Jan Fokkelman: Das Hohelied - Haus Ohrbeck
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„Die Glut der Liebe ist feurig<br />
und eine Flamme des Ewigen.“ (Hld 8,6)<br />
43. Internationale Jüdisch-Christliche Bibelwoche<br />
<strong>Das</strong> <strong>Hohelied</strong><br />
24. Juli bis 31. Juli 2011<br />
DAS HOHELIED: EIN SCHILLERNDES WUNDER<br />
<strong>Jan</strong> <strong>Fokkelman</strong><br />
Der Text dieser Woche, das <strong>Hohelied</strong>, ist das „fla/eshiest“ (funkelndste / sinnlichste) Buch der<br />
Bibel. Aber wie buchstabiere ich das Wort „fla/eshy“? Mit einem a oder mit einem e? Was für<br />
eine Überraschung: Beide Möglichkeiten treffen ins Schwarze. <strong>Das</strong> <strong>Hohelied</strong> ist „fleshy“ (sinnlich,<br />
mit einem e), weil diese Lyrik des Verlangens sich auf den Körper des / der Geliebten richtet, aber<br />
gleichermaßen bietet das <strong>Hohelied</strong> eine atemberaubende Reihe Glanzlichter (flashes mit einem a).<br />
Es ist das einzige Buch der Bibel, das in Dialogform abgefasst ist, und dies ist durchgehend so.<br />
Jeder von uns denkt wahrscheinlich, dass das Buch von Liebe handelt, aber ich möchte heute vorschlagen,<br />
doch etwas genauer hinzusehen. <strong>Das</strong> <strong>Hohelied</strong> handelt nicht von Liebe, sondern vom<br />
Verlieben und das ist ein großer Unterschied:<br />
– verlieben kann man sich schnell; Liebe hingegen hat es niemals eilig<br />
– verlieben kann man sich ziemlich häufig, Liebe zieht es vor, sich Zeit zu nehmen<br />
– verlieben ist impulsiv und neigt zu Fehlern; Liebe ist geduldig.<br />
Liebe ist ein Langzeitprojekt; sie richtet sich nicht auf die Unvollkommenheiten des Partners, sondern<br />
schließt ein Bewusstsein unserer eigenen Unvollkommenheiten ein. Romeo und Julia sind<br />
niemals so weit gekommen, Tristan und Isolde auch nicht.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Hohelied</strong> rückt mehr in den Blickpunkt, wenn wir realisieren, welche Gegenstände nicht vorhanden<br />
sind. Es gibt keinen König oder Priester, keinen Tempel und keinen Palast. Es gibt keinen<br />
Kult und keine Liturgie. Wage ich zu sagen „was für ein Glück“? Wir werden weder Theologie<br />
noch Religion finden, und Gott selbst ist notorisch abwesend. 1 Wie erfrischend ... Sicher, das ist<br />
außergewöhnlich für eine Woche Bibelstudium! <strong>Das</strong> <strong>Hohelied</strong> ist schließlich ein säkulares Kunstwerk;<br />
es ist alles in allem Liebeslyrik. Lassen Sie uns darum dem exklusiven Focus des Dichters<br />
folgen, statt abzuschweifen und uns in leeren, abstrakten Übungen des Geistes zu verlieren. Lassen<br />
Sie uns „fleshy“ (mit einem e, sinnlich) werden!<br />
Die erste Strophe des Buches gibt den Ton durch das Involvieren aller Sinne an. <strong>Das</strong> Mädchen<br />
spricht zu ihrem Freund, sodass „sehen“ und „hören“ schon eingeschlossen sind, aber die anderen<br />
drei Sinne – „berühren“, „schmecken“ und „riechen“ – sind sehr aktiv in dieser Strophe von<br />
zweigliedrigen Verszeilen:<br />
1 In Kapitel 8 taucht jah als unerwartete Silbe auf, hinzugefügt am Ende des Wortes schalhevet; sie könnte als die<br />
Kurzform von jahu aufgefasst werden, welche wiederum eine Kurzform des Gottesnamens ist; wenn das zutrifft,<br />
kann man dies mit „göttlicher Flamme“ übersetzen.<br />
1
Er küsse mich mit Küssen seines Mundes,<br />
denn deine Liebe ist köstlicher als Wein.<br />
An Duft gar köstlich sind deine Salben;<br />
ausgegossenes Salböl ist dein Name.<br />
Unmittelbar sind Alliterationen im Spiel, schemen ... sch e manècha ... sch e mècha. Sie erzeugen<br />
eine Art Synästhesie, weil die Konsonanten mem und schin eine Fusion des Hörbaren (die Laute)<br />
und des Berührbaren (die Geschmeidigkeit seines Öls) bieten. Hören Sie, was der junge Mann in<br />
4,11 vorträgt, nófet tittófna siftotajik, „deine Lippen träufeln Honigseim“. Manchmal ergänzen sich<br />
die beiden im Stil und in der poetischen Ausdrucksweise, zum Beispiel in diesem eleganten Hin<br />
und Her:<br />
Wie eine Lilie unter Dornen<br />
so ist meine Freundin unter den Töchtern. (er, in 2,2)<br />
Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes<br />
so ist mein Geliebter unter den Söhnen.<br />
In seinem Schatten zu sitzen, gelüstet's mich,<br />
und seine Frucht ist meinem Gaumen süß. (sie, in 2,3)<br />
<strong>Das</strong> Lob des Partners hat kein Ende, ebensowenig wie die Verzauberung. Als Konsequenz ist das<br />
<strong>Hohelied</strong> voll von Metaphern und Gleichnissen. Manche von ihnen klingen ziemlich seltsam in<br />
unseren Ohren, konditioniert wie wir sind durch die europäische Ästhetik.<br />
Der Dichter selbst reiht sich genau in den Mainstream des klassischen Kunstverses ein. Ein Zeichen<br />
dafür ist die Länge einer vollen Verszeile. Im Normalfall ist diese entweder zweigliedrig oder<br />
dreigliedrig, und entsprechend nennt man sie Bikolon oder Trikolon. In der größten Sammlung<br />
von Poesie in der Hebräischen Bibel, dem Psalter, ist die Mehrzahl der Verszeilen bikolisch, etwa<br />
87 %, und die verbleibenden 13 % sind trikolisch. Die Zahlen für das <strong>Hohelied</strong> sind praktisch die<br />
selben. <strong>Das</strong> bedeutet, dass der Dichter damit vollständig en vogue ist.<br />
Nach meiner Zählung hat das <strong>Hohelied</strong> genau 198 Verszeilen. Hat die Komposition als Ganze<br />
eine klar erkennbare Struktur? Weil es sich um reine Lyrik handelt, können wir keinen Fortschritt<br />
in der Handlung erwarten. Es gibt überhaupt keine narrative Entwicklung und wir bekommen<br />
keine Unterstützung durch einen plot (Handlungskonzept). Keine Exposition am Beginn, keine<br />
(Auf)Lösung am Ende. Der Dichter wirft us in medias res: Wir befinden uns unmittelbar inmitten<br />
von nicht enden wollender Bewunderung, Erregung und Freude. Wie kann dieser Fluß überhaupt<br />
reguliert werden? Es gibt zwei Antworten, die uns eine Leitlinie zur Verfügung stellen. Aber lassen<br />
Sie mich erst eine kuriose Beobachtung mit Ihnen teilen, die mich davon überzeugt hat, dass es<br />
gerechtfertigt ist, nach Kohäsion (Zusammenhalt) zu suchen.<br />
Etwa 35 bis 40 Versezeilen vor und nach dem Zentrum der Komposition (in 3,6-10 und in 6,8-10)<br />
finden wir eine Gruppe von Leuten, die an einer Art Parade oder Prozession beteiligt sind. In 3,7<br />
wird eine Sänfte oder Liege gezeigt – und jetzt zitiere ich – „Sechzig Helden sind rings um sie her<br />
von den Helden Israels. Sie alle sind Schwertträger, geübt im Kampf. Jeder hat sein Schwert an<br />
seiner Hüfte gegen den Schrecken zur Nachtzeit.“ In Kapitel 6 begegnen wir einer Gruppe von<br />
Frauen, die das Mädchen preisen, weil sie einzigartig ist, und V. 8 sagt „Sechzig Königinnen sind<br />
es“. Solch eine seltsame Dopplung der speziellen Zahl 60 und die Symmetrie ihres Ortes haben<br />
mich angeregt, nach weiteren Figuren der Balance zu suchen.<br />
Wir finden die Artikulation oder Struktur des <strong>Hohelied</strong>es, wenn wir die augenfälligen Formen der<br />
Wiederholung mit Blick auf ihren Ort studieren und auch ein Auge darauf haben, wie die Verszeilen<br />
auf die beiden Hauptsprecher verteilt sind. Aber zunächst sollten wir ihre Stimmen unterschei-<br />
2
den. Ältere Kommentare etikettierten sie als Braut und Bräutigam, aber dieses Etikett gehört in<br />
den Mülleimer. Es drückt kleinliche, bürgerliche Verlegenheit über die offene Sprache der sexuellen<br />
Erregung aus und versucht, uns eine Hochzeit zu verkaufen, aber es gibt keine. Jüngere Übersetzungen<br />
verwenden die richtigen Etiketten und schreiben sie als Index an den Rand: er versus<br />
sie, oder junger Mann und Mädchen, oder die Großbuchstaben M und F für Mann und Frau. <strong>Das</strong><br />
ist nüchtern und korrekt.<br />
Schauen Sie nun auf die Zahlen. Von den 198 Verszeilen bekommt das Mädchen 105, der junge<br />
Mann 69 und „die Töchter Jerusalems“, die die Rolle eines Chores innehaben, bekommen 17<br />
Verszeilen von 21. 2 Hier ist die Einteilung in sieben Abschnitte und die Verteilung der Verszeilen:<br />
Abschnitt 1 2 3 4 5 6 7<br />
in 1,2 – 2,7 2,8 – 3,5 3,6 – 5,1 5,2 – 6,3 6,4 – 7,6 7,7 – 8,4 8,5-14<br />
Mädchen: 24 20 5 28 0 15 13<br />
junger Mann: 7 8 26 2 21 4 1<br />
Die wichtigste Eigenschaft eines jeden Teils ist die Anzahl der Verszeilen, die jedem der beiden<br />
Hauptsprecher gegeben wird. Als Sprecherin von 53 % aller Verszeilen hat das Mädchen deutlich<br />
die Mehrzahl. Der junge Mann bekommt nicht mehr als 35 % vom Dichter. Noch relevanter allerdings<br />
ist die Art und Weise, in der Mehrzahl und Minderzahl sich in den sieben Abschnitten abwechseln.<br />
Mühelos bemerken wir, dass das Mädchen die ersten beiden und die letzten beiden<br />
Abschnitte dominiert und dass das breite Zentrum (Abschnitte 3 – 4 – 5) sich davon unterscheidet.<br />
Dort hat der junge Mann zweimal die Mehrzahl. Seine Abschnitte 3 und 5 stehen in symmetrischer<br />
Position, den Mittelteil flankierend, der wieder dem Mädchen zukommt.<br />
Ist diese Einteilung in sieben Teile korrekt? Manche ihrer Grenzen sind deutlich markiert, und es<br />
gibt ein Netzwerk von Wiederholungen mit einer doppelten Aufgabe: Sie unterscheiden die Teile<br />
und schaffen gleichzeitig Verbindungen, sodass die Ganzheit der Komposition des Hohenliedes<br />
garantiert ist.<br />
<strong>Das</strong> stärkste Zeichen, das auf Grenzen verweist, steht im Dienst der Abschnitte, mit denen das<br />
Mädchen die Komposition eröffnet und abschließt, das sind die ersten beiden und die letzten beiden.<br />
Es geht um einen starken Refrain mit außergewöhnlichen Inhalt und einzigartigem Ton. Wir<br />
finden ihn in 2,7 und 3,5, sodass die Abschnitte 1 und 2 ein paralleles Ende bekommen, und er<br />
wiederholt sich am Ende von Abschnitt 6, sodass der Beginn von Abschnitt 7 auch außer Zweifel<br />
steht. Folgendes sagt das Mädchen in den Worten der Elberfelder Übersetzung (engl. Text: in der<br />
Übersetzung von Cheryl Exum):<br />
Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems,<br />
bei den Gazellen oder bei den Hirschkühen des Feldes:<br />
Weckt nicht, stört nicht auf die Liebe,<br />
bevor es ihr selber gefällt!<br />
<strong>Das</strong> ist mächtige Sprache mit Untertönen von Weisheit (dem Genre). <strong>Das</strong> Mädchen hat der Verzauberung<br />
Reflexion hinzugefügt, und die Tatsache, dass sie dies dreimal tut, verleiht dieser so genannten<br />
Beschwörung Autorität. Es ist eine Warnung! Plötzlich haben wir die Ebene des Sinnlichen<br />
verlassen und sind gezwungen nachzudenken. Warum? Ich komme später darauf zurück.<br />
<strong>Das</strong> breite Zentrum (das sind die Abschnitte 3 – 4 – 5) ist ein Triptychon, das durch Trios zusammengehalten<br />
wird. Als erstes Trio finden wir in jedem Abschnitt ein Beispiel des so genannten<br />
2 Die vier Verszeilen in 8,8-9 können einem männlichen „Chor“ zugeteilt werden, den Brüdern der jungen Dame /<br />
Frau.<br />
3
wasf. Wasf ist ein arabischer Begriff, der ein sehr spezifisches Genre bezeichnet: Es geht um ein<br />
beschreibendes Lied, das den Körper des / der Geliebten preist, indem es die Körperteile von<br />
Kopf bis Fuß oder in umgekehrter Reihenfolge aufzählt. In ihrem eigenen Abschnitt, dem vierten,<br />
singt das junge Mädchen einen sehr langen wasf, nicht weniger als zwölf Verszeilen. In den angrenzenden<br />
Abschnitten, den einzigen, in denen die männliche Stimme dominant ist, singt der<br />
junge Mann 12 plus 6 Verszeilen als Lob für den Körper des Mädchens. 3<br />
<strong>Das</strong> nächste Trio ruft einen Lustgarten hervor. Seine Verszeilen sind gleichmäßig auf drei Abschnitte<br />
verteilt, und wieder folgt der Sprecherwechsel dem Schema junger Mann – Mädchen –<br />
junger Mann. Am Ende von Abschnitt 3 finden wir eine Häufung von Bildsprache. Viele Arten von<br />
Pflanzen und Früchten werden uns vor Augen geführt, daher ist die Vegetation die Quelle der<br />
metaphorischen Inspiration für den Dichter. In 4,12 beginnt der junge Mann folgendermaßen:<br />
Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, meine Braut,<br />
ein verschlossener Born, eine versiegelte Quelle.<br />
… und diese Worte lassen uns fragen, ob er wohl aus ihr trinken wird. Sieben Verszeilen später<br />
kommt die Antwort, in zwei Verszeilen:<br />
Ich komme in meinen Garten, meine Schwester, meine Braut.<br />
Ich pflücke meine Myrrhe samt meinem Balsam,<br />
esse meine Wabe samt meinem Honig,<br />
trinke meinen Wein samt meiner Milch. (5,1)<br />
Diese Verszeilen implizieren den körperlichen Vollzug der Liebe, und es ist kein Zufall, dass sie<br />
sowohl das Ende auch als den Höhepunkt des Abschnittes 3 darstellen. Ich verstehe sie als den<br />
Angelpunkt der ganzen Komposition. 4 Plötzlich findet sich ein Chor in den Kulissen, der das Paar<br />
mit den Worten „Eßt, Freunde, trinkt und berauscht euch an der Liebe!“ ermutigt.<br />
<strong>Das</strong> Ende des nächsten Abschnittes stellt einen guten Anschluss dar. <strong>Das</strong> Mädchen ist an der<br />
Reihe, die vegetative Bildsprache fortzuführen. Sie nimmt die Gartenmetapher auf und sagt:<br />
Mein Geliebter ist in seinen Garten hinabgegangen<br />
zu den Balsambeeten,<br />
um in den Gärten zu weiden<br />
und Lilien zu pflücken. (6,2)<br />
Der Garten taucht zum dritten Mal in 6,11 auf, wenn der junge Man berichtet, „In den Nußgarten<br />
ging ich hinab, / um die jungen Triebe des Tales zu besehen.“ Wir dürfen daraus schließen, dass<br />
das Paradies nicht eine einmalige Episode in einer fernen Vergangenheit darstellt, der Garten<br />
Eden ist hier, geöffnet für jeden, der die Einladung unseres Dichters versteht.<br />
Nichtsdestotrotz ist das junge Paar nicht auf Rosen gebettet. Es wird höchste Zeit, die Gegenkräfte<br />
zu erwähnen, die ihre Treffen bedrohen. Die Gesellschaft, in der sie leben, ist repressiv, und freie<br />
Liebe ist ein gefährliches Unternehmen. Im dritten Kapitel will das Mädchen „die Stadt durchstreifen,<br />
die Straßen und die Plätze“, sie sucht ihren Partner, aber kann ihn nicht finden. Sie wendet<br />
3 Der wasf des jungen Mädchens findet sich in 5,10-16; die jungen Männer singen den ersten wasf in 4,1-7 und den<br />
dritten in 6,4-7 (kurz und teilweise identisch).<br />
4 Diese Passage enthält zwei Verse über die Ankunft im Garten (bo‘, kommen) : In 4,16 sagt das Mädchen „Mein<br />
Geliebter komme in seinen Garten“ und in 5,1 antwortet der junge Mann sofort mit „Ich komme in meinen Garten,<br />
meine Schwester, meine Braut“. Auffallenderweise sind diese beiden Zeilen die Verse 99 und 100 des Liedes,<br />
genau die Mitte. Der vierte Abschnitt wird auch bestimmt durch das Wort dod, „Liebe, Zärtlichkeit“, von der<br />
Wurzel d-w-d, aus der auch der Eigenname David entstanden ist.<br />
4
sich an „die Wächter, die die Stadt durchstreifen“ und fragt sie, wo der junge Mann ist. Dieses<br />
Mal kommt sie damit davon, aber im 5. Kapitel bekommen wir einen etwas realistischeren Bericht.<br />
<strong>Das</strong> Mädchen träumt, dass ihr Geliebter an ihrer Seite ist, aber als sie aufwacht, ist er nicht da.<br />
Einmal mehr geht sie hinaus auf die Straßen, sucht ihn, aber dann, V. 7, „Es fanden mich die<br />
Wächter, / die die Stadt durchstreifen. Sie schlugen mich, verwundeten mich.“<br />
Freie Liebe kommt nicht in Frage. <strong>Das</strong> Dunkel der Nacht ist gefährlich. Noch kann das Paar vom<br />
Dunkel profitieren, es als Deckmantel für seine Treffen benutzen. Wir stoßen darauf, wenn wir<br />
2,17 lesen und den Vers mit Hilfe von 8,14 auslegen, dem allerletzten Vers des Liedes.<br />
Lassen Sie mich die wunderschönen Details der Frühlingslyrik überspringen, die ich hier einmal<br />
voll ausgeschrieben habe, mit dem Focus auf die Struktur dieser Einheit.<br />
sie<br />
2,8 Horch, mein Geliebter!<br />
springt über die Berge,<br />
2,9 Mein Geliebter gleicht einer Gazelle<br />
Siehe, da steht er<br />
schaut durch die Fenster herein,<br />
Siehe, da kommt er,<br />
hüpft über die Hügel.<br />
oder einem jungen Hirsch.<br />
vor unserer <strong>Haus</strong>wand,<br />
blickt durch die Gitter.<br />
Strophe<br />
1<br />
2<br />
2,10 Mein Geliebter erhebt seine Stimme und spricht zu mir:<br />
er „Mach dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! 3<br />
2,11 Denn siehe, der Winter ist vorbei, die Regenzeit ist vorüber, ist vergangen.<br />
2,12 Die Blumen zeigen sich im Lande, die Zeit des Singens ist gekommen, 4<br />
und die Stimme der Turteltaube läßt sich hören in unserm Land.<br />
2,13ab Der Feigenbaum rötet seine Feigen, und die Reben, die in Blüte stehen, geben Duft.<br />
er<br />
2,13cd Mach dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! 5<br />
2,14ab Meine Taube in den Schlupfwinkeln der Felsen, im Versteck an den Felsstufen,<br />
2,14cd laß mich deine Gestalt sehen, laß mich deine Stimme hören! 6<br />
2,14ef Denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig.“<br />
beide?<br />
2,15 Fangt uns die Füchse,<br />
die die Weinberge verderben!<br />
die kleinen Füchse<br />
Denn unsere Weinberge stehen in Blüte.<br />
7<br />
sie<br />
2,16 Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der in den Lilien weidet. 8<br />
2,17 Bevor der Tag atmet *<br />
wende dich her, mein Geliebter,<br />
oder einem jungen Hirsch<br />
und die Schatten fliehen,<br />
gleiche einer Gazelle<br />
auf den zerklüfteten Bergen!<br />
Ich zähle 20 Verszeilen in acht Strophen. Vers 10a ist eingliedrig, ein Monokolon, und Vers 12 ist<br />
die einzige dreigliedrige Verszeile. Die strophischen Einheiten sind meistens kurz, das bedeutet,<br />
sie enthalten zwei Verszeilen. Schauen Sie auf den Wechsel der Sprecher. <strong>Das</strong> Mädchen spricht<br />
die ersten beiden und die letzten beiden Strophen. Vers 10a ist eingliedrig, aber seine Funktion ist<br />
verblüffend. Die Wörter bilden einen Standardsatz, eine Redeeinleitungsformel, allerdings mit<br />
weitreichender Wirkung. <strong>Das</strong> Mädchen übergibt die Staffel an ihren Partner. Er ist der Sprecher<br />
von vier Einheiten im Zentrum, aber diese Verse (10-14) besitzen den Rang eines Zitats. Sie sind<br />
eingebettete Texte, umgeben von ihren Worten, was bedeutet, dass sie die Kontrolle hat. Die<br />
Struktur ist zwingend: vier Strophenpaare in der symmetrischen Ordnung A B – B’ A’. Die chiastische<br />
Form drückt aus, wie die weibliche Stimme die männliche umarmt.<br />
5
Vers 15 bringt eine ominöse Unterbrechung. Füchse tauchen in dem wohlgepflegten Weinberg<br />
auf. Wenn wir dies metaphorisch auffassen, ist der Garten der Liebe bedroht von störenden Faktoren.<br />
Mehr noch, es ist Nacht im letzten Vers. Unser Paar hat ein Treffen im Schutz der Dunkelheit<br />
genossen, aber jetzt sagt sie „wende dich her!“ Meint sie „fliehen“? Schauen wir uns die<br />
letzte Strophe in Kapitel 8 an. In Vers 14 lässt der Dichter sie das Lied beenden mit den Worten:<br />
Enteile, mein Geliebter,<br />
oder dem jungen Hirsch<br />
und tu es der Gazelle gleich<br />
auf den Balsambergen!<br />
Der Imperativ „wende“ bekommt ein auffallendes Äquivalent, „enteilen“. Der junge Mann muss<br />
vor Anbruch des Tages fliehen und das Lied hat ein offenes Ende.<br />
Der Beginn und das Ende des Liedes haben eine weitere Wiederholung gemeinsam, die hilft, den<br />
Zusammenhalt des Ganzen bewusst zu machen. In 1,6 beschwert sich das Mädchen, dass ihre<br />
Brüder böse auf sie sind und (ich zitiere) „(sie) setzten mich als Hüterin der Weinberge ein. Meinen<br />
eigenen Weinberg (karmi schelli) habe ich nicht gehütet.“ Am Ende des Liedes hat sie eine<br />
wunderbare Antwort auf dieses Problem gefunden. In 8,11 bezieht sie sich auf einen großen<br />
Weinberg, der König Salomo 5 gehört. Er wird von vielen Wächtern bewacht, die tausend Silberstücke<br />
dafür verdienen. Jetzt spricht das Mädchen die folgende Strophe in V. 12:<br />
Meinen eigenen Weinberg (karmi schelli) habe ich vor mir.<br />
Die tausend Silberschekel gönne ich dir, Salomo,<br />
und zweihundert denen, die seine Frucht hüten.<br />
Nach so viel Suchen nach ihrem Geliebten ist die junge Dame beruhigt, sie ist endlich angekommen.<br />
Die Worte karmi schelli fallen auf, weil diese Verwendung des Possessivpronomens im biblischen<br />
Hebräisch außergewöhnlich ist; sie ist aber die gebräuchliche Form im modernen Hebräisch.<br />
Durch den Ausspruch „meinen eigenen Weinberg“ und der Wiederholung des spezifischen<br />
Wortes „Hüter“ (notera, not e rim), unterstützt das Mädchen den Zusammenhalt des Liedes mit einer<br />
Inklusion. So rundet sie die Komposition als Ganze auf brilliante Weise ab und erinnert uns,<br />
was der Kern der Sache ist: Liebe kann der Garten Eden sein.<br />
Der Beitrag der jungen Dame geht weiter als der ihres Freundes. Ich vermute, Sie haben schon<br />
auf Kapitel 8, Vers 6 gewartet. Dort scheint sie zu sagen: „Liebe ist stark wie der Tod, Leidenschaft<br />
ist hart wie die Unterwelt.“ (Einheitsübersetzung) / „Denn Liebe ist stark wie der Tod, und Leidenschaft<br />
unwiderstehlich wie das Totenreich.“ (Lutherübersetzung). Diese traditionellen Übersetzungen<br />
wurden unzählige Male von Pastoren und Priestern verwendet, wenn Sie den Segen über<br />
eine Eheschließung sprechen. Aber sind diese Übersetzungen korrekt? Ich bezweifele das, den<br />
süßlichen Ton vor allem des ersten Halbverses „Liebe stark wie der Tod“ finde ich verdächtig.<br />
Als erstes sollten wir wahrnehmen, wie außerordentlich merkwürdig es ist, Liebe mit dem Tod zu<br />
vergleichen. Im biblischen Israel war die Lebenserwartung weniger als die Hälfte der unseren.<br />
Manche Leute wurden alt, die meisten starben früh, aufgrund von Trockenheit oder Mißernten,<br />
wegen Pest oder simpler Infektion, wegen Krieg etc. Die Israeliten hatten keine Antibiotika, noch<br />
irgendein Konzept oder eine Doktrin vom Leben nach dem Tod. Sicher ist der Tod der große und<br />
allmächtige Feind des Lebens, ganz zu schweigen der von der Liebe.<br />
Lassen Sie mich als nächstes den Vers näher betrachten und lesen; im hebräischen Original haben<br />
die beiden Halbverse ein vollständig regelmäßiges Metrum (3 + 3 Hebungen), weil sie komplett<br />
jambisch sind:<br />
5 König Salomo? Die historische Person hat sich (in dem Lied, das etwa sechshundert Jahre später geschrieben wurde)<br />
zu einer Galionsfigur entwickelt: ein Wahrzeichen von Luxus und Reichtum, eine sprichwörtliche Figur. Der Name<br />
wird hauptsächlich aus klanglichen Gründen verwendet, er passt gut in die Reihe Sch e lomo – Schulammit –<br />
J e ruschalajim – motzet schalom (in 8,10d: ein Partizip Sg f Hiph‘il von der Wurzel y-tz-’).<br />
6
c<br />
azzá kammawt ’ahbá // qaschá kisch’ól qin’á<br />
Die Halbverse stellen einen klaren Fall von synonymen Parallelismus dar, der auf drei Wortpaaren<br />
basiert: Liebe und Leidenschaft (oder Eifersucht) sind die femininen Subjekte, und Tod und<br />
Scheol (die Unterwelt) beziehen sich auf dieselbe Sache. <strong>Das</strong> Prädikat hat die Spitzenstellung inne,<br />
beide Male ein Adjektiv. Und hier komme ich zu meinem Problem: Diese beiden Wörter, c azza<br />
und qascha, bedeuten selten „stark“ in einem direkten oder einfachen Sinn. In vielen Zusammenhängen<br />
haben sie negative Untertöne, Konnotationen, die definitiv unangenehm sind. 6 Sensationellerweise<br />
findet sich ein weiterer biblischer Vers, der genau dieselben Adjektive enthält, und<br />
dort sind die beiden notorisch abstoßend. Es handelt sich um Genesis 49, wo Jakob uns an das<br />
kriminelle Verhalten seiner beiden Söhne Simeon und Levi erinnert. Der alte Mann nennt die Raserei<br />
seiner Söhne c azza and qascha: grimmig und erbarmungslos. Seine Worte sind formal und<br />
wahrhaftig ein Fluch.<br />
Wie sollen wir also dieses Wortpaar auf der letzten Seite des Liedes übersetzen? Sie dürfen wählen:<br />
grimmig oder grob, wild oder heftig, erbarmungslos oder gewalttätig, brutal oder hart? Roh,<br />
böse oder grausam? Welche Prädikate verwendet das Mädchen? Nach langem Grübeln favorisiere<br />
ich die folgende Fassung: „Liebe ist so grimmig wie der Tod, Leidenschaft ist heftig wie das Grab.“<br />
Weg ist der süßliche Ton. Hinsichtlich der intimen Beziehungen von Eros und Thanatos fragen Sie<br />
Freud. Die Verszeile in 8,6 stellt einen Höhepunkt dar, das Endresultat der Reflexionsbemühungen<br />
des Mädchens, und damit verdeutlicht sie uns, dass Liebe eine unbezähmbare und manchmal<br />
gefährliche Kraft darstellt, mit der man vorsichtig umgehen muss, mit äußerster Vorsicht. Und diese<br />
Eigenschaften der Liebe sind der tiefere Grund, warum sie ihre Genossinnen dreimal in Schlüsselmomenten<br />
warnt: „Ich beschwöre euch, Mädchen von Jerusalem, stört die Liebe nicht auf,<br />
weckt sie nicht, bis es ihr selber gefällt.“<br />
Lassen Sie mich schließen mit einem Bild von Umarmung. Es geht um das, was das Mädchen in<br />
Worten und Lauten zeigt, wenn sie ausdrückt, dass sie und ihr Geliebter unmöglich getrennt werden<br />
können:<br />
dodi li wa’ a ni lo: mein Geliebter ist mein und ich bin sein (2,16)<br />
’ a ni l e dodi w e dodi li: Ich bin meines Geliebten und mein Geliebter ist mein (6,3)<br />
Jede Verszeile ist in sich selbst ein Chiasmus. Gleichzeitig dreht jede Verszeile das Innere der anderen<br />
nach außen, sodass die beiden Verszeilen einen Chiasmus auf höherer Ebene formen: in<br />
2,16 umgibt der junge Mann „mich“, während das Mädchen (die 1. Person in 6,3) ihn umgibt.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Hohelied</strong> ist ein revolutionärer Text. In diesem Augenblick gibt es immer noch Millionen von<br />
Männern auf diesem Kontinent, die murren würden, wenn wir zu ihnen sagen: Frauen und Männer<br />
sind gleich, sie haben dieselben Rechte. Unser Dichter setzt die Frau in die führende Position.<br />
Und er war wagemutig genug, eine Perspektive auf den Eros zu entwickeln, die erstaunlich ist,<br />
weil sie amoralisch ist!! <strong>Das</strong> <strong>Hohelied</strong> verzichtet auf urteilendes Denken und geht über dieses hinaus,<br />
es steht jenseits von Ethik.<br />
6 Einige Beispiele: siehe Dtn 28,50; Ri 14,14.18; Jes 19,9; 25,3 und 56,11; Ez 7,24; Dan 8,23; Ps 18,18; Spr 18,23<br />
und 21,14.<br />
7
Auswahlbibliographie<br />
Jüngere Übersetzungen, mit Kommentar:<br />
Michael V. Fox, The Song of Songs and the Ancient Egyptian Love Songs, Madison 1985<br />
Roland E. Murphy, The Song of Songs, Hermeneia, Minneapolis MN, 1990<br />
Ariel & Chana Bloch, The Song of Songs, a new translation with an introduction and commentary,<br />
New York, 1995<br />
Tremper Longman III, Song of Songs, NICOT, Grand Rapids MI, 2001<br />
J. Cheryl Exum, Song of Songs, a commentary, The Old Testament Library, 2005<br />
Yair Zakovitch, <strong>Das</strong> <strong>Hohelied</strong>, Herders Theologischer Kommentar AT, 2004<br />
Eine in die Tiefen gehende Untersuchung ist:<br />
Francis Landy, Paradoxes of Paradise, Identity and Difference in the Song of Songs, Sheffield 1983<br />
Die zitierten Passagen aus dem <strong>Hohelied</strong> folgen der Revidierten Elberfelder Übersetzung, eine<br />
kleine Veränderung ist mit * gekennzeichnet.<br />
Übersetzung: Eva-Martina Kindl<br />
8