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GIPSERHANDWERK BLATT 10

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<strong>GIPSERHANDWERK</strong> <strong>BLATT</strong> <strong>10</strong>


Als Cristo Redentor, das<br />

Wahrzeichen von Rio de<br />

Janeiro, letztes Jahr überholt<br />

wurde, hatte Márcia Braga<br />

die Federführung. Die<br />

Brasilianerin kam vor fast<br />

zwanzig Jahren dank der<br />

Freundschaft zu Jörg Kradolfer<br />

in die Schweiz, wo sie erstmals<br />

mit der Restaurierung<br />

in Kontakt kam. Heute ist<br />

sie darin eine Expertin.<br />

Ihre Spezialisierung begann bei<br />

Minustemperaturen und führte<br />

sie bei mörderischer Hitze<br />

in schwindelerregende Höhen<br />

Zwischen Márcia Bragas Arbeit im Schloss<br />

Gündelhart und an der Christus-Statue in Rio<br />

de Janeiro liegen siebzehn Jahre. Zwischen<br />

dem herrschaftlichen Gebäude im Weiler ob<br />

Steckborn und dem Cristo Redentor auf dem<br />

Corcovado liegen über 9000 Kilometer. Ihre<br />

Freundschaft mit den Brüdern Kradolfer und die<br />

Erinnerungen an die Jahre 1991 bis 1993 bilden<br />

die Brücke.<br />

Die 51-jährige Brasilianerin zieht ihren Mantel<br />

eng um sich. Vielleicht friert es sie wegen der<br />

kühlen Temperatur in Weinfelden, vielleicht fröstelt<br />

sie, weil sie in der Nacht zuvor zu lange mit<br />

ihren vielen Bekannten aus dem Thurgau an der<br />

WEGA war. Márcia Braga kommt gern in die Schweiz, in den Thurgau, nach Weinfelden.<br />

Es ist immer eine Rückkehr zu einem Teil ihrer Lebens- und Berufsgeschichte, die<br />

überhaupt nicht geplant, aber dennoch entscheidend war.<br />

Kälte, Nebel, Schnee, die deutsche Sprache … «Ich kam mir wie eine Analphabetin<br />

vor, die man zu allem Elend auch noch am Nordpol abgesetzt hatte.» Solange sie im<br />

Schloss Gündelhart arbeiten konnte, waren die klimatischen Bedingungen zwar nicht<br />

wie in Rio, aber immerhin auch für eine Brasilianerin annehmbar. Nach Abschluss<br />

der Arbeiten im Thurgau nahm sie Frank Bergmann, Leiter Restaurierungen, gleich<br />

zur nächsten Baustelle ins Engadin mit. «In Samedan, wo wir acht Monate arbeiteten<br />

und das Gemeindehaus vollständig renovieren durften, fiel mir die Decke auf den<br />

Kopf: Es schneite im Juni, und im September zog schon der Winter ins Tal. Ich wurde<br />

richtiggehend depressiv. Noch schlimmer als die Kälte war, dass ich um halb sechs<br />

Uhr aufstehen musste.» Sie zieht die Augenbrauen hoch und atmet geräuschvollseufzend<br />

aus.


Márcia Braga gab nicht auf, hielt sich emotional über Wasser, indem sie sich in die<br />

Arbeit stürzte. Das Wuselige und Chaotische der Baustelle gefielen ihr, die handwerkliche<br />

Herausforderung bei der Renovation spornte sie an. Alles war so anders als ihre<br />

Architektinnen-Tätigkeit an einem aufgeräumten Pult in Rio. «Am Beeindruckendsten<br />

jedoch war, dass ich bei den Kradolfers eine ansteckende Arbeitslust spürte. Sie arbeiteten<br />

nicht, weil man schliesslich mit irgendetwas seine Zeit vertreiben und Geld<br />

verdienen muss. Ihre Arbeit war nicht nur Handwerk, sie war eine Haltung Menschen<br />

und Gebäuden gegenüber; eine Haltung, die sich nicht in Regeln zeigte, sondern in<br />

Respekt.»<br />

Im Engadin lernte Márcia Braga, wie Stuck aus Gips- und Kalkmörtel gemacht beziehungsweise<br />

wie damit restauriert wird. Absolutes Neuland für sie; in Brasilien nämlich<br />

sind Barockarbeiten aus Stein. Gips wurde erst im 20. Jahrhundert für Stuckaturen<br />

eingesetzt; vorher galt das Material als minderwertig. «Ich war ausgebildete Architektin,<br />

hatte jedoch für Restaurierungen weder Ausbildung noch Erfahrung. Ich merkte in<br />

Samedan, dass ich eine Passion und ein Gespür habe für alte Bausubstanz und wie man<br />

mit ihr umgehen muss.» Stolz sagt sie: «Ich war für die Freilegungen verantwortlich<br />

und kam mir dabei manchmal wie eine Archäologin vor.» In jedem Raum, bei jeder<br />

Tür stellten sich dieselben Fragen: Wie stark darf eine Restaurierung eingreifen, ohne<br />

Schaden anzurichten? Wie muss sie sein, wenn sie vielleicht eines Tages wieder rückgebaut<br />

werden muss, weil sich eine noch bessere Methode, ein noch besseres Material<br />

findet? Sie schlüpft noch etwas tiefer in ihren Mantel und sagt: «Eine Restaurierung<br />

muss so sein, dass man sie nicht merkt. Sie ist kein Handwerk, das sich zeigen darf und<br />

will.»<br />

Was die Brasilianerin anfangs der Neunzigerjahre im Gispergeschäft Kradolfer gelernt<br />

hatte, konnte sie bei der Restaurierung des brasilianischen Wahrzeichens Cristo<br />

Redentor 2009 nicht 1 :1 umsetzen. Aber ohne jene Jahre in der kalten Schweiz wäre<br />

sie nie zu diesem Auftrag gekommen. Seit damals sass ein Stachel in ihrem Fleisch,<br />

so dass sie sich in Rom zur Restauratorin ausbilden liess. Sie spezialisierte sich weiter<br />

für Restaurierungen von Stuckmarmor, von Wandmalereien und Steinarbeiten.<br />

1998 schrieb sie eine Masterarbeit zu «Rockart-restauration»,<br />

die sie im Jahr darauf dank der<br />

finanziellen Hilfe des brasilianischen Erfolgsautors<br />

Paulo Coelho veröffentlichen konnte.<br />

Heute bezeichnet sie sich als Conservation Architect<br />

(etwa: Architektin mit Spezialgebiet Konservierung).<br />

Die Denkmalpflege von Rio kam<br />

daher, als es darum ging, die von Wetter und<br />

Umwelteinflüssen beschädigte Christusstatue auf<br />

dem Corcovado zu restaurieren, gar nicht an ihr<br />

vorbei. Der Erfolgsdruck auf Márcia Braga war<br />

jedoch gross; denn das Wahrzeichen Rios gehört<br />

emotional allen Brasilianern, auch wenn die<br />

Statue rechtlich im Besitz der Kirche ist. Vier<br />

Monate lang organisierte, koordinierte und<br />

kontrollierte sie als Fachfrau die Baufortschritte.<br />

«Hoffentlich darf ich in zehn Jahren bei der<br />

nächsten Sanierung von Cristo Redentor wieder<br />

als oberste Aufsichtsperson dabei sein.»<br />

Bis dann legt sie sich nicht einfach an den Strand<br />

von Copacabana. Nächstes Jahr will sie sich in<br />

Rom zur «Restauration Architect» ausbilden<br />

lassen, «womit sich der Kreis zur Arbeit in der<br />

Schweiz vor fast zwanzig Jahren schliesst». Sie<br />

lacht. «Wenn ich eine Möglichkeit sähe, bei Kradolfers<br />

nochmals etwas Neues zu lernen, ich<br />

wäre sofort dabei.» Nun denn, sie kommt auch<br />

so in den Thurgau – aus Anhänglichkeit an die<br />

Familie Kradolfer.

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