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Down-Syndrom-Plus Frühe Kommunikations ... - DS-InfoCenter

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g FORTBILDUNG JUGENDLICHE/ERWACHSENE<br />

Auf methodischer Ebene bestand die Herausforderung<br />

darin, Erhebungsinstrumente<br />

zu finden, die sich für die partizipative<br />

Zusammenarbeit mit den fünf<br />

Forschungsteilnehmern/-innen eigneten.<br />

Im Verlaufe des Forschungsprozesses wurden<br />

deshalb verschiedene qualitative Untersuchungsmethoden<br />

getestet. In einem<br />

ersten Schritt kamen Interviews, Mental<br />

Maps (aus der Erinnerung gezeichnete<br />

Landkarten), Wahrnehmungsspaziergänge<br />

(gemeinsame Begehungen im öffentlichen<br />

Raum) und die Erfassung der Aktionsradien<br />

der Jugendlichen mit einem<br />

GPS-Empfangsgerät zum Einsatz. Es stellte<br />

sich heraus, dass die sprachgebundenen<br />

Methoden nicht zu den gewünschten Resultaten<br />

führten, da die verbale Ausdrucksfähigkeit<br />

der Forschungsteilnehmer/-innen<br />

beschränkt war. In der Folge wurden deshalb<br />

vorwiegend non-verbale, insbesondere<br />

aber visuelle Methoden erprobt und<br />

entwickelt. Durch den Einsatz sprachunabhängiger<br />

Methoden, insbesondere aber<br />

der Fotografie, gelang es schließlich, die<br />

fünf Jugendlichen aktiv in den Forschungsprozess<br />

einzubeziehen. Mithilfe eines GPS-<br />

Gerätes konnte ihr Aktionsradius ermittelt<br />

werden. Anhand ihrer kognitiven Landkarten<br />

und Fotodokumentationen konnten<br />

sie demonstrieren, wie sie den öffentlichen<br />

Raum wahrnehmen und wie sie sich darin<br />

orientieren.<br />

Die Ergebnisse der Studie lassen sich wie<br />

folgt zusammenfassen:<br />

Aufgrund der erhobenen Daten ließ sich<br />

feststellen, dass die Mobilität und die Option<br />

auf räumliche Bewegung bei den beteiligten<br />

Jugendlichen stark eingeschränkt<br />

sind. Dies hängt einerseits mit den individuellen<br />

Voraussetzungen der Jugendlichen<br />

zusammen. Andererseits liegt die eingeschränkte<br />

Mobilität in der Besorgnis der Eltern<br />

und der sozialen Exklusion begründet.<br />

So hatten nur drei der fünf Forschungsteilnehmer/-innen<br />

die Erlaubnis, ihre Schulwege<br />

selbstständig zurückzulegen. Diese<br />

waren jedoch lang und anspruchsvoll (der<br />

Median beträgt über 4 km), da sie alle eine<br />

Sonderschule besuchten, die außerhalb<br />

ihres nahen Wohnumfeldes lag. Den Schulweg<br />

hatten die Jugendlichen mit Unterstützung<br />

der Eltern und der Lehrer/-innen über<br />

Monate eintrainiert, bevor sie ihn alleine<br />

zurücklegen konnten. In ihrer Freizeit durften<br />

nur zwei Jugendliche ohne Begleitung<br />

Erwachsener außer Hause gehen. Bei den<br />

Routen, die sie einschlugen, handelte sich<br />

hauptsächlich um „Sternfahrten“, die von<br />

zu Hause aus starteten und nach der durchgeführten<br />

Zielaktivität unmittelbar nach<br />

Hause zurückführten. Nur eine Jugendliche<br />

hatte die Erlaubnis der Eltern, eigene<br />

Wege zu erkunden und selbst gewählten<br />

Aktivitäten im öffentlichen Raum nachzugehen.<br />

Die Erfahrung räumlicher Segregation<br />

bezüglich des Schulortes und die Beschränkung<br />

der Handlungsfähigkeit trafen<br />

die untersuchten Jugendlichen in stärkerem<br />

Ausmaß als nichtbehinderte Kinder. Letztere<br />

haben, selbst wenn sie außerhalb ihres<br />

Wohnumfeldes zur Schule gehen, entweder<br />

Freunde in der nahen Umgebung, im<br />

Sportklub oder in ähnlichen Institutionen.<br />

Spätestens im Schulalter sind sie in der<br />

Lage, diese selbstständig zu besuchen und<br />

sich mit ihnen zu treffen. Die an der Untersuchung<br />

beteiligten Jugendlichen hingegen<br />

hatten keinen Freundeskreis, mit dem sie<br />

gemeinsam etwas unternehmen konnten,<br />

wie z.B. in der Stadt flanieren oder einkaufen<br />

gehen. Als Folge der sozialen Ausgrenzung<br />

waren sie im öffentlichen Raum stets<br />

alleine unterwegs. Im Vergleich zu anderen<br />

Jugendlichen ihres Alters verfügten sie deshalb<br />

nur über eingeschränkte Erfahrungen<br />

im öffentlichen Raum. Ihre Vertrautheit mit<br />

der Umgebung und ihr Bewegungsfreiraum<br />

waren hauptsächlich auf das nahe Wohnumfeld<br />

beschränkt, und – bis auf die eine<br />

Ausnahme – hatten sie nur wenig Gelegenheit,<br />

eigene Wege zu gehen. Dieser Mangel<br />

an „Gebrauchserfahrung“ wirkte sich nicht<br />

nur auf ihre „Raumsouveränität“ aus, sondern<br />

hatte auch einen Mangel an Selbstvertrauen<br />

in der Bewältigung des öffentlichen<br />

Raumes zur Folge.<br />

Bezüglich der Raumwahrnehmung stellte<br />

sich heraus, dass die beteiligten Jugendlichen<br />

alle über ein klares Konzept ihrer bekannten<br />

Wege verfügten (es handelte sich<br />

dabei meist um die Schulwege), und dass<br />

sie in der Lage waren, diese als sinnvolle<br />

Abfolge wahrzunehmen und entsprechend<br />

auf ihren kognitiven Karten und in ihren<br />

Fotodokumentationen darzustellen. In der<br />

Art der Ausgestaltung und der Präsentation<br />

der Raumelemente und Objekte, die<br />

die Jugendlichen aus der Fülle der sie umgebenden<br />

Welt ausgewählt hatten, zeigten<br />

sich individuelle Unterschiede. Auffallend<br />

war, dass die Jugendlichen ihre Wege stets<br />

aus der „Innensicht“ heraus fotografiert haben,<br />

das heißt es wurden keine peripheren<br />

Informationen mit einbezogen, wie z.B. ein<br />

von weitem sichtbares markantes Gebäude.<br />

Die Beschränkung auf die Innensicht führt<br />

dazu, dass die Jugendlichen mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

oft in Schwierigkeiten geraten, wenn<br />

sich auf der Strecke etwas ändert. Passiert<br />

dies, fällt es ihnen oft schwer sich zurechtzufinden<br />

und sich neu zu orientieren. Meiner<br />

Meinung nach hängt dies zum großen<br />

Teil mit dem Mangel an „Gebrauchserfahrung“<br />

zusammen. Wird ein Weg nur „eintrainiert“<br />

und den Kindern oder Jugendlichen<br />

keine Möglichkeit gegeben, die<br />

Gegend eigentätig zu erkunden und sich einen<br />

Überblick über das Ganze zu verschaffen,<br />

sind sie auch nicht in der Lage, alternative<br />

Routen einzuschlagen.<br />

Orientierungsfähigkeit<br />

Wie die Studie bestätigen konnte, handelt es<br />

sich bei der Raumwahrnehmung um einen<br />

selektiven und konstruktiven Vorgang, der<br />

eng mit konkreten Handlungen verknüpft<br />

ist. Wie andere, nichtbehinderte Benutzer/<br />

-innen des öffentlichen Raums auch, lernen<br />

Kinder und Jugendliche mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

nur durch ihre eigentätige Bewegung<br />

in Interaktion, sich mit ihrer Umwelt zurechtzufinden.<br />

Meine Forschungspartner/<br />

-innen stellten dies unter Beweis, als sie sich<br />

zum Abschluss des Projektes mit der Fotokamera<br />

einen neuen Weg in unbekannter<br />

Umgebung erschließen mussten. Die Routen,<br />

die sie neu erlernen sollten, wurden<br />

zusammen mit den Eltern ausgewählt und<br />

entsprachen alle einem aktuellen Bedürfnis<br />

(z.B. der Weg zu einer Schulfreundin,<br />

ein neuer Schulweg etc.). Während der gemeinsamen<br />

Erstbegehung erhielten die Jugendlichen<br />

den Auftrag, aufmerksam nach<br />

Orientierungshilfen und Landmarken zu<br />

suchen und diese für sich fotografisch festzuhalten.<br />

Auf diese Weise konnte zum einen<br />

überprüft werden, welche Orientierungshilfen<br />

sie für sich selber auswählen,<br />

wenn sie nicht vorgegeben werden (wie das<br />

z.B. beim Erlernen der Schulwege der Fall<br />

war). Zum anderen konnte damit nachgewiesen<br />

werden, ob sie sich anhand dieser<br />

Orientierungshilfen tatsächlich alleine zurechtfinden<br />

würden. Ich stellte den Jugendlichen<br />

dafür eine einfache Digitalkamera<br />

mit einem großen Display zur Verfügung.<br />

Um sie in der Auswahl dieser Orientierungshilfen<br />

nicht zu beeinflussen, erhielten<br />

sie während der Erstbegehung von mir einige<br />

Angaben zur allgemeinen Richtung<br />

und Hinweise auf die zu benutzenden Verkehrsmittel.<br />

Die neuen Wege, die sich die<br />

Jugendlichen erschließen mussten, waren<br />

z.T. sehr anspruchsvoll (ein Jugendlicher<br />

z.B. musste eine Strecke von 16 km zurücklegen<br />

und dabei dreimal das Transportmittel<br />

wechseln). k<br />

Leben mit <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> Nr. 64 I Mai 2010 51

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