolschoi-<br />

Ballettchef Sergej Filin geplant und<br />

initiiert zu haben. Aus seiner Abneigung<br />

gegen Filin macht er keinen Hehl: Er<br />

hält ihn für sexuell und<br />

finanziell bestechlich,<br />

bestreitet aber, mit der<br />

Attacke etwas zu tun zu<br />

haben. Eine „moralische<br />

Mitschuld“ an dem<br />

Attentat hat Dmitri -<br />

tschenko allerdings eingeräumt.<br />

Jetzt berich tet<br />

der „Observer“ von<br />

Briefen, die Dmitri -<br />

tschenko an einen<br />

Freund geschickt habe.<br />

Einige Zeilen seien von<br />

der Zensur geschwärzt<br />

worden, berichtet die<br />

britische Zeitung. Aber<br />

es sei nachzulesen, dass<br />

Dmitritschenko misshandelt<br />

wurde: „Drei Polizisten schlugen<br />

mich, auf die Nieren, die Leber,<br />

den Kopf.“ Die Polizei streitet jedes<br />

Fehlverhalten ab. Weiter schreibe Dmitritschenko,<br />

einer der Beamten habe im<br />

Verhör gesagt: „Wir müssen dich irgendwie<br />

verurteilen. Sonst werden alle ihre<br />

Posten verlieren, weil wir dich ein halbes<br />

Jahr im Gefängnis behalten haben.“<br />

Dem einstigen Ballettstar drohen bis zu<br />

zwölf Jahre Haft.<br />

POCHUYEV MIKHAIL / ITAR-TASS / CORBIS<br />

Imeldas Kronleuchter<br />

Aus Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand<br />

wurde der alten Dame bisher<br />

verschwiegen, welche Auswirkungen<br />

die Naturkatastrophe auf eines ihrer<br />

Lieblingsprojekte hat. Imelda Marcos,<br />

84, Diktatoren-Witwe, wird seit Anfang<br />

November wegen Erschöpfung<br />

und Diabetes in einem Krankenhaus<br />

auf den Philippinen behandelt. Das<br />

von ihr eingerichtete Museum Santo<br />

Nino Shrine in der Stadt Tacloban ist<br />

vom Taifun „Haiyan“ beschädigt worden.<br />

Das Gebäude mit 21 Räumen<br />

beherbergt Geschenke und Andenken<br />

aus aller Welt, die sich in den zwei<br />

Jahrzehnten Herrschaft ihres Mannes<br />

angesammelt hatten. Um die Exponate –<br />

Ming-Vasen, ein Messingbett aus<br />

Großbritannien, einen Kronleuchter<br />

aus Tschechien – hat sich bisher noch<br />

niemand gekümmert, die Philippiner<br />

haben dieser Tage andere Sorgen.<br />

Küchenphilosoph<br />

GNO / PICTURETANK / AGENTUR FOCUS<br />

Die Lieblingsspeise seines ehemaligen<br />

Vorgesetzten will er nicht verraten,<br />

das sei eine Frage der Diskretion, sagt<br />

Bernard Vaussion, 60. Er war 39 Jahre<br />

lang Koch im Elysée-Palast, seit kurzem<br />

ist er im Ruhestand. Präsident François<br />

Hollande würde ansonsten überall auf<br />

der Welt mit dem Gericht traktiert werden,<br />

fürchtet er. Trotz aller Loyalität:<br />

Hollandes Entscheidung, Trüffel, Hummer<br />

und Kaviar von der Palastspeisekarte<br />

zu nehmen, missbilligt Vaussion<br />

zutiefst. Das verrät er in einem Buch<br />

über seine Zeit im Einsatz für das leib -<br />

liche Wohl der Mächtigen dieser Welt.<br />

Der Verzicht, den der Sozialist Hollande<br />

aus Imagegründen verfügt habe, sei<br />

nicht nur in kulinarischer Hinsicht bedauerlich,<br />

findet der Ex-Chefkoch. Er<br />

hält die Maßnahme auch für unpatriotisch:<br />

„Das sind einheimische Produkte,<br />

wir müssen sie benutzen, wir müssen<br />

für sie werben.“ Ansonsten hat Vaussion<br />

nichts an Hollande auszusetzen, weil<br />

der „alles isst, und zwar gern und viel“.<br />

Im Gegensatz zum Vorgänger Nicolas<br />

Sarkozy, der Wein und Käse von der<br />

Tafel verbannte. „Das hat mich ganz<br />

krank gemacht“, sagt Vaussion.<br />

TED ALJIBE / AFP<br />

Prinzessin in der Kugel<br />

Alle Jahre wieder müssen Zeitungen<br />

und Zeitschriften zum Fest eine passende<br />

Aufmachung finden. Das Glamour-<br />

Magazin „Harper’s Bazaar“ wusste sich<br />

für den Titel der aktuellen Dezemberausgabe<br />

für Australien nicht anders zu<br />

helfen, als sich selbst zu zitieren. Nicole<br />

Kidman, 46, Schauspielerin, posiert wie<br />

172<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3<br />

das britische Supermodel Kate Moss,<br />

heute 39 Jahre alt, 1992 für das ame -<br />

rikanische Dezember-Heft: im Halbprofil,<br />

mit Hochsteckfrisur und in der<br />

Hand eine Schneekugel mit einer Miniaturfigur<br />

ihrer selbst. Die Kopie wird<br />

von der Fachpresse recht freundlich als<br />

Bestätigung der These gewertet,<br />

dass die neunziger Jahre modemäßig<br />

wieder en vogue seien.


Christian Weber, 67, Präsident der<br />

Bremischen Bürgerschaft, hat für das<br />

Parlamentsgebäude ein Rotwein-<br />

Verbot verhängt. Das traf als Erste die<br />

Grünen, die dort am vergangenen<br />

Freitag den 30. Geburtstag ihrer Fraktion<br />

feierten. SPD-Mann Weber<br />

wollte dem Koalitionspartner aber<br />

keinen versteckten Hinweis auf Unvereinbarkeit<br />

von Rot und Grün geben,<br />

sondern den empfindlichen hellen<br />

Teppichboden schützen, der gerade<br />

für 330000 Euro fast im gesamten Gebäude<br />

verlegt worden ist. Auch<br />

Fassbier ist nicht mehr erlaubt, und<br />

Kaffeetassen sollen nicht mehr ganz<br />

voll geschenkt werden. Im Plenarsaal<br />

selbst ist schon länger jeder Verzehr<br />

verboten, denn „das ist ein Raum, in<br />

dem man einen gewissen Stil bewahren<br />

soll“, so Webers Sprecher.<br />

John Cleese, 74, britischer Komiker,<br />

hat einen Vorschlag, wie die Deutschen<br />

beweisen könnten, dass sie doch<br />

Humor besitzen. Vergangene Woche<br />

gaben Cleese und die vier weiteren<br />

noch lebenden Mitglieder der Komikertruppe<br />

Monty Python bekannt, dass<br />

sie noch einmal gemeinsam auftreten<br />

werden, anschließend stellten sie sich<br />

online Fragen von Fans aus aller Welt.<br />

Einer wollte wissen, wie die Deutschen<br />

ihren Ruf in Sachen Humor verbessern<br />

könnten. Fußball-Fan Cleese: „Besorgt<br />

euch einen richtig schlechten Torhüter.“<br />

Jens Spahn, 33, CDU-Gesundheits -<br />

politiker, musste einen Shitstorm über<br />

sich ergehen lassen. „Mütter? Mir<br />

doch egal!“, hatte eine Hebammen-<br />

Aktivistin über dem Konterfei des<br />

CDU-Politikers getextet, das sie auf<br />

Facebook postete. Schon in den ersten<br />

zwei Stunden wurde das Foto 5000-mal<br />

geteilt. Hintergrund der Initiative: Im<br />

ersten Entwurf des Koalitions vertrags<br />

war keine Rede von den Geburts -<br />

helferinnen, die schon lange um eine<br />

finanzielle Besserstellung kämpfen.<br />

In der Arbeitsgruppe Gesundheit hatten<br />

Spahn und sein SPD-Kollege<br />

Karl Lauterbach die Hebammen-<br />

Honorare zwar kurz debattiert, konkrete<br />

Vorschläge aber nicht in ihr<br />

Papier aufgenommen – aus Platzgründen.<br />

Jede Arbeitsgruppe durfte maximal<br />

zwölf DIN-A4-Seiten abliefern.<br />

Kaum 24 Stunden nach Beginn des Internetprotests<br />

änderten die Gesund -<br />

heits politiker ihren Entwurf. Im Unterkapitel<br />

„Gesundheitsberufe“ heißt es<br />

nun, die Koalition wolle „die Situation<br />

… beobachten und für eine angemessene<br />

Vergütung sorgen“. Auf Facebook<br />

kommentierte Spahn: „Damit sich<br />

hier mal alle wieder beruhigen …“<br />

PENNIE SMITH / WARNER MUSIC<br />

Musik statt Messer<br />

Nach drei Jahren Pause vom Popgeschäft,<br />

zwei Geburten und einem Leben in<br />

Abgeschiedenheit veröffentlichte die<br />

britische Popsängerin Lily Allen, 28, vor<br />

einer Woche ihre Single „Hard Out<br />

There“. Sie wolle das Lied als feministischen<br />

Befreiungsschlag verstanden<br />

wissen, sagte sie dem „Guardian“. Eine<br />

Textzeile in dem Song lautet: „Ich<br />

muss nicht mit dem Hintern wackeln,<br />

ich habe Hirn.“ In dem dazugehörigen<br />

Videoclip inszeniert Allen sich unter<br />

anderem auf einem OP-Tisch beim Fettabsaugen,<br />

eine Situation, die sie beinahe<br />

selbst erlebt hätte: Vor einem<br />

Jahr, einige Monate nach der Geburt ihres<br />

ersten Kindes, wollte sie sich Schenkel<br />

und Hintern straffen lassen. Der<br />

Schönheitschirurg in London riet ihr zu<br />

einem Komplettprogramm mit Bauch,<br />

Hüften, Rücken und Knien. Vier Tage<br />

vor dem Operationstermin erfuhr<br />

Allen, dass sie wieder schwanger war,<br />

und sagte ab. Ihr satirisch gemeintes<br />

Musikvideo wurde binnen zwei Tagen<br />

über eine Million Mal im Internet geklickt<br />

– und provozierte viele kritische<br />

Kommentare: Das Werk sei sexistisch<br />

und rassistisch. Lily Allen tanzt darin<br />

mit dunkelhäutigen Bikinischönheiten.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3 173


Hohlspiegel<br />

Aus den „Kieler Nachrichten“: „In der<br />

Wildnis und in der Arbeit mit den<br />

Hunden, die die Teilnehmer versorgen<br />

und trainieren, sollen die Unterrichts -<br />

inhalte in Theorie und Praxis umgesetzt<br />

werden.“<br />

Anzeige aus der „Mittelbadischen Presse“<br />

Aus dem „Mindener Tageblatt“: „Zu einem<br />

Haufen geschichtet finden Igel und<br />

Kleinstlebewesen ideale Verstecke zum<br />

Überwintern.“<br />

Aus der „Heilbronner Stimme“: „Beifall<br />

für ihren Kampf gegen sexuelle<br />

Minderheiten ist der grün-roten Koali -<br />

tion sicher.“<br />

Aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“:<br />

„Die ökologische Achillessehne<br />

der Plastiktüte ist ihre Langlebigkeit.“<br />

Aus dem „Wermelskirchener General-<br />

Anzei ger“: „Das soll sicherstellen, dass<br />

ein Zug bei seiner Durchfahrt noch einmal<br />

die Stromschiene vom Gerüst reißen<br />

kann – wie am 17. Oktober auf einer<br />

Länge von 260 Metern.“<br />

Aus den „Flensburger Nachrichten“<br />

Aus der „Taunus Zeitung“: „In Oberreifenberg<br />

bringen Wildschweine die Anwohner<br />

auf die Barrikaden und fordern<br />

eine Bejagung.“<br />

Aus dem „Tagesspiegel“: „Tatsächlich vermeiden<br />

viele Sprecher heute den Genitiv,<br />

indem sie ihn als Attribut nutzen: Den<br />

,Besuch vom Onkel‘ gibt es häufiger als<br />

den ,Besuch des Onkels‘.“<br />

Aus der „Frankfurter Rundschau“: Viele<br />

von ihnen mussten Zeltstädte auf der<br />

Insel Bohol verlassen, in denen sie seit<br />

einem Erdbeben im Oktober mit mehr<br />

als 200 Todesopfern lebten.“<br />

174<br />

Rückspiegel<br />

Zitate<br />

Die „Washington Post“ zum <strong>SPIEGEL</strong>-<br />

Titel „Gespräche mit einem Phantom“<br />

über Cornelius Gurlitt und das Geheimnis<br />

seiner Bilder (Nr. 47/2013):<br />

Es war sein erstes ausführliches Interview,<br />

seit der Fall vor zwei Wochen bekanntgeworden<br />

war. Gurlitt sagte dem SPIE-<br />

GEL, dass jeder etwas brauche, was er<br />

liebe: „Mehr als meine Bilder habe ich<br />

nichts geliebt in meinem Leben.“ … Nach<br />

Angaben des <strong>SPIEGEL</strong> verbrachte eine<br />

Reporterin vergangene Woche mehrere<br />

Tage mit dem Kunstsammler und sprach<br />

mit ihm.<br />

Der „Tagesspiegel“ zum selben Thema:<br />

Cornelius Gurlitt. Ein zarter Greis, schütteres<br />

Haar, kindlicher Blick, staunend,<br />

verschreckt. So ist er jetzt im <strong>SPIEGEL</strong><br />

zu sehen. Die Reporterin Özlem Gezer<br />

hat ihn letzte Woche auf einer Dreitagereise<br />

zum Arzt begleitet, erstmals spricht<br />

das Phantom. Und erweist sich als ein<br />

Mann, der die Welt nicht versteht, weil<br />

er in seiner eigenen lebt, einer vergangenen,<br />

verblichenen Zeit. Ohne Rente,<br />

ohne Krankenversicherung, ohne Freunde,<br />

ohne Fernseher, ohne Internet.<br />

Der <strong>SPIEGEL</strong> berichtete …<br />

… in Nr. 46/2013 „Eine Niere fürs Über -<br />

leben“ über syrische Flüchtlinge, die im<br />

Libanon ihre Organe verkaufen.<br />

Der libanesische Justizminister Schakib<br />

Kartbawi hat den Generalstaatsanwalt<br />

jetzt damit beauftragt, den illegalen<br />

Organhandel zu untersuchen. Drei Ermittler<br />

einer eigens gebildeten Sonderkommission<br />

der Geheimpolizei befragten<br />

<strong>SPIEGEL</strong>-Korrespondentin Ulrike Putz<br />

vergangene Woche zu ihren Recherchen.<br />

Auch Sozialminister Waïl Abu Faur bat<br />

Putz zu einem Gespräch. „Wir respektieren,<br />

dass Sie uns Ihre Quellen nicht offen -<br />

legen können“, so der Minister, „Sie<br />

wissen ja selbst am besten, wie gefährlich<br />

die Organ-Mafia ist.“<br />

… in Nr. 47/2013 „Eingefrorene Rotoren“<br />

über eine Windkraftanlage in Italien, die<br />

von der HSH Nordbank finanziert wurde<br />

und der Mafia zur Geldwäsche dienen soll.<br />

Rund 200 Beamte des Bundeskriminalamts<br />

durchsuchten vergangenen Dienstag<br />

20 Wohnungen und Büros in Deutschland<br />

und Österreich, darunter die Räume der<br />

HSH Nordbank in Hamburg und Kiel.<br />

Die Staatsanwaltschaft Osnabrück verdächtigt<br />

drei deutsche Geschäftsleute der<br />

Geldwäsche und der Unterstützung einer<br />

kriminellen Organisation im Ausland.<br />

D E R S P I E G E L 4 8 / 2 0 1 3

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