Kult: Schlaflos im Sattel - Mountainbikepark Pfälzerwald
Kult: Schlaflos im Sattel - Mountainbikepark Pfälzerwald
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➼ reportage mountainbike-magazin.de 71<br />
<strong>Kult</strong>: <strong>Schlaflos</strong> <strong>im</strong> <strong>Sattel</strong><br />
CRAZY Ni ght<br />
Anders, abgefahren und anstrengend<br />
– be<strong>im</strong> <strong>Kult</strong>-Event <strong>im</strong> <strong>Pfälzerwald</strong><br />
brodelt die Nacht. Es ist<br />
ein Rennen, das keines sein will ...<br />
Text | André Schmidt Fotos | Holde Schneider<br />
Ich schwöre, dass ich mich auf dem<br />
Trail nicht wie ein Arschloch benehmen<br />
werde!“ Leicht von Sinnen<br />
brülle ich nach, was mir ein glatzköpfiger<br />
Koloss <strong>im</strong> Schottenrock via<br />
Megaphon entgegenschmettert. Mit<br />
mir johlt ein Chor aus 500 Radfahrern:<br />
spindeldürre Racer <strong>im</strong> Kompressionszwirn,<br />
Singlespeeder mit ohne<br />
Gang, unrasierte Mannsbilder in Frauenkleidern,<br />
Diät-abstinente Hünen vom Fatboy-Racing-Team<br />
auf nicht minder fetten<br />
Gefährten sowie flächig tätowierte Prä-<br />
Punker mit Puky-Kinderrädern. Ich stehe<br />
am Start. Es ist SiS. Kurzform für „<strong>Schlaflos</strong><br />
<strong>im</strong> <strong>Sattel</strong>“, die wohl kultigste und<br />
andersartigste Fahrradveranstaltung<br />
Deutschlands. Ein Nachtrennen voller Verrücktheiten<br />
und Verrückter.<br />
Dabei erklang der eigentliche Startschuss<br />
schon zweieinhalb Tage vor<br />
Rennstart. Seit Donnerstagmorgen<br />
knutscht die SiS-Gefolgschaft ein kleines<br />
Örtchen <strong>im</strong> <strong>Pfälzerwald</strong> wach. „Woodstock,<br />
Wacker, Weidenthal“ prangt als Aufkleber<br />
auf den rüs tigen Ford Transits, die wie ihre<br />
Besitzer die besten vier Tage ihres Lebens<br />
auf dem Sportplatz des örtlichen Turnvereins<br />
zelebrieren. Die Atmosphäre wabert<br />
zwischen Punkrock, Weltjugendtag und<br />
Zweirad-Show – und bleibt dabei für Außenstehende<br />
seltsam kuschelig. Ob von SiS,<br />
von Underground-Fahrradveranstaltungen<br />
wie dem „German-Bike-and-Beer-Cup“<br />
oder aus der Ke<strong>im</strong>zelle der Szene, dem Eingangradforum<br />
<strong>im</strong> Internet: Man kennt sich,<br />
man toleriert sich. Mittendrin thront Christian<br />
„Phaty“ Krämer, der Mann mit dem<br />
Megaphon. Einpeitscher, Gralshüter und<br />
Kummerkasten von SiS – mit zünftiger<br />
Wortwahl, ohne Grautöne. Eine One-Man-<br />
Show? Im Gegenteil, SiS ist quasi das Web-<br />
2.0-Event der Singlespeed-Gemeinde und<br />
Alle-machen-mit-Veranstaltung. Einer ist ❯
Pause mit Weitblick: mehrtägige Seenumrundung am Lago Huapi.<br />
„Penis of steel“: Schlammbein<br />
(links) heizt ein. Für viele Teilnehmer<br />
ist SiS in erster Linie ein Rockkonzert<br />
mit anschließender Bike-<br />
Ausfahrt ... Oben: Breite Schultern<br />
auf breiten Stollen. Jürgen, genannt<br />
„Mahatma“, fungiert als<br />
Platzeinweiser der Zeltstadt – mit<br />
rheinischem Zungenschlag und<br />
kräftigen Argumenten. Rechts: Alles<br />
so schön bunt hier. Die Grenzen<br />
zwischen Happening und Radsportveranstaltung<br />
sind fließend ...<br />
❯<br />
Storyboard-Zeichner be<strong>im</strong> Film und malt<br />
das Plakat, der nächs te sorgt für die Beschallung.<br />
Andere organisieren das berüchtigte<br />
Kinderrennen oder den SiS-Flohmarkt zu<br />
Gunsten eines SOS-Kinderdorfs in Haiti.<br />
Und das alles mit kindlicher Freude.<br />
Meine Beine köcheln. Fünf Stunden<br />
nach dem Start um 20:52 Uhr zwirble<br />
ich mich einmal mehr die „Weidenthaler<br />
Wand“ hoch, eine nicht zu Scherzen<br />
aufgelegte Schotterrampe. Und bin einsam.<br />
Nur vereinzelt tanzen Rücklichter wie<br />
Glühwürmchen durch den finsteren Wald.<br />
Anders als bei perfektionistischen 24-h-Rennen<br />
in illuminierten Parkanlagen ist <strong>im</strong> <strong>Pfälzerwald</strong><br />
der Trail verwurzelt und die Nacht<br />
wahrhaftig. Dunkel, kalt und hart.<br />
Umso dampfender: die Rennvorbereitung<br />
nachts zuvor. Schlammbein, Melange<br />
aus SiS-Hofkapelle und Hardrock-Kombo,<br />
lässt die Vereinsbaracke beben. „Weidenthal“,<br />
„Penis of Steel“, „Mann ohne<br />
Gang“ – zu jeder SiS-Auflage wächst das<br />
Repertoire um eine vom Publikum ekstatisch<br />
begleitete Hymne. SiS brodelt. Abgeschmeckt<br />
mit Bier, Fleischwurst und Saumagen-Burger.<br />
Kaum vorstellbar, dass einige<br />
der Feierbiester die kommende Nacht<br />
schlaflos <strong>im</strong> <strong>Sattel</strong> verbringen werden. ❯<br />
„Keiner hat vor, hier ein Rennen zu veranstalten.“ Oder doch?<br />
Das Kinderrennen gehört zu den Höhepunkten am Tag. In der<br />
Nacht geht‘s beschaulicher zu, ohne Stress auf der Strecke.<br />
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Glücklich-geschaffte<br />
Gesichter am Morgen<br />
danach (links). Ob vom<br />
Rocken oder Radeln –<br />
müde sind sie alle.<br />
Rechts: „Phaty“, gewichtige<br />
St<strong>im</strong>me von<br />
SiS und von den 80 Prozent<br />
Stammgästen gerne<br />
liebevoll „mein Großer“<br />
genannt. Unten<br />
links: Geschmiertes<br />
vom Turnverein. Die einzige<br />
Verpflegungsstelle<br />
am Zielbogen lässt nur<br />
eine einzige Wahl: Hefezopf<br />
mit Nutella.<br />
Immer schwerer versinkt die Nacht <strong>im</strong><br />
Wald – und Weidenthal wacht. Anwohner<br />
schwenken Kuhglocken, die Feuerwehr<br />
flutet ein qualmendes Dixie-Klo, der Turnverein<br />
schmiert Nutella auf Hefezöpfe und<br />
die Streckenposten mit Gummibärchen-<br />
Notration werden zu Heiligen. Das Gros<br />
der Starter indes ist längst <strong>im</strong> Zelt verbuddelt<br />
oder bespöttelt an der Zeitnahme die<br />
noch strampelnden „Fitfucker“. SiS ist ein<br />
Rennen, das keines sein will: Viele fahren<br />
nur eine Runde, Verlierer werden gefeiert,<br />
Sieger ausgelacht. Versager ist nur, wer‘s<br />
nicht mit Humor n<strong>im</strong>mt. Denn diese eine<br />
magische Nacht durchdringt alle der anarchisch-fröhliche<br />
Geist der ersten Mountainbike-Tage.<br />
Fahren und fahren lassen.<br />
Die Startplätze sind begehrt wie Dauerkarten<br />
be<strong>im</strong> FC Barcelona. Jeden 1. Januar<br />
um 0:00 Uhr öffnet die Anmeldung, um<br />
2:43 Uhr schließt die Pforte. Stammgäste<br />
haben Erbrecht, Neulinge sind dennoch<br />
willkommen – und Arschlöcher verpönt.<br />
Denn, so endet der SiS-Start-Schwur, bei<br />
Nichtbeachtung der Regeln soll einen „der<br />
Blitz be<strong>im</strong> Kacken treffen“. MB<br />
Oben rechts: „Fitfucker“-Alarm. MB-Testchef André Schmidt<br />
und Ehefrau Kathrin gewinnen die Mixed-Wertung.<br />
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