Kai Wolfinger - Robert Walser-Zentrum
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Kay <strong>Wolfinger</strong> (München):<br />
<strong>Walser</strong> gecovert. Zu <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>s Buchtitelseiten und Illustrierungen 1<br />
Vortrag an der Jahrestagung der <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>-Gesellschaft, Winterthur, 13.10.2012<br />
Bild und Text und Text und Bild<br />
Es ist keine neue Erkenntnis zu postulieren, dass das Verhältnis von Text und Bild<br />
bei <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> eine besondere Rolle spielt. Zu offensichtlich sind die Querverbindungen<br />
zwischen Malerei und Literatur, zwischen der Kunst und der Welt des<br />
Schriftstellers. In vielen Texten <strong>Walser</strong>s spielen Bildbeschreibungen eine Rolle oder<br />
das Verhältnis eines Schreibenden zu einem Maler. 2 Auf der positivistischen Ebene<br />
von <strong>Walser</strong>s Erstveröffentlichungen spielt das Verhältnis der Bilder zum Text für den<br />
Rezipienten insofern eine besondere Rolle, da <strong>Walser</strong>s Bücher sowohl durch die Gestaltung<br />
der Titelbilder als auch mit Binnenillustrierungen den Lese- und Verständnisakt<br />
beeinflussen und da in den meisten Fällen mit einer vom Autor (und vom jeweiligen<br />
Illustrator) intendierten Wirkung zu rechnen ist. 3 Einige Beispiele möchte<br />
dieser Aufsatz pointieren und Hinweise zur Funktion und zur Verschränkung von<br />
Text und Bild bei <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> geben.<br />
Dies alles soll unter dem Stichwort «<strong>Walser</strong> gecovert» geschehen. Im Bereich der<br />
Popmusik ist der Begriff des Covers ein durchaus gebräuchlicher. Er bezeichnet zum<br />
einen die Hülle einer Platte, aber auch das Bild und den Schriftzug auf der Vorderseite<br />
der Plattenverpackung, und in diesem Sinne wird er mittlerweile auch für einen<br />
Bucheinband und die Titelgestaltung verwendet. Zum anderen meint der Begriff<br />
Cover eine Neuinterpretation eines bereits bestehenden Musikstückes. Beide Begriffsdimensionen<br />
sollen bei <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> zur Anwendung kommen, weshalb eine<br />
schlaglichthafte Einführung in die Buchdeckel <strong>Walser</strong>s gegeben und gezeigt werden<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Diese Ausführungen wurden zuerst als Vortrag gehalten im Oktober 2012 anlässlich der Jahrestagung<br />
der <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>-Gesellschaft im Fotomuseum Winterthur unter der Überschrift «Bild,<br />
Schrift, Text». Eine Anlehnung an die mündliche Vortragssituation wurde beibehalten. Einige Stellen<br />
wurden erweitert. – Im November 2012 habe ich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am<br />
Neckar ebenfalls einen Vortrag gehalten, der sich unter dem Titel «Buchdeckelinterpretationen»<br />
der Frage widmete, inwiefern man durch Buchdeckel zu produktiven Deutungen des Buchinhalts<br />
gelangen kann. Den Terminus Buchdeckel verwende ich in einem erweiterten Sinn, um den Ort<br />
des Bildes auf der Vorderseite eines Buches zu bezeichnen. In einem engeren Sinn ist der Buchdeckel<br />
bei einem Hardcover ein «Teil der Buchdecke bzw. des äußeren Bucheinbandes. Jeder Einband<br />
hat einen Vorder- und einen Rückdeckel.» Siehe: Ursula Rautenberg (Hg.): «Reclams Sachlexikon<br />
des Buches», Stuttgart 2003, S. 88.<br />
Vgl. Bernhard Echte u. Andreas Meier (Hg.): «Die Brüder Karl und <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>», Stäfa 1990.<br />
Hierbei ist natürlich der biografische Positivismus (Was wollte <strong>Walser</strong> selbst?) von einem interpretativen<br />
Verständnisakt zu unterscheiden, der gar nicht den Anspruch erhebt, die Absicht des Autors<br />
zu treffen.
soll, inwieweit verschiedene Bebilderungen zu den Covern der <strong>Walser</strong>texte beitragen,<br />
also zur Reinterpretation eines zugrundeliegenden Textes. Derselbe Inhalt wird<br />
durch ein anderes Gewand gecovert. 4<br />
Wenn man in den Bereich von <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>s Texten und Textchen blickt, in seine<br />
Romane, seine Prosastückliwerkstatt und sein Bleistiftgebiet, dann sind die Verknüpfungen<br />
und Querverstrebungen zwischen seinen Arbeiten und den Bildern seines<br />
Bruders, dann ist das Verhältnis von Schriftstellerleben und Malerschaffen so vielfältig,<br />
dass man es nicht ohne weiteres aufzuzählen vermag: Prosastücke, die <strong>Robert</strong><br />
unter Inspiration der Bilder seines Bruders geschrieben hat 5 , sprachliche Anreize von<br />
<strong>Robert</strong>, die Karl mit dem Pinsel visualisiert hat 6 . Bildbände und Überblicksdarstellungen<br />
stellen sich diesem uferlosen Meer aus Fakten und Zusammenhängen, zählen<br />
auf, stellen dar und führen vor Augen. 7 Eine Übersicht über die Bücher <strong>Walser</strong>s, deren<br />
Erscheinungsbild in Zusammenarbeit mit seinem Bruder Karl entstand, sähe folgendermaßen<br />
aus:<br />
Von Karl <strong>Walser</strong> gestaltete Titelbilder und illustrierte Bücher <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>s:<br />
• «Fritz Kochers Aufsätze» (1904)<br />
• «Gedichte» (1908)<br />
• «Aufsätze» (1913)<br />
• «Geschichten» (1914)<br />
• «Seeland» (1919)<br />
Von Karl <strong>Walser</strong> gestaltete Titelbilder <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>s:<br />
• «Geschwister Tanner» (1907)<br />
• «Der Gehülfe» (1908)<br />
• «Jakob von Gunten» (1909)<br />
• «Kleine Dichtungen» (1914)<br />
• «Prosastücke» (1916)<br />
• «Die Rose» (1925)<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Gewiss bildet gerade seit dem 20. Jahrhundert die Tradition der Buchcover ein eigenes weites Forschungsthema.<br />
Man denke nur an Gestalter und Typographen wie Kurt Weidermann oder die Cover<br />
eines Peter-Andreas Hassiepen. Dem markanten dtv-Designer Celestino Piatti wurde beispielsweise<br />
ein eigener Festband gewidmet: Bruno Weber (Hg.): «Celestino Piatti: Meister des graphischen<br />
Sinnbilds», München 1987.<br />
Vgl. z. B. «Leben eines Malers» (SW 7, S. 7) oder «Damenbildnis» (SW 16, S. 339). <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>:<br />
«Sämtliche Werke in Einzelausgaben», hg. von Jochen Greven, Frankfurt am Main 1985f. (Zitate<br />
aus dieser Ausgabe werden im Folgenden unter der Sigle SW mit Angabe der Band- und Seitennummer<br />
nachgewiesen.<br />
Siehe z. B. die textnahen Illustrationen zum Band «Gedichte» (1908).<br />
Vgl. die <strong>Walser</strong>-Bildbände von Jürg Amann u. Bernhard Echte. In den Geisteswissenschaften hat<br />
sich unter Betonung einer Dominanz der Bilder in den letzten Jahren die theoretische Richtung des<br />
Iconic Turn etabliert.<br />
2
Dass nicht zuletzt für <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> als Autor die Gestaltung seiner Bücher höchste<br />
Priorität hatte, ist durch biographische Zeugnisse belegt. Beispielsweise schreibt<br />
<strong>Walser</strong> über die Gestaltung seines Buches «Geschichten» in einem Brief an den Kurt<br />
Wolff Verlag:<br />
Was den übrigen Inhalt Ihres Schreibens anbelangt, so teile ich Ihnen mit, daß Karl <strong>Walser</strong> für<br />
das Geschichtenbuch Federzeichnungen machen wird. Die Geschichten (alles gedruckte) sind<br />
vom Künstler sorgfältig, als für die Illustration am besten geeignet, ausgewählt worden. 8<br />
So unterstreicht ein Hinweis von <strong>Walser</strong> selbst, welche Bedeutung er der Bebilderung<br />
und Gestaltung seiner Bücher gegeben hat. Die Gestaltung von Büchern hat<br />
auch Eingang in <strong>Walser</strong>s Erzählungen genommen; sein Prosastück «Der Buchdeckel»<br />
formuliert beiläufig humoristisch eine (mutmaßlich auf einer wahren Begebenheit<br />
beruhenden) Anekdote, in der ein Bekannter des Dichters nur den Buchdeckel lobte:<br />
Jeder Autor hat seinen Bekanntenkreis, und so sandte ich das Buch an eine Persönlichkeit, die<br />
mir schrieb, sie danke mir, könne aber zunächst nur dem Buchdeckel ein Lob spenden. Das<br />
andere wolle sie sich gelegentlich zu Gemüte führen. / Fühle mir nach, was ich empfand; ich<br />
war paff und blieb ein Weilchen völlig konfus. Die eigentümliche Art, Werke der Feder zu<br />
würdigen, machte auf mich den Eindruck eines Erlebnisses, das sich mir einprägte und ich dir<br />
deshalb hier auftische. (SW 16, S. 271) 9<br />
Ausgangspunkt: Der Räuber<br />
Der unvergessliche <strong>Walser</strong>-Herausgeber Jochen Greven gibt in seiner von <strong>Walser</strong><br />
inspirierten Forschungsautobiographie einen Hinweis zur Buchgestaltung, bei der er<br />
– ganz im Gegensatz zum Buchdeckel-Prosastück – sehr genau auf die passenden<br />
Bilder zu einem vorliegenden <strong>Walser</strong>-Text achtete:<br />
1998 begann der Suhrkamp Verlag, die zwanzig Taschenbuchbände der «Sämtlichen Werke in<br />
Einzelausgaben» <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>s bei Gelegenheit von Nachdrucken mit neuen farbigen Umschlägen<br />
auszustatten. Dazu verwendete man Motive aus Bildern des Schweizer Malers Félix<br />
Valloton [sic!], eines ungefähren Zeitgenossen <strong>Walser</strong>s, eine originelle, attraktive und nicht<br />
unpassende Wahl, auch wenn sich aus ihr im Einzelnen einige etwas kuriose Assoziationen<br />
ergaben, etwa wenn sich <strong>Walser</strong>s «Räuber», der doch zweifelsfrei in Bern daheim ist, nun mit<br />
8<br />
9<br />
<strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>: «Briefe», hg. von Jörg Schäfer unter Mitarbeit von <strong>Robert</strong> Mächler, Frankfurt am<br />
Main 1979, S. 59.<br />
Vgl. auch die Betonung der Buchdeckel in diesem Prosastück u. in «Abhandlung» (SW 17, S. 144).<br />
3
einem St. Petersburger Newa-Panorama illustriert sieht, oder der natürlich in oder bei Biel<br />
stattfindende «Spaziergang» mit fremdartigen Bretagne-Anmutungen daherkommt. 10<br />
Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags<br />
In seiner humorvollen, kenntnisreichen und historiografischen Nacherzählung der<br />
posthumen Werkgenese <strong>Walser</strong>s und der Wiederentdeckung des einst vergessenen<br />
Autors schildert Greven dieses Kuriosum und weist am Beispiel des «Räuber»-<br />
Romans, den <strong>Walser</strong> nie veröffentlicht hat und nicht mit einer von ihm geplanten<br />
Gestaltung versehen konnte, darauf hin, dass er mit einem Coverbild ausgestattet<br />
wird, das nicht recht zum Inhalt des Buches passt. Mittlerweile viel zitiert und reproduziert<br />
ist hingegen jenes berühmte Aquarell, das Karl <strong>Walser</strong> von seinem jugendlichen<br />
Bruder <strong>Robert</strong> im Räuberkostüm anfertigte und das <strong>Walser</strong> im «Räuber»-<br />
Roman beschreibt; seither ziert es viele Buchausgaben und auch Übersetzungen des<br />
«Räuber»-Romans.<br />
10<br />
Jochen Greven: «<strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> – ein Außenseiter wird zum Klassiker. Abenteuer einer Wiederentdeckung»,<br />
Konstanz 2003, S. 245f.<br />
4
Da das biografisch fundierte Räuberaquarell einem fiktionalen Text beigeordnet<br />
wird, konkretisiert sich seine Funktion: Gewissermaßen schließt das Räuber-Aquarell<br />
den biografischen Kreis und scheint aufzuzeigen, dass <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> selbst sich in<br />
der Verkleidung seines Berner Räubers befindet, während das Vallotton-Motiv von<br />
diesem Akzent Abstand nimmt und als Umschlagsbild die Handlung des Romans<br />
örtlich verfremdet, wobei Greven die eine zu große Nähe zum russischen Erscheinungsbild<br />
unterstreicht. Man kann also feststellen, dass die Interpretation eines Dichterwerkes<br />
durch ein Buchcover durch strukturelle Äquivalenzen, Strukturähnlichkeiten<br />
und Parallelismen geschieht, welche wir deuten und einordnen. Das Bild des<br />
Buchdeckels gibt uns bereits durch seine Stimmung eine Lesart vor oder modelliert<br />
die Hauptfigur oder ein wichtiges Handlungselement heraus. Wir können gar nicht<br />
anders, als im Titelbild die Gemeinsamkeit mit dem Schrifttext selbst zu suchen.<br />
Die Illustration und das Thema Schule<br />
Ich habe bereits kurz angedeutet, dass die für <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> so typische Räuberfigur,<br />
die er in seinem großen Roman geradezu magisch auflädt, unter Hinzudenken von<br />
<strong>Walser</strong>s jugendlicher Räuberbegeisterung auch mit der Figur des Schülers und dem<br />
jugendlichen Schreiber zusammenhängt. Bereits <strong>Walser</strong>s erste Buchveröffentlichung,<br />
die Geschichtensammlung «Fritz Kochers Aufsätze» (1904) gliedert sich lückenlos ein<br />
in einen zeithistorischen Diskurs von Schulstoffen, Schülergeschichten und Schülerromanen.<br />
Eine Illustration Karl <strong>Walser</strong>s für <strong>Robert</strong>s Text «Die Schulstunde» zeigt<br />
eine zeittypische Schulklasse, die allerdings im Schrifttext existentiell überhöht und<br />
zu einem Konstrukt für die Befindlichkeit der Gesellschaft wird, deren Keimzelle<br />
bereits im Mikrokosmos der Schule angelegt scheint.<br />
5
<strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> schreibt:<br />
Unsere Schulstube ist die verkleinerte, verengte Welt. Unter dreißig Menschen können doch<br />
gewiß ebensogut alle Empfindungen und Leidenschaften vorkommen, wie unter dreißigtausend.<br />
Unter uns spielen Liebe und Haß, Ehr- und Rachsucht, edle und niedere Gesinnung eine<br />
bedeutende Rolle. (SW 1, S. 47)<br />
Dieser Topos der Schulklasse in Form eines negativen Bildungsromans, oft verbunden<br />
mit problematischer Sozialisation, Kritik an Autoritätshörigkeit und Unterdrückungsmentalität<br />
befindet sich fest im kollektiven Empfinden der Autoren zu Beginn<br />
des 20. Jahrhunderts nach der Décadence-Epoche am Fin de siècle im Militär- und<br />
Dienerstaat. Rainer Maria Rilke schreibt seine Geschichte «Die Turnstunde» (1902),<br />
eine Adoleszenzerzählung, die für die Hauptfigur in den Tod führt; Franz Werfel<br />
konstruiert in seinem Roman «Der Abiturientag» (1928) die Schule als Ausgangspunkt<br />
für ein scheiterndes Leben, und Emil Strauß verfasst seinen Roman «Freund<br />
Hein» (1902). Bei Betrachtung von Jakob von Guntens Kleidern, den Covern, werden<br />
wir noch näher mit diesem Schülerroman-Diskurs um 1900 konfrontiert werden. 11<br />
11<br />
Zur weiteren Vertiefung des Genres der Schüler- bzw. gleichsam Adoleszenzromane verweise ich<br />
auf: Günter Lange: «Adoleszenzroman», in: «Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen»<br />
33 (2001), S. 6–20 u. Carsten Gansel: «Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher<br />
Forschung», in: «Zeitschrift für Germanistik» XIV (1/2004), S. 130–149.<br />
6
<strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>s (Bilder-) Geschichten (1914)<br />
Da das Beispiel der «Räuber»-Roman-Gestaltung ganz der späten Veröffentlichungsgeschichte<br />
von <strong>Walser</strong>s Werk entstammt und der Schuldiskurs im nächsten Abschnitt<br />
anhand «Jakob von Gunten» verdeutlicht werden soll, sei nun zunächst noch<br />
ein Blick in das Zusammenspiel von Bild und Text gewagt, wie <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> mit<br />
ihm zu Lebzeiten konfrontiert war. Besonders auffällig ist hier ein von Karl <strong>Walser</strong><br />
etablierter Bildtypus, der sich durch Interpretation der Bildmotive auf den Gestus<br />
von <strong>Walser</strong>s Texten überträgt: der des melancholischen, nachsinnenden Dichters.<br />
Besonders deutlich wird dies angesichts von <strong>Walser</strong>s Textsammlung «Geschichten»<br />
aus dem Jahr 1914. Bereits das Titelcover zeigt uns die Urszene, die zur Entstehung<br />
der Textsammlung nötig zu sein scheint: den an seinem Schreibtisch vor sich hin brütenden,<br />
in den Texten des Buches selbst immer auch als melancholisch charakterisierten<br />
Dichter.<br />
Abbildung: Museum Neuhaus Biel<br />
So schreibt <strong>Walser</strong> in der Zusammenstellung seiner Texte unter dem Titel «Sechs<br />
kleine Geschichten«» neben diesem Band «Von einem Dichter»: «Ein Dichter beugt<br />
sich über seine Gedichte» (SW 2, S. 7). Und: «Eins aber ist sicher, der Dichter, der sie<br />
gemacht hat, weint noch immer, über das Buch gebeugt» (SW 2, S. 8). Die kon-<br />
7
zentrierte Textproduktion und das Weinen sind miteinander verbunden, wie uns<br />
auch die Illustrierung Karl <strong>Walser</strong>s verdeutlicht.<br />
Abbildung: Museum Neuhaus Biel<br />
In einem anderen Text aus dieser Sammlung heißt es, gleichsam als würde diese Illustrierung<br />
versprachlicht (bzw. als würde der ursprüngliche Schrifttext bebildert):<br />
«Es war einmal ein Dichter, der so verliebt in den Raum seines Zimmers war, daß er<br />
den ganzen Tag über in seinem Lehnstuhl saß und die Wände anbrütete, die vor seinen<br />
Augen lagen.» (SW 2, S. 11) Den Melancholiegestus des Dichters, der in seinen<br />
düsteren Gedanken versunken, den Kopf aufgestützt, wie auf dem Buchcover am<br />
Schreibtisch sitzt, verdeutlicht die expressive Bleistiftskizze Karl <strong>Walser</strong>s, der den<br />
Kopf des Dichters im Schatten versinken lässt. Eine ähnliche Szenarie visualisiert uns<br />
Karl <strong>Walser</strong> anlässlich <strong>Robert</strong>s bekanntem Prosastück «Kleist in Thun», das mit dem<br />
häufig zitierten Satz beginnt: «Kleist hat Kost und Logis in einem Landhaus auf einer<br />
Aareinsel in der Umgebung von Thun gefunden.» (SW 2, S. 70)<br />
Abbildung: Museum Neuhaus Biel<br />
Und wir sehen Kleist in seinem Zimmer im Landhaus, den Dichterblick abgewandt<br />
und ziellos in die Welt gerichtet. So verdeutlicht uns Karl <strong>Walser</strong>s Malerstift nicht<br />
8
nur durch seine Binnenillustrationen im Geschichtenband die Ikonographie des melancholischen<br />
Schreibers, sondern schafft ein Exempel, das schon auf dem Cover die<br />
thematische Klammer des ganzen Bandes formuliert. 12<br />
Zur Genese des Deckels des Schülertagebuchs<br />
Ein anderes Beispiel für eine interessante Buchdeckelgestaltung bei <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong><br />
möchte ich an meinen Beobachtungen entlang mäandernd nun etwas eingehender<br />
vorstellen. Hierzu habe ich <strong>Walser</strong>s bekanntestes Buch gewählt, das nun auch bald<br />
als Band in der Kritischen <strong>Walser</strong> Ausgabe vorliegen wird: den Schülerroman «Jakob<br />
von Gunten». Der oft gedeutete und nacherzählte Inhalt des Buches, des Schülertagebuchs<br />
der Titelfigur Jakob von Gunten, ist der Alltag der Eleven in und verschiedene<br />
Themen aus der Dienerschule Benjamenta. Der Text schildert eine eigentümliche<br />
Dichtung aus Freiheitsdrang, Unterwerfung und Versklavung, Großstadtthematik,<br />
Erziehungsdiskurs und Sexualsymbolik. 13 Wenn wir uns das Cover anschauen,<br />
so fällt sofort auf, dass kein Motiv im klassischen Sinne als Buchdeckelgestaltung<br />
gewählt wurde. Karl <strong>Walser</strong> wählt ein anderes Verfahren, als er es bei «Geschwister<br />
Tanner» oder «Der Gehülfe» erprobt hatte, wo er Figuren oder Schlüsselszenen der<br />
Romanhandlung als Sujet wählte.<br />
12<br />
13<br />
Dies impliziert auch, dass das Cover dazu genützt werden kann, wie eine Klammer um den Inhalt<br />
des Buches betrachtet zu werden, die bereits eine Interpretationsrichtung vorgibt.<br />
Wenigstens erwähnt sei an dieser Stelle die Nähe zu Frank Wedekinds Novelle «Mine-Haha oder<br />
Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen», worauf schon Jochen Greven unter Aufnahme<br />
eines Hinweises von Otto F. Best hingewiesen hat. Siehe: SW 11, S. 176, in: Frank Wedekind:<br />
«Mine-Haha und andere Erzählungen», Hamburg 1955, S. 5–52.<br />
9
In der Schrift «<strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>s Bücher zu Lebzeiten» des <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>-<strong>Zentrum</strong>s<br />
steht in Anbetracht dieses Covers: «Klar gegliedert und ornamental verziert, erfasst<br />
er [der Buchdeckel] auf seine Art die im Roman angelegte Mischung aus Zwangsvorstellungen<br />
und dem Wunsch nach Entgrenzung.» 14 Diese Charakterisierung des<br />
Buchdeckels von «Jakob von Gunten» geht zuerst von einer objektiven Beschreibung<br />
der Verzierung aus und anschließend dazu über, dieses Ornat zu funktionalisieren,<br />
also danach zu fragen, inwieweit eine solche schmuckvolle Erscheinung in Zusammenhang<br />
mit den im Roman geschilderten Elementen stehen könnte. Dabei interpretiert<br />
die Beschreibung des Buchdeckels in diesem Zitat das, was sich uns – ohne Vorkenntnisse<br />
des Romans – nur als Ornament und Verzierung präsentieren würde. Ob<br />
sich die Zwangsvorstellungen und Entgrenzungen, von denen in dem Zitat berichtet<br />
wird, finden lassen in der zwanghaften, präzisen und exakten Kombination von zwei<br />
liegenden Rechtecken, vier angeordneten Dreiecken und dem zentralen Achteck mit<br />
der Schrift, den Schnörkeln, den Zierpartikeln als Inhalt, davon berichtet uns das Zitat<br />
nichts. Es ist jedoch eine literaturtheoretisch interessante Feststellung dass der<br />
Kontext, der Buchumschlag, der den Text umgibt als Paratext, 15 in diesem strukturell-funktionalen<br />
Sinne am Verstehen des Textes mitarbeiten kann. Dabei erinnert die<br />
Covergestaltung von «Jakob von Gunten» natürlich auch an ältere Zier- und<br />
Schmuckcover, gewissermaßen auch an Buchdeckel von Tagebüchern und zeitgenössische<br />
Notizkladden, was dem Tagebuchgenre des Romans nur angemessen wäre,<br />
oder an Deckel von alten Fotoalben mit auf dem Deckel befindlicher Fläche zur Beschriftung.<br />
Man kann guten Gewissens behaupten, dass man sich allein durch die<br />
Gestaltung des Covers von «Jakob von Gunten» bereits im ästhetischen Diskurs der<br />
Zeit befindet. Karl <strong>Walser</strong> bedient sich arabeskenhafter Ornamente, jugendstilartiger<br />
Schmuck- und Zierelementen. Wenn man von dort aus einen Blick wagt auf den um<br />
1900 begründeten Topos der Schülerromane, gelangt man zu erstaunlichen Querverbindungen:<br />
Die konstruierte Bauweise des Covers bei «Jakob von Gunten» ähnelt<br />
etwa der Buchdeckelgestaltung der Erstausgabe von Musils Schülerroman «Die<br />
Verwirrungen des Zöglings Törleß» (1906).<br />
14<br />
15<br />
Reto Sorg u. Lucas Marco Gisi: «‹Jedes Buch, das gedruckt wurde, ist doch für den Dichter ein<br />
Grab oder etwa nicht?› <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>s Bücher zu Lebzeiten», Bern 2009, S. 21.<br />
«Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die<br />
Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.» Siehe: Gérard Genette: «Paratexte. Das Buch<br />
vom Beiwerk des Buches», Frankfurt am Main 2001, S. 10.<br />
10
Gewiss kann man zum einen konstatieren, dass wir es mit dem zeitgenössischen Geschmack<br />
und den verlagstechnischen Gestaltungskonventionen um 1900 zu tun haben.<br />
Dennoch müssen wir die Verschlungenheit der zentralen Törleß’schen Ranken<br />
und Winden, die sich verkleinert viermal wiederholen, auch zum Text selbst in Verbindung<br />
bringen. 16 Bei Musil tritt ein Ornament vor den Rezipienten, in dem sich ein<br />
die Majuskel M von Musils Namen erkennen lässt und die Aufschwünge eines V,<br />
das dem Wort «Verwirrungen» entlehnt zu sein scheint. Sogar die Balken des Törleß-<br />
T kann man erkennen, die in den verwirrenden Ineinanderrankungen bereits den<br />
Inhalt antizipieren. Dass eine regelmäßige und ästhetische Struktur zum <strong>Zentrum</strong><br />
des Buchdeckels gemacht wird, mag uns zuerst harmonisch erscheinen. Sie lässt sich<br />
jedoch auch als abstrakter Nukleus lesen für die Romane «Jakob von Gunten» und<br />
den «Törleß», in dem Unterdrückung und Schmerz schon angelegt ist. Auch der für<br />
dieses Genre hochbedeutsame Schüllerroman Hermann Hesses mit dem Titel «Unterm<br />
Rad» (1906) zeigt auf dem Buchdeckel deutlich eine zelluläre, wabenhafte<br />
Struktur, die uns regelmäßig gebaut erscheint.<br />
16<br />
Dies als Maxime des Kulturtheoretikers, der nach Rekurrenz und Signifikanz sucht. Alles andere<br />
ist Kunstgeschichte.<br />
11
Nimmt man Hesses Titel «Unterm Rad» und die im Roman leitmotivisch wiederkehrende<br />
Radmetapher zur Hilfe, so deutet sich bereits in der Umkleidung dieses Schülerromans<br />
das tragische Unter-die-Räder-Kommen der Hauptfigur Joseph Giebenrath<br />
an, eine Entwicklung, eine pervertierte Sozialisation, die bekanntlich im Selbstmord<br />
endet. Hesse schreibt wie unter Berücksichtigung der Formen seines Covers:<br />
Für den Leiter oder Lehrer einer solchen Anstalt müßte es lehrreich und köstlich sein, zu beobachten,<br />
wie nach den ersten Wochen des Zusammenlebens die Knabenschar einer sich setzenden<br />
chemischen Mischung gleicht, worin schwankende Wolken und Flocken sich ballen,<br />
wieder lösen und anders formen, bis eine Zahl von festen Gebilden da ist. 17<br />
Nachdem, ausgehend von «Jakob von Gunten», die Tradition der Schul- und Entwicklungsromane<br />
im Diskursnetz um 1900 angerissen und an einigen Beispielen fokussiert<br />
wurde, möchte ich Ihnen hier noch einen Verweis ins Jahr 1971 geben, als<br />
der Roman mit dem merkwürdigen Titel «Detlevs Imitationen ‹Grünspan›» erschien.<br />
Geschrieben hat ihn der frühe Popliterat Hubert Fichte. Wenn wir uns das von Fichte<br />
selbst entworfene Cover anschauen und uns die bisher gezeigten Kleider der Schülerromane<br />
und insbesondere «Jakob von Gunten» in Erinnerung rufen, verblüffen die<br />
Ähnlichkeit und zumindest die ornamentalen Anklänge.<br />
17<br />
Hermann Hesse: «Unterm Rad», Berlin 2012, S. 100.<br />
12
Man kann diesen Zusammenhang zwischen «Jakob von Gunten» und Fichtes Buch<br />
geradezu als medientheoretische, ‹bildliche Intertextualität› 18 beschreiben, als würden<br />
die Cover sich gegenseitig zitieren. Folgerichtig erzählt Fichte «eine Art Entwicklungsroman»,<br />
die komplizierte Entwicklungsgeschichte eines Jungen nach einem<br />
Waisenhausaufenthalt (nicht in einer Dienerschule) in den Nachkriegsjahren.<br />
Das Kleid Jakob von Guntens<br />
Nun habe ich bereits versucht zu betonen, welche große Rolle die Zusammenarbeit<br />
von <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong> mit seinem Bruder Karl gespielt hat und konnte zumindest andeuten,<br />
dass die Buchdeckelgestaltungen und Coverbilder mit in die Deutung des<br />
Textes genommen werden könnten. Nun ist aber die Publikationsgeschichte <strong>Robert</strong><br />
<strong>Walser</strong>s, welche vor allem nach dem Tod des Autors geschrieben wurde, noch lange<br />
nicht beendet und an einem die Unüberblickbarkeit berührenden Punkt angelangt:<br />
Wenn man nur die Gesamtausgaben und Sämtlichen Werke <strong>Walser</strong>s, alle Anthologien<br />
und Übersetzungen in fremde Sprache bedenkt, so begegnet uns ein ganzes Arsenal<br />
von Coverbilder. 19 Weil sie zu unserem Grundbeispiel «Jakob von Gunten»<br />
18<br />
19<br />
Legt man der theoretischen Figur der Intertextualität einen erweiterten Textbegriff zugrunde, so<br />
kann auch der Text eines Bildes auf ein anderes Bildes verweisen.<br />
Es sei nicht der interessante Zusammenhang verschwiegen, dass z. B. die englische Übersetzung<br />
des «Jakob von Gunten» von Christopher Middleton die Illustration von Karl <strong>Walser</strong>s «Die<br />
Schulstube» auf dem Cover trägt, was unter unserem Fokus «Fritz Kochers Aufsätze» in die Nähe<br />
des «Jakob von Gunten» rückt. Die italienische Übersetzung hingegen hat zum Cover die Karl<br />
<strong>Walser</strong>-Illustration der Commis-Geschichte (aus «Fritz Kochers Aufsätze»), was wiederum eine<br />
andere, weitreichende Querverbindung ergibt.<br />
13
passen und weit verbreitet sind, möchte ich auf die Coverillustrierungen des «Jakob<br />
von Gunten» im Suhrkamp Verlag verweisen: Der grüne Suhrkampband aus den<br />
1980er Jahren trägt – wie die anderen Bände – als Bild des Buchumschlags ein Porträtfoto<br />
von <strong>Robert</strong> <strong>Walser</strong>. 20<br />
In der Neuauflage bei Suhrkamp weicht diese Gestaltung den berühmten Bildern des<br />
französisch-schweizerischen Künstlers Félix Vallotton, welche hochinteressante<br />
Querverbindungen zu den <strong>Walser</strong>texten bilden.<br />
Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags<br />
Da der Titel von <strong>Walser</strong>s Roman «Jakob von Gunten» bereits die Hauptfigur des Buches<br />
benennt bzw. diejenige Person, durch deren Perspektive die Diegese des Werkes<br />
20<br />
So schlug Reto Sorg in der Diskussion im Anschluss an den Vortrag in Winterthur vor, man könne<br />
dieses Bild (auf dem <strong>Walser</strong> sogar zu seiner Dienerzeit abgebildet ist) als die Fotografie lesen, von<br />
der Jakob von Gunten im Tagebuch bemerkt, dass er sie von sich anfertigen lassen müsse. Vgl. SW<br />
11, S. 23.<br />
14
vermittelt wird, ja eigentlich den Schreiber selbst bezeichnet, denn innerhalb der Fiktion<br />
ist «Jakob von Gunten» ein geschriebenes Tagebuch; so ist auch evident, wie der<br />
Titel des Romans in Kombination mit einem zugrunde liegenden Vallotton-<br />
Gemäldes für den Leser funktioniert: Die abgebildete Person ist Jakob von Gunten,<br />
und vielleicht meinen wir in der Kleidung des jungen Herren – ein akkurat gestärktes<br />
weißes Hemd und eine schwarze Jacke – die Uniform Jakob von Guntens zu erblicken:<br />
21<br />
Wir tragen Uniformen. Nun, dieses Uniformtragen erniedrigt und erhebt uns gleichzeitig. Wir<br />
sehen wie unfreie Leute aus, und das ist möglicherweise eine Schmach, aber wir sehen auch<br />
hübsch darin aus, und das entfernt uns von der tiefen Schande derjenigen Menschen, die in<br />
höchsteigenen, aber zerrissenen und schmutzigen Kleidern dahergehen. (SW 11, S. 8)<br />
Es ist unbestreitbar, dass dieser Effekt uns Jakob von Gunten visualisieren soll. Innerhalb<br />
der Produktionsgeschichte von <strong>Walser</strong>s «Sämtlichen Werken» werden die<br />
Überlegungen in diese Richtung gegangen sein: Man entschied sich von Verlagsseite<br />
aus für den zu einer gleichen Zeit wie <strong>Walser</strong> lebenden Künstler mit Bezug zur<br />
Schweiz und suchte aus dem Fundus seiner Gemälde für die einzelnen Bände entfernt<br />
passende oder evident geeignete Bildbeispiele. Als man zum «Jakob von Gunten»<br />
kam, stand man vor der Frage, welches Porträt man nehmen könnte und entschied<br />
sich für dieses, sinnigerweise für ein Porträt Félix Vallottons, das dieser 1886<br />
von seinem Bruder angefertigt hat. Die Implikationen, die sich dem entnehmen ließen,<br />
sind mannigfaltig: Warum wurde Vallottons Bruderbildnis einem Buch zugeordnet,<br />
das im Themenbereich Schule, Erziehung, Lehre, Unterwerfung angesiedelt<br />
ist und wo wären die Parallelen zum Leben der dargestellten Person? Soll das Porträt<br />
eine entfernte Ähnlichkeit mit der Fotografie <strong>Walser</strong>s selbst haben, auf der er als<br />
Diener dargestellt ist, ebenfalls mit weißem Hemd und schwarzem Sakko, aber leicht<br />
gedrehtem Gesicht? Ich weiß nicht, ob dieser Effekt, den das Vallotton-Porträt in<br />
Verbindung mit <strong>Walser</strong>s Roman erzielt, beim Suhrkamp Verlag reflektiert hat und<br />
ihn deshalb anschließend einer Korrektur unterzog, oder ob man Vallottons Bruderbildnis<br />
wieder von der konstruierten Nähe zu «Jakob von Gunten» entfernen wollte.<br />
Jedenfalls ist die Änderung bezeichnend, die der Suhrkamp Verlag in den weiteren<br />
Auflagen unternimmt.<br />
21<br />
Dieses Evokationsverfahren, dass das sprachlich Beschriebene einem Bild zugeordnet wird, machen<br />
sich Zeitungen und der Klatschjournalismus zunutze. Vgl. aber auch das medientheoretisch<br />
geschickte Evokationsverfahren zwischen Schrift und Bild in den Büchern von W. G. Sebald.<br />
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Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags<br />
Mit verschiedenen farblich abgestimmten Flächen wird der Buchumschlag unterteilt,<br />
wobei das jeweilige Vallotton-Bild sich – wie durch eine ästhetische Einteilung – erst<br />
im unteren Drittel des Buchdeckels befindet. Dabei wurde das Bild auf dem Suhrkamp-Buch<br />
ausgewechselt. Statt des Vallotton-Porträts nun eine Landschaftsmalerei,<br />
die wesentlich später – nämlich 1924 – entstand. Kann man noch so interpretieren,<br />
dass das Bedrohliche der in Grau- und Grüntönen gestalteten Landschaft mit den im<br />
Sturm sich biegenden Sträuchern und den kurz vor dem einsetzenden Regen am<br />
Himmel wirr fliegenden Vögel wie eine Seelenlandschaft die Unheimlichkeit des<br />
Gunten-Tagebuchs, die Düsternis der Erlebnisse vorwegnimmt, so ist doch auffällig,<br />
dass das Vallotton-Bild als Cover für «Jakob von Gunten» ein Bild von wenigen Titelbildern<br />
der <strong>Walser</strong>-Bände ist, das bei der Umgestaltung ausgetauscht wurde. 22<br />
Alternatives bis zur Peitsche der Polin<br />
Die bisher vorgestellten Coverbilder zeigen, wie ich finde, recht interessante und gelungene<br />
Beispiele, welcher Art von Bildern man sich bediente, um dem Buchumschlag<br />
«Jakob von Guntens» ein Gesicht zu verleihen. Eine kuriose Blüte, die im Zusammenhang<br />
der Covergestaltung «Jakob von Guntens» auftritt, ist das Titelbild, das<br />
einer eBook-Version des Textes beigestellt wurde, also der Bearbeitung für ein elekt-<br />
22<br />
Eine Übersicht hierzu und Hinweise auf die heutigen Auflagen werde ich an anderer Stelle nachliefern.<br />
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onische Lesegerät. 23 Dass das dort zu sehende schreiende Kind für die Brutalität von<br />
Erziehungsmaßnahmen im «Jakob von Gunten» stehen oder das «Prinzip Hoffnungslosigkeit»<br />
als «Prinzip dieses Erziehungsromans», wie Martin <strong>Walser</strong> einmal<br />
schrieb, verdeutlichen kann, muss dahingestellt bleiben. Auch die Antwort auf die<br />
Frage muss dahingestellt bleiben, ob dieses Cover den <strong>Walser</strong>-Text ästhetisch anspruchsvoll<br />
covert oder einem Fotofundus entstammt, den ein Praktikant nach Geeignetem<br />
zu durchsuchen hatte, bevor die Version online ging. Wie dem auch sei: ein<br />
Spektrum an Covern und die in Grundumrissen vorgeführten Umschlagspunkte auf<br />
den Sinn des Textes selbst, wie sie sich für uns Leser allein durch den Buchumschlag<br />
modifizieren und anders gewichten lassen, wollte ich vorführen.<br />
Dass <strong>Walser</strong> selbst sich sehr für Buchdeckelbilder begeistert hat, belegt im Übrigen<br />
ein merkwürdiger Text, der nur als Mikrogramm unter dem Titel «Wie doch nun<br />
schon Adelina Patti» überliefert ist. Darin berichtet ein Ich-Erzähler von den Schaufensterauslagen<br />
einer Buchhandlung, wobei sich ihm vier Titelbilder fest eingeprägt<br />
haben:<br />
Auf einem zweiten, sehr eigenartigen Buchdeckel befand sich eine Anzahl sogenannter besserer<br />
Herren unter der Peitsche der Polin. Es war dies eine schläfrige Frau, die ihr Kinn in den Ellenbogen<br />
stemmte, indem sie mit der Hand eine Peitsche umklammerte, die ich als die schönste<br />
Peitsche erkläre, die mir je zu Gesicht gekommen ist. (AdB 1, S. 47) 24<br />
Ob ein wirkliches Buch zugrunde liegt, konnte nie ermittelt werden, aber die Seltsamkeit<br />
der Illustrierung dieses mutmaßlich unter dem Titel «Die Peitsche der Polin»<br />
firmierenden Romans spricht für sich. Man sollte sich wohl mit der sprachlichen<br />
Evokation begnügen und sie ob der Vielfalt der Assoziationsmöglichkeiten nicht<br />
darzustellen versuchen. Wahrscheinlich will dieser <strong>Walser</strong>-Text gar nicht gecovert<br />
werden, sondern vertraut auf die visuelle Kraft seiner Worte.<br />
23<br />
24<br />
Zu sehen unter: http://www.amazon.de/Jakob-von-Gunten-Tagebuchebook/dp/B006AVQHUK/ref=sr_1_3?ie=UTF8&qid=1360445651&sr=8-3<br />
[Febr. 2013].<br />
Verwiesen sei auch auf das weitere Auftauchen der Peitsche der Polin im Text «Lasse dir, werte<br />
Herrin, die Nachricht zukommen» (AdB 1, S. 254–255).<br />
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