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Archiving the Present Gegenwart dokumentieren - weblog.hist.net

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Erscheint als Einleitung in:<br />

Reddeker, Lioba (Hrsg.): <strong>Archiving</strong> <strong>the</strong> <strong>Present</strong>. <strong>Gegenwart</strong> <strong>dokumentieren</strong>, Wien 2005.<br />

Bitte nur nach der gedruckten Fassung zitieren!<br />

<strong>Archiving</strong> <strong>the</strong> <strong>Present</strong><br />

<strong>Gegenwart</strong> <strong>dokumentieren</strong><br />

Eine Annäherung aus <strong>hist</strong>orischer Sicht<br />

Von Peter Haber<br />

„Nichts ist weniger sicher, nichts ist weniger<br />

eindeutig heute als das Wort Archiv“<br />

Jacques Derrida in: Mal d’Archive<br />

Das Archiv<br />

5<br />

Das Archiv hat Konjunktur. Im Zeitalter schier unendlicher digitaler<br />

Speichermedien erhält die Frage, was ein Archiv ist und<br />

wozu es dienen soll, erhöhte Aufmerksamkeit. So mag es auch<br />

nicht verwundern, dass in den letzten Jahren Fachleute in den<br />

unterschiedlichsten Disziplinen das Thema Erinnerung, Gedächtnis,<br />

Archiv und Speicher <strong>the</strong>matisiert und erforscht haben.<br />

Zahlreiche Forschungsvorhaben und daraus resultierende Publikationen<br />

decken scheinbar alle Facetten und Aspekte des Themas<br />

ab. Bestes Indiz für die derzeitige Konjunktur des Themas


—2—<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

ist die Tatsache, das kürzlich zum Thema Gedächtnis und Erinnerung<br />

sogar ein „interdisziplinäres Lexikon“ erschienen ist. 1<br />

Die Techniken des Aufbewahrens gehören seit jeher zum Kerngeschäft<br />

der Geschichtswissenschaften. Verbunden mit den<br />

Techniken des Aufbewahrens sind die Frage nach dem Ort und<br />

die Frage nach dem System der Aufbewahrung – mithin also die<br />

Frage nach dem Archiv. Archivkunde ist bis heute Teil der <strong>hist</strong>orischen<br />

Hilfsdisziplinen, ebenso wie zum Beispiel die Wappenkunde<br />

(Heraldik), die Schriftkunde (Paläographie) oder die<br />

Siegelkunde (Sphragistik).<br />

Die Geschichtswissenschaft definiert Archiv zumeist ziemlich<br />

pragmatisch: „Archive sind endgültige Aufbewahrungsorte für<br />

Geschäftsschriftgut. Sie sind geschichtlich hervorgegangen aus<br />

den Registraturen einzelner Behörden, wo die der Aufbewahrung<br />

für wert erachteten Schriftstücke, die Akten, gesichtet, geord<strong>net</strong><br />

und verzeich<strong>net</strong> wurden.“ 2 Archive sind also Teil einer<br />

behördlichen Struktur und somit immer auch Instrumente der<br />

Obrigkeit oder mit anderen Worten: Netzwerke und Abbilder<br />

der jeweils vorherrschenden Machtverhältnisse. Napoleon wird<br />

1<br />

2<br />

Pe<strong>the</strong>s, Nicolas / Ruchatz, Jens (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung.<br />

Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek 2001.<br />

Asendorf, Manfred: Archiv, in: Ders. / Flemming, Jens (u. a.): Geschichte.<br />

Lexikon der wissenschaftlichen Grundbegriffe, Reinbek<br />

1994, S. 75-77, hier: S. 77.<br />

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—3—<br />

30<br />

35<br />

40<br />

45<br />

der Ausspruch zugeschrieben, dass ein Archivar der Staatsgewalt<br />

mehr nütze als ein guter Artilleriegeneral. 3<br />

Ein Archiv erfüllt mehrere Funktionen: Zum einen verwaltet das<br />

Archiv das Wissen, das als archivwürdig befunden wurde, und<br />

bereitet es für die Nachwelt auf. Zum anderen erhebt das Archiv<br />

auch den Anspruch, die Herkunft des Wissens, das aufbewahrt<br />

wird, angeben zu können. Damit sind die beiden Hauptaufgaben<br />

des Archivs umschrieben: die Verwaltung, also die Ordnung,<br />

und die Herkunftsangabe oder mit einem anderen Wort: die Au<strong>the</strong>ntifizierung<br />

des Archivierten.<br />

Was aber ist „archivwürdig“? Ein vollständiges Archiv gibt es<br />

nicht, jede Sammlung ist das Ergebnis einer bewussten oder unbewussten<br />

Auswahl, von Zufall oder von einer Kombination<br />

dieser Varianten. Das vollständige Archiv hingegen ist ein<br />

Traum, der schnell zum Albtraum zu werden droht. Es ist, ebenso<br />

wie die totale Biblio<strong>the</strong>k, ein gedankliches Konstrukt.<br />

In seiner berühmten Erzählung Die Biblio<strong>the</strong>k von Babel hat<br />

Jorge Luis Borges beschrieben, was die Möglichkeit einer unendlichen<br />

Biblio<strong>the</strong>k bedeuten würde: Diese Biblio<strong>the</strong>k umfasst<br />

„alles, was sich irgend ausdrücken lässt: in sämtlichen Sprachen“.<br />

Sie ist – mit anderen Worten – total, denn „in der unge-<br />

3<br />

Baberowski, Jörg: Arbeit an der Geschichte. Vom Umgang mit den<br />

Archiven, in: Jahrbuch für Geschichte Osteuropas, 51 (2003), 1, S.<br />

36-56, hier: S. 36.<br />

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65<br />

70<br />

heuer weiträumigen Biblio<strong>the</strong>k gibt es nicht zwei identische Bücher.“<br />

Diese totale Biblio<strong>the</strong>k ist der verzerrte Widerschein all<br />

dessen, was durch Bildung und Kultur als Zivilisation konfiguriert<br />

wurde. Es ist die nackte Aneinanderreihung „von überhaupt<br />

allem“ und nicht das Ergebnis eines Prozesses, in welchem Wissen<br />

verwaltet wird.<br />

Auch das totale Archiv ist eine phantasmagorische Konstruktion.<br />

Jedes Archiv lebt von der Auswahl, der Triage. In der Fachsprache<br />

der Archivare heisst der Vorgang des Ausscheidens von<br />

Material, das nicht „archivwürdig“ zu sein scheint, „Kassation“.<br />

Das Phantasma des totalen Archivs nährt sich von der Vorstellung,<br />

eine aus dem vollständigen Archiv abgeleitete totale Erinnerung<br />

verschaffe omnipotente Fähigkeiten.<br />

Im Grund genommen ist das Wort Archiv mehrdeutig: Zum einen<br />

bezeich<strong>net</strong> es den Ort der Aufbewahrung, das Magazin also,<br />

in dem die Schriftstücke gelagert werden. Zum anderen benennt<br />

der Begriff aber auch die Behörde, die für die Auswahl und die<br />

Aufbewahrung der Dokumente zuständig ist. Schliesslich steht<br />

Archiv auch für das organisch gewachsene Schriftgut einer bestimmten<br />

Instanz oder Institution. Das Archivgut – die Gesam<strong>the</strong>it<br />

aller Archivalien eines Archivs also – hat im Verständnis<br />

der traditionellen Geschichtswissenschaft einen örtlichen und<br />

sachlich begrenzten Rahmen. Im Unterschied dazu ist Biblio<strong>the</strong>ksgut<br />

das Ergebnis eines planmässigen Sammelns.<br />

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—5—<br />

75<br />

80<br />

Seit Michel Foucault ist das Archiv aber auch eine Formationsregel<br />

der Diskurse, „das Gesetz, dessen, was gesagt werden<br />

kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelne<br />

Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt,<br />

dass all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche<br />

in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine<br />

bruchlose Linearität einschreiben und nicht allein schon bei zufälligen<br />

äusseren Umständen verschwinden; sondern dass sie<br />

sich in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger<br />

Beziehungen miteinander verbinden, gemäss spezifischen Regelmässigkeiten<br />

sich behaupten oder verfliessen [...].“ 4<br />

Das Vergessen(e)<br />

85<br />

90<br />

Wer sich heute der Flut von Information gewahr wird, die uns in<br />

analoger oder digitaler Form permanent zu bedrohen scheint,<br />

könnte den Eindruck kriegen, nicht die Erinnerung sei das Problem,<br />

sondern das Vergessen. In der griechischen Mythologie<br />

war Mnemosyne, die Tochter des Uranos und der Gaia, die Göttin<br />

des Gedächtnisses und die Mutter der neun Musen. Die Le<strong>the</strong><br />

hingegen war ein Fluss in der Unterwelt; wer vom Wasser der<br />

Le<strong>the</strong> trank, vergass sein irdisches Leben.<br />

4<br />

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main<br />

1981, S. 187.<br />

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Aber nicht nur im Jenseits ist es notwendig, vergessen zu können,<br />

auch im Diesseitigen ist die Funktion des Vergessens essentiell.<br />

Nietzsche formulierte es so: „Also: es ist möglich, fast<br />

ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier<br />

zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt<br />

zu leben.“ 5<br />

Nicht immer gelingt es jedoch, zu vergessen, was man vergessen<br />

möchte. Sigmund Freud verglich das Gedächtnis mit einem<br />

Wunderblock, bei dem die Spuren der Erinnerung eingeritzt<br />

bleiben, auch wenn auf der Oberfläche nichts mehr zu erkennen<br />

ist. 6 Die moderne Naturwissenschaft versucht indes, das traumatische<br />

Wissen, das sich nicht vergessen lässt, auf biochemischem<br />

Weg verschwinden zu lassen. So wird heute an einer Pille<br />

gebastelt, die unliebsame Erinnerungen aus dem Gedächtnis radieren<br />

soll. 7<br />

Im Traktat Nidda des Talmud heisst es, dass das Ungeborene im<br />

Mutterleib die ganze Thora auswendig kennt. Im Augenblick der<br />

Geburt aber kommt ein Engel und gibt dem Neugeborenen einen<br />

Kuss – das Kind vergisst alles und muss die Heilige Schrift von<br />

5<br />

6<br />

7<br />

Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das<br />

Leben, Stuttgart 1994, S. 10.<br />

Freud, Sigmund: Notiz über den 'Wunderblock', in: Ders.: Gesammelte<br />

Werke (17 Bände), Frankfurt am Main 1999, Bd. 14, S. 1-8.<br />

Cromie, William J.: Pill to calm traumatic memories, in: Harvard<br />

University Gazette vom 18. März 2004.<br />

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—7—<br />

Anfang an neu lernen. Das Vergessen(e) ist also Teil des Lebenszyklus,<br />

Teil der conditio humana. 8<br />

115<br />

120<br />

125<br />

130<br />

Die technischen Möglichkeiten des Computerzeitalters verlokken<br />

heute dazu, zu vergessen, wie wichtig das Vergessen ist. Eine<br />

Gesellschaft, die nicht vergessen kann, ist letztlich nicht<br />

überlebensfähig und dieser Umstand war schon den Autoren des<br />

Talmud bewusst. Das World Wide Web zwingt die Spezialisten<br />

des Nicht-Vergessens, die Archivare und Dokumentalisten, Biblio<strong>the</strong>kare<br />

und Historiker, verstärkt über das Vergessen – und<br />

damit auch über die Funktion (und die Funktionsweise) des Archivs<br />

– nachzudenken.<br />

Vergessen ist jedoch mehr als ein dichotomischer Kontrapunkt<br />

zum Erinnern. Garry Smith hat die Beziehung von Erinnern und<br />

Vergessen als zugleich dialektisch, komplementär und paradox<br />

bezeich<strong>net</strong>: 9 dialektisch, weil „das Vergessen eine notwendige<br />

Voraussetzung von Erinnerung überhaupt ist“, komplementär<br />

insofern, dass die beiden Funktionen zwei Pole des Gedächtnisses<br />

bilden (können) und paradox, weil der willentliche Akt des<br />

Erinnerns auf der Seite des Vergessens kein Pendant kennt.<br />

8<br />

9<br />

Siehe: Weber, Elisabeth / Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): Das<br />

Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 2001.<br />

Smith, Gary: Arbeit am Vergessen, in: Smith, Gary / Emrich, Hinderk<br />

M. (Hrsg.): Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, S. 15-<br />

27, hier: S. 20.<br />

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—8—<br />

135<br />

Wenn wir heute, konfrontiert mit den Möglichkeiten des scheinbar<br />

allumfassenden Bewahrens, über das Archivieren nachdenken,<br />

müssen wir auch nachdenken über die Auswahlkriterien des<br />

Sammelns – mithin also: Nachdenken über den Vorgang und die<br />

Notwendigkeit des Vergessens.<br />

Die Ordnung(en) des Wissens<br />

140<br />

145<br />

150<br />

Erst der bewusste Akt des Ordnens und Sortierens transformiert<br />

ein Konvolut von Daten und Informationen zu einem Archiv.<br />

Das Archiv wird zum Archiv durch die Ordnung des Wissens.<br />

Die Möglichkeiten des Ordnens beschäftigen Archivare seit<br />

Jahrhunderten. Im Bereich der <strong>hist</strong>orischen Archive haben sich<br />

im Laufe der Jahre zwei Systeme herausgebildet: Das Pertinenzsystem<br />

gliedert Archivgut nach inhaltlichen Kriterien, also zum<br />

Beispiel nach geographischen Aspekten oder <strong>the</strong>matischen<br />

Stichworten. Der Entstehungszusammenhang des Materials wird<br />

dabei nicht berücksichtigt. Das Provenienzprinzip hingegen<br />

gliedert die Unterlagen nach ihrer Herkunft, inhaltiche Verbindungen<br />

bleiben dabei unberücksichtigt.<br />

Heute, im Zeitalter digitaler Archive und relationaler Datenbanksysteme,<br />

lassen sich die unterschiedlichen Ordnungsprinzipien<br />

sehr einfach kombinieren – zumindest auf der Ebene der<br />

Erschliessung. Die physische Speicherung des Materials – ob in<br />

analoger oder gedruckter Form – muss trotzdem dem einen oder<br />

dem anderen Prinzip folgen.<br />

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Das System der Ordnung in den Archiven lässt sich schlecht<br />

vereinheitlichen. Jedes Archiv hat seinen eigenen, individuellen<br />

Archivplan. Die Varianz von Themen, Quellen und Kontexten<br />

ist viel zu gross, um ein einheitliches Ordnungssystem entstehen<br />

zu lassen.<br />

Anders präsentiert sich dies indes bei den Biblio<strong>the</strong>ken, wie ein<br />

Blick in die Geschichte zeigt. In der Biblio<strong>the</strong>k von Alexandria<br />

hatte der Biblio<strong>the</strong>kar Kallimachos seine Schätze in seinen Katalogen,<br />

den Pinakes, verzeichen lassen. Jede der schätzungsweise<br />

400 000 bis 700 000 Buchrollen war vermerkt. Kallimachos<br />

liess in diesem Katalog nicht nur die Namen der Autoren,<br />

ihre Herkunft und ihre Fachgebiete aufschreiben, auch Hinweise<br />

auf Eigenarten der Schriftsteller oder ihre Todesumstände sollen<br />

in den Pinakes notiert worden sein. Die Pinakes des Kallimachos<br />

waren ein erstklassiges Arbeitsinstrument für die damalige<br />

Wissenschaft und zugleich ein getreues Abbild der biblio<strong>the</strong>karischen<br />

Systematik des Museions, wo sich die Biblio<strong>the</strong>k von<br />

Alexandria befand.<br />

Moderne Biblio<strong>the</strong>ken bieten eine Vielzahl von Katalogen an,<br />

zumeist in Form von Zettelkatalogen: Autorenkatalog, Stichwortkatalog,<br />

systematischer Katalog. Dem deutschen Kulturwissenschafter<br />

Markus Krajewski verdanken wir eine wunderschö-<br />

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195<br />

ne Mediengeschichte des Zettelkastens. 10 Krajewski spürt in<br />

seiner Untersuchung zuerst der Arbeitsweise und den Intentionen<br />

von Konrad Gessner nach, den man gleichsam als den<br />

Schutzpatron des Zettelkastens bezeichnen könnte. Der Arzt und<br />

naturforscher Konrad Gessner veröffentlichte im Jahre 1545 in<br />

Zürich ein Buch, dessen Titel mit den Worten begann: Biblio<strong>the</strong>ca<br />

universalis sive catalogus omnium scriptorum locupletissimus.<br />

Diese „Universal-Biblio<strong>the</strong>k oder reichhaltigster Katalog<br />

aller Schriftsteller” war wohl die erste internationale Bibliographie<br />

der wissenschaftlichen Literatur, die in gedruckter Form<br />

auf den Markt kam. Das Buch bestand aus einer rund 3'000 Autoren<br />

umfassenden Bibliographie und listete insgesamt mehr als<br />

10'000 Werke auf. Neu war, dass nicht nur Autor und Titel genannt<br />

wurden, sondern dass Gessner auch eine inhaltliche Beschreibung<br />

der zitierten Werke vornahm. Damit hob sich das<br />

Werk grundlegend von Literaturlisten und Schriftstellerkatalogen<br />

ab, wie sie zu dieser Zeit zirkulierten. Drei Jahre später<br />

brachte Gessner einen zweiten Band auf den Markt. Dieser Band<br />

enthielt eine <strong>the</strong>matisch geord<strong>net</strong>e Liste mit Stichworten und<br />

stellte somit einen der frühesten Versuche dar, das Wissen der<br />

Welt zu ordnen und zu klassifizieren.<br />

Gessner beschränkte sich in seinen Aktivitäten nicht allein auf<br />

das Sammeln von bibliographischen Einträgen, sondern er wid-<br />

10<br />

Krajewski, Markus: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem<br />

Geiste der Biblio<strong>the</strong>k, Berlin 2002.<br />

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mete sich auch der medien<strong>the</strong>oretischen Reflexion seines Tuns.<br />

Genauestens beschrieb er, wie das Sammeln und Ordnen der<br />

Notizen zu erfolgen habe, indem zuerst ”alles von Wichtigkeit<br />

und was Verwendung verheisst, auf ein einseitig zu beschreibendes<br />

Blatt von guter Qualität zu übertragen” sei. Anschliessend<br />

soll man das Blatt mit einer Schere zerschneiden, um die<br />

Einträge „nach Belieben“ ordnen und gliedern zu können.<br />

Schliesslich soll man die Papierschnipsel auf grossen Bögen arrangieren;<br />

aufgeklebte Papierstreifen ermöglichen es, die Reihenfolge<br />

der Zettel auch nachträglich zu verändern.<br />

Damit war eine prototypische Urform des Zettelkastens beschrieben,<br />

zu dessen wichtigsten Merkmalen es gehört, dass sich<br />

sein Inhalt beliebig oft und nach beliebigen Kriterien immer<br />

wieder neu gruppieren und ordnen lässt. Was indes noch fehlte,<br />

waren die einheitlichen Inhalte des Kastens: die Karteikarten. Es<br />

dauerte rund 250 Jahre, bis sich solche Karten wirklich durchzusetzen<br />

vermochten, wie Krajewski berichtet. Um das Jahr 1800<br />

herum versuchte im postrevolutionären Frankreich das Bureau<br />

de Bibliographie den Buchbestand des Landes zu registrieren<br />

und verwendete – aus Kostengründen – zur Erfassung der Informationen<br />

Spielkarten. Diese waren nicht nur billig, sondern<br />

auch einheitlich gross. Die geplante Bibliographie wurde zwar<br />

schlussendlich nie gedruckt, doch die Idee einer einheitlichen<br />

Karteigrösse war geboren.<br />

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Karteikarte und Zettelkasten waren zunächst Instrumente der gelehrten<br />

Welt, integraler Bestandteil der abendländischen Buchkultur.<br />

Dies änderte sich indes Ende des 19. Jahrhunderts, als ein<br />

gravierender Wandel eintrat: Der Zettelkasten – und damit verbunden<br />

die moderne Kulturtechnik des „Verzettelns” – begann,<br />

nach den Biblio<strong>the</strong>ken und Studierzimmern auch die Welt der<br />

Büros und Amtsstuben zu erobern, zuerst in den USA und später<br />

auch in Europa. Der Zettelkasten wurde nun nicht mehr ausschliesslich<br />

zur Verwaltung von Wissen eingesetzt, sondern mutierte<br />

zum massenproduzierten Planungs- und Organisationsinstrument<br />

bürokratischer Arbeitsprozesse. Dieser Funktionswandel<br />

lässt sich mit Krajewski als eine „diskursive Übertragung”<br />

bezeichnen.<br />

Die Faktoren, die zu diesem Wandel beigetragen haben, waren<br />

mannigfaltig, eine Person spielte aber in diesem ganzen Prozess<br />

eine zentrale Rolle: Melvil Dewey (1851-1931). Dewey war Biblio<strong>the</strong>kar<br />

und ein fanatischer Kämpfer für mehr Effizienz, Systematik<br />

und Ordnung. Im Alter von 26 Jahren setzte er nicht<br />

nur die Gründung der American Library Association durch, sondern<br />

rief gleich auch noch das American Metric Bureau und die<br />

Spelling Reform Association ins Leben. Im amerikanischen Biblio<strong>the</strong>ksmarkt<br />

konnte sich Dewey damals mit kostengünstigen,<br />

einheitlichen Karten und Karteikästen durchsetzen und normbildend<br />

wirken.<br />

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Daten und Metadaten<br />

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Ein Zettelkasten ist eine Sammlung von strukturierten Metadaten.<br />

Jeder einzelne Zettel im Kasten beschreibt eine Einheit, zumeist<br />

ein Buch, und zwar nach einem genau vorgegebenem<br />

Schema: Autor, Titel, Erscheinungsort, Erscheinungsjahr, Verlag,<br />

Umfang, Grösse etc. Jede Karte repräsentiert ein Dokument,<br />

das irgendwo im Magazin der Biblio<strong>the</strong>k steht.<br />

Die Karten lassen sich nach unterschiedlichen Aspekten ordnen<br />

oder auch mit Zusatzinformationen ergänzen. Karteikarten, das<br />

wusste schon Gessner, waren flexibel: Die Abfolge der einzelnen<br />

Karteikarten lässt sich immer wieder verändern und die gespeicherten<br />

Daten lassen sich nach immer wieder neuen Gesichtspunkten<br />

auswerten.<br />

Der Zettelkasten stellt einen Prototyp moderner Informationssysteme<br />

dar, wie sie mit dem Aufkommen des World Wide Web<br />

anfangs der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts aktuell geworden<br />

sind. Auch wenn landläufig immer nur von Suchmaschinen<br />

geredet wird, mit dem Aufkommen des WWW entstand eine<br />

Vielfalt von sehr unterschiedlichen Informationssystemen.<br />

Hauptsächlich sind es zwei Suchtechniken, welche uns bei der<br />

Navigation durch das WWW Hilfe versprechen: es gibt die<br />

Volltextsuche mit Hilfe von Suchmaschinen und die systemati-<br />

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sche Suche mit Verzeichnisdiensten. 11 Wo liegt der Unterschied?<br />

Eine Suchmaschine wie zum Beispiel Google verwendet<br />

bei der Suche einen automatisch erstellten Index, den ein Roboter<br />

generiert hat. In diesem Index sind alle Begriffe enthalten,<br />

die der Roboter auf den abgesuchten Seiten gefunden hat. Es<br />

gibt keinerlei menschliches Zutun ausser bei der Programmierung<br />

des Suchroboters und bei der Definition der Kriterien, die<br />

bei der Reihenfolge der Ergebnisliste berücksichtigt werden sollen.<br />

Ganz anders bei den Verzeichnisdiensten: Hier erstellt eine<br />

Redaktion ein systematisches Verzeichnis mit Netz-Adressen<br />

und ergänzt diese unter Umständen mit Zusatzinformationen. Es<br />

gibt bei den Einträgen also einen (minimalen) intellektuellen Input<br />

und die Erfassungstiefe ist anders definiert: In einem Verzeichnisdienst<br />

wie zum Beispiel Yahoo werden nicht einzelne<br />

Seiten erfasst (dieser Aufwand wäre nicht zu bewältigen!), sondern<br />

sogenannte Web-Sites, also logische Einheiten von mehreren<br />

Webseiten.<br />

Diese Unterscheidung ist bei der Formulierung der passenden<br />

Suchbegriffe sehr wichtig: Die Suche nach „<strong>Gegenwart</strong>skunst<br />

Ungarn“ wird in einer Suchmaschine eine riesige Fülle von Dokumenten<br />

liefern, die zumeist nicht das Gesuchte enthalten wer-<br />

11<br />

Siehe: Hodel, Jan: Heidegger in der Strassenbahn oder Suchen in<br />

den Zeiten des Inter<strong>net</strong>, in: Haber, Peter / Koller, Christophe / Ritter,<br />

Gerold (Hrsg.): Geschichte und Inter<strong>net</strong>. "Raumlose Orte - Geschichtslose<br />

Zeit", Zürich 2002 (= Geschichte und Informatik; 12),<br />

S. 35-47.<br />

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den; in einem gut strukturierten Verzeichnisdienst hingegen sollte<br />

man auf eine entsprechende Auswahl von weiterführenden Sites<br />

verwiesen werden. Suchmaschinen können aber weiterhelfen,<br />

wenn nach einem ganz konkreten, spezifischen Begriff gesucht<br />

wird oder wenn auch einfach nur König Zufall mitspielen<br />

soll.<br />

Einschränkend kommt hinzu, dass Suchmaschinen auch nur einen<br />

Teil des World Wide Web abdecken, da sie das Netz nicht<br />

vollständig absuchen können. Insbesondere können sie nur statische<br />

Seiten indizieren; statische Seiten sind Dateien, die auf einem<br />

Server gespeichert sind und von einem Browser direkt angefordert<br />

werden können. Der Anteil statischer Seiten nimmt allerdings<br />

seit einiger Zeit ab. Immer mehr Informationsanbieter<br />

sind dazu übergegangen, ihre Angebote in Datenbanken zu speichern<br />

und die Ergebnisse in sogenannten dynamischen Seiten zu<br />

präsentieren. Ein gutes Beispiel für diese Art der Web-<br />

Präsentation sind Biblio<strong>the</strong>kskataloge, wie sie im WWW in grosser<br />

Auswahl anzutreffen sind: Die Inhalte eines Kataloges sind<br />

als Datenbank abgelegt und bei einer Abfrage – zum Beispiel<br />

nach Büchern seit 1990 zu den Stichworten „<strong>Gegenwart</strong>skunst“<br />

und „Ungarn“ – wird eine entsprechende Datenbankabfrage<br />

übers Netz geschickt. Der Rechner der Biblio<strong>the</strong>k verarbeitet<br />

diese Anfrage und generiert eine Trefferliste, die dann als dynamische<br />

Seite an den Rechner geschickt wird, von dem die Abfrage<br />

kam. Eine solche dynamische Seite wird nicht gespeichert,<br />

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weshalb ein Roboter einer Suchmaschine sie auch nicht indizieren<br />

kann. Er kann nur diejenigen Seiten in seinen Index aufnehmen,<br />

die statisch auf dem Server der Biblio<strong>the</strong>k abgelegt sind,<br />

also zum Beispiel die Angaben über die Öffnungszeiten, den<br />

Lageplan der Biblio<strong>the</strong>k und ähnliche Informationen.<br />

Anders sieht es bei einem Verzeichnisdienst aus: Hier kann eine<br />

kompetente Redaktorin oder ein kompetenter Redaktor eine Biblio<strong>the</strong>k,<br />

die zum Beispiel Literatur über ungarische <strong>Gegenwart</strong>skunst<br />

schwerpunktmässig sammelt, in ein entsprechendes<br />

Verzeichnis aufnehmen. Dann werden zwar noch immer nicht<br />

die einzelnen Bücher der Biblio<strong>the</strong>k nachgewiesen, aber die Biblio<strong>the</strong>k<br />

als Ganzes ist als Anlaufstelle für weitere Recherchen<br />

mit einer systematischen Suche auffindbar.<br />

Doch woher nimmt der Redaktor des Verzeichnisdienstes die<br />

Kompetenz, diese Auswahl zu treffen? Bei dieser Frage zeigt<br />

sich das Dilemma, in dem das Informationsmedium Inter<strong>net</strong><br />

steckt: Einerseits braucht es, um diese Auswahl zu treffen,<br />

Fachwissen, und das wiederum kostet Geld; andererseits lässt<br />

sich mit solchen Informationen im Netz kaum Geld verdienen,<br />

was wiederum <strong>hist</strong>orische Gründe hat: Genau diese intellektuelle<br />

Strukturierung des Wissens wird seit Jahrhunderten von den<br />

Biblio<strong>the</strong>ken geleistet, indem sie ihre Bücher in Katalogen erfassen,<br />

beschlagworten und somit intellektuell erschliessen. Dieser<br />

Dienst ist in der sogenannten westlichen Welt Teil des Ser-<br />

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vice public und war eine der Voraussetzungen für die technischwissenschaftliche<br />

Dynamik der letzten zwei Jahrhunderte.<br />

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355<br />

Seit das Inter<strong>net</strong> nicht mehr ausschliesslich Teil der wissenschaftlichen<br />

Kommunikationsinfrastruktur ist, kann die intellektuelle<br />

Erschliessung des Netzes auch nicht mehr als Service public<br />

definiert werden. Trotzdem haben vor einigen Jahren die Biblio<strong>the</strong>ken<br />

zusammen mit einigen Forschungseinrichtungen angefangen,<br />

Teile des Netzes – nämlich die wissenschaftlich relevanten<br />

– nach biblio<strong>the</strong>karischen Kriterien zu erschliessen. Entstanden<br />

sind qualitativ hochstehende Verzeichnisdienste, in denen<br />

die Angebote beschrieben und klassifiziert werden. In der<br />

Regel beschränken sich diese Sammlungen auf ein bestimmtes<br />

Themengebiet, weshalb sie auch Subject Gateway genannt werden.<br />

Der Bedarf nach solchen Diensten ist gerade in Bereichen<br />

wie moderne Kunst enorm, ist doch die Bandbreite der potentiell<br />

interessanten Ressourcen im Netz riesig. 12<br />

Subject Gateways arbeiten mit strukturierten Metadaten. Sie beschreiben<br />

das Material, das sie erschliessen und im Netz über<br />

12<br />

Für eine technisch orientierte Darstellung siehe: Gietz, Peter: Expertise<br />

über Quality Controlled Subject Gateways und fachwissenschaftliche<br />

Portale in Europa, Tübingen 2001 <br />

[25.06.2004];<br />

eher informationswissenschaftlich: Andermann, Heike: Neue Ansätze<br />

in der wissenschaftlichen Informationsversorgung. Ein Überblick<br />

über Initiativen und Unternehmungen auf dem Gebiet des elektronischen<br />

Publizierens. Ergänzte Fassung, Potsdam 2003<br />

[25.06.2004].<br />

© 2004 by Peter Haber


—18—<br />

360<br />

365<br />

370<br />

entsprechende Suchmasken anbieten, nach klar definierten Regeln.<br />

Diese Metadaten orientieren sich in ihrer Struktur und in<br />

der Terminologie an den langjährigen Erfahrungen der Biblio<strong>the</strong>ken.<br />

Wie ein Buch beschrieben wird, das hat schon Konrad<br />

Gessner im 16. Jahrhundert vorgemacht und im wesentlichen hat<br />

sich das auch nicht mehr geändert sei<strong>the</strong>r.<br />

Wie aber beschreibt man Kunst? Die Geschichtswissenschaft<br />

hat, dank ihrer engen Verbindung zu Archiv und Biblio<strong>the</strong>k, bereits<br />

vor einigen Jahren damit begonnen, Nachweissysteme für<br />

digitale (oder digitalisierte) <strong>hist</strong>orische Dokumente zu erstellen.<br />

13<br />

Im internationalen Kontext konnten sich Metadatensysteme wie<br />

zum Beispiel der sogenannte Dublin Core verhältnismässig<br />

rasch etablieren und zu einem Quasi-(Minimal-)Standard avancieren.<br />

14 Im Bereich der <strong>hist</strong>orischen Archive ist die Standardisierung<br />

bisher weniger weit gediehen, aber es zeichnen sich verschiedene<br />

Standardisierungen ab. 15<br />

13<br />

14<br />

15<br />

Enderle, Wilfried: Der Historiker, die Spreu und der Weizen. Zur<br />

Qualität und Evaluierung geschichtswissenschaftlicher Inter<strong>net</strong>-<br />

Ressourcen, in: Haber, Peter / Koller, Christophe / Ritter, Gerold<br />

(Hrsg.): Geschichte und Inter<strong>net</strong>. "Raumlose Orte - Geschichtslose<br />

Zeit", Zürich 2002 (= Geschichte und Informatik; 12), S. 49-64.<br />

Mittler, Elmar: Der Zugang zu wissenschaftlichen Informationen, in:<br />

Wissenschaftspublikation im digitalen Zeitalter. Vorträge eines<br />

Symposiums am 8. und 9. Februar 2001 in Berlin, Wiesbaden 2001<br />

(= Gesellschaft für das Buch; 7), S. 108-127.<br />

Black, Mechthild: Recherche via Inter<strong>net</strong>: Neue Wege zum Archivgut,<br />

in: Fundus. Online Forum für Geschichte, Politik und Kultur der<br />

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375<br />

So bleibt zu hoffen, dass in Zukunft mit dem vorliegenden<br />

Handbuch auch die Kunst der <strong>Gegenwart</strong> sich besser <strong>dokumentieren</strong><br />

lässt im digitalen Raum als bisher.<br />

Peter Haber<br />

Peter Haber ist Historiker und Mitbegründer von <strong>hist</strong>.<strong>net</strong>, einer Plattform für<br />

Geschichtswissenschaften und Neue Medien sowie Lehrbeauftragter für Neue<br />

Medien am Historischen Seminar der Universität Basel. Im Netz ist er unter<br />

http://<strong>hist</strong>.<strong>net</strong>/haber zu finden.<br />

späten Neuzeit, 2 (2000), S. 19-35<br />

<br />

[17.05.2004].<br />

© 2004 by Peter Haber

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