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Jugendschutzlager' Uckermark – (Geschlechter-)Perspektiven

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Das ehemalige ‚Jugendschutzlager‘<br />

<strong>Uckermark</strong> <strong>–</strong> (<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong><br />

für einen Gedenkort<br />

Katja Anders/Anette Dietrich/Lisa Gabriel/Margrit Hille/<br />

Roman Klarfeld/Andrea Nachtigall/Lena Nowak<br />

Ein geschlossenes, rostendes Eisentor, Zaunpfähle, verbogener Stacheldraht und<br />

vor uns große pinkfarbene Druckbuchstaben, auf eine steinerne Wand gesprüht:<br />

„Zum ehemaligen Jugend-KZ <strong>Uckermark</strong> für Mädchen und junge Frauen und<br />

späteren Vernichtungslager“.<br />

An der Aufschrift dieses provisorischen Wegweisers vorbei steigen wir durch<br />

eine Lücke im Zaun und folgen einem holprigen Weg, der durch eine unüberschaubare<br />

Landschaft aus Erdhügeln, verwildertem Gras, Gestrüpp und vereinzelten<br />

Birken und Apfelbäumen führt. Linker Hand stehen undefinierbare<br />

Bauruinen. In den nachträglich zugemauerten Fenstern fehlen Steine, die Wellblechdächer<br />

darüber sind mit Löchern übersät.<br />

Betonpfeiler und -wände erstrecken sich über einen großen Teil des von<br />

uns einsehbaren Areals. Es sind Überreste der militärischen Nachkriegsnutzung<br />

durch sowjetische Truppen. Auf diesem Gelände befand sich zwischen 1942 und<br />

1945 das sogenannte ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong>, wie es im nationalsozialistischen<br />

Sprachgebrauch hieß. Der Zustand des Ortes nach mehr als 65 Jahren<br />

nach der Befreiung vom Nationalsozialismus veranschaulicht die lange Zeit<br />

fehlender Auseinandersetzung mit einem bestimmten Kapitel nationalsozialistischen<br />

Terrors: die Verfolgung unangepasster junger Frauen und Mädchen, die<br />

zu gesellschaftlichen Außenseiterinnen gemacht und als sogenannte ‚Asoziale‘<br />

inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden.<br />

Noch immer finden wir ein unwegsames Gelände vor <strong>–</strong> statt einem sichtbaren<br />

und öffentlich regulär zugänglichen Ort des Gedenkens, der Anerkennung,<br />

Erinnerung und Mahnung. Erst 2012 ist eine Entscheidung zum Rückbau der<br />

ehemaligen Panzer- und Lagerhallen der Sowjetarmee getroffen worden. Wie<br />

das Gelände anschließend als Gedenkort gestaltet werden soll, diskutieren noch


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 7<br />

immer die involvierten Interessengruppen und politischen Akteur_innen 1 in<br />

einem Gremium, das sich „<strong>Uckermark</strong>-AG“ nennt.<br />

Dieser einleitende Text der „Forschungswerkstatt <strong>Uckermark</strong>“ soll den historischen<br />

Hintergrund des ehemaligen ‚Jugendschutzlagers’ <strong>Uckermark</strong> beleuchten,<br />

die aktuellen Konflikte um und <strong>Perspektiven</strong> auf einen potenziellen Gedenkort<br />

darstellen und zugleich unseren (geschlechterpolitischen) Zugang sowie<br />

unsere Positionierung dazu klären. Im Folgenden wird zunächst die Geschichte<br />

des ehemaligen ‚Jugendschutzlagers’ rekonstruiert. Dabei geht es zugleich um<br />

die Annäherung an die aktuellen Debatten und Gedenkpraxen verschiedener<br />

Initiativen auf dem Gelände.<br />

Ein Exkurs zum Thema Nationalsozialismus, Gedächtnis und Geschlecht<br />

befasst sich im Anschluss daran mit der Frage, welche Rolle die Kategorie<br />

Geschlecht für die Geschichte des Nationalsozialismus und deren Interpretation<br />

bzw. Repräsentation spielt. Dieser verdeutlicht die Verschränkung von Geschlecht<br />

mit der Kategorie ‚Asozial‘ und der daran geknüpften Verfolgungspraxis.<br />

Auch für die Nachgeschichte nach 1945, die Kontinuitäten der Ausgrenzung<br />

und das Verschweigen der Verfolgung sogenannter ‚Asozialer’ im Kontext der<br />

deutschen Erinnerungspolitik erweist sich die Kategorie Geschlecht als relevant.<br />

Insofern eröffnen sich über eine solche Lesart Anknüpfungspunkte und<br />

<strong>Perspektiven</strong> für den Umgang mit dem Gelände des ehemaligen ‚Jugendschutzlagers‘<br />

<strong>Uckermark</strong>.<br />

Daran anschließend nähern wir uns der spezifischen Erinnerungspraxis des<br />

ehemaligen ‚Jugendschutzlagers’ <strong>Uckermark</strong> seit den 1950er Jahren und damit<br />

zugleich den konfligierenden Positionen zum Umgang mit der Geschichte und<br />

dem Ort an.<br />

1 Der Unterstrich verweist auf Subjektpositionen jenseits der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit.<br />

Die Frage nach der Verwendung des Unterstrichs für die Zeit des Nationalsozialismus<br />

wurde in unserer Gruppe kontrovers diskutiert, da es problematisch erscheint,<br />

heutige geschlechterpolitische Interventionen auf den Nationalsozialismus mit seinen<br />

spezifischen geschlechtlichen und ideologischen Ausprägungen zu übertragen. Dennoch<br />

haben wir uns für eine Verwendung des Unterstrichs entschieden, um den zweigeschlechtlichheteronormativen<br />

Konstruktionscharakter von Subjektivität generell (aus heutiger Perspektive)<br />

zu betonen. Die Texte dieses Bandes gehen jedoch unterschiedlich mit der Frage der<br />

Benennung und Repräsentation von Geschlecht bzw. dem Einsatz einer „geschlechtergerechten“<br />

Sprache um, was (auch) verschiedene geschlechterpolitische Herangehensweisen widerspiegelt<br />

und aus diesem Grunde von uns nicht vereinheitlicht wurde.


8 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

Das ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong> <strong>–</strong> Geschichte<br />

und Gedenken<br />

Neben dem Jugend-Konzentrationslager in Moringen, in dem männliche Jugendliche<br />

inhaftiert wurden, sowie dem sogenannten ‚Jugendverwahrlager Litzmannstadt’<br />

(Łódź), einem polnischen Konzentrationslager, in dem hauptsächlich<br />

polnische Kinder von Zwangsarbeiter_innen gefangen gehalten wurden,<br />

war das ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong> eines von insgesamt drei NS-<br />

Konzentrationslagern speziell für Jugendliche und Kinder. Hier wurden verschiedene<br />

Häftlingsgruppen interniert: Zum größten Teil waren das Mädchen<br />

und junge Frauen, die als ‚asozial‘ kategorisiert wurden und die meist schon länger<br />

den verschiedenen Institutionen des NS „Fürsorgesystems“ ausgesetzt waren.<br />

Weiter handelte es sich bei den jungen Häftlingen um Frauen aus Gestapo-<br />

Haft sowie ab 1943 auch um politische Häftlinge. Bekannt und vergleichsweise<br />

gut dokumentiert ist dazu die Geschichte der Gruppe von Mädchen und jungen<br />

Frauen aus Slowenien, die Partisan_innen unterstützt oder anders politischen<br />

Widerstand geleistet hatten. Auch aus „rassischen“ Gründen verfolgte Jugendliche<br />

wurden in <strong>Uckermark</strong> inhaftiert. 2<br />

Nachdem im Juni 1942 die ersten weiblichen Jugendlichen in das ‚Jugendschutzlager‘<br />

<strong>Uckermark</strong> deportiert wurden, waren bis 1945 schätzungsweise bis<br />

zu 1200 Mädchen und Frauen in dem sogenannten ‚Jugendschutzlager‘ inhaftiert.<br />

Exakte Zahlen sind bei der dürftigen Quellenlage nicht zu ermitteln. 3<br />

2 Martin Guse folgend waren die Haftgründe im Jugend-KZ <strong>Uckermark</strong> „äußerst vielschichtig<br />

und reichten von pädagogischen Bankrotterklärungen (‚Unerziehbarkeit‘, ‚Renitenz‘, Kriminalität,<br />

‚sexuelle Verwahrlosung‘) bis zum Vorwurf der ‚Arbeitsverweigerung‘, ‚Arbeitsbummelei‘<br />

oder ‚Sabotage‘. Unter Federführung des Referates ‚Weibliche Kriminalpolizei‘ beim<br />

RKPA inhaftierte die deutsche Polizei aus eugenischen (Behinderte, Zwangssterilisierte) und<br />

rassischen Gründen. So verweisen diverse Aktenunterlagen und zudem auch die Aussagen<br />

ehemaliger Häftlinge des Lagers darauf, dass in größerer Zahl auch junge Sintezza und<br />

als ‚Judenmischlinge‘ verfolgte Mädchen in <strong>Uckermark</strong> inhaftiert wurden. Gestapo und SS<br />

wiederum richteten ihre Verfolgungsmechanismen gegen ‚Widersetzlichkeit‘ und konkrete<br />

Widerstandshandlungen Jugendlicher.“, Martin Guse, Das Jugend-KZ <strong>Uckermark</strong> (1942-<br />

1945), Haftgründe, online unter http://www.martinguse.de/jugend-kz/uckhaftgruende.htm<br />

(aufgerufen am 22.5.2012). Bei den aus rassischen Gründen verfolgten handelte es sich laut<br />

Bernhard Strebel um „weibliche Jugendliche, die [. . . ] mit Vermerken eingewiesen wurden<br />

wie: ‚Halbjüdin‘, ‚Judenmischling‘, ‚Zigeunerin‘, ‚Zigeunermischling‘ und ‚Marokkanermischling‘“,<br />

Bernhard Strebel, Das KZ Ravensbrück, Geschichte eines Lagerkomplexes, Paderborn<br />

u.a. 2003, S. 369.<br />

3 Vgl. Strebel, KZ Ravensbrück, S.365. Angaben zu Todeszahlen im ‚Jugendschutzlager‘<br />

<strong>Uckermark</strong> sind ebenfalls kaum möglich, vgl. ebd. S. 509.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 9<br />

Mit dem sich abzeichnenden Kriegsende wurde das ‚Jugendschutzlager‘<br />

schließlich im Januar 1945 weitestgehend aufgelöst und ein großer Teil der Inhaftierten<br />

in das nahe gelegene Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überstellt.<br />

Auf demselben Gelände wurde anschließend ein Bereich abgetrennt und<br />

in ein „Tötungslager“ 4 umgewandelt.<br />

Hier wurden in den letzten Monaten bis zur Befreiung durch die Sowjetarmee<br />

im April 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück selektierte Häftlinge<br />

durch systematische Unterversorgung und Appellstehen sowie durch Giftinjektionen<br />

ermordet. Mehrere tausend Menschen wurden aus dem „Tötungslager“<br />

in die Gaskammer des KZ Ravensbrück transportiert. 5<br />

Nach 1945 wurde der historische Ort des ‚Jugendschutzlagers‘ <strong>Uckermark</strong><br />

vernachlässigt. Damit ging eine jahrzehntelange Marginalisierung der hier inhaftierten<br />

Verfolgtengruppen im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus<br />

einher. So steht der Ort nicht nur für die Inhaftierung von (weiblichen) Jugendlichen<br />

in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, sondern insbeson-<br />

4 Wir haben uns entschieden, den in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Begriff des<br />

Vernichtungslagers nicht zu verwenden. Er ist unseres Erachtens zu fest mit den Konzentrationslagern<br />

der Aktion Reinhardt verbunden, die von den Nationalsozialisten in Polen<br />

und Weißrussland speziell zur Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden eingerichtet<br />

wurden. Der andernorts verwandte Begriff des ,Sterbelagers‘ wird demgegenüber jedoch wiederum<br />

der Tatsache nicht gerecht, dass in der Folgenutzung des Jugendkonzentrationslagers<br />

für Mädchen und junge Frauen aktiv getötet wurde. Wenn wir uns nun für den Begriff des<br />

,Tötungslagers‘ entschieden haben, dann mit dem Bewusstsein, dass auch diese Bezeichnung<br />

letztlich ein Behelfskonstrukt ist um kurz zu benennen, was eigentlich in seinen Einzelheiten<br />

beschrieben werden müsste.<br />

5 Zu den in der „Todeszone“ Inhaftierten und Ermordeten liegen kaum Zahlen vor. Laut Simone<br />

Erpel wird es „trotz intensiver Recherche [...] schwierig sein, über die vorsichtige Schätzung<br />

hinaus, die von mindestens 5000 Ermordeten ausgeht, sich der reale [sic!] Opferzahl<br />

zu nähern.“ Erpel und Strebel führen verschiedene Angaben auf: Der letzte Lagerkommandant<br />

des KZ Ravensbrück Fritz Suhren gab an, dass das ‚Jugendschutzlager‘ 8000 Plätze<br />

besaß und ungefähr 1500 Frauen vergast wurden. Schutzhaftlagerführer Johann Schwarzhuber<br />

sprach von 2300 bis 2400 und der SS-Arzt Percival Treite von 5000 selektierten Frauen.<br />

Die Ravensbrück-Überlebende Anise Postel-Vinay kam in ihrer Untersuchung hingegen auf<br />

schätzungsweise 5000 bis 6000 Getötete im Frühjahr 1945. Die als Stubenälteste in die „Todeszone“<br />

strafversetzte Kazimiera Warzynska schätzte die Zahl der nach <strong>Uckermark</strong> verlegten<br />

Frauen auf 6500, von denen etwa 4000 in die Gaskammer transportiert und 1557 am 14.<br />

April lebend in das Hauptlager zurückgebracht worden seien. Wanda Kiedrzyńska kommt<br />

unter Bezug auf Berichte ehemaliger polnischer Häftlinge in der Todeszone auf mindestens<br />

8000 dort Inhaftierte. Die Überlebende Hilde Boy-Brandt gab an, dass allein im Januar 1945<br />

3672 kranke Häftlinge aus dem Stammlager Ravensbrück für die „Todeszone“ selektiert worden<br />

seien, vgl. Simone Erpel, Das „Jugendschutzlager“ <strong>Uckermark</strong> als Vernichtungslager, in:<br />

Katja Limbächer/Maike Merten/Bettina Pfefferle (Hg.), Das Mädchenkonzentrationslager<br />

<strong>Uckermark</strong>, Münster 2005, S. 215-227 und Strebel, KZ Ravensbrück, S. 475 und 485f.


10 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

dere für die Gruppe der als ‚asozial‘ Verfolgten. Dieser wurde in der Nachkriegszeit<br />

insgesamt wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil. Als Häftlingsgruppe<br />

haben die Betroffenen bis heute keine politische Interessenvertretung,<br />

die soziale Stigmatisierung hält mitunter immer noch an.<br />

Für die Erinnerung und<br />

Aufarbeitung der Geschichten<br />

des ehemaligen Mädchenkonzentrationslagers<br />

<strong>Uckermark</strong><br />

waren deshalb selbstorganisierte<br />

Initiativen und<br />

Netzwerke besonders wichtig.<br />

Auf deren Engagement<br />

ist maßgeblich zurückzuführen,<br />

was heute als Markierung<br />

und Gestaltung des Geländes<br />

überhaupt zu finden<br />

ist.<br />

Zu nennen sind hier vor<br />

allem die „Initiative für einen<br />

Gedenkort ehemaliges KZ<br />

<strong>Uckermark</strong> e. V./Netzwerk“ (im Folgenden: Netzwerk) 6 , sowie die in unterschiedlicher<br />

Besetzung jährlich von FrauenLesbenTransgender-Gruppen organisierten<br />

Bau- und Begegnungscamps auf dem Gelände, neben einzelnen engagierten<br />

Wissenschaftler_innen, die sich der Aufarbeitung der Geschichte im<br />

akademischen Rahmen widmen.<br />

Von den genannten selbstorganisierten politischen Initiativen gehen Spendengesuche,<br />

Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit aus. Außerdem wurde über<br />

die Jahre die materielle Gestaltung eines Gedenkortes auf dem ehemaligen Lagergelände<br />

initiiert und vorangebracht.<br />

Informationstafeln, die im Rahmen der Baucamps aufgestellt wurden, beschildern<br />

nun einen begehbaren Abschnitt des ansonsten kaum überschaubaren<br />

und unzugänglichen Areals, auf dem sich einst das Lager befand. Zudem wurde<br />

eine Gruppe fast durchsichtiger Skulpturen installiert, die so genannten Maschas.<br />

Dies sind aus Maschendraht gewirkte, lebensgroße Figuren, die oft erst<br />

beim zweiten Hinsehen erkennbar werden. Sie symbolisieren die unbekannten<br />

6 Zur Entstehungsgeschichte und dem Selbstverständnis des Netzwerks:<br />

http://www.gedenkort-kz-uckermark.de/info/chronik4-gedenkort.htm (aufgerufen am<br />

20.06.2012).


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 11<br />

Opfer und sind für unser Verständnis ebenfalls Metapher der fehlenden Sichtbarkeit<br />

und des wenigen Wissens über die Geschichte, die hier stattgefunden<br />

hat. Neben dieser Installation wurde 2009 auf dem Gelände des ehemaligen<br />

Lagers auf Initiative des Netzwerkes ein Gedenkstein mit der Aufschrift: „Im<br />

Gedenken an die Gefangenen, Gefolterten und Ermordeten des Jugendkonzentrationslagers<br />

für Mädchen und junge Frauen und späteren Vernichtungslagers<br />

<strong>Uckermark</strong> 1942<strong>–</strong>1945. Ihr seid nicht vergessen! Nie wieder Faschismus!“ errichtet.<br />

Dieser resultierte aus dem Wunsch einiger Überlebender, die ihre Vorstellungen<br />

in die Gestaltung des Gedenkens einbringen konnten. Der Gedenkstein<br />

wurde im Rahmen der Gedenkfeier zum 64. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen<br />

Jugendkonzentrationslagers für Mädchen und junge Frauen enthüllt. Auch<br />

von der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück gingen und gehen immer wieder<br />

Initiativen aus, das Lager <strong>Uckermark</strong> für die Öffentlichkeit zugänglich machen<br />

zu wollen und es in die eigene Gedenkpraxis einzubeziehen. So wird es z. B.<br />

einen eigenen Ausstellungsbereich zum ehemaligen ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong><br />

in der 2013 eröffnenden neuen Hauptausstellung geben.<br />

Das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers zu einem möglichen Ort<br />

des Erinnerns und Gedenkens umzugestalten und dadurch dessen vergessene<br />

Opfer anzuerkennen, war von Beginn an ein von vielen Akteur_innen geteiltes,<br />

jedoch nicht minder kontrovers diskutiertes Anliegen. Im Januar 2012 kam es<br />

zu einer vertraglichen Einigung, bei der das Grundstück des ehemaligen Lagergeländes<br />

an das Land Brandenburg übertragen wurde und nun die Konversion<br />

des Geländes, also der Rückbau der Militärruinen, zu erwarten ist. Die Lösung<br />

eines langen Konfliktes, der die Nutzbarkeit des Geländes zum Gegenstand<br />

hatte, scheint damit in greifbare Nähe gerückt zu sein. 7<br />

All dieses Engagement findet nicht im leeren Raum, sondern im Kontext der<br />

(institutionalisierten) Erinnerungspolitik der Bundesrepublik nach 1945 statt.<br />

Diese stellt insofern einen Bezugsrahmen für politische Auseinandersetzungen<br />

um Formen und Inhalte des Gedenkens dar, von der sich ein Teil der oben<br />

genannten Akteur_innen explizit kritisch distanziert. Zudem sehen sich auf<br />

der anderen Seite die verschiedenen in den Gedenkort <strong>Uckermark</strong> involvierten<br />

7 Die Beantragung von EU-Fördergeldern für die Konversionsmaßnahmen erforderte die Veräußerung<br />

des Geländes von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben an eine neue Eigentümerin.<br />

Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sah sich jedoch nicht in der Lage,<br />

das Gelände zu übernehmen und zu unterhalten. Im Januar 2012 wurde schließlich der<br />

städtebauliche Vertrag zwischen dem brandenburgischem Ministerium für Infrastruktur und<br />

Landwirtschaft (MI) als neuem Eigentümer, der Vorbesitzerin, der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben<br />

(BIMA) sowie der Stadt Fürstenberg als zukünftige Bauherrin unterzeichnet<br />

und damit die Ausschreibung der Konversionsmaßnahmen möglich gemacht.


12 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

Institutionen und politischen Entscheidungsträger_innen mit eher unkonventionellen<br />

Zugängen konfrontiert, Gedenken und Entschädigung für eine marginalisierte<br />

Opfergruppe einzufordern. So entstanden über die Jahre nicht nur<br />

Dokumentationen von Überlebenden-Berichten und ein Mosaik an Tafeln, Installationen<br />

und Steinen auf dem Gelände selbst; vielmehr entwickelten sich im<br />

Umfeld des Gedenkens an das Lager in der <strong>Uckermark</strong> in fast noch umfangreicherem<br />

Maße politische Konflikte und Debatten sowie historische Kontroversen.<br />

Diese spiegeln sich nicht nur in der Unwegsamkeit des ehemaligen Lagers, sie<br />

verweisen auch auf den wenig geradlinigen Prozess des Gedenkens an die Opfer<br />

des sogenannten ‚Jugendschutzlagers‘ <strong>Uckermark</strong>. Der Titel dieses Buches<br />

„Unwegsames Gelände“ benennt insofern nicht nur die Topographie des Geländes,<br />

die Schwierigkeit der (politischen, ökonomischen) Umsetzung eines Gedenkortes,<br />

die Konflikte um die ‚richtige‘ Gestaltung eines solchen Ortes bzw. die<br />

‚richtige‘ Form des Gedenkens an die Opfer, sondern darüber hinaus die Entstehung<br />

dieses Sammelbandes, die fast an den politischen Auseinandersetzungen<br />

gescheitert wäre.<br />

Unsere eigene Motivation, uns als Forschungswerkstatt im zunächst universitären<br />

Rahmen mit dem ehemaligen ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong> zu beschäftigen,<br />

war von dem politischen Anliegen geprägt, dem bislang weitestgehend<br />

vergessenen bzw. vergessen gemachten Ort des ehemaligen Konzentrationslagers<br />

für Mädchen und junge Frauen und späteren Tötungslagers zu einer<br />

größeren Sichtbarkeit und damit politisch-gesellschaftlichen Anerkennung zu<br />

verhelfen. Bei unseren Recherchen zeigte sich, dass die Geschichte der Verfolgung,<br />

Ausgrenzung und Disziplinierung von Marginalisierten und Unangepassten<br />

und als ‚asozial‘ Klassifizierten in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung<br />

mit dem Nationalsozialismus nach wie vor eine untergeordnete Rolle<br />

spielt und nur unzureichend erforscht ist. Zugleich ist die Quellenlage zum<br />

Jugendkonzentrationslager <strong>Uckermark</strong> sehr lückenhaft und lässt bis heute zu<br />

vielen Fragen nur Vermutungen zu. Angesichts der Aktualität der Diskussionen<br />

über den Umgang mit dem Gelände verlagerte sich der Fokus unserer Arbeit<br />

von der historischen Forschung zu erinnerungspolitischen Fragen. Am aktuellen<br />

Konflikt um die Verantwortung für das ehemalige Lagergelände und die<br />

Gestaltung sowie Ausrichtung eines möglichen Gedenkortes sind eine Vielzahl<br />

von Akteur_innen mit unterschiedlichen Positionen zu Form und Politik des<br />

Gedenkens beteiligt, die über den spezifischen Kontext „<strong>Uckermark</strong>“ hinausweisen.<br />

Wir entschieden uns mit diesem Sammelband eine Plattform zu schaffen,<br />

in der die divergierenden, z.T. unvereinbaren Positionen der beteiligten<br />

Akteur_innen nebeneinander stehen können und dokumentiert sind und be-


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 13<br />

gannen uns mit den Kontroversen über die Schaffung eines gegenwärtigen und<br />

zukünftigen Gedenkortes <strong>Uckermark</strong> auseinanderzusetzen. Vor die Erschließung<br />

der Lagergeschichte schob sich also der Blick auf die Frage nach einem angemessenen<br />

Umgang mit den historischen Ereignissen aus heutiger Perspektive,<br />

also Fragen nach Erinnern, Gedenken, Anerkennen und Entschädigen. Insofern<br />

begreifen wir den vorliegenden Band ebenfalls als Ort und Teil eines mosaikwenn<br />

nicht bruchstückhaften Gedenkens an das ehemalige Mädchenkonzentrationslager.<br />

Sein Zustandekommen selbst wurde dabei durch die gedenkpolitischen<br />

Konflikte geprägt. So gestaltete sich die Herausgabe der konfligierenden<br />

Positionen in einem Band als mühselig und erforderte immer wieder langwierige<br />

Verhandlungen und Diskussionen mit den Beteiligten, v.a. mit Geldgeber_innen<br />

und Verlagen. Der Streit um verschiedene politische Ansichten und<br />

Positionierungen ging schließlich so weit, dass wir <strong>–</strong> damit der Sammelband<br />

auch tatsächlich mit allen Artikeln und einer möglichst großen Bandbreite an<br />

Positionen bzgl. des (Gedenk-)Ortes <strong>Uckermark</strong> erscheinen konnte <strong>–</strong> zu einem<br />

unabhängigen Verlag wechselten. Damit verloren wir jedoch nicht nur Zeit,<br />

sondern auch die zugesicherte Finanzierung.<br />

Nationalsozialismus, Gedenken und Geschlecht<br />

Unsere Motivation und Herangehensweise an das Thema waren von Beginn<br />

an von einer gendertheoretischen und feministischen Perspektive geprägt. Dies<br />

scheint im Kontext des KZ <strong>Uckermark</strong> <strong>–</strong> einem Lager, das speziell für Mädchen<br />

und junge Frauen errichtet wurde, unmittelbar überzeugend und naheliegend.<br />

Grund dafür, dass eine geschlechtsbezogene Herangehensweise an das ehemalige<br />

Jugend-KZ <strong>Uckermark</strong> (ähnliches gilt auch für das Frauen-KZ Ravensbrück)<br />

offensichtlich keine Irritationen oder grundsätzlichen Einwände provoziert,<br />

scheint jedoch vor allem ein verkürztes Verständnis von „Gender“ zu sein,<br />

das dieses primär mit Frauen und Mädchen identifiziert und nur bestimmte<br />

vergeschlechtlichte Strukturen in den Blick nimmt.<br />

Eine systematische Einbeziehung der Kategorie Geschlecht in eine Auseinandersetzung<br />

mit Nationalsozialismus und Holocaust sowie der Erinnerung<br />

an ein historisches Geschehen ist keineswegs so selbstverständlich, wie es hier<br />

scheint. Die Kategorie Geschlecht spielt in wissenschaftlichen Debatten ebenso<br />

wie in den NS-Gedenkstätten nur eine marginale oder gar keine Rolle, wenn es<br />

zum Beispiel um die männlichen Verfolgten und Inhaftierten des Nationalsozialismus<br />

geht (so z. B. in der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Jugend-


14 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

KZ Moringen, das speziell für männliche Jugendliche vorgesehen war). Zudem<br />

bedarf ein geschlechterbezogener Ansatz einer sorgfältigen Begründung. Angesichts<br />

der Verbrechen des NS erscheint eine geschlechtertheoretische oder gar<br />

feministische Perspektive nebensächlich, zum Teil sogar problematisch und unangemessen.<br />

So besteht die Gefahr, dass durch eine alleinige Fokussierung auf<br />

die Kategorie Geschlecht im Kontext von Nationalsozialismus und Holocaust<br />

weitaus bedeutsamere Kategorien wie „Rasse“ in den Hintergrund rücken. 8 Die<br />

Tatsache, dass <strong>Geschlechter</strong>konstruktionen stets von Rassifizierungsprozessen<br />

begleitet und überformt werden, die sich insbesondere im Zusammenhang mit<br />

dem Nationalsozialismus im Hinblick auf die Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte<br />

als weitaus wirkungsmächtiger erwiesen haben, zeigt, dass ein<br />

gendertheoretischer Ansatz nicht isoliert angewendet werden kann. „Geschlecht“<br />

muss vielmehr als interdependente Kategorie verstanden werden, die stets von<br />

anderen Strukturkategorien durchdrungen ist bzw. in Wechselwirkung mit diesen<br />

hervorgebracht wird. 9<br />

Ansätze aus dem Bereich der feministischen und Gender-Forschung belegen<br />

seit Jahren die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für das Funktionieren<br />

des Nationalsozialismus insgesamt. Der Nationalsozialismus war deutlich geschlechtsspezifisch<br />

organisiert. Auch bei der Propagierung und Durchsetzung<br />

der nationalsozialistischen Ideologie spielte die Kategorie Geschlecht eine zentrale<br />

Rolle, z. B. in Konstruktionen von antisemitischen und rassistischen Feindbildern,<br />

der „Nation“ und „Volksgemeinschaft“ sowie den damit verbundenen<br />

rassifizierten Sexual- und Moralvorstellungen. Aber auch in den Repräsenta-<br />

8 So gab es beispielsweise innerhalb der Frauenforschung Stimmen, die den NS in erster Linie<br />

als ‚Extremform des Patriarchats‘ analysierten, und dadurch der Kategorie Geschlecht<br />

Vorrang gegenüber anderen Kategorien einräumten. Damit einher ging die implizite Gleichsetzung<br />

aller Frauen als Patriarchatsopfer, was jedoch die Differenzen zwischen (z. B. ‚jüdischen‘<br />

und ‚arischen‘) Frauen sowie die aktive Beteiligung und Täterinnenschaft von Frauen<br />

innerhalb des NS aus dem Blickfeld verschwinden ließ. Die Debatte um die feministische Auseinandersetzung<br />

mit dem NS und weiblicher Täter- bzw. Mittäterschaft wurde in Deutschland<br />

unter dem Stichwort ‚Historikerinnenstreit‘ bekannt. Vgl. Christine Herkommer, Frauen<br />

im Nationalsozialismus <strong>–</strong> Opfer oder Täterinnen? Eine Kontroverse der Frauenforschung im<br />

Spiegel feministischer Theoriebildung und der allgemeinen historischen Aufarbeitung der<br />

NS-Vergangenheit, München 2005; Frauen gegen Antisemitismus: Der Nationalsozialismus<br />

als Extremform des Patriarchats. Zur Leugnung der Täterschaft von Frauen und zur Tabuisierung<br />

des Antisemitismus in der Auseinandersetzung mit dem NS, in: Beiträge zur<br />

feministischen Theorie und Praxis 35/1993, S. 77-89.<br />

9 Zur Konzeptionalisierung von Geschlecht als interdependenter Kategorie vgl. Katharina<br />

Walgenbach/Gabriele Dietze/Antje Hornscheidt/Kerstin Palm, Geschlecht als interdependente<br />

Kategorie. Neue <strong>Perspektiven</strong> auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität,<br />

Opladen/Farmington Hills 2007.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 15<br />

tionen und Erinnerungen an den Nationalsozialismus nach 1945, insbesondere<br />

wenn es um Fragen von Täter_innenschaft, Opferstatus und Schuld geht, spielt<br />

die Kategorie Geschlecht eine maßgebliche Rolle. So lässt sich fragen: Inwiefern<br />

ist das Erinnern und Gedenken an die NS-Vergangenheit geschlechtlich<br />

strukturiert? Gibt es ein geschlechtsspezifisches Erinnern? Welche unterschiedlichen<br />

Funktionen erfüllt die Kategorie Geschlecht im Rahmen der verschiedenen<br />

Erinnerungsdiskurse, -politiken und -praxen? Wie sind Vorstellungen von<br />

Täterschaft und Mittäterschaft strukturiert? Wer darf sich auf die Opfer berufen<br />

und mit welcher Intention? Diese Fragen werden insbesondere im Kontext<br />

des Erinnerns an das Mädchen-KZ <strong>Uckermark</strong> relevant, da sich einige der Akteur_innen<br />

explizit als feministisch begreifen <strong>–</strong> und insofern auch die von ihnen<br />

vertretene Form des Gedenkens feministisch ausgerichtet ist.<br />

Um an der Relevanz und damit einer Einbeziehung von „Geschlecht“ als<br />

einer bedeutsamen Kategorie zur Analyse von Nationalsozialismus und Holocaust,<br />

die über die personelle Ebene von Mädchen und Frauen hinausweist,<br />

festzuhalten, bedarf es zunächst einer Differenzierung der verschiedenen Ebenen<br />

sowie einer kritischen Betrachtung dessen, was durch die gender-spezialisierte<br />

Perspektive jeweils in den Blick genommen werden soll und kann <strong>–</strong> und welche<br />

Sichtverluste und Ausblendungen damit möglicherweise einhergehen. Es lassen<br />

sich zunächst grob drei Ebenen unterscheiden, bei denen Geschlecht im Kontext<br />

einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus <strong>–</strong> besonders<br />

in Bezug auf das Lager <strong>Uckermark</strong> <strong>–</strong> in je eigener Weise relevant werden kann:<br />

Erstens: die personelle, individuelle Ebene: Hierzu zählen die Opfer des<br />

Nationalsozialismus und ihre unterschiedlichen (geschlechtsspezifischen) Erfahrungen<br />

von Diskriminierung und Verfolgung ebenso wie die Täter_innen, ihre<br />

biografischen Hintergründe und individuellen (geschlechtsspezifischen) Sichtweisen<br />

und Motivationen, aber auch die in der Gegenwart Handelnden, die sich<br />

aus heutiger Perspektive mit der Vergangenheit und der Erinnerung an diese<br />

beschäftigen.<br />

Zweitens: die strukturelle Ebene der nationalsozialistischen Institutionen,<br />

Gesetze, Verfolgungsgründe, „Rasse“-Definitionen, vergeschlechtlichten Handlungsfelder<br />

und -spielräume sowie Karriere- und Aufstiegschancen etc. sowie<br />

die damit verbundenen, teilweise bis in die Gegenwart reichenden Kontinuitäten<br />

der Diskriminierung und Ausgrenzung z. B. von als ‚asozial‘ Stigmatisierten.<br />

Drittens: die Ebene der gesellschaftlichen Diskurse und Repräsentationen,<br />

Metaphern und Symboliken, die in einem spezifischen historischen Kontext<br />

relevant werden <strong>–</strong> hierzu gehören beispielsweise die antisemitischen Diskurse<br />

und Klischeebilder des Nationalsozialismus, Repräsentationen von „Nation“ und


16 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

„Volksgemeinschaft“ usw., die über vergeschlechtlichte Metaphern repräsentiert<br />

und plausibilisiert werden. Zu dieser Ebene zählen auch die Erinnerungsdiskurse<br />

und -politiken der Gegenwart, ihre Auslassungen und Überblendungen sowie<br />

politische, pädagogische und künstlerische Formen, Entwürfe und „Trends“<br />

des Erinnerns und Gedenkens, die jeweils Spezifisches hervorheben oder z. B.<br />

bestimmte Personen oder Personengruppen in den Vordergrund rücken, die<br />

als „erinnerungswürdig“ gelten. Grundlegend ist in diesem Kontext die (feministische)<br />

Erkenntnis, dass die Repräsentationen der NS-Vergangenheit, zum<br />

Beispiel Darstellungen und Deutungen von Täter_innenschaft, immer auch<br />

geschlechtlich strukturiert sind.<br />

Dabei gilt es zwischen den historischen Ereignissen selbst und der Ebene<br />

der Repräsentationen, Deutungen und Bilder zu unterscheiden. Im Zuge poststrukturalistischer<br />

und konstruktivistischer Ansätze hat sich die Erkenntnis<br />

durchgesetzt, dass ein unmittelbarer Zugriff auf die Geschichte unmöglich ist.<br />

Auch historische (ebenso wie feministische) Arbeiten eröffnen demnach keinen<br />

unverstellten, objektiven Blick auf die Geschichte, wie sie „wirklich“ war, sondern<br />

betreiben vielmehr eine aktive Aneignung und Deutung der historischen<br />

Ereignisse, die zwangsläufig Schwerpunkte setzt, Interpretationen vornimmt,<br />

Identifikationen beinhalten kann und die Ereignisse oder auch nur bestimmte<br />

Aspekte von einem heutigen Standpunkt aus betrachtet und ihnen Bedeutung<br />

verleiht. Das heißt, Erinnerung und kollektives Gedächtnis, also die Frage, was<br />

überhaupt und in welcher Form erinnert werden soll und Einzug in das kollektive<br />

Gedächtnis einer Gesellschaft hält, sind stets umkämpft und in Bewegung,<br />

sie werden innerhalb gesellschaftspolitischer, diskursiver, häufig medial<br />

vermittelter Aushandlungsprozesse immer wieder neu festgelegt. Begriffe wie<br />

„doing memory“ (Meike Penkwitt) oder „doing history“ (Harald Welzer) tragen<br />

einem solchen Verständnis von Erinnern und Gedächtnis als einem aktiven<br />

Herstellungsprozess Rechnung. Übertragen auf feministische Ansätze, die die<br />

Vergangenheit aus einer <strong>Geschlechter</strong>perspektive beleuchten und mit spezifischen<br />

Deutungen versehen, könnte daher auch von einem „doing feminism“<br />

gesprochen werden.<br />

Die Kategorie Geschlecht spielt in diesen Aushandlungsprozessen insofern<br />

eine zentrale Rolle, da sie sowohl die Wahrnehmung als auch die Darstellung<br />

des historischen Geschehens (mit) strukturiert. Nicht nur Wer und Was, auch<br />

Wie erinnert wird, ist entlang geschlechtlicher Zuschreibungen organisiert <strong>–</strong><br />

womit im Rahmen der zweigeschlechtlichen Ordnung stets ein hierarchisches<br />

Verhältnis impliziert ist. Das bipolare Zuordnen der Vergangenheit nach Geschlecht<br />

funktioniert insgesamt als eine „verborgene Praxis der Bedeutungszu-


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 17<br />

weisung“. 10 Meike Günther (in diesem Band) spricht deshalb in Anlehnung an<br />

Brigitte Dehne von Geschlecht als einem „Regulator“, der die Erinnerung und<br />

die mit ihr einhergehenden Theorien, Alltagsvorstellungen, Begriffe, Normierungen<br />

etc. mit einem symbolischen Wert auflädt, ohne dass diese Prozesse<br />

jedoch selbst unbedingt explizit würden.<br />

Arbeiten insbesondere aus dem Bereich der Kulturwissenschaften haben die<br />

spezifische Bedeutung und Wirksamkeit von <strong>Geschlechter</strong>bildern in den Darstellungen<br />

und Deutungen des Nationalsozialismus rekonstruiert und dabei vor<br />

allem auf deren entlastende Funktionen aufmerksam gemacht. 11 Silke Wenk<br />

und Insa Eschebach formulieren als übergreifende These: „Wenn <strong>Geschlechter</strong>bilder<br />

[. . . ] Darstellungen historischer Ereignisse strukturieren, ist der Effekt<br />

eine Naturalisierung von Geschichte. Die konkreten, historisch benennbaren<br />

Ereignisse werden zu Manifestationen einer natürlich gegebenen Ordnung beziehungsweise<br />

zu deren Umkehrung umartikuliert. Das Besondere, das Außergewöhnliche<br />

und Entsetzen Erregende droht ‚gezähmt‘ und damit normalisiert<br />

zu werden.“ 12 Mit anderen Worten: Indem sich „Geschlecht“ als Folie über die<br />

historischen Ereignisse legt, kann das Geschehen plausibel gemacht werden. Geschlecht<br />

trägt somit zur Wiederherstellung der Ordnung und Beruhigung bei<br />

<strong>–</strong> was häufig den Effekt einer Schuldabwehr und -entlastung erfüllt. So werden<br />

Stereotype und Metaphern von Geschlecht zum Beispiel auf die Wahrnehmung<br />

der Opfer und Täter_innen des NS übertragen und zur Erklärung ihrer Taten<br />

herangezogen. Täterschaft wird dabei zumeist „männlich“ gedacht <strong>–</strong> wodurch<br />

Täterinnen dem Blick entzogen werden. Sind Frauen überhaupt als Täterinnen<br />

benannt, werden sie häufig entlang geschlechtlicher Klischees und Stereotype<br />

präsentiert, z. B. als fehlgeleitete Ausnahme und „unweibliche“ Exzesstäterin<br />

und Bestie. 13 <strong>Geschlechter</strong>bilder können aber auch zur Charakterisierung des<br />

NS-Systems als Ganzes dienen. Wie Insa Eschebach und Silke Wenk darlegen,<br />

kann die symbolische Feminisierung des Faschismus die „Selbstviktimisierung“<br />

10 Katrin Hoffmann-Curtius, Feminisierung des Faschismus, in: Claudia Keller/LiteraturWERKstatt<br />

Berlin (Hg.), Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt<br />

schon der Tag. Antifaschismus: Geschichte und Neubewertung, Berlin 1996, S. 45<strong>–</strong>69, hier<br />

S. 51.<br />

11 Vgl. stellvertretend die Beiträge in Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Silke Wenk (Hg.), Gedächtnis<br />

und Geschlecht, Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids,<br />

Frankfurt a. M./New York 2002.<br />

12 Silke Wenk/Insa Eschebach, Soziales Gedächtnis und <strong>Geschlechter</strong>differenz. Eine Einführung,<br />

in: Eschebach/Jacobeit/Wenk (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht, S. 13<strong>–</strong>38, hier S.<br />

22.<br />

13 Vgl. auch Anette Kretzer, NS-Täterschaft und Geschlecht: Der erste britische Ravensbrück-<br />

Prozess 1946/47 in Hamburg, Berlin 2009.


18 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

der Tätergesellschaft begünstigen: Ist das deutsche „Volk“, das die Nationalsozialisten<br />

an die Macht brachte, über die Zuordnung zum Weiblichen einmal<br />

auf der Seite des Schwachen platziert, so lässt es sich als „Opfer“ beschreiben:<br />

verführt und vergewaltigt. 14<br />

Überträgt man die verschiedenen Dimensionen von Geschlecht im Kontext<br />

des Nationalsozialismus auf die Frage nach einem „angemessenen“ Erinnern und<br />

Gedenken an das ehemalige ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong> bzw. die konkrete<br />

Umsetzung und Gestaltung eines (zukünftigen) Gedenkortes, kristallisieren sich<br />

weitere Diskussionspunkte heraus, die auch die Arbeit an diesem Buch und<br />

unsere Diskussionen im Vorfeld begleitet haben.<br />

Für <strong>Uckermark</strong> ergibt sich insofern eine besondere Situation, als das Gedenken<br />

und Erinnern von vielen Akteur_innen selbst als explizit „feministisch“<br />

definiert wird. Was aber genau ist darunter zu verstehen und wie unterscheidet<br />

sich ein „feministisches Erinnern“ von anderen Erinnerungsformen? Wie<br />

Corinna Tomberger, Lisa Gabriel und Lena Nowak in diesem Band argumentieren,<br />

kann auch eine dezidiert feministische Herangehensweise an Gedenken<br />

und Erinnern problematische Ausblendungen oder Umdeutungen hervorbringen.<br />

Kritisch wird dabei vor allem ein „parteilicher“ oder auch „identifikatorischer“<br />

Zugang diskutiert, der auf der einen Seite Interesse wecken und damit<br />

individuelle Zugänge und politisches Engagement überhaupt erst ermöglichen<br />

kann, andererseits jedoch Gefahr läuft, die vergangenen Ereignisse oder Stimmen<br />

der Überlebenden für gegenwärtige Anliegen zu instrumentalisieren. Eigene<br />

(feministische) Identifikationen können also problematische Überblendungen<br />

beinhalten.<br />

Andererseits stellt eine feministische Parteinahme eine notwendige Intervention<br />

in tradierte, sexistische Wahrnehmungsmuster dar, die mit dazu geführt<br />

haben, dass das Lager <strong>Uckermark</strong> und die Geschichten seiner Opfer vergessen<br />

gemacht wurden. Kontinuitäten der Stigmatisierung und Sexualisierung<br />

sogenannter ‚asozialer‘ Mädchen und Frauen haben dazu beigetragen, dass sie<br />

und ihre Geschichten bis heute gesellschaftlichen Tabuisierungen und Abwertungen<br />

unterliegen. Feministische Erinnerungspolitiken verfolgen erklärterweise<br />

das Ziel, patriarchale Strukturen und Sexismus damals und heute zu thematisieren,<br />

Kontinuitäten und Differenzen sichtbar zu machen und damit die sexistischen<br />

Wahrnehmungsmuster selbst zu durchbrechen, indem (in der Tradition<br />

der frühen Frauenforschung) eine „vergessene Frauen- und Mädchengeschichte“<br />

14 Wenk/Eschebach, Soziales Gedächtnis, in: Eschebach/Jacobeit/Wenk, Gedächtnis und Geschlecht,<br />

S. 26. Vgl. auch Hoffmann-Curtius, Feminisierung.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 19<br />

jenseits der androzentrischen Geschichtsschreibung sichtbar gemacht wird (vgl.<br />

für einen dezidiert feministischen Zugang auch den Beitrag von Mona Büren,<br />

Vivien Laumann, Ellen Reitnauer und Katharina Voß in diesem Band). Ein feministischer<br />

Ansatz, der sich im weiteren Sinne als Gesellschaftskritik versteht,<br />

kann zudem die Problematiken, die mit staatlichen Erinnerungsdiskursen und<br />

-politiken generell verbunden sind, sichtbar machen (vgl. auch den Artikel von<br />

Sylvia Degen und Claudia Krieg in diesem Band).<br />

Nicht nur auf Seiten der unterschiedlichen Akteur_innen, sondern auch im<br />

Hinblick auf eine Thematisierung der Verfolgungsgründe wird die Kategorie<br />

„Geschlecht“ im Kontext von <strong>Uckermark</strong> relevant. So hat die nationalsozialistische<br />

Verwendung der Kategorie ‚asozial‘ deutlich geschlechtliche Implikationen,<br />

die auch nach 1945 eine Thematisierung der Verfolgungsgründe sowie eine Anerkennung<br />

der als ‚asozial‘ Verfolgten erschwert und behindert haben.<br />

Auch im Hinblick auf die Umsetzung und Gestaltung eines Gedenkortes<br />

<strong>Uckermark</strong>, wie z. B. die hypothetische Einrichtung einer Gedenkstätte <strong>Uckermark</strong>,<br />

die Erarbeitung geeigneter pädagogischer Konzepte und Bildungsmaterialien<br />

oder aber die Thematisierung des ehemaligen Lagers <strong>Uckermark</strong> im Rahmen<br />

von Ausstellungen, wie z. B. der neuen Hauptausstellung der Mahn- und<br />

Gedenkstätte Ravensbrück stellt sich für uns die Frage nach dem Zusammenhang<br />

von Geschlecht und Erinnerung. Zu diskutieren wäre aus der Perspektive<br />

einer gendersensiblen Gedenkstättenpädagogik neben der Frage der Gestaltung<br />

auch die der Rezeption <strong>–</strong> etwa die Frage nach einem „geschlechtsspezifischen“<br />

Zugang auf Seiten derer, die künftig eine Ausstellung, Gedenkstätte oder Bildungsveranstaltung<br />

besuchen. Wie Meike Günther in diesem Band ausführt, ist<br />

der Zugang zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit<br />

generell abhängig von dem spezifischen Hintergrund, der Lebenssituation<br />

und gesellschaftlichen wie politischen Verortung und Motivation der Einzelnen.<br />

Lässt sich deshalb aus der Tatsache, dass in <strong>Uckermark</strong> (bis zur Umwandlung<br />

in ein ‚Tötungslager‘ 1945) ausschließlich Mädchen inhaftiert waren, eine besondere<br />

„Chance“ ableiten, die nun besonders den jugendlichen Gedenkstättenbesucherinnen<br />

einen Einstieg ins Thema ermöglichen könnte? Oder liegt<br />

in einem solchermaßen auf individuelle und biografische Zugänge verkürzten<br />

Gender-Ansatz nicht gerade die Gefahr, auf die auch Günther in ihrem Beitrag<br />

hinweist, gegenwärtige Weiblichkeitskonstruktionen über die Vergangenheit zu<br />

legen und damit zu universalisieren? Diskutiert werden könnte in diesem Zusammenhang<br />

auch das pädagogische Konzept der KZ-Gedenkstätte Moringen,<br />

das, da es sich ebenfalls um ein ehemaliges Jugendkonzentrationslager handelt,<br />

möglicherweise auch für einen Gedenkort <strong>Uckermark</strong> Anregungen bereithält.


20 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

Das dort umgesetzte Konzept scheint sich jedoch auf ähnliche Analogiebildungen<br />

<strong>–</strong> wenn auch nicht in Bezug auf Geschlecht <strong>–</strong> zu berufen, die primär die<br />

Gemeinsamkeiten zwischen Gestern und Heute in den Vordergrund stellen. So<br />

heißt es in der Selbstdarstellung der Gedenkstätte: „Moringen ist vor allem ein<br />

Lernort für Jugendliche“, der in erster Linie diesen <strong>–</strong> da die damals Inhaftierten<br />

Jugendliche waren <strong>–</strong> „sehr direkte Zugänge“ zur NS-Geschichte ermögliche, da<br />

sie „unmittelbar“ an ihre eigene soziale Situation anknüpften. 15 Darüber hinaus<br />

wäre zu überlegen, wie eine „geschlechtergerechte“ Repräsentation der Vergangenheit<br />

in einer Ausstellung oder in pädagogischen Materialien gewährleistet<br />

werden könnte. In den Blick kommen dabei nicht nur die Formen und Ziele von<br />

Erinnerung und Gedenken, sondern auch ausgewählte Inhalte und Gegenstände<br />

wie Fotos oder Dokumente, anhand derer der Vergangenheit gedacht werden<br />

soll. 16<br />

Wie könnte also die Geschichte an einem möglichen Gedenkort <strong>Uckermark</strong><br />

didaktisch gestaltet und pädagogisch vermittelt werden? Macht es Sinn, im<br />

Kontext der ‚Jugendschutzlager‘ an die aktuellen Lebensrealitäten von Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen anzuknüpfen, um sie für das Thema zu<br />

interessieren? Wie kann die Geschlechtsspezifik der Kategorie ‚asozial‘ und der<br />

Verfolgungsgeschichte der so Klassifizierten aufgearbeitet und vermittelt werden,<br />

ohne angesichts der Kontinuitäten nach 1945 in simplifizierende Vergleiche<br />

15 So heißt es auf der Webseite der KZ-Gedenkstätte Moringen unter der Überschrift „Moringen<br />

ist vor allem ein Lernort für Jugendliche“: „Jugendliche stoßen hier auf sehr direkte<br />

Zugänge zur NS-Geschichte, die sich unmittelbar ausgehend von ihrer eigenen sozialen<br />

Situation eröffnen. An der Geschichte des Jugend-KZ kann die Entstehung und<br />

Wirkung von Vorurteilsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen beschrieben werden.<br />

Eine Auseinandersetzung mit Häftlingsbiographien unterstützt dabei den inhaltlichen Zugang<br />

im Rahmen der Führung. Ein besonderer Schwerpunkt gilt der Arbeit mit sozial<br />

benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen.“ Vgl. http://www.gedenkstaettemoringen.de/gedenkstaette/fuhrungen/fuhrungen.html<br />

(aufgerufen am 20.06.2012). Wie<br />

dieser Abschnitt aus der Selbstdarstellung der Gedenkstätte nahelegt, scheint der „direkte<br />

Zugang zur NS-Geschichte“ und der daraus abgeleitete Lernerfolg nicht nur aus einer ähnlichen<br />

Altersstruktur der Jugendlichen zu resultieren, sondern auch aus einem ähnlichen<br />

sozialen Status der Gedenkstättenbesucher_innen und den ehemals Inhaftierten abgeleitet<br />

zu werden. So werden speziell „sozial benachteiligte“ Jugendliche angesprochen, verbunden<br />

mit dem Hinweis, dass in dem ehemaligen Jugend-KZ Moringen überwiegend als ‚Asoziale‘<br />

oder ‚Kriminelle‘ stigmatisierte Jugendliche inhaftiert waren.<br />

16 Irit Rogoff und Kathrin Hoffman-Curtius haben zum Beispiel für die Versuche, den Nationalsozialismus<br />

über Weiblichkeitsmetaphern zu visualisieren, die Formulierung „Feminisierung<br />

des Faschismus“ geprägt; vgl. Irit Rogoff, Von Ruinen zu Trümmern. Die Feminisierung<br />

des Faschismus in deutschen historischen Museen, in: Silvia Baumgart, et al. (Hg.),<br />

Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft. 5. Kunsthistorikerinnentagung in Hamburg,<br />

Berlin 1993, S. 258-285; Kathrin Hoffmann-Curtius, Feminisierung.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 21<br />

zu verfallen, die heutige <strong>Geschlechter</strong>konstruktionen auf die Geschichte projizieren<br />

und dichotome <strong>Geschlechter</strong>konstruktionen zu reproduzieren und zu verfestigen<br />

drohen? Meike Günther schlägt in ihrem Beitrag eine intersektionale<br />

Herangehensweise vor, die diese Fallstricke umgehen könnte. Anhand der Impulse<br />

der theoretischen Auseinandersetzungen um Intersektionalität zeigt sich,<br />

wie aktuelle Debatten um Geschlecht den Blick auf die Geschichte und den<br />

Umgang mit ihr prägen bzw. verändern können. Eine (kritische) Auseinandersetzung<br />

mit Geschlecht als Struktur- und Analysekategorie, die wir als Herausgeber_innen<br />

dieses Bandes führen wollen, verweist auf die eingangs ausgeführten<br />

unterschiedlichen Herangehensweisen sowie die vielschichtigen Ebenen der<br />

Kategorie Geschlecht in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.<br />

Diese verschiedenen <strong>Perspektiven</strong> und Dimensionen von Geschlecht zeigen sich<br />

explizit wie implizit auch in den Beiträgen dieses Bandes, wobei nur ein Teil<br />

der Beiträge die Kategorie einbezieht.<br />

Die Kategorie ‚asozial‘<br />

Eine geschlechtersensible Herangehensweise erweist sich in der Auseinandersetzung<br />

mit der nationalsozialistischen Kategorie „Asozialität“ als unerlässlich,<br />

um die Konstruktions- und Ausgrenzungsmechanismen der nationalsozialistischen<br />

„Rassen“- und Sozialpolitik nachvollziehen zu können. Die Kategorie weist<br />

vergeschlechtlichte Aspekte auf, an sie waren verschiedene Männlichkeits- und<br />

Weiblichkeitsvorstellungen geknüpft. Während zunächst vor allem Bettler als<br />

‚asozial‘ verfolgt wurden, waren es ab 1940 vorrangig junge, sexuell „unangepasste“<br />

Frauen, sodass von einer „Feminisierung der ‚Asozialen‘-Verfolgung“ 17<br />

gesprochen werden kann.<br />

Bei der Definition der Kategorie ‚Asozial‘ im Nationalsozialismus konnte<br />

auf ältere gesellschaftspolitische Debatten zur Ausgrenzung vermeintlich unangepasster<br />

Menschen zurückgegriffen werden. „Weder die Definition der ‚Asozialität‘<br />

noch die Verfolgung der ‚Asozialen‘ waren Erfindungen der Nationalsozialisten.<br />

Die Armenzählungen der Vormoderne unterschieden immer schon<br />

17 Annette Eberle, Häftlingskategorien und Kennzeichnungen, in: Wolfgang Benz/Barbara<br />

Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager.<br />

Band 1: Die Organisation des Terrors, München 2005, S. 91<strong>–</strong>109, hier S. 97. Während<br />

der sogenannten „Aktion Arbeitsscheu Reich“, bei der im April und Juni 1938 über 10000<br />

Personen als „Asoziale“ in Konzentrationslagern inhaftiert wurden, war der Anteil der Frauen<br />

noch sehr gering.


22 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

zwischen Arbeitswilligen und Müßiggängern.“ 18 Bereits in der Weimarer Republik<br />

wurden rassenhygienische und erbbiologische Deutungsmuster herangezogen,<br />

um die behauptete Verwahrlosung von Jugendlichen mit der angenommenen<br />

Vererbung von Charaktereigenschaften zu erklären. 19 Seit 1918 wurden<br />

im Rahmen der Vereinheitlichung der reichsweiten Fürsorgegesetzgebung die<br />

Einführung eines „Bewahrungsgesetzes“ und sogenannte Bewahranstalten für<br />

unerziehbare Jugendliche diskutiert. 20 Diese Aspekte von Vorgeschichte und<br />

Kontinuitäten der Ausgrenzung vermeintlich unangepasster Jugendlicher und<br />

der Konstruktion der Kategorie ‚asozial‘ arbeitet Christa Schikorra in diesem<br />

Band anhand von zwei sozialpolitischen Vordenkerinnen, Hilde Eiserhardt und<br />

Lilly Zarncke, von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegsgeschichte der<br />

Bundesrepublik auf.<br />

Unter dem NS-Regime kam es<br />

zu einer Verschärfung der Ausgrenzung<br />

der nun als ‚gemeinschaftsfremd‘<br />

Klassifizierten. 21 Eine eindeutige<br />

juristische Definition der Kategorie<br />

‚asozial‘ gab es jedoch nicht, vielmehr<br />

unterlag sie einem Wandlungsprozess.<br />

Insgesamt blieb die Zuordnung<br />

zur Kategorie ‚asozial‘ diffus.<br />

Sie stellte eine „von außen auferlegte<br />

extrem abwertende Sammelbezeichnung<br />

für abweichendes Verhalten unterschiedlichster<br />

Form“ dar. 22 Damit<br />

waren sowohl die Zuordnung zu die-<br />

18 Wolfgang Ratze, Die Rolle der Verwaltung bei der Vernichtung „asozialen“ Lebens, in:<br />

telegraph (Berlin 2008) 116/117, S. 75<strong>–</strong>102, hier S. 75.<br />

19 Regina Fritz, Die „Jugendschutzlager“ <strong>Uckermark</strong> und Moringen im System nationalsozialistischer<br />

Jugendfürsorge, in: Ernst Berger (Hg.), Verfolgte Kindheit. Kinder und Jugendliche<br />

als Opfer der NS-Sozialverwaltung, Wien 2007, S. 303<strong>–</strong>326, hier S. 305.<br />

20 Christa Schikorra, Über das Zusammenspiel von Fürsorge, Psychiatrie und Polizei bei der<br />

Disziplinierung auffälliger Jugendlicher, in: Thomas Beddies/Kristina Hübener (Hg.), Kinder<br />

in der NS-Psychiatrie, Berlin 2004, S. 86<strong>–</strong>106.<br />

21 Fritz, Die „Jugendschutzlager“, S. 305 f. Auch das sogenannte Gemeinschaftsfremdengesetz<br />

scheiterte zunächst aufgrund der Kompetenzstreitigkeiten von Polizei und Justiz und wurde<br />

wegen des Kriegsgeschehens nie verabschiedet. Etwa eine Million Menschen wären von dem<br />

Gesetz betroffen gewesen.<br />

22 Wolfgang Ayaß, Nicht der Einzelne zählte . . . „Gemeinschaftsfremd“ im nationalsozialistischen<br />

Österreich, in: Verein zur Förderung des DOWAS (Hg.), Aus so krummem Holze, als


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 23<br />

ser Kategorie wie auch die Verfolgungspraxis für Jugendliche, Frauen, Männer<br />

und zum Teil ganze Familien, die die gesellschaftlichen Normen in irgendeiner<br />

Weise verletzten, willkürlich. 23<br />

Vermeintlich abweichendes Sozialverhalten galt als Ausdruck „minderwertiger“<br />

Erbanlagen. Dennoch blieb ein Spannungsverhältnis zwischen der angenommenen<br />

Unveränderlichkeit sozialen Verhaltens aufgrund von dessen angeblicher<br />

Vererbung und einer angestrebten „Besserungsfähigkeit“ bzw. Erziehbarkeit<br />

bestehen. Als nicht-„arisch“ klassifizierte Jugendliche, also z. B. Juden,<br />

Roma und Sinti und Schwarze, galten im Nationalsozialismus jedoch als grundsätzlich<br />

nicht „erziehungswürdig“ und „unverbesserlich“ und sollten aus der öffentlichen<br />

Erziehung ausgeschlossen werden. 24 Mit der Konstruktion und Ausgrenzung<br />

vermeintlich unsittlicher, verwahrloster ‚Asozialer‘ war der Entwurf<br />

einer „Volksgemeinschaft“ verbunden, die als sittlich, ordentlich und diszipliniert<br />

vorgestellt wurde (vgl. den Beitrag von Dörthe Schulz und Roman Klarfeld<br />

in diesem Band).<br />

Der Erlass zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“<br />

von 1937 bildete eine der juristischen Grundlagen für die nun systematisch<br />

einsetzende Einweisung von als ‚asozial‘ Kategorisierten in Konzentrationslager.<br />

25 1938 bildeten ‚Asoziale‘ mit Abstand die größte Häftlingsgruppe in den<br />

Konzentrationslagern. 26 Jedoch waren die Haftgründe im Einzelnen sehr unterschiedlich,<br />

was die Herausbildung einer gemeinsamen Gruppenidentität und<br />

Strukturen der Solidarität in den Lagern erschwerte. Zudem umfasste die Häftworaus<br />

der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. [30 Jahre<br />

DOWAS Innsbruck], Innsbruck 2006, S. 77<strong>–</strong>87, hier S. 77.<br />

23 Anhand des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück weist Christa Schikorra nach, dass<br />

unter den als ‚asozial‘ inhaftierten Frauen Roma und Sinti waren, zudem fand sie vereinzelte<br />

Hinweise auf polnische, jüdische, afrikanische und asiatische sowie lesbische Frauen.<br />

Vgl. Christa Schikorra, Kontinuitäten der Ausgrenzung. „Asoziale“ Häftlinge im Frauen-<br />

Konzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2001, S. 10 f.<br />

24 Dazu ein nicht veröffentlichter Runderlass des Innenministers vom 21. Juli 1939, vgl. Kuhlmann,<br />

Heimerziehung im Nationalsozialismus, in: Eckhart Knab/Werner Nickolai/Norbert<br />

Scheiwe (Hg.), Für die Zukunft lernen, Freiburg 2000, S. 15. Diese als nicht-„arisch“ definierten<br />

Jugendlichen wurden in gesonderte Einrichtungen oder nach Auschwitz gebracht.<br />

25 Zu den rechtlichen Grundlagen und der Vorgeschichte vgl. Christa Schikorra, Kontinuitäten.<br />

Zur Definition des Personenkreises, der als ‚asozial‘ kategorisiert wurde, vgl. Christa<br />

Paul, Frühe Weichenstellung. Zum Ausschluss ‚asozialer‘ Häftlinge von Ansprüchen auf besondere<br />

Unterstützungsleistungen und auf Entschädigung, in: Katharina Stengel/Werner<br />

Konitzer (Hg.), Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit,<br />

Frankfurt a. M. 2008, S. 67<strong>–</strong>86, hier S. 68.<br />

26 Im Oktober 1938 machten die als ‚asozial‘ Inhaftierten etwa 70 % der Häftlinge in Konzentrationslagern<br />

aus, vgl. Eberle, Häftlingskategorien, S. 97.


24 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

lingskategorie keinen gemeinsamen Hintergrund oder positiven Bezugspunkt<br />

wie z. B. bei politischen Häftlingen. 27<br />

Ab 1940 wurden schließlich Arbeitserziehungslager und sogenannte ‚Jugendschutzlager‘<br />

errichtet, darunter 1942 das ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong>. Die<br />

Kriminalpolizei arbeitete bei der Einweisung von Jugendlichen in Konzentrationslager<br />

mit Gesundheitsämtern, Fürsorgeeinrichtungen und Arbeitsämtern<br />

zusammen. „Ausschlaggebend für eine Inhaftierung war das Abweichen von<br />

herrschenden gesellschaftlichen Normen. [. . . ] Ob ein Fürsorgezögling in ein<br />

‚Jugendschutzlager‘ eingewiesen wurde oder weiterhin der Fürsorgeerziehung<br />

anheimfiel, hing vom Ermessen der FürsorgerInnen, PolizeibeamtInnen oder<br />

GutachterInnen ab.“ 28 Für die Einweisung wurden dabei verschiedenste „Vergehen“<br />

herangezogen, wie z. B. „die Weigerung, der HJ oder dem BDM beizutreten,<br />

Ausschluss aus der HJ, ‚Arbeitsbummelei‘, Sabotage, ‚Unerziehbarkeit‘,<br />

‚Kriminalität‘, ‚Sittliche Verwahrlosung‘, ‚Rassenschande‘ und Homosexualität.<br />

Aber auch eugenische (Behinderte, Zwangssterilisierte), religiöse (Zeugen<br />

Jehovas) oder ‚rassische‘ (Juden, Sinti und Roma) Gründe konnten zu einer<br />

Inhaftierung führen“. 29<br />

Robert Ritter, führender NS-Rassentheoretiker, leitete die „Rassenhygienische<br />

und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ im Reichsgesundheitsamt,<br />

1941 übernahm er die „Kriminalbiologische Forschungsstelle“ und 1942 das „Kriminalbiologische<br />

Institut“ im Reichssicherheitshauptamt. Gemeinsam mit seiner<br />

Assistentin Eva Justin war er maßgeblich für die Erfassung und Klassifizierung<br />

von Roma und Sinti zuständig, die über deren Deportation, Zwangssterilisierung<br />

und Ermordung entschieden. Zudem beschäftigte er sich mit der Vorbereitung<br />

des „Gemeinschaftsfremdengesetzes“. In diesem Kontext begutachteten<br />

er und Justin Jugendliche in den Lagern Moringen und <strong>Uckermark</strong> und entschieden,<br />

ob diese „erziehbar“ oder „unerziehbar“ seien. Auf dieser Grundlage<br />

wurden sie nach einem von Ritter entworfenen System verschiedenen Blocks zugeteilt,<br />

die zugleich über ihre Überlebenschancen entschieden. 30 Dörthe Schulz<br />

und Roman Klarfeld setzen sich in ihrem Beitrag mit der Debatte um Täter_innenschaft<br />

auseinander und arbeiten unter anderem die Biographien von<br />

27 Auch nach 1945 verfügte die ehemalige Häftlingsgruppe der ‚Asozialen‘ über keinerlei Lobby,<br />

was die Auseinandersetzungen um Entschädigung weiter erschwerte und ebenso dazu<br />

beitrug, dass ihre Leidensgeschichten bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus kaum<br />

Berücksichtigung fanden.<br />

28 Fritz, Die „Jugendschutzlager“, S. 311.<br />

29 Ebd., S. 311 f.<br />

30 Vgl. Fritz, Die „Jugendschutzlager“, S. 323 ff.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 25<br />

Robert Ritter und Eva Justin auf, die im ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong> ihre<br />

Forschung zu angeblicher Vererbung von kriminellen Handlungen betrieben.<br />

Bei den als ‚asozial‘ in Konzentrationslager Eingewiesenen unterschieden<br />

sich die Zuschreibungen für Mädchen bzw. Frauen von denen für Jungen bzw.<br />

Männer: Bei weiblichen gab es, anders als bei männlichen, den Haftgrund der<br />

„sexuellen Verwahrlosung“. Darunter wurden zum Beispiel Mädchen und Frauen<br />

mit Geschlechtskrankheiten gefasst. 31 Viele wurden wegen sogenannter Rassenschande,<br />

etwa Liebesverhältnissen mit „Fremdarbeitern“, inhaftiert. 32 Häufig<br />

wechselnder Geschlechtsverkehr, Prostitution und Geschlechtskrankheiten galten<br />

als Indiz für einen „liderlichen Lebenswandel“, „moralischen Schwachsinn“<br />

oder „sexuelle Verwahrlosung“. 33 „Nicht das einzelne Delikt oder der konkrete<br />

Tatvorwurf waren für das Urteil ‚asozial‘ ausschlaggebend, sondern die zum<br />

Charakter oder zur Anlage erklärten sozialen Normabweichungen der einzelnen<br />

Frau. Die einmal zum Sozialcharakter und zur erblichen Anlage erklärten Verfehlungen<br />

konnten deshalb auch nicht widerlegt werden.“ 34 Diesbezüglich äußerte<br />

sich auch die Leiterin des Lagers <strong>Uckermark</strong>, Lotte Toberentz: „Der Typ<br />

des kriminellen und asozialen Mädchens ist einheitlicher geprägt [im Vergleich<br />

zu männlichen Jugendlichen]. Ursache und Art des Entgleitens sind immer wieder<br />

entscheidend bedingt durch Triebhaftigkeit, die in Verbindung mit Hemmungslosigkeit<br />

und Minderbegabung zur sexuellen Verwahrlosung führt.“ 35<br />

Die Literatur, die den Zusammenhang zwischen der Kategorie ‚asozial‘ und<br />

Weiblichkeit herstellt, erweckt jedoch den Eindruck, dass alle Mädchen und<br />

Frauen, die nicht dem nationalsozialistischen Weiblichkeitsideal entsprachen,<br />

den Bestand der Volksgemeinschaft gefährdeten und daher ausgegrenzt und<br />

verfolgt wurden. Doch genau diese Verengung auf die Kategorie Geschlecht<br />

birgt die Gefahr, andere Aspekte zu überblenden und damit unsichtbar zu<br />

machen. Bei der Kategorie ‚asozial‘ spielen hinsichtlich der Interpretation sozialen<br />

Verhaltens auch „Rassen“- und Klassenkonstruktionen eine wesentliche<br />

Rolle, ebenso Vorstellungen und Ideale von Leistungsfähigkeit. Wenngleich Ge-<br />

31 Vgl. ebd., S. 313.<br />

32 Carola Kuhlmann, Heimerziehung, S. 7<strong>–</strong>20, hier S. 14.<br />

33 Netzwerk Initiative Gedenkort ehemaliges KZ <strong>Uckermark</strong>, Das Konzentrationslager für<br />

Mädchen und junge Frauen <strong>Uckermark</strong>, in: telegraph (Berlin 2008) 116/117, S. 64<strong>–</strong>67, hier<br />

S. 64.<br />

34 Schikorra, Kontinuitäten, S. 58 f.<br />

35 Lotte Toberentz zitiert nach Christa Schikorra, Die Landesanstalt Görden und das „Jugendschutzlager“<br />

<strong>Uckermark</strong>. Die Bedeutung von Rassenhygiene für die Inhaftierung weiblicher<br />

Jugendlicher, in: Limbächer/Merten/Pfefferle, Mädchenkonzentrationslager, S. 63<strong>–</strong>78, hier<br />

S. 71; vgl. Fritz, Die „Jugendschutzlager“, S. 313.


26 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

schlecht in der Auslegung von ‚Asozialität‘ wirksam wird, ist dies nicht der<br />

einzige Aspekt der Definition und Verfolgung. Mädchen und Frauen wurden<br />

nicht nur sexualisierte und vergeschlechtlichte Attribute zugewiesen, sie wurden<br />

auch als ungebildet, faul, ungezogen und kriminell bezeichnet, was auf eine<br />

ökonomische Deklassierung verweist. Zudem muss in der Erforschung der Alltagsgeschichte<br />

stärker zwischen einem propagierten Weiblichkeitsbild, und der<br />

gesellschaftlich lebbaren Praxis unterschieden werden, die durchaus divergentere<br />

<strong>Geschlechter</strong>entwürfe tolerierte. 36<br />

Die Konstruktion von ‚Asozialität‘ kann demnach als ein Teil der nationalsozialistischen<br />

(vergeschlechtlichten) „Rassen“-Politik verstanden werden, die<br />

den „arischen“ Volkskörper definiert und aufwertet und „Minderwertige“ nach<br />

rassenhygienischen Vorstellungen ausschließt. An Fürsorgezöglingen in Heimen<br />

und in Arbeitshäusern sowie an als ‚asozial‘ stigmatisierten KZ-Häftlingen wurden<br />

Zwangssterilisationen vorgenommen, was vor allem Mädchen und Frauen<br />

der Sinti und Roma betraf, zudem nahmen KZ-Ärzte und Ärztinnen medizinische<br />

Versuche an ‚Asozialen‘ mit Geschlechtskrankheiten vor. 37 Insofern waren<br />

nicht nur die Einweisungsgründe vergeschlechtlicht, sondern auch die Haftbedingungen<br />

im Konzentrationslager. Christa Schikorra arbeitet zudem aus Aktenbeständen<br />

der Kriminalpolizei heraus, dass die Mehrzahl der in polizeiliche<br />

Vorbeugehaft genommenen Frauen, die keine Prostituierten waren, aus dem<br />

proletarischen Milieu kam. 38 Insofern beinhaltete die Kategorie ‚asozial‘ sowohl<br />

vergeschlechtlichte, „rassische“ und klassenspezifische Konstruktionen. Als Begründung<br />

der Verwahrlosung bei männlichen Jugendlichen wurden hingegen<br />

vor allem rechtliche Tatbestände und Vorstrafen angeführt, das heißt, Jungen<br />

wurden im ehemaligen ‚Jugendschutzlager‘ Moringen vor allem als „kriminell“<br />

inhaftiert. 39 Eine detailliertere Analyse, welche Männlichkeitskonstruktionen<br />

sich bei den als ‚asozial‘ diskriminierten und verfolgten Jungen fanden, steht<br />

jedoch noch aus.<br />

In den Konzentrationslagern waren ‚Asoziale‘ Stereotypisierungen von Seiten<br />

anderer Häftlinge und Häftlingsgruppen ausgesetzt; Insa Eschebach zeigt<br />

dies in ihrem Artikel am Beispiel des KZ Ravensbrück. Die Stigmatisierung von<br />

Menschen als ‚asozial‘ geht jedoch weit über die NS-Zeit hinaus. Nach Kriegsende<br />

blieb die abwertende Stereotypisierung der ehemals als ‚asozial‘ Verfolgten<br />

36 Vgl. Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust: Sexualität in der deutschen Geschichte<br />

des 20. Jahrhunderts, München 2005.<br />

37 Vgl. Schikorra, Kontinuitäten, S. 170 ff.<br />

38 Vgl. ebd., S. 105 ff.<br />

39 Vgl. Fritz, Die „Jugendschutzlager“, S. 313.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 27<br />

bzw. der als solche Definierten bestehen. Viele der ehemals Inhaftierten erlebten<br />

fortgesetzte Internierung und Entmündigung in Heimen der BRD und<br />

der DDR. Ihre Geschichten blieben weitestgehend unbekannt und tabuisiert,<br />

sodass von einer „vergessenen Opfergruppe“ gesprochen werden kann. 40 Lisa<br />

Gabriel greift in ihrem Beitrag die Traumatisierung der ehemaligen weiblichen<br />

‚asozialen‘ Häftlinge und deren anhaltende Diskriminierung in der deutschen<br />

Nachkriegsgesellschaft auf und untersucht die Schwierigkeit des Sprechens angesichts<br />

ihrer tabuisierten Geschichten. Bis in die 1980er-Jahre erhielt diese<br />

Verfolgtengruppe nahezu keinerlei Entschädigung <strong>–</strong> ebenso wie ihre Geschichten<br />

lange kein Gehör fanden. 41<br />

<strong>Uckermark</strong> als (Gedenk-)Ort<br />

Die Unsichtbarkeit dieser Opfergruppe schlägt sich auch im institutionalisierten<br />

Gedenken bzw. in Gedenkstätten nieder, so dass die Geschichte der als<br />

‚asozial‘ verfolgten Mädchen und jungen Frauen sowie überhaupt die Existenz<br />

der nationalsozialistischen ‚Jugendschutzlager‘ bis heute wenig bekannt sind.<br />

„<strong>Uckermark</strong>“ steht heute vielmehr für eine idyllische Region in Brandenburg,<br />

in der Naherholung, Naturerlebnis und Fahrradfahren großgeschrieben werden.<br />

Dass einer der beliebten Rad- und Wanderwege unmittelbar an der ehemaligen<br />

Lagergrenze vorbeiführt, ist kaum bekannt. Außer den in Eigeninitiative angebrachten<br />

provisorischen Aufschriften und Schildern sowie einem Infokasten am<br />

Wegesrand weist bis heute nichts auf die Bedeutung und frühere Funktion des<br />

Geländes hin, das so als historischer Ort unerkannt bleibt.<br />

Während ein kleiner Teil des ehemaligen Konzentrationslagers Ravensbrück<br />

1959 als Mahn- und Gedenkstätte gestaltet wurde, ist das Gelände des ehemaligen<br />

Jugendkonzentrationslagers <strong>Uckermark</strong> an die sowjetische Armee übergeben<br />

worden. Wann genau die militärische Nutzung und Bebauung begann,<br />

lässt sich nicht mehr feststellen, da es keine entsprechenden Aufzeichnungen<br />

gibt. Fest steht jedoch, dass das Gelände bis 1959 noch keine militärische Verwendung<br />

fand <strong>–</strong> während das Gebiet des ehemaligen KZ Ravensbrück zu diesem<br />

Zeitpunkt bereits von der Sowjetarmee genutzt wurde. 42<br />

40 Zur Kontinuität der Ausgrenzung und Diskriminierung vgl. Schikorra, Kontinuitäten, S.<br />

212 ff. und 237 ff.<br />

41 Vgl. Paul, Weichenstellungen.<br />

42 Vgl. Sigrid Jacobeit, Zur Geschichte des Jugend-Konzentrationslagers <strong>Uckermark</strong> im Gesamtkonzept<br />

der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Ge-


28 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

Die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück bemühte sich seit den 1960er-<br />

Jahren immer wieder vergeblich um eine Erforschung und später auch um eine<br />

Nutzung und Gestaltung des benachbarten Geländes <strong>Uckermark</strong> (vgl. zum<br />

Umgang mit dem Gelände nach 1945 und zu den verschiedenen künstlerischen<br />

Entwürfen zur Gestaltung des Areals den Beitrag von Insa Eschebach in diesem<br />

Band). 43 Trotz dieses Engagements geriet der historische Ort <strong>Uckermark</strong><br />

jedoch weitestgehend in Vergessenheit, das Gelände blieb sich selbst überlassen.<br />

Erst nach der deutschen „Wiedervereinigung“ kam wieder Bewegung in die<br />

Debatte. Nach einer Begehung des Geländes am 19. September 1991 verfasste<br />

das Internationale Ravensbrück-Komitee ein Thesenpapier, in dem die Wichtigkeit<br />

des Geländes des Jugendkonzentrationslagers für die Neukonzeption der<br />

Gedenkstätte Ravensbrück betont wurde. 44 Seit 1992 zeigte die Mahn- und Gedenkstätte<br />

Ravensbrück die von Martin Guse und Andreas Kohrs konzipierte<br />

Wanderausstellung „Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“. 45 Diese<br />

Ausstellung thematisierte anhand der Beispiele Moringen und <strong>Uckermark</strong> die<br />

Jugendkonzentrationslager erstmals explizit. 46<br />

Die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück schrieb im Herbst 1997 gemeinsam<br />

mit der Stadt Fürstenberg einen internationalen landschaftsplanerischen<br />

Ideenwettbewerb zur Gestaltung des ehemaligen Lagergeländes <strong>Uckermark</strong> aus.<br />

Der erste Preis ging an einen Entwurf, der ein blaues Blumenfeld vorsah. 47 Dafür<br />

sollten die Bauten des sowjetischen Militärs abgetragen werden, da sie für<br />

das Gedenken und die historische Forschungsarbeit als unnötig erachtet wurden.<br />

Andere Überbauungen und bauliche Veränderungen aus der Zeit nach<br />

1945 sollten jedoch erhalten bleiben, um die Relikte aus den unterschiedlichen<br />

Zeiten sichtbar zu machen. 48 Der Entwurf wurde nicht umgesetzt, da historidenkstätten,<br />

in: Limbächer/Merten/Pfefferle, Mädchenkonzentrationslager, S. 232<strong>–</strong>239,<br />

hier S. 233.<br />

43 Vor allem Martha Engel, die damalige Direktorin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück,<br />

setzte sich dafür ein, dass die Denkmalbehörde das von Unrat übersäte Gelände<br />

räumt und eine historische Forschung ermöglicht. Vgl. Jacobeit, Zur Geschichte des Jugend-<br />

Konzentrationslagers <strong>Uckermark</strong>, S. 233 f.<br />

44 Vgl. Jacobeit, Zur Geschichte des Jugend-Konzentrationslagers <strong>Uckermark</strong>, S. 234.<br />

45 Vgl. Matthias Antkowiak/Angelika Meyer, Der wiederentdeckte Ort <strong>–</strong> archäologische Ausgrabungen<br />

in <strong>Uckermark</strong>, in: Limbächer/Merten/Pfefferle, Mädchenkonzentrationslager, S.<br />

219<strong>–</strong>231, hier S. 225 f.<br />

46 Vgl. http://www.martinguse.de/wander/index.htm (aufgerufen am 20.06.2012).<br />

47 Vgl. Stefanie Oswalt/Philipp Oswalt, Entwurf zur Gestaltung der erweiterten Gedenkstätte<br />

Ravensbrück, in: Limbächer/Merten/Pfefferle (Hg.), Mädchenkonzentrationslager,<br />

S. 240<strong>–</strong>252, hier S. 240.<br />

48 Vgl. ebd., S. 243 f.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 29<br />

sche und archäologische Vorarbeiten notwendig gewesen wären und niemand<br />

die finanzielle Verantwortung übernahm. 49 Zudem äußerte u. a. die Lagergemeinschaft,<br />

die nicht in die Ausschreibung und Konzeption des Wettbewerbs<br />

einbezogen worden war, Kritik an der Herangehensweise und plädierte dafür,<br />

die historische Forschung an den Anfang zu stellen. So umfasst das Gebiet,<br />

für das der Wettbewerb ausgeschrieben war, nicht einmal das ganze Gelände<br />

des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers. 50 In diesem Zusammenhang problematisierte<br />

die Lagergemeinschaft die Symbolik des Blumenbeetes, da diese<br />

Form des Gedenkens eine weitere Überdeckung der Geschichte darstelle, und<br />

forderte stattdessen die Erforschung, Freilegung und Erhaltung der noch vorhandenen<br />

Spuren. 51<br />

Seit 1997 finden regelmäßig Workcamps bzw. Baucamps statt, deren Ziel<br />

es ist, die Geschichte des Jugendkonzentrationslagers aufzuarbeiten und den<br />

historischen Ort wieder sichtbar zu machen, wobei die Herangehensweisen im<br />

Einzelnen so verschieden wie die Initiator_innen sind. 52 Da es zunächst keine<br />

genauen Kenntnisse über Lage und Größe des ehemaligen ‚Jugendschutzlagers‘<br />

und späteren Tötungslagers gab, war es für die teils internationalen Workcamps<br />

zuallererst wichtig, den Ort zu erkunden und „wiederzuentdecken“. 53 Das erste<br />

FrauenLesben-Baucamp wurde 1997 von Frauen aus der Lagergemeinschaft<br />

Ravensbrück initiiert und organisiert. Während dieses ersten Camps wurde<br />

mithilfe eines Archäologen auf dem Gelände gearbeitet. Bereits freigelegte Barackenfundamente<br />

wurden dokumentiert, ein weiteres konnte freigelegt werden.<br />

Die Funde mussten jedoch am Ende wieder zugeschüttet werden, da kein<br />

Geld für eine fachgerechte Erhaltung vorhanden war. Um die Öffentlichkeit<br />

zu informieren, stellten die Teilnehmenden Tafeln mit Hintergrundinformationen<br />

und Plänen, die das Gelände erläutern, in dessen unmittelbarer Nähe auf.<br />

Seit 2002 finden die FrauenLesben-Baucamps bzw. FrauenLesbenTransgender-<br />

Baucamps, wie sie seit 2003 heißen, regelmäßig einmal im Jahr statt. Sie haben<br />

sich die Gestaltung des Geländes durch Beschilderungen, Rundgänge, Bereitstellung<br />

von Informationsmaterial etc. sowie deren Instandhaltung zur Aufgabe<br />

49 Vgl. ebd., S. 249 f.<br />

50 Vgl. Rosel Vadehra-Jonas, Das Jugendschutzlager heute aus der Sicht der Lagergemeinschaft<br />

Ravensbrück/Freundeskreis, in: Limbächer/Merten/Pfefferle, Mädchenkonzentrationslager,<br />

S. 253<strong>–</strong>266, hier S. 262.<br />

51 Vgl. Bixi Erhardt/Viola Klarenbach, Für eine lebendige Gedenkstätte am authentischen<br />

Ort: Wie geht es weiter mit dem <strong>Uckermark</strong>-Gelände?, in: Limbächer/Merten/Pfefferle,<br />

Mädchenkonzentrationslager, S. 267<strong>–</strong>280, hier S. 276.<br />

52 Vgl. Antkowiak/Meyer, Der wiederentdeckte Ort, S. 219.<br />

53 Vgl. ebd., S. 226.


30 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

gemacht (zur Geschichte und politischen Ausrichtung der Baucamps vgl. ausführlich<br />

die Beiträge von Degen/Krieg sowie Büren/Laumann/Reitnauer/Voß<br />

in diesem Band). Auf Initiative des Netzwerks wurde außerdem der bereits<br />

genannte Gedenkstein errichtet.<br />

Formen und Politiken des Gedenkens<br />

Spätestens als das ehemalige Lagergelände in den 1990er Jahren wieder zugänglich<br />

wurde, stellte sich die Frage nach Form und Inhalt des Gedenkens an<br />

die im Lager <strong>Uckermark</strong> inhaftierten Mädchen und Frauen sowie der konkreten<br />

Gestaltung des (Gedenk-)Ortes. Die Engagierten und Interessierten nähern<br />

sich dem Themenkomplex dabei aus sehr verschiedenen <strong>Perspektiven</strong> und Hintergründen,<br />

wie auch die Aufsätze dieses Bandes zeigen. Die Folge sind kontrovers<br />

geführte Debatten darüber, in welcher Form der Opfer vor Ort gedacht<br />

werden kann und soll: Wer gedenkt wie, wem und wo? Wie politisch, wie wissenschaftlich,<br />

wie parteilich bzw. wie (gesellschafts)kritisch muss oder darf die<br />

Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sein? Angesichts der anstehenden<br />

Konversion des Geländes und der damit näher rückenden Möglichkeit<br />

einer konkreten Gestaltung des Geländes bekommen diese seit Jahren geführten<br />

Debatten nun aber besondere Relevanz und Aktualität. Zugleich sind sie<br />

nicht spezifisch für das Gedenken im Kontext des ehemaligen ‚Jugendschutzlagers‘<br />

bzw. Jugend-KZ <strong>Uckermark</strong>, sondern berühren generell erinnerungspolitische<br />

Aspekte.<br />

Diese Fragen verweisen dabei nicht zuletzt auf die verschiedenen individuellen,<br />

wissenschaftlichen und politischen Hinter- und Beweggründe der Engagierten,<br />

Forschenden und Autor_innen, die Geschichte des Jugendkonzentrationslagers<br />

aufzuarbeiten und wachzuhalten. So ist die Solidarität mit den Opfern,<br />

die Thematisierung ihrer Leidensgeschichte, die Benennung der Täter_innen<br />

ebenso wie der gesellschaftlichen bzw. institutionellen Ursachen, genauso wie<br />

die Kritik an gegenwärtiger Sozialpolitik oder erinnerungspolitischen Diskursen<br />

wichtiger Bestandteil eines gesellschaftskritischen Politikverständnisses, das<br />

jedoch in wissenschaftlichen oder staatlichen Institutionen meist wesentlich seltener<br />

(explizit) zu finden ist als in autonom organisierten Zusammenhängen. 54<br />

So zeigt z. B. die Beschäftigung mit der Kategorie ‚asozial‘, dass die Geschichte<br />

54 Ein Beispiel für die Verknüpfung von NS-Geschichte mit aktuellen Formen sozialer Ausgrenzung<br />

ist der Sammelband „ausgesteuert, ausgegrenzt . . . angeblich asozial“, der die<br />

historische Forschung zum Komplex der „Asozialität“ mit einer politischen Gesellschafts-


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 31<br />

des Nationalsozialismus sich durchaus für eine Thematisierung von Kontinuitäten<br />

in der Sozialpolitik von BRD und DDR bis heute eignet, wobei zugleich<br />

<strong>–</strong> angesichts der Gefahr unpassender und verharmlosender Analogiebildungen<br />

<strong>–</strong> aber auch Brüche sichtbar gemacht werden müssen. Teil der Auseinandersetzung<br />

und zugleich Ausdruck der konfligierenden Herangehensweisen und Motivationen<br />

der Beteiligten ist auch eine ungleiche Einbeziehung und Bewertung<br />

der Frage nach dem angemessenen Grad der Empathie bzw. „Identifikation“<br />

mit den Opfern. Ein weiterhin offener Diskussionspunkt ist, inwiefern die in<br />

<strong>Uckermark</strong> inhaftierten Mädchen ein Subjekt feministischer Geschichtspolitik<br />

sind oder sein sollten und inwieweit es dabei zu Formen der Aneignung oder gar<br />

Instrumentalisierung kommt (vgl. dazu den Beitrag von Corinna Tomberger in<br />

diesem Band).<br />

Die Diskussionen um die<br />

Formen des Gedenkens beziehen<br />

sich aber auch auf den<br />

konkreten Ort: Wie soll das<br />

ehemalige Lagergelände gestaltet<br />

werden und wer darf<br />

dies?<br />

Dabei steht die bereits<br />

sichtbare Gestaltung des<br />

Ortes durch die autonomen<br />

FrauenLesbenTransgender-<br />

Bau- und Begegnungscamps<br />

neben Positionen der Mahnund<br />

Gedenkstätte Ravensbrück,<br />

die die Erinnerung an<br />

das ehemalige ‚Jugendschutzlager‘<br />

zunehmend in ihre Ausstellungen und das Besucherleitsystem integriert.<br />

Überlebende fordern eine Übernahme des ehemaligen Lagergeländes durch die<br />

Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, die zurzeit jedoch nicht geplant ist.<br />

Daneben stehen Vorschläge von Künstler_innen zum gestalterischen Umgang<br />

mit dem Gelände (vgl. z. B. den Beitrag von Dominique Hurth in diesem<br />

Band), die nicht immer mit den Wünschen von Überlebenden und den engakritik<br />

und praktischen Forderungen in der Gegenwart verbindet; vgl. Anne Allex/Dietrich<br />

Kalkan (Hg.), ausgesteuert, ausgegrenzt . . . angeblich asozial, Neu-Ulm 2009.


32 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

gierten Gruppen übereinstimmen. 55 Der vom Netzwerk „Initiative für einen<br />

Gedenkort ehemaliges KZ <strong>Uckermark</strong> e. V.“ gegebene Anstoß zur Errichtung<br />

des Gedenksteins vor Ort reaktiviert Hurth zufolge mit der Form des klassischen<br />

Gedenksteins sowie der Wortwahl der Inschrift eher eine konservative<br />

Gedenkpolitik, als dass sie die gängigen künstlerischen Auseinandersetzungen<br />

aufgreift. Hier werden erneut die unterschiedlichen Herangehensweisen und<br />

Prioritätensetzungen deutlich: Während das <strong>Uckermark</strong>-Netzwerk mit dem<br />

Gedenkstein Wünsche von Überlebenden möglichst schnell realisieren wollte,<br />

um noch zu ihren Lebzeiten einen Ort des Gedenkens und des Trauerns zu<br />

schaffen, steht dies den institutionalisierten und bürokratischen Abläufen in<br />

einer Gedenkstätte wie auch den gegenwärtigen künstlerischen und didaktischen<br />

„Standards“ und Vorgaben eines gängigen Ausschreibungsverfahrens<br />

entgegen. Zunehmend werden auch wieder archäologische Überlegungen in die<br />

Diskussion um das Gelände einbezogen und neue Grabungen veranlasst. 56<br />

Die Debatten entzünden sich zudem an der Frage, wie (staatlich) institutionalisiert<br />

bzw. autonom und wie politisch, gesellschaftskritisch und parteilich<br />

Gedenken sein kann und sollte. Ihrem Selbstverständnis entsprechend<br />

wollen die Bau- und Begegnungscamps vor Ort eine Form des antifaschistischen<br />

feministischen Gedenkens etablieren, das sie als „offen“ definieren (vgl.<br />

Büren/Laumann/Reitnauer/Voß in diesem Band). Sie grenzen sich damit von<br />

einem „staatlichen“ Gedenken ab, das sie in den Gedenkstätten verwirklicht<br />

sehen, in denen das historische Geschehen musealisiert werde und das die Auseinandersetzung<br />

mit der Geschichte des Nationalsozialismus für die Bildung<br />

einer nationalen Identität im vereinten Deutschland instrumentalisiere (vgl.<br />

Degen/Krieg in diesem Band).<br />

55 Für einen früheren Vorschlag zur künstlerischen Gestaltung vgl. Oswalt/Oswalt, Entwurf<br />

zur Gestaltung der erweiterten Gedenkstätte Ravensbrück.<br />

56 Im Jahr 2009 führte die Archäologin Dorte Andersen Sondierungsgrabungen durch.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 33<br />

Auf dem <strong>Uckermark</strong>-Forum 2008, bei dem ein Austausch über die entstandenen<br />

Gedenkformen stattfand, wurde nicht nur hinterfragt, wie offen „offenes<br />

Gedenken“ sein kann, sondern auch, inwiefern eine Trennung zwischen diesem<br />

und „staatlichem“ Gedenken überhaupt sinnvoll oder angebracht ist. Eine zentrale<br />

Frage war und ist, inwieweit von staatlich finanziertem und damit reglementiertem<br />

Gedenken gesprochen werden kann oder muss und wie sich dies an<br />

Orten und in Formen des Gedenkens äußert. Welche Beziehung gehen Politik<br />

und Gedenken jeweils ein? Die Diskussion um den vom <strong>Uckermark</strong>-Netzwerk geforderten<br />

„antifaschistischen“ Zugang bzw. die staats- und herrschaftskritische<br />

Zielsetzung des Gedenkens, wie sie beim <strong>Uckermark</strong>-Forum 2009 geführt wurde,<br />

knüpft an diese Fragen an. Ob Gedenkstätten damit automatisch ‚staatstragend‘<br />

und durch ihre Musealisierung ‚statisch‘ sind, lässt sich jedoch angesichts<br />

des politischen Selbstverständnisses der Mitarbeiter_innen, der internen politischen<br />

und wissenschaftlichen Debatten um erinnerungspolitische Themen<br />

und die Ausgestaltung des Gedenkens, sowie den sich wandelnden Ausstellungskulturen,<br />

Führungskonzepten und pädagogischen Materialien gerade in<br />

Ravensbrück nicht eindeutig beantworten und bleibt ambivalent.


34 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

Die einzelnen Gedenkinitiativen haben jedoch einen unterschiedlichen Zugang<br />

zu Ressourcen und finden damit auch ungleiche Bedingungen zur Realisierung<br />

ihrer Anliegen vor. Dies wurde während des <strong>Uckermark</strong>-Forums 2008<br />

unter anderem im Hinblick auf die Beschilderung des ehemaligen Lagergeländes<br />

diskutiert. Wird einem institutionell eingebetteten Besucherleitsystem der<br />

Gedenkstätte mehr Autorität zugesprochen als den mit einfachen Mitteln von<br />

Baucamps hergestellten Informationstafeln? Die Beseitigung von Vandalismusschäden<br />

auf dem Gelände fällt einer auf Spenden angewiesenen Initiative finanziell<br />

und organisatorisch schwerer als einer staatlich abgesicherten Gedenkstätte.<br />

Letztere erfährt in der Öffentlichkeit womöglich mehr Anerkennung<br />

und wird in historischen und pädagogischen Fragen eher zurate gezogen als<br />

dezentral vernetzte Engagierte. Andererseits ist eine Initiative unabhängiger<br />

und kann schneller und unbürokratischer entscheiden und Projekte realisieren,<br />

wie beispielsweise die schnelle Errichtung des Gedenksteins auf dem Gelände<br />

des ehemaligen ‚Jugendschutzlagers‘ gezeigt hat. Nicht zuletzt stellt sich unabhängig<br />

von dem Aspekt des Macht- und Ressourcenzugangs die Frage, ob es<br />

nicht gerade wichtig ist, dass auch der deutsche Staat in Form von Gedenkstätten<br />

politische Verantwortung für die NS-Verbrechen übernimmt und so zu<br />

einer Anerkennung und Entschädigung der Opfer beiträgt. Eine Trennung zwischen<br />

„offenem“ und „staatlichem“ Gedenken, die Gedenkstätten pauschal auf<br />

Seiten nationalstaatlicher Identitätsbildung verortet, verkennt das politische<br />

Selbstverständnis bzw. das über berufliche Pflichterfüllung hinausgehende Engagement<br />

von vielen in Gedenkstätten Arbeitenden für gesellschaftskritische<br />

Gedenkformen. 57 Zudem blendet eine solche Polarisierung die wichtige Rolle<br />

der Überlebenden sowie unabhängiger Akteur_innen und deren pädagogische<br />

Arbeit aus. Trotzdem ist die von dem Konzept des „offenen“ Gedenkens angestoßene<br />

Überlegung wichtig, wie man sich angesichts des aktuellen deutschen<br />

Erinnerungsdiskurses politisch positionieren will, der mit Stolz auf die deutsche<br />

Aufarbeitung der NS-Vergangenheit verweist, sich als geläuterte Nation<br />

darstellt und darüber hinaus gegenwärtige politische Entscheidungen mit einem<br />

Verweis auf die Lehren aus der Vergangenheit legitimiert.<br />

57 Vgl. die Auseinandersetzung um Besucherführungen durch einen Bundeswehrangehörigen<br />

in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Jahr 2008. Das Beispiel eines pädagogischen Mitarbeiters<br />

der Gedenkstätte, der sich aus Protest gegen Führungen durch Bundeswehrangehörige<br />

weigerte, Führungen für diese Besuchergruppe durchzuführen, zeigt, dass sich auch<br />

Gedenkstättenmitarbeiter_innen politisch gegen Instrumentalisierungen von Geschichte<br />

positionieren. Seine anschließende Sperrung beim Museumsdienst beweist aber auch, dass<br />

diese innerhalb institutioneller Hierarchien nicht immer durchgesetzt werden können.


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 35<br />

Geht es jedoch um die konkrete Gestaltung des ehemaligen Lagergeländes<br />

als Mahn- und Gedenkort, an dem auch historisches Wissen über das Mädchenkonzentrationslager<br />

vermittelt werden soll, erscheinen die Diskussionen um<br />

„Gedenkstolz“ und unzulässige historische Gleichstellungen zunächst weniger<br />

relevant. Wenn aber die Geschichte des Ortes nach 1945 in das Gedenken einbezogen<br />

werden soll, stellen sich die erinnerungspolitischen Fragen durchaus:<br />

Was ist an der aktuellen deutschen Gedenkpolitik problematisch? Wie kann<br />

eine Kritik an einer nationalistischen Vereinnahmung des Gedenkens am historischen<br />

Ort formuliert werden? Inwiefern sollte sie dort zum Beispiel in einer<br />

Ausstellung oder in der pädagogischen Arbeit angesprochen werden? Wie kann<br />

sie so thematisiert werden, dass das eigentliche Anliegen, an die Geschehnisse<br />

während des Nationalsozialismus zu erinnern, nicht dahinter zurücktritt oder<br />

für aktuelle politische Auseinandersetzungen instrumentalisiert wird? Wie kann<br />

also ein Gedenken aussehen, das Kritik an einem deutschen Selbstbild der moralisch<br />

geläuterten Nation integriert, ohne die Unterschiede zwischen historischem<br />

und gegenwärtigem Geschehen zu verwischen und die Geschichte wiederum zu<br />

instrumentalisieren?<br />

Neben den Formen des Gedenkens ist das Vokabular dessen, was beschrieben<br />

werden soll, selbst zu einem umkämpften Feld geworden. Die verschiedenen<br />

Benennungen und damit auch Deutungen und Bewertungen der Ereignisse auf<br />

dem <strong>Uckermark</strong>-Gelände machen zugleich unterschiedliche Prioritäten und <strong>Perspektiven</strong><br />

deutlich. Die Debatten entzünden sich dabei vor allem um die Frage,<br />

ob das Lager als „Jugend- bzw. Mädchenkonzentrationslager“ oder unter Verwendung<br />

des historischen Begriffs als ‚Jugendschutzlager‘ zu benennen sei. Sylvia<br />

Degen und Claudia Krieg führen in diesem Band aus, dass die Verwendung<br />

des Begriffs „Konzentrationslager“ für ein politisches Anliegen der Anerkennung<br />

und der Kritik an der Reproduktion nationalsozialistischer und euphemistischer<br />

Sprache stehe. Matthias Heyl argumentiert, ebenfalls im vorliegenden<br />

Band, dass ‚Jugendschutzlager‘ der historisch genaue Begriff sei. Wird dieser<br />

zudem in Anführungszeichen gesetzt, werde der euphemistische Charakter<br />

der nationalsozialistischen Sprache sichtbar gemacht und deren Dekonstruktion<br />

ermöglicht. Allerdings ist an der konkreten Ausführung an der Stele im Wegeleitsystem<br />

in Ravensbrück nicht nur das Wort ‚Jugendschutzlager‘, sondern<br />

die gesamte Bezeichnung ‚Jugendschutzlager <strong>Uckermark</strong>‘ in (doppelte) Anführungszeichen<br />

gesetzt. So verfehlen diese u.E. gerade ihren Zweck, weil sie nicht<br />

die verharmlosende Bezeichnung des Lagertyps ‚Jugendschutzlager‘ im Speziellen<br />

problematisieren, sondern lediglich den im Nationalsozialismus geprägten<br />

Eigennamen eines einzelnen Lagers in der <strong>Uckermark</strong> als Ganzes hervorheben.


36 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak


(<strong>Geschlechter</strong>-)<strong>Perspektiven</strong> für einen Gedenkort 37<br />

Wir gehen davon aus, dass letztlich der jeweilige Verwendungskontext die<br />

eine oder andere Bezeichnung plausibel werden lässt und somit die Frage nach<br />

der „korrekten“ Begriffswahl stets kontextabhängig ist und immer wieder aufs<br />

Neue entschieden werden muss. Das Plädoyer für die Benennung als „Konzentrationslager“<br />

stellt beispielsweise die politische und gesellschaftliche Anerkennung<br />

der dort Inhaftierten als Opfer des Nationalsozialismus in den Vordergrund und<br />

ist deswegen auch in Entschädigungsbelangen von großer Relevanz. Der Zusatz<br />

„für Mädchen und junge Frauen“ zielt darauf ab, Mädchen- und Frauengeschichte<br />

sichtbar zu machen. Der Begriff ‚Jugendschutzlager‘ macht es andererseits<br />

möglich, <strong>Uckermark</strong> in das System der Fürsorge- und Gesundheitspolitik des<br />

Nationalsozialismus einzuordnen und damit die Spezifik dieses Lagers innerhalb<br />

des KZ-Systems ebenso wie die verklärende Wortwahl kritisch hervorzuheben.<br />

Um eine angemessene Benennung der Geschehnisse nach der Auflösung des Jugendkonzentrationslagers,<br />

der Nutzung des Geländes zur gezielten Tötung von<br />

Häftlingen aus dem KZ Ravensbrück, wird ebenfalls gerungen. Hier kreist die<br />

Debatte vor allem um die Begriffe „Sterbe-“ versus „Vernichtungs-“ oder „Tötungslager“.<br />

Diese Debatte greift Verena Buser in ihrem Beitrag auf und nähert<br />

sich den Begriffen über die Kontextualisierung der Geschichte <strong>Uckermark</strong>s in<br />

die Endphase des Konzentrationslagersystems an.<br />

Die zahlreichen Konfliktlinien um das Gedenken in und an <strong>Uckermark</strong> lassen<br />

sich nicht ohne weiteres auflösen. Doch kann ein Nachdenken über die verschiedenen<br />

Formen des Gedenkens helfen, die eigene Herangehensweise kritisch zu<br />

reflektieren, und in Erinnerung zu rufen, an wen sich das Gedenken richtet und<br />

mit welcher Intention dieses erfolgen soll. Wer wird zu einer Auseinandersetzung<br />

mit der Geschichte und zu einem Gedenken an die Opfer eingeladen oder<br />

auch ausgeschlossen? Und welches Wissen (also welche Gegenstände, welche<br />

Personengruppen, welche Orte, welche Ereignisse etc.) werden jeweils in den<br />

Vordergrund gestellt und welche anderen Bestandteile des Wissens dadurch<br />

wiederum unsichtbar gemacht?<br />

Die Frage nach Art und Weise des Gedenkens schließt auch die Bedeutung<br />

des historischen Ortes selbst für die Gedenkpraxis ein. Zu überlegen wäre in diesem<br />

Zusammenhang nicht nur, wie dieser gestaltet werden kann, sondern auch,<br />

welchen Stellenwert der Ort des Geschehens für die Vermittlung der Geschichte<br />

hat. Welche Bedeutung kommt dem Gelände des ehemaligen ‚Jugendschutzlagers‘<br />

<strong>Uckermark</strong> als „authentischem“ Ort im Gedenken überhaupt zu <strong>–</strong> vor<br />

allem angesichts der Tatsache, dass hier kaum noch Spuren aus der Lagerzeit<br />

zu finden sind?


38 Anders/Dietrich/Gabriel/Hille/Klarfeld/Nachtigall/Nowak<br />

Einerseits kann der Ort heutigen Besucher_innen einen wichtigen Einblick<br />

in die Topografie der Verbrechen des Nationalsozialismus vermitteln. Mehr<br />

noch, und vielleicht sogar an erster Stelle, macht er doch sehr eindrücklich<br />

den Umgang mit diesem speziellen Lager(typus) nach 1945 und das Vergessen<br />

seiner spezifischen Geschichte und Opfer sichtbar.<br />

Um das Ausmaß der Verbrechen zu erfassen, kann jedoch andererseits auch<br />

eine Dezentralisierung des Gedenkens sinnvoll sein, die sich an den Biografien<br />

und Erlebnissen der in <strong>Uckermark</strong> inhaftierten Mädchen und Frauen orientiert.<br />

Dass Jugendfürsorgeeinrichtungen, Arbeitshäuser, Polizei und Behörden<br />

in die Verbrechen involviert waren, könnte eine Gedenkstätte in <strong>Uckermark</strong><br />

zwar thematisieren, ist an diesen Einrichtungen selbst meist jedoch weitgehend<br />

unsichtbar. Wünschenswert wäre eine Auseinandersetzung an den (ehemaligen)<br />

Standorten selbst, die eine Auseinandersetzung der heute dort Tätigen mit der<br />

Geschichte „ihrer“ Institution und deren Verstrickungen in die NS-Politik sowie<br />

die Übernahme von Verantwortung allgemein befördern könnte (siehe den<br />

Beitrag von Lena Nowak in diesem Band).<br />

Eine Dezentralisierung des Gedenkens bedeutet für uns auch, die Debatten<br />

um das ehemalige ‚Jugendschutzlager‘ <strong>Uckermark</strong> ernst zu nehmen, weiterzuführen<br />

und selbst als Teil des Gedenkens zu verstehen. In diesem Sinne begreifen<br />

wir diese Veröffentlichung als Teil des Gedenkens und als Ort, an dem dieses<br />

stattfindet.<br />

Die hier nur kursorisch angerissenen diversen Herangehensweisen und politischen<br />

Positionen rund um den Umgang mit dem ehemaligen Lager <strong>Uckermark</strong><br />

werden in den Aufsätzen dieses Buches weiter vertieft.<br />

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Der erste und größte Abschnitt widmet<br />

sich den aktuellen Kontroversen um <strong>Uckermark</strong> als Gedenkort und lässt<br />

unterschiedliche Akteur_innen zu Wort kommen. Der zweite Teil enthält Beiträge,<br />

die sich mit einem gendertheoretischen und feministischen Zugang bzw.<br />

der Bedeutung und Konzeptualisierung von „Geschlecht“ im Kontext von Erinnerung<br />

und Gedächtnis am Beispiel des Lagers <strong>Uckermark</strong>, aber auch darüber<br />

hinaus, beschäftigen. Der dritte Abschnitt versammelt historische Beiträge zu<br />

Vordenker_innen und (Mit)täter_innen.

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