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Psalm 58

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1<br />

EFG Steglitz (Baptisten), 25.7.2010; Timor Suhail, Stud. Theol. FH Elstal; Predigt zu <strong>Psalm</strong> <strong>58</strong><br />

Liebe Gemeinde,<br />

nachdem wir letzten Sonntag etwas über Klage gehört haben, soll es heute um eine bestimmte<br />

Form der Klage gehen. Die sog. Rachepsalmen fallen besonders durch ihre drastische Sprache<br />

auf. Sie gehören zu den schwierigsten Texten der Bibel, ganz besonders Ps <strong>58</strong>, der heutige<br />

Predigttext. Deshalb werde ich zu Anfang einige Hintergründe erläutern, bevor ich im zweiten<br />

Teil zur Auslegung des <strong>Psalm</strong>s komme.<br />

Ich lese zunächst einige Verse aus Ps <strong>58</strong>:<br />

1) Für den Vorsänger. Ein Miktam-Lied Davids nach der Weise „Verdirb nicht!“.<br />

2) Sprecht ihr Götter denn wirklich die Wahrheit, richtet gerecht und redlich die Menschen?<br />

3) Mitnichten! Freveltaten erwägt ihr in eurem Sinn! Mit eigenen Händen tut ihr Gewalt auf<br />

Erden.<br />

4) (...)<br />

5) Sie haben Gift gleichwie die Schlange, sind wie die taube Kobra, die ihr Ohr verstopft.<br />

6) (...)<br />

7) (...)<br />

8) Mögen sie vergehen wie Wasser, die sich verlaufen, verdorren wie Gras, auf das man tritt;<br />

9) wie die Schnecke, die im Schleim dahingeht; wie der Maulwurf, der die Sonne nicht sieht;<br />

10) wie das Lebende, bevor es fühlt; wie der Dornstrauch, den die Glut wegfegt,<br />

11) (...)<br />

12) so dass die Menschen sagen: Ja, der Gerechte findet Frucht, ja, es gibt einen Gott, der Recht<br />

schafft auf Erden.<br />

Der Text, den ich gerade gelesen habe, hat ein traditionell weisheitliches Thema. Er behandelt<br />

die Frage, ob das Handeln des Gerechten, also des gottesfürchtigen Menschen, ihm auch Frucht<br />

bringt. Immer, wenn im Alten Testament vom Gerechten die Rede ist, ist damit das ideale<br />

Vorbild für seine Mitmenschen gemeint. Der Gerechte steht fest im Bund, den Gott mit Israel<br />

geschlossen hat, und er versucht, so gut es ihm irgendwie möglich ist danach zu leben.<br />

Der Text behandelt aber auch die Frage nach den Störungen der Gerechtigkeitsordnung.<br />

Urheber dieser Störungen sind die Götter, wie der <strong>Psalm</strong>ist bereits am Anfang darlegt. Er klagt<br />

die Götter an und will sie zwingen, sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen.<br />

Um zu verstehen, wie die Götter die Gerechtigkeit angreifen, ist es wichtig zu verstehen, wie die<br />

damalige Umwelt des Volkes Israel aussah. Israel hob sich in erster Linie von der restlichen<br />

damals bekannten Welt ab, indem es nur einen Gott hatte und nur einem Gott diente. Alle<br />

umliegenden Völker vertraten den Polytheismus, den Glauben an viele Götter.<br />

Außerdem war Israel immer das kleine, schwache Volk inmitten von Großmächten – David<br />

gegen Goliath eben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich viele alttestamentliche Texte


gegen die fremden Götter richten und sie schließlich als „Nichtse“, also den Plural von „nichts“,<br />

bezeichnen.<br />

Ganz so weit ist es in diesem Text noch nicht.<br />

Die Fremdgötter werden vom <strong>Psalm</strong>isten als Bedrohung wahrgenommen, und JHWH als „Gott<br />

der Götter“, dem sich alle anderen Götter beugen müssen, richtet die Fremdgötter in einer<br />

„himmlischen Versammlung“. In dieser „Gerichtsverhandlung“ steht die Regierung über die<br />

Erde und die Menschen zur Debatte. Nach christlicher und spätjüdischer Vorstellung kann diese<br />

Sichtweise ganz schön verwirren. Aber zu damaliger Zeit war die himmlische Versammlung eine<br />

typische Vorstellung. Und schon in jener Zeit – das macht der <strong>Psalm</strong> sehr deutlich – zweifelte<br />

man als Israelit nicht daran, dass JHWH gerecht ist und die ungerechten Götter richtet.<br />

Gehen wir auf der Zeitlinie ein Stück weiter in Richtung Gegenwart!<br />

Einige Jahrhunderte sind vergangen, seit der <strong>Psalm</strong>ist die Götter angeklagt hat. Nicht nur die<br />

Vorstellung von einem Pantheon, also der Götterversammlung, hat sich geändert, sondern auch<br />

die Lebenswirklichkeit der Israeliten. Den Jerusalemer Tempel gibt es nicht mehr. Das Haus<br />

Gottes ist dem Erdboden gleich gemacht worden, und das Volk Israel befindet sich im babylonischen<br />

Exil oder ist gerade aus ihm zurückgekehrt. Über das meiste andere, das sich in den<br />

letzten Jahrhunderten geändert hat, können wir heute nur spekulieren.<br />

In dieser Zeit entdeckt ein Israelit den <strong>Psalm</strong> für sich neu. Ältere Texte neigen dazu, aktualisiert<br />

und – je nach der aktuellen Situation – neu ausgelegt zu werden. Und gerade <strong>Psalm</strong>en spiegeln<br />

so stark die Lebenswirklichkeit von Menschen wieder, dass sie sich wunderbar übertragen<br />

lassen. Gerade das finde ich so großartig: Dass Lieder, die Menschen vor etlichen hundert Jahren<br />

geschrieben haben, mitten in meine ganz persönliche Situation sprechen können – einfach weil<br />

sie alle möglichen Situationen und Gefühle behandeln. Es ist nicht völlig unumstritten, dass<br />

<strong>Psalm</strong> <strong>58</strong> überarbeitet wurde. Aber der Text enthält deutliche inhaltliche und im Hebräischen<br />

auch sprachliche Hinweise darauf, dass einzelne Begriffe und sogar ganze Verse ergänzt wurden.<br />

Das ist ja auch völlig legitim. Der Redaktor, also der Mensch, der den <strong>Psalm</strong> verändert und<br />

ergänzt hat, hat ihn auf seine Situation angewandt. Das ist nichts anderes als Auslegung.<br />

Was genau die Situation des Redaktors war, lässt sich nicht sagen. Aber er war wohl emotional<br />

sehr aufgewühlt. Wahrscheinlich hat er in der scharf formulierten Anklage und der Verurteilung<br />

der Götter seine eigene bedrohliche Lage und seinen Gefühlszustand wieder erkannt und den<br />

<strong>Psalm</strong> auf sich bezogen. Dadurch wurde der <strong>Psalm</strong> umgedeutet und erhielt die uns heute<br />

vorliegende Form.<br />

Ich lese noch einmal <strong>Psalm</strong> <strong>58</strong>, diesmal in der uns bekannten Fassung:<br />

2<br />

1) Für den Vorsänger. Ein Miktam-Lied Davids nach der Weise „Verdirb nicht!“.<br />

2) Sprecht ihr Götter denn wirklich die Wahrheit, richtet gerecht und redlich die Menschen?<br />

3) Mitnichten! Freveltaten erwägt ihr in eurem Sinn! Mit eigenen Händen tut ihr Gewalt auf<br />

Erden.<br />

4) (Vom Mutterschoß an sind die Frevler abgewichen; vom Mutterleib an irren die Lügenredner.)<br />

5) Sie haben Gift gleichwie die Schlange, sind wie die taube Kobra, die ihr Ohr verstopft.


6) (Die nicht auf die Stimme der Beschwörer hört, des Zauberers, der die Zauberkünste beherrscht.)<br />

7) (Zerschmettere, Gott, ihre Zähne in ihrem Maul, brich das Gebiss der jungen Löwen heraus,<br />

JHWH!)<br />

8) Mögen sie vergehen wie Wasser, die sich verlaufen, verdorren wie Gras, auf das man tritt;<br />

9) wie die Schnecke, die im Schleim dahingeht; wie der Maulwurf, der die Sonne nicht sieht;<br />

10) wie das Lebende, bevor es fühlt; wie der Dornstrauch, den die Glut wegfegt.<br />

11) (Freuen wird sich der Gerechte, wenn er die Rache sieht; er wird seine Füße baden im Blut<br />

des Frevlers,)<br />

12) so dass die Menschen sagen: Ja, der Gerechte findet Frucht, ja, es gibt einen Gott, der Recht<br />

schafft auf Erden.<br />

3<br />

Jetzt werden nicht mehr die Götter angegriffen. Sie sind nur noch eine ironische Bezeichnung<br />

für andere Menschen – Menschen, gegen die sich der <strong>Psalm</strong>ist nicht wehren kann. Und jetzt erst<br />

haben wir es mit einem Rachepsalm zu tun. Unüberhörbar ist der Schrei nach Gewalt und<br />

blutiger Vergeltung.<br />

Aber wie passt das in die Bibel? Widerspricht ein so gebeteter <strong>Psalm</strong> nicht dem Prinzip der<br />

Vergebung? Haben die Kritiker des Alten Testaments etwa doch Recht, wenn sie sagen, dass es<br />

so gar nicht zum Neuen Testament passt? Dass das Töten von Menschen auf brutalste Art und<br />

Weise und das Vernichten ganzer Städte ganz und gar nicht vereinbar ist mit der Sprache des<br />

Neuen Testaments?<br />

An der Sprechweise von <strong>Psalm</strong> <strong>58</strong> muss sich ein Christ fast zwangsweise stoßen – zumindest,<br />

wenn er die Nächsten- und Feindesliebe vor Augen hat. Hier wird nicht für die Feinde gebetet.<br />

Von Liebe und Segenswünschen kann auch keine Rede sein. Stattdessen wartet der <strong>Psalm</strong>beter<br />

mit so drastischen Forderungen und Erwartungen auf, dass es einem durchaus erstmal die<br />

Sprache verschlagen kann.<br />

Vielleicht ist das der Grund, warum solche Texte mitunter dazu neigen, totgeschwiegen zu<br />

werden. Eine solche Sprache gehört sich nicht, schon gar nicht für Christen. Bei einem solchen<br />

Text kann man nur sprachlos den Kopf schütteln. Und wer freiwillig darüber predigt, muss schon<br />

ganz schön gestört sein.<br />

Oder?<br />

Nicht unbedingt.<br />

Möglicherweise ist genau dieses Schockieren eine der Absichten des zweiten <strong>Psalm</strong>isten gewesen.<br />

Ganz offensichtlich macht er seiner angestauten Wut im Bauch mal ordentlich Luft. Dass es<br />

dabei nicht immer sachlich zugeht, wissen wir – ich verweise auf die Politik oder auch die<br />

französische Fußballnationalmannschaft.<br />

Auch der <strong>Psalm</strong>ist ist nicht objektiv. Er will es auch gar nicht sein.<br />

Es fällt doch auf, dass die „Frevler“ – wer immer das auch sein mag – als nur schlecht bezeichnet<br />

werden – und das von Mutterleib an! Niemand ist nur schlecht, schon gar nicht von Anfang<br />

an. Damit nicht genug – die Frevler und Lügner werden als junge Löwen und Gift speiende<br />

Kobras, die sich taub stellen, dargestellt. Sie bedrohen den <strong>Psalm</strong>beter in seiner Existenz.


Ebenso ist kein Mensch nur gut. Das wird aber vom Gerechten behauptet, wenn auch nicht in<br />

diesem <strong>Psalm</strong>. Aber der Gerechte braucht das Gericht nicht zu fürchten. Dessen ist er sich auch<br />

bewusst. Und weil er gerecht ist, wünscht er sich Gerechtigkeit. Wann immer der Gerechte<br />

Ungerechtigkeit begegnet – sei es ihm selbst gegenüber oder gegenüber anderen – stellt das<br />

einen Verstoß gegen seine Vorstellung von einem gelingenden und glücklichen Leben dar. Gott<br />

aber will, dass wir ein glückliches Leben führen. Im Alten Testament ist ein glückliches und<br />

erfülltes Leben das höchste Gut, das sich der Mensch erhofft.<br />

Die Bibel, besonders das Alte Testament, ist eine Art „Geschichtsbuch“, in der die Erfahrungen,<br />

die Menschen mit Gott machen, festgehalten sind. Zu glauben, dass Menschen nicht mit Gewalt<br />

konfrontiert werden, wäre weltfremd. Deshalb passt Gewalt sehr gut in die Bibel, denn die Bibel<br />

beschreibt menschliche Beziehungen und die Beziehungen zwischen Gott und Menschen. Auch<br />

und vielleicht gerade die <strong>Psalm</strong>en sind sich des Problems bewusst, dass es im Alltag immer<br />

wieder zu Gewalterfahrungen kommt.<br />

Und trotzdem schockiert <strong>Psalm</strong> <strong>58</strong> in seinen Ausführungen. Wenn jemand sagt, dass er überhaupt<br />

nichts Erschreckendes an diesem <strong>Psalm</strong> erkennen kann, würde ich es mit der Angst zu tun<br />

bekommen. Gerade Vers 11 ist unglaublich drastisch formuliert; eine solche Sprechweise findet<br />

sich sonst in der gesamten Bibel nicht: Freuen wird sich der Gerechte, wenn er die Rache sieht;<br />

er wird seine Füße baden im Blut des Frevlers. Gerade dieser Vers lässt viele Kommentare <strong>Psalm</strong><br />

<strong>58</strong> als das dunkelste Kapitel in der Bibel bezeichnen.<br />

Der <strong>Psalm</strong>ist hat ganz fromm die Wut im Bauch, und dieser Wut verleiht er Ausdruck. Das ist<br />

kein Versprecher: Die Art und Weise, in der er mit seiner Wut umgeht, ist in der Tat eine fromme.<br />

Denn indem ich alles, was sich angestaut hat, die ganze Ungerechtigkeit und die daraus<br />

resultierenden Rachegedanken, an Gott abgebe, verzichte ich auf eigene Rache. Ich muss die<br />

Gerechtigkeit nicht selbst in die Hand nehmen und Selbstjustiz üben. Ich könnte ja auch hingehen<br />

und ganz selbstgerecht handeln, indem ich meinem Feind die Zähne einschlage und ihn<br />

wegfege wie die Glut den Dornbusch wegfegt. Mit Dornbüschen wurde übrigens der Kessel<br />

beheizt. Aber das Prinzip der Gewalt, die sich immer weiter hochschaukelt, ist auch den Israeliten<br />

schon bekannt gewesen. Nicht umsonst galt das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ –<br />

und nicht etwa „Arm um Auge“ oder „Kopf um Zahn“. Eine Gesellschaft, die keine Begrenzung<br />

der Gewalt kennt, ist auf Dauer nicht möglich. Der Mensch braucht Regeln und Grenzen, sonst<br />

vernichtet er sich irgendwann selbst.<br />

Eine andere Möglichkeit mit Wut umzugehen wäre die, einfach alles in sich hinein zu fressen.<br />

Die Therapiepraxen sind voll von solchen Leuten. Aufgestaute negative Gefühle machen krank.<br />

Es ist einfach ungesund, ständig alles nur zu schlucken und nicht auch mal zu kontern. Oft führt<br />

ein solches Verhalten früher oder später zu umso stärkeren Reaktionen in Form von Gewalt –<br />

anderen oder sich selbst gegenüber.<br />

Die Alternative macht uns der <strong>Psalm</strong>beter vor. Seine Wut entlädt sich mit einem Schlag und<br />

völlig unreflektiert, unsachlich und übertrieben – in einem Wort: emotional. Aber sie richtet sich<br />

nicht direkt gegen den Aggressor. Sie richtet sich auch nicht gegen den <strong>Psalm</strong>isten und schon<br />

gar nicht gegen Dritte. Die aufgestaute Wut äußert sich –<br />

im Gebet!<br />

Das Gebet hat definitiv eine heilende Wirkung. Indem der <strong>Psalm</strong>ist betet „Zerschmettere, Gott,<br />

ihre Zähne in ihrem Maul, brich das Gebiss der jungen Löwen heraus, JHWH!“, befreit er sich<br />

von der Last der Ungerechtigkeit, der Last, die ihn zu erdrücken droht. Er gibt alles an den<br />

obersten Richter ab. Gott ist der einzige, bei dem sich der <strong>Psalm</strong>ist sicher sein kann, dass sein<br />

Anliegen ankommt und dass man sich darum kümmert. Dabei spielt es keine Rolle, wie Gott der<br />

4


Bitte nachkommt. Der <strong>Psalm</strong>beter weiß nicht, wie Gott Gerechtigkeit schaffen wird. Aber er<br />

weiß, dass es passieren wird. Nicht irgendwann im Jenseits – nein, die Menschen zu Zeiten des<br />

Alten Testaments glaubten an eine Rechtsprechung zu ihren Lebzeiten. Indem Gott aktiv<br />

eingreift, erweist er sich als der wahre Richter und nicht als ein Gott, der zwar allmächtig ist und<br />

vollkommen in seiner Gerechtigkeit, gleichzeitig aber angesichts des Unrechts nur stummer<br />

Zuschauer ist.<br />

Wir stoßen uns in unserem heutigen Sprachgebrauch sehr schnell an dem Wort „Rache“. Das<br />

liegt daran, dass „Rache“ Selbstjustiz meint, und zwar als Bestrafung des Täters für etwas, das<br />

er mir getan hat. Wenn man „Rache“ durch „Vergeltung“ ersetzt, wird vielleicht deutlicher, was<br />

der <strong>Psalm</strong>ist im Sinn hat. Vers 11+12: „Freuen wird sich der Gerechte, wenn er die Vergeltung<br />

sieht; er wird seine Füße baden im Blut des Frevlers, so dass die Menschen sagen: Ja, der Gerechte<br />

findet Frucht, ja, es gibt einen Gott, der Recht schafft auf Erden.“ „Rache“ kommt<br />

ursprünglich von „Gerechtigkeit“. Die zerstörte Gerechtigkeit soll Gott wiederherstellen.<br />

Diese Einstellung schafft Frieden. Wer in dieser Hoffnung lebt, der kann angesichts von Gewalt<br />

und Unrecht auf Gegengewalt verzichten. Denn er weiß ja, dass der Allmächtige selbst für<br />

Ausgleich sorgen wird. Und wer könnte dies gerechter tun als Gott? Rachepsalmen müssen also<br />

nicht Nächsten- und Feindesliebe widersprechen. Der Verzicht auf Rache und Gegengewalt kann<br />

auch eine Form von Liebe sein. Auch wenn die sprachliche Form des <strong>Psalm</strong>s den Wunsch<br />

vermuten lässt, der Frevler möge vernichtet werden, richtet sich die Wut vor allem gegen die<br />

Taten des Frevlers, nämlich die Ungerechtigkeit.<br />

Ps <strong>58</strong> bietet keine Darstellung einer konkreten Situation. Genauso wenig erhebt er den Anspruch,<br />

in seinen Ausführungen völlig ernst genommen zu werden. Aber der Schrei nach<br />

Gerechtigkeit (und zwar der Gerechtigkeit Gottes!) ist sehr wohl ernst zu nehmen.<br />

Es bleibt die Frage, was wir jetzt aus all dem machen. Wenn mir meine Frau unrecht tut – ja, das<br />

kommt vor! –, bitte ich Gott natürlich nicht, er möge ihr die Zähne in ihrem Maul zerschmettern.<br />

Wenn ich finde, dass eine meiner Arbeiten nicht fair benotet wird, wünsche ich mir auch nicht,<br />

meine Füße im Blut der Dozenten zu baden. Aber auch in unserer Gesellschaft gibt es himmelschreiendes<br />

Unrecht, das einfach unerträglich ist. Und dann brauchen wir ein Ventil, um nicht zu<br />

explodieren. Als Christen wissen wir doch, wo wir alles abladen können! Gott liebt uns nicht,<br />

weil er nicht wüsste, wie oft negative Gefühle in uns hoch brodeln. Da er uns kennt wie kein<br />

anderer und sich gern immer wieder alles Mögliche von uns anhört, dürfen wir ihm auch unsere<br />

Wut entgegen schreien. Wer glaubt, das nicht tun zu dürfen, beschneidet sich doch letztlich<br />

selbst in der ungeheuren Freiheit, die er bekommen hat! Wer das einmal ausprobiert hat, wird<br />

auch wissen, wie befreiend es sein kann, mal so richtig Dampf abzulassen.<br />

Rachepsalmen haben nichts von ihrer Daseinsberechtigung verloren. Ganz im Gegenteil: Damit<br />

Vergebung möglich ist, muss Unrecht zunächst verarbeitet werden, indem man sich mit ihm<br />

auseinandersetzt. Das kann wohl jeder Psychologe und jeder Seelsorger bestätigen. Poesie, wie<br />

man sie auch in den <strong>Psalm</strong>en findet, kann dabei ein erster Schritt zu einer solchen Verarbeitung<br />

sein, denn sie fördert das zutage, was im innersten der Seele liegt. Deshalb brauchen wir nicht<br />

zurück zu schrecken, wenn Gewaltopfer, schwer Kranke oder Trauernde ihrer Wut Ausdruck<br />

verleihen. Wut und Zorn, Verzweiflung und selbst Rachegedanken sind nicht nur menschlich,<br />

sondern auch in höchstem Maße biblisch. Und wir dürfen uns sicher sein, dass Gott sich ihrer<br />

annimmt, wenn wir sie ihm bringen. Denn er nimmt uns in unseren Gefühlen ernst. Und wenn<br />

Gott auch unsere negativen Gefühle ernst nimmt, können wir das erst recht tun. Wer seine<br />

negativen Gefühle zulässt und sich ihnen stellt, kann hinterher auch umso überzeugter sagen:<br />

„Ja, der Gerechte findet Frucht; ja, es gibt einen Gott, der Recht schafft auf Erden.“ – Amen.<br />

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