Interdisziplinäres Stuhltraining - Hauner Journal
Interdisziplinäres Stuhltraining - Hauner Journal
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Hilfe zur Stuhlkontinenz für Kinder mit anorektalen Fehlbildungen<br />
<strong>Interdisziplinäres</strong> <strong>Stuhltraining</strong><br />
– Loslassen statt Festhalten<br />
M. HeinriCH, B. HäBErle,<br />
R. GrossErüsCHkamp, V. pAvlis,<br />
A. SimADEr<br />
Kinder mit angeborenen Fehlbildungen<br />
des Enddarmes leiden manchmal aufgrund<br />
von verbleibenden Störungen der<br />
Stuhlentleerungsfunktion unter einer<br />
Stuhlinkontinenz. Sie werden nicht regelrecht<br />
sauber und benötigen Einlagen oder<br />
Windeln. Es kommt zu einer Stuhlentleerung<br />
in unpassenden Momenten und oft<br />
auch in vielen kleinen Portionen über den<br />
Tag verteilt. Insbesondere bei schwereren<br />
Formen der Analatresie kommt es zu<br />
einer Stuhlinkontinenz aufgrund einer<br />
schwachen und nicht koordinierten<br />
Beckenboden- und Schließmuskulatur.<br />
Auch andere Kontinenzfunktionen wie<br />
Sensibilität, Stuhlkontinenz und -passage<br />
sind häufig gestört. Für die Kinder und<br />
deren Familie ist eine Stuhlinkontinenz<br />
psycho-sozial sehr belastend. Frühere<br />
Konzepte zum Erreichen einer sozialen<br />
Stuhlkontinenz waren ein tägliches Spülprogramm<br />
des gesamten Dickdarmes<br />
(Bowel Management). Dabei kann durch<br />
eine passive Entleerung des Dickdarmes<br />
mit Hilfe der Spülflüssigkeit bis zu 24 Stunden<br />
eine Stuhlkontinenz erreicht werden.<br />
Allerdings werden unter diesem Konzept<br />
die vorhandnenen Funktionen zur Stuhlentleerung<br />
und –kontinenzleistung nicht<br />
mehr unterstützt oder gefördert.
Das interdisziplinäre <strong>Stuhltraining</strong> (IST)<br />
kommt konzeptionell aus Nijmwegen. Im<br />
Zentrum dieser Therapie steht ein ganzheitlicher<br />
Ansatz mit Schwerpunkt auf eine aktive<br />
effektive Stuhlentleerung. Die Stuhlinkontinenz entsteht<br />
nicht nur rein mechanistisch durch die Fehlbildung,<br />
sondern weitere zahlreiche Faktoren im psycho-sozialen<br />
Kontext tragen erheblich dazu bei. Durch zahlreiche<br />
schmerzhafte Ereignisse während der medizinischen<br />
Behandlung von Geburt an und auch Scham über die<br />
Inkontinenz entsteht eine Verdrängung des komplexen<br />
Stuhlgangs. Es kommt zu einer gestörten Körperwahrnehmung<br />
und psycho-sozialen Entwicklung. Die<br />
ersten Versuche einer Stuhlentleerung misslingen, die<br />
Koordination zwischen Bauchpresse und entspanntem<br />
Beckenboden gelingt nicht und es kommt zu einem<br />
unbewussten Zurückhalten des Stuhles bis hin zu einer<br />
ausgeprägten Obstipation (Verstopfung), welche die<br />
Inkontinenz noch verstärkt.<br />
Ziel des interdisziplinären <strong>Stuhltraining</strong>s (IST) ist<br />
nicht ein permanentes besseres Festhalten oder Dichtmachen<br />
des Beckenbodens sondern das zeitgerechte<br />
Loslassen des Stuhls auf der Toilette. Dies wird erreicht<br />
durch eine individuelle Begleitung über eine längere<br />
Zeit mit einem interdisziplinären Team (Ergotherapie,<br />
Physiotherapie, Familien-/Psychotherapie, Kinderchirurgie)<br />
um an verschiedenen Punkten ansetzen zu<br />
können. Wichtig ist, dass die Kinder lernen nicht mehr<br />
passiv „Opfer“ zu sein, sondern lernen aktiv mitzugestalten<br />
und lernen ihren Körper besser wahrzunehmen.<br />
Die gesamte Familie und die Auswirkungen auf das<br />
soziale Umfeld werden mit in die Therapie einbezogen.<br />
<strong>Interdisziplinäres</strong> gemeinsames Gespräch zu Beginn des<br />
interdisziplinären <strong>Stuhltraining</strong>s<br />
Im Folgenden werden die einzelnen Disziplinen unseres<br />
interdisziplinären <strong>Stuhltraining</strong>s vorgestellt:<br />
KINDERCHIRuRGIE<br />
Am Beginn jedes Trainings steht eine ausführliche<br />
Anamnese zum Stuhlgang und Miktion, sowie zu dem<br />
Verlauf seit dem letzten Treffen. Sämtliche Aspekte der<br />
Fehlbildung des Kindes inklusive anderen Krankheiten<br />
oder Beschwerden werden berücksichtigt und ganzheitlich<br />
erfasst. Ein wichtiger Aspekt ist die ausführliche<br />
Information der ganzen Familie über die einzelnen<br />
Aspekte der Erkrankung des Kindes. Um die aktuelle<br />
Stuhlsituation zu erfassen wird im Verlauf des Treffens<br />
eine Sonographie des Abdomens durchgeführt. Nur<br />
sehr selten ist eine weitere (invasive) Diagnostik notwendig,<br />
die dann außerhalb des Trainings vereinbart<br />
wird. Es wird bewusst auf jede schmerzhafte Maßnahme<br />
im Rahmen des IST verzichtet. Besteht eine Obstipation<br />
oder Koprostase wird diese in der Regel nur von oral<br />
medikamentös behandelt.<br />
PhySIoTHERAPIE<br />
Die Physiotherapie ist ein fester Bestandteil des IST-Programms.<br />
Bei Kindern mit Fehlbildungen und deswegen<br />
bestehender Stuhlinkontinenz ist oft die Bauch- und<br />
Beckenregion ein „blinder Fleck“. Um diese Kinder<br />
an den Körperbereich Bauch-Becken, in dem sich der<br />
Beckenboden befindet, heranzuführen, ist eine Schulung<br />
der Selbstwahrnehmung sinnvoll. Der Beckenboden<br />
ist kein Muskel, den man sehen kann bzw. so<br />
einfach gezielt an- und entspannen kann, wie z. B.<br />
die Beuge- und Streckmuskeln des Armes. Er bewegt<br />
keine Gelenke, die eine Bewegung erkennen lassen. Die<br />
Muskeln des Beckenbodens arbeiten „im Verborgenen“,<br />
ungesehen und meist unbewusst. Zu Beginn der Therapie<br />
wird eine Anamnese erstellt, aus der sich die individuellen<br />
Behandlungsziele ableiten. Für jeden Patienten<br />
wird ein individueller Behandlungsplan erstellt, welcher<br />
immer wieder der aktuellen Situation angepasst wird.<br />
Feste Therapiebestandteile im Einzelnen sind:<br />
• kindgerechte Erklärung der Anatomie und Funktion<br />
des Beckenbodens und der Bauchorgane mit Hilfe<br />
von Visualisierung, z. B. an einem kleinen Modellskelett,<br />
einem Beckenboden-Modell oder dem Einsatz<br />
von Büchern und/oder Bildern.<br />
• Schulung der Körperwahrnehmung und Wahrnehmung<br />
des Becken-Bauchraumes. Die Kinder haben<br />
oft Wahrnehmungsdefizite in diesem Körperbereich<br />
aufgrund von negativen/schmerzhaften Erfahrungen<br />
durch Operationen, Bougieren, Einläufen, Schmerzen<br />
beim Stuhlgang etc. In der Therapie sollen sie<br />
Spannungszustände der Muskulatur spüren lernen,<br />
wie fühlt sich Anspannung, wie Entspannung der<br />
Muskeln an. Im weiteren Therapieverlauf wird die<br />
Wahrnehmung auf den Beckenboden gelenkt, wann<br />
muss dieser festhalten, wann loslassen.<br />
• Verbesserung der Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule.<br />
Durchblutungsförderung des Beckenbodens,<br />
z. B. durch Bewegung, warme Reissäckchen.<br />
• Haltungsschulung des gesamten Körpers, z. B. durch<br />
Fußarbeit, Stimulation der Fußreflexzonen, Kräftigung<br />
von schwacher Muskulatur (dies ist oft die<br />
Bauchmuskulatur).<br />
• Zusammenhang von Atmung, Zwerchfellaktivität,<br />
Stimme und Mundraum. Es besteht ein Zusammenhang<br />
zwischen Beckenboden und Mundraum.<br />
Dieser ist oft hypoton, es sind assoziierte Mund-<br />
Zungenmitbewegungen bei Aktivität zu sehen.<br />
• Sitzhaltung auf der Toilette, Erlernen der sog.<br />
„sanften Bauchpresse,“ um mehr Stuhl pro Toilettengang<br />
entleeren zu können bei entspanntem<br />
Beckenboden.
Kreativität und Selbstwahrnehmung. Die Kinder werden<br />
dahingehend unterstützt Erwartungen und Ängste<br />
zu äußern. Selbstbestimmung und Entscheidungsfähigkeit<br />
stellen wichtige Aspekte einer ergotherapeutischen<br />
Behandlung in diesem besonderen Setting dar.<br />
FAMIlIENTHERAPIE<br />
Patientin mit Analatresie im interdisziplinären <strong>Stuhltraining</strong> bei<br />
der physiotherapeutischen Betreuung<br />
Jeder Patient bekommt sein eigenes Übungsprogramm<br />
für zu Hause, um zwischen den IST-Terminen selbstständig<br />
weiter arbeiten zu können.<br />
ERGoTHERAPIE<br />
Ergotherapie wird eingesetzt als unterstützende Maßnahme<br />
beim IST. Während die Eltern Gespräche mit<br />
den Ärzten und der Familientherapeutin führen sind<br />
die Kinder im Werkraum. Die Kinder können ihre<br />
Beschäftigung frei wählen und in der Regel wählen sie<br />
als Therapiemittel Ton. Durch das Arbeiten mit Ton<br />
können Defizite ausgeglichen werden, es fördert die<br />
Ton-Figuren, die im interdisziplinären<br />
<strong>Stuhltraining</strong> im Rahmen der Ergotherapie<br />
angefertigt wurden<br />
Aus familientherapeutischer Sicht ist es wichtig im<br />
Gespräch mit den Eltern herauszufinden wie sich die<br />
Krankheit auf die Familie auswirkt, wie die Eltern psychisch<br />
damit zurecht kommen und wie sich der Umgang<br />
mit ihrem Kind und der Krankheit äußert. Wichtig ist<br />
zu erfahren was für die Eltern das Ziel des Trainings ist<br />
bzw. was die Eltern sich für ihr Kind wünschen und was<br />
sie bereit sind dafür zu tun. Ein großes Thema sind für<br />
Eltern oft Schuldgefühle und häufig eine Blockade in<br />
der Erziehung. Die Fehlbildung und Stuhlinkontinenz<br />
zum Thema zu machen und ohne Scham darüber zu<br />
sprechen ist eine wichtige Erfahrung für die Eltern. Die<br />
individuellen beziehungs- und familiendynamischen<br />
Aspekte herauszufinden ergibt die Möglichkeit elterliche<br />
Funktion und Handlungskompetenz zu verändern<br />
und zu stärken, womit Therapiefortschritte erheblich<br />
beschleunigt werden können. Erziehungsziele sind, wie<br />
auch bei gesunden Kindern, zu definieren und konsequent<br />
umzusetzen: auch ein krankes Kind hat ein<br />
Recht auf Erziehung. In den Gesprächen soll den Eltern<br />
auch die Idee des „Loslassens“ vermittelt werden. Im<br />
psychischen Bereich bedeutet dies auch das Loslassen<br />
von alten Verhaltensmustern, überholten Einstellungen<br />
oder negativen Erfahrungen. Zentrale Aspekte in der<br />
Arbeit mit den Kindern und Eltern sind Eigenverantwortung,<br />
Reflektion, Neues auszuprobieren, sich neue<br />
Erfahrungen zu ermöglichen, nach Lösungen zu suchen,<br />
sich etwas abzuverlangen und sich selbst zu akzeptieren.<br />
Familientherapeutisches Beratungsgespräch im Rahmen des<br />
interdisziplinären <strong>Stuhltraining</strong>s<br />
Ergotherapie im interdisziplinären <strong>Stuhltraining</strong><br />
Am Ende jedes IST-Treffens erfolgt ein gemeinsames<br />
Gespräch mit allen Therapeuten, Eltern und Kind. Hier<br />
werden die Erfahrungen aus den einzelnen Bausteinen<br />
des Trainings zusammengefasst und daraus abgeleitet<br />
weitere Maßnahmen, Unterstützungen und Therapien<br />
initiiert. Die Termine für IST werden in ca. 4- 6 Wochen<br />
Abstand durchgeführt.
Ist Ihr Kind von anorektaler Fehlbildung, Analatresie, Kloakenfehlbildung oder<br />
Morbus Hirschsprung betroffen?<br />
Dann helfen wir Ihnen gerne weiter.<br />
Wir - das ist das SoMA-Team. SoMA steht für „Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Anorektalfehlbildungen e.V.“<br />
Wir sind bundesweit tätig und haben unseren Sitz in München.<br />
Unsere Ziele sind:<br />
• bestmögliche Lebensqualität für Menschen mit anorektalen Fehlbildungen<br />
• Verbesserung der psychosozialen Versorgung<br />
• Erfahrungsaustausch zwischen Eltern, Kindern, erwachsenen Betroffenen und Fachleuten<br />
• Niemand soll sich allein mit dem Problem fühlen oder glauben, sich verstecken zu müssen. Und-<br />
• Wir stehen dem Leben positiv gegenüber und „schaffen es gemeinsam“.<br />
Diese Ziele versuchen wir zu erreichen durch<br />
• Beratung und Information auf Fachveranstaltungen, Treffen und durch Informationsmaterial oder im individuellen Gespräch<br />
• Veranstaltung von Freizeiten, Seminaren zur Nachsorge oder anderen Themen für alle Altersgruppen<br />
• Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit<br />
• Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Medizin, Pflege, Wissenschaft und Forschung<br />
Bitte nehmen Sie Kontakt auf:<br />
SoMA e.V. - Nicole Schwarzer<br />
Weidmannstr. 51*80997 München<br />
Tel 089 / 14 90 42 62* Fax 089 / 14 90 42 63<br />
E-Mail: info@soma-ev.de , oder schauen sie doch mal auf www.soma-ev.de .<br />
Auf jeden Fall sind Sie nicht alleine mit Ihren Sorgen oder Fragen -<br />
wir freuen uns über Ihren Anruf.<br />
SoMA e.V. ist eingetragen im Vereinsregister München VR 201252<br />
Freistellungsbescheid 143/ 221/60292 vom 15.10.2010 -<br />
Finanzamt München für Körperschaften<br />
Eltern zuhören, Eltern verstehen, mit Eltern gestalten<br />
Am 28.05.2011 haben sich im Dr. v. <strong>Hauner</strong>schen Kinderspital<br />
die Eltern getroffen, die die Selbsthilfegruppen - sei es<br />
auf Seiten des Stoffwechsels, der Onkologie, der Nierenerkrankungen,<br />
der Neurologie, der Mukoviszidose und einer<br />
Vielzahl anderer Fachbereiche - tragen. Ziel dieses ersten<br />
Treffens mit den Selbsthilfegruppen war, dass ein aktives<br />
Forum geschaffen wird für gemeinsame Arbeit und dass die<br />
Wünsche, aber auch die Möglichkeiten von Selbsthilfegruppen<br />
zur Realisation des „Neuen <strong>Hauner</strong>“ berücksichtigt und<br />
positiv genutzt werden.<br />
Die Selbsthilfegruppen tragen mit ihrer Expertise und ihrer<br />
Lebensnähe zu den chronisch kranken Kindern entscheidend<br />
dazu bei, dass klinische Strukturen, klinische Arbeit<br />
und – in diesem Fall – Planungen für eine neue Klinik möglichst<br />
breit getragen und unterstützt werden. Wünsche und<br />
Impulse sollen möglichst gut aufgenommen werden und einer<br />
zukunftsfähigen Realisation dienen.<br />
Ein gelungenes Treffen, ein gelungener Auftakt zu koordinierter<br />
Arbeit im Dr. v. <strong>Hauner</strong>schen Kinderspital.