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Aphasie (pdf)

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Im Jahre 1836 hält der Praktische Arzt Mark Dax einen Vortrag vor der Medizinischen<br />

Gesellschaft in Montpelier über Patienten, die nach einer Hirnschädigung einen Sprachverlust<br />

erlitten hatten. Diese Beobachtung war nicht neu. Schon bei den alten Griechen wird über<br />

<strong>Aphasie</strong>n berichtet. Dax allerdings war der Erste, der bemerkte, daß alle Patienten, die er mit<br />

Sprachverlust gesehen hatte, eine Schädigung der linken Hemisphäre erlitten hatten (Harris<br />

1993).<br />

Der Vortrag selber scheint der einzige wissenschaftliche Beitrag seiner Karriere und – aus<br />

Mangel an Interesse auf Seiten der Zuhörer – ein völliger Reinfall gewesen zu sein. Dax starb<br />

etwa ein Jahr später, ohne zu ahnen, daß er ein Pionier einer der faszinierendsten<br />

Forschungsrichtungen des 20. Jahrhunderts gewesen war.<br />

Broca revolutionierte 1861 die Vorstellung über das Gehirn. Seine Erkenntnis verdankt er u.a.<br />

„Tan“, einem Patienten, der diesen Spitznamen hatte, weil es die einzige Silbe war, die er<br />

aussprechen konnte. Wie auch alle weiteren Patienten, die Paul Broca untersuchte, hatte Tan<br />

eine Schädigung der linken Hemisphäre, die zu einem Sprachverlust führte. Im Gegensatz dazu<br />

ließ sich bei Patienten mit rechtshemisphärischer Schädigung kein Sprachverlust nachweisen<br />

(Broca 1863, Broca 1865).<br />

Demnach sind die auf den ersten Blick anatomisch identischen Hemisphären des Gehirns<br />

funktionell asymmetrisch. Sprache ist eine lateralisierte Funktion. Sie wird bei den meisten von<br />

uns von der linken Gehirnhälfte realisiert. Ein weiteres Beispiel für die funktionelle Asymmetrie<br />

sind die unterschiedlichen Fertigkeiten unserer Hände. Die meisten Menschen bevorzugen eine<br />

Hand. Etwa 90 % der Bevölkerung führen einhändige Tätigkeiten bevorzugt mit der rechten<br />

Hand aus. Nur die wenigsten Menschen sind in der Lage, Tätigkeiten mit beiden Händen gleich<br />

gut auszuführen.<br />

Verschiedene funktionelle Asymmetrien - Sprache- und Händigkeit sind bei weitem nicht die<br />

einzigen - scheinen zusammenzuhängen. So können Sie, falls Sie ein extremer Rechtshänder<br />

sind, zu 95 % davon ausgehen, daß die Sprache bei Ihnen in der linken Hemisphäre lokalisiert<br />

ist. Warum Sprache lateralisiert ist, und warum bei den meisten Menschen zur linken<br />

Hemisphäre, ist unbekannt.


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2<br />

Da wir heutzutage älter als unsere Vorfahren werden, haben wir ein höheres Risiko, einen<br />

Schlaganfall zu erleiden. Da erscheint es nicht gerade von Vorteil, daß Sprache vor allem in<br />

einer Gehirnhälfte lokalisiert ist. Viel günstiger wäre es doch, wenn beide Gehirnhälften<br />

Sprachfunktionen erfüllten.<br />

Die Erklärung für die Lateralisierung der Sprache ist möglicherweise relativ simpel. Symmetrie<br />

(nicht Asymmetrie) ist beim Aufbau von Materie eher unwahrscheinlich. Symmetrische Anlagen<br />

oder Funktionen haben sich herausgebildet, wenn sie eindeutige Selektionsvorteile boten. So<br />

erlaubt ein symmetrischer Körperbau eine schneller Fortbewegung. Für Systeme, die keinen<br />

Bezug zu gerichteter Bewegung im Raum und dafür notwendige Sinneswahrnehmungen haben,<br />

ist eine symmetrische Anlage unwichtig. Beispiele sind innere Organe wie Herz, Leber, Magen.<br />

Für Sprache ist insbesondere die zeitliche Koordination der neuronalen Erregungen wichtig.<br />

Entscheidend ist eine schnelle Verarbeitung der Information mit möglichst geringer<br />

Leitungsverzögerung. Es wird angenommen, daß Neurone, die in einer Hemisphäre liegen, eine<br />

schnellere Informationsverarbeitung erlauben. Informationen, die zur Verarbeitung erst von<br />

einer Hemisphäre in die andere gelangen müssen, verbrauchen Zeit (Kupfermann und<br />

Mitarbeiter 1995).<br />

Vor diesem Hintergrund, bleibt die Frage offen, warum Sprache gerade in der linken<br />

Hemisphäre lokalisiert ist. Vielleicht boten die Neurone in der linken Hemisphäre eine bessere<br />

Voraussetzung zur Sprachverwirklichung. So könnte die Entwicklung der gesprochenen<br />

Sprache auf entwicklungsgeschichtlich sehr viel älteres, feinmotorisches Verhalten wie Gestik<br />

und Mimik zurückgehen (Calvin 1983).<br />

Es ist denkbar, daß die Zusammenarbeit bei komplexeren Tätigkeiten, wie der gemeinsamen<br />

Jagd auf große Tiere, das Entstehen einer „gesprochenen“ Sprache begünstigte. Die Neurone,<br />

die primär für den feinmotorischen Gebrauch der dominanten Hand zuständig waren, wurden<br />

jetzt auch für die neuronale Verschaltung der Sprache genutzt. Es entstand die „fokale“<br />

Sprache. Dieser Begriff soll allerdings nicht vermuten lassen, daß die<br />

Hemisphärenspezialisierung auf die gesprochene Sprache begrenzt ist. Auch Taubstumme, die<br />

sich nur mit Gebärdensprache verständigen, sind nach Schädigung der sprachassoziierten<br />

Gehirnareale „aphasisch“. Auch bei ihnen sind die sprachassoziierten Gehirnareale wie bei<br />

Hörenden zumeist in der linken Hemisphäre lokalisiert (Nishimora und Mitarbeiter 1999).


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3<br />

Was ist eigentlich der Grund, sich mit der Sprachdominanz zu beschäftigen? In Deutschland<br />

erleiden jährlich 150 Tausend Menschen einen Schlaganfall. Die <strong>Aphasie</strong> ist eine der<br />

schwerwiegendsten Folgen für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Eine <strong>Aphasie</strong> entsteht<br />

durch eine umschriebene Schädigung sprachrelevanter Gehirnstrukturen. Warum sich nach<br />

welcher Läsion eine „Sprachlähmung“ entwickelt, warum sich Sprachfunktionen erholen oder<br />

aber eine chronische <strong>Aphasie</strong> bleibt, ist unbekannt. Die Neurowissenschaften versuchen, die<br />

Grundlage der Sprachdominanz zu entschlüsseln und neue Therapieansätze zu entwickeln.<br />

Als häufige Ursache einer <strong>Aphasie</strong> gilt der linkshemisphärische Hirninfarkt. Bei <strong>Aphasie</strong>n sind<br />

typischerweise die linke Hirnarterie und ihre Äste betroffen. Man unterscheidet vier<br />

Standardsyndrome der <strong>Aphasie</strong>:<br />

1. die durch Sprachverständnisstörung gekennzeichnete Wernicke-<strong>Aphasie</strong>,<br />

2. die Broca-<strong>Aphasie</strong> mit eingeschränkter und grammatikalisch fehlerhafter<br />

Sprachproduktion,<br />

3. die durch Benennungsstörung charakterisierte amnestische <strong>Aphasie</strong> und<br />

4. die globale <strong>Aphasie</strong> mit gestörtem Sprachverständnis und gestörter Sprachproduktion.<br />

Die Definition der Syndrome erfolgt schematisch, z.B. mit dem Aachener <strong>Aphasie</strong>-Test (Huber<br />

und Mitarbeiter 1984).<br />

Oft wird eine enge Beziehung zwischen Läsionsort und dem daraus folgenden Syndrom<br />

hergestellt. Der klassische Syndromansatz wird aber immer mehr relativiert. Zwar führen<br />

linkshemisphärische Läsionen häufiger zu <strong>Aphasie</strong>n als solche der rechten Hemisphäre, aber<br />

auch Läsionen der rechten Hemisphäre können bei einigen Menschen zur sogenannten<br />

gekreuzten <strong>Aphasie</strong>n führen. Weiterhin zeigte sich nach radiologischen<br />

Schnittbilduntersuchungen bei klinisch klar ausgeprägten Syndromen, daß die eindeutige<br />

Beziehung zwischen Läsionsort und –syndrom häufig nicht vorhanden ist, da die in der<br />

Computertomographie gefundene Läsion nicht ohne Ausnahme mit dem klinischen Syndrom<br />

korreliert, d.h. eine Verletzung einer bestimmten Gehirnregion führt nicht zwingend zu<br />

demselben Syndrom (Basso und Mitarbeiter 1985).<br />

Allerdings führen Schädigungen bestimmter Regionen häufiger zu <strong>Aphasie</strong>n als Läsionen<br />

anderer Regionen. Aber auch nach Läsionen außerhalb der sogenannten Sprachzentren wie<br />

Läsion der Basalganglien können aphasische Symptome auftreten.<br />

Um das Geheimnis der Sprachdominanz zu entschlüsseln, reichen Läsionsstudien alleine nicht<br />

aus. Ähnlich, wie ein Unfall an einer Autobahnkreuzung ein großes Verkehrschaos verursacht,


4<br />

kann eine kleine Läsion, die an einer ungünstigen Stelle lokalisiert ist, zu einem kompletten<br />

Ausfall der Sprache führen. So muss an dieser Stelle nicht zwangsläufig das komplette<br />

Sprachvermögen des Betroffenen lokalisiert sein, aber die betroffene Stelle war essentiell für<br />

die Ausführung der Sprache. Umgekehrt lassen sich auch nach großen linkshemisphärischen<br />

Läsionen teilweise nur geringe Sprachbeeinträchtigungen beobachten, da keine essentiellen<br />

Regionen geschädigt sind. Ein neues Fenster zum Verständnis der Sprache im Gehirn bietet<br />

die funktionelle Bildgebung.<br />

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Funktionelle Bildgebung ermöglicht, Sprachaktivierung bei Patienten und bei gesunden<br />

Probanden direkt zu messen. Einen ersten Einblick in die funktionelle Organisation der Sprache<br />

verschaffte Wada, durch den nach ihm benannten Wada-Test (Wada und Mitarbeiter 1949)<br />

(Tab. 1).<br />

Dieser Test wird angewandt zur Bestimmung der Sprachdominanz bei Patienten, die sich einem<br />

neurochirurgischen Eingriff unterziehen müssen. Aus den Ergebnissen schloss man, daß 96 %<br />

der Rechtshänder linkssprachdominant und 4 % rechtsdominant sind. Bei den Linkshändern<br />

seien 70 % links, 15 % bilateral und 15 % rechtsdominant. Rückschlüsse vom gestörten Gehirn<br />

auf das gesunde sind aber problematisch (Rasmussen und Milner 1977).<br />

Ein geschädigtes Gehirn kann sich funktionell reorganisieren. So kann auch die Hemisphäre, in<br />

der eine Funktion ursprünglich nicht angesiedelt war, diese Funktion übernehmen. Dies ist<br />

insbesondere bei Kindern der Fall. Es gibt bei Patienten mit frühkindlichen Hirnschädigungen<br />

wesentlich mehr Linkshänder (sogenannte pathologische Linkshänder) als in der<br />

Normalbevölkerung, und es ist zu erwarten, daß bei diesen Menschen auch die Organisation<br />

der Sprache eine andere ist. (Dellatolas und Mitarbeiter 1993).<br />

So lassen Erkenntnisse von Patienten nur begrenzt Aussagen zu über das gesunde Gehirn,<br />

und damit auch keine Hypothesen für Sprachentwicklung und –erholung. Durch die Entwicklung<br />

nichtinvasiver Methoden wie der Positronenemissionstomographie, der funktionellen<br />

Magnetresonanztomographie und der funktionellen Dopplersonographie wurde es möglich,<br />

funktiongsgebunde Aktivierungen bestimmter Hirnregionen gesunder Probanden zu messen.<br />

Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zeigen, daß mit 13 % ein überraschend großer<br />

Prozentsatz der Bevölkerung rechtsdominant für Sprache ist (Pujol und Mitarbeiter 1999,<br />

Knecht und Mitarbeiter 2000 B).


5<br />

Weiterhin wird erkennbar, daß Sprache nicht entweder in der einen oder anderen Gehirnhälfte<br />

angesiedelt ist. Vielmehr ist sie in unterschiedlichem Maße lateralisiert, mit einer Prädominanz<br />

in einer Hemisphäre (Knecht und Mitarbeiter 2000 A).<br />

Diese Erkenntnisse sind für Therapieentscheidungen bedeutend. Bei sehr schweren Verläufen<br />

nach Schlaganfall, besteht für Patienten akute Lebensgefahr, wenn das schwellende Gehirn<br />

durch den Schädel begrenzt wird und sich daraufhin ein großer Druck auf das Hirngewebe<br />

aufbaut. Es ist möglich, einen Teil des Schädels zu entfernen und so dem Gehirn den nötigen<br />

Platz zu verschaffen. Bei Patienten mit linkshirnigem Infarkt wird diese Möglichkeit nur äußerst<br />

zögerlich erwogen, da immer noch die weitverbreitete Annahme herrscht, daß Patienten mit<br />

einem linkshirnigen Schlaganfall aufgrund der dort vermuteten Sprachfunktion schwerste<br />

kognitive Einschränkungen aufweisen müssen.<br />

Die Ergebnisse der funktionellen Bildgebungen machen deutlich, daß bei jedem 8. Patient eine<br />

Prädominanz der rechten Hemisphäre vorliegt und daher nach linkshirnigem Infarkt nicht mit<br />

ausgeprägten sprachlichen Defiziten zu rechnen ist. Insbesondere zeigt sich aber, daß<br />

Sprachfähigkeiten keine Funktion nur einer Hemisphäre ist, und daß auch nach schweren<br />

Hirninfarkten in der sprachdominanten Hemisphäre eine berechtigte Hoffnung auf<br />

Kompensationsmechanismen durch die subdominante Hemisphäre bestehen (Knecht und<br />

Mitarbeiter 2000 A, Knecht und Mitarbeiter 2000 B).<br />

Diese Befunde werden gestützt durch die beobachteten klinischen Verläufe der zunehmenden<br />

Zahl von Patienten, die einen Schlaganfall überleben und im Verlauf der Zeit wieder beachtliche<br />

Sprachfunktionen erlangen.<br />

Neben dem Beitrag zur Therapie-Diskussion versucht die funktionelle Bildgebung auch<br />

Zusammenhänge zwischen Sprachlateralisation und äußerlich messbaren Faktoren zu<br />

ergründen.<br />

$NWLYLHUXQJVVWXGLHQ<br />

Aktivierungsstudien weisen Aktivierungen bestimmter Hirnregionen bei der Durchführung einer<br />

spezifischen Aufgabe (Wortgenerierung, Benennen von Objekten etc.) nach.<br />

1. Positronenemissionstomographie (PET): Bei der PET werden Radionuklide in die<br />

Blutbahnen appliziert, mit denen über eine spezifische Bildgebung z.B. eine erhöhte<br />

Nervenzellaktivität nachgewiesen werden kann (Schneider und Mitarbeiter 1996).


6<br />

2. funktionelle Kernspintomographie (fMRT): Über die Messung von Oxyhämoglobin, das in<br />

aktivierte Hirnareale überschießend einströmt, können diese Hirnareale identifiziert<br />

werden (Schneider und Mitarbeiter 1996).<br />

3. funktionelle Dopplersonographie fTCD (fTCD): Mit dieser Methode werden zerebrale<br />

Durchblutungsänderungen gemessen. Messungen in den Arteriae cerebri mediae, die<br />

die potentiellen Sprachareale versorgen, erlauben die Bestimmungen der<br />

sprachdominanten Hemisphäre (Knecht und Mitarbeiter 1998).<br />

Hemmungsstudien mit virtual Läsionen weisen einen reversiblen Funktionsausfall durch<br />

Inaktivierung von Hirnregionen nach.<br />

1. Wada-Test: Die Methode der Natriumamytalinjektion zur Narkose einer Hemisphäre wird<br />

zur Bestimmung der sprachdominanten Hemisphäre vor operativen Eingriffen<br />

angewandt. Eine Injektion von Natriumamytal in die rechte oder in die linke Arteria<br />

carotis interna führt zu einer wenigen Minuten andauernden Funktionsblockierung, der<br />

durch diese Arterie versorgten Hemisphäre mit einer Lähmung der entsprechenden<br />

Körperhälfte. Dieses erlaubt, die Funktion jeder Hemisphäre isoliert zu untersuchen<br />

(Wada und Rasmussen 1960).<br />

Elektrische Stimulation: Durch elektrische Stimulation werden mittels einer Elektrode am<br />

intraoperativ offen liegendem Kortex Hirnareale des wachen Patienten identifiziert.<br />

Kortikale Reizung erlaubt nicht nur die Identifizierung der Lateralität (rechte oder linke<br />

Gehirnhälfte), sondern auch die Lokalisierung von Funktionen innerhalb einer<br />

Hemisphäre.<br />

Transkranielle Magnetstimulation (TMS): Diese Methode ermöglicht durch die reversible<br />

Veränderung des Aktivierungszustandes von Neuronen die Lokalisierung von<br />

Funktionen innerhalb einer Hemisphäre (Epstein 1999 A, und Mitarbeiter B).<br />

Funktionelle Bildgebung ermöglicht Antworten auf bisher unbeantwortete Fragen:<br />

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Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind offensichtlich. Es stellt sich die Frage, ob einige<br />

Unterschiede mit Änderungen der zerebralen Organisation einhergehen. So zeigen einige


7<br />

Studien bessere verbale Fähigkeiten bei Frauen als bei Männern. Schon bei Kindern wird<br />

immer wieder hervorgehoben, daß Mädchen früher Kommunikationsfähigkeiten entwickeln und<br />

schneller über einen komplexen Wortschatz verfügen als Jungen. Klinische Studien über<br />

Geschlechtsunterschiede in der Sprachlateralität kommen zu höchst widersprüchlichen<br />

Ergebnissen. So berichtete die Psychologin Jeanett McGlone, daß bei rechtshändigen Männern<br />

<strong>Aphasie</strong>n nach Schädigung der linken Gehirnhälfte dreimal so häufig auftraten wie bei Frauen<br />

(McGlone 1980).<br />

Auch waren die sprachlichen Defizite bei Männern gravierender als bei Frauen. Aus diesen<br />

Ergebnissen schloss sie, daß Sprache bei Frauen stärker bilateral organisiert ist als bei<br />

Männern. Kimura dagegen fand Hinweise auf eine bilaterale Gehirnorganisation der Männer<br />

(Kimura und Harschmann 1984).<br />

Die Ergebnisse der Untersuchungen widersprechen sich nicht wirklich. Zum einen sind die<br />

Ergebnisse häufig durch eine hohe Patientenselektion beeinflusst, zum anderen zeigt dieses<br />

auf, wie schwierig es ist, von Läsionsstudien auf zerebrale Organisation zu schließen. Kaum ein<br />

Schlaganfallpatient wird genau die gleiche Läsion an genau der gleichen Stelle wie ein anderer<br />

erleiden. Unterschiede, die in Läsionsstudien scheinbar auf das Geschlecht zurückzuführen<br />

sind, können z.B. auf unterschiedliche Läsionsgrößen zurückzuführen sein. An diesem Punkt<br />

setzt die funktionelle Bildgebung ein. Äußere Faktoren sind im Allgemeinen bei gesunden<br />

Probanden besser zu kontrollieren. Außerdem sind die Probandenzahlen größer. Studien der<br />

funktionellen Bildgebung konnten bei großen Stichprobenzahlen meist keine<br />

geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Sprachorganisation nachweisen (Frost und<br />

Mitarbeiter 1999).<br />

So maßen Frost und Kollegen die Sprachdominanz mittels funktioneller Kernspintomographie<br />

bei je 50 Frauen und Männern. Sowohl bei Frauen als auch bei Männern war die Variabilität der<br />

Sprachdominanz groß. Allerdings unterschieden sich die beiden Gruppen als solche nicht. Wir<br />

haben 326 gesunde Probanden auf ihre Sprachdominanz mit einer Wortgenerierungsaufgabe<br />

untersucht und haben keine Geschlechtsunterschiede bzgl. der Seite und des Ausmaßes der<br />

Sprachlateralisation feststellen können (Knecht und Mitarbeiter 2000 B).<br />

Studien, die Unterschiede in der Sprachorganisation von Frauen und Männern finden, können<br />

schlecht ausschließen, daß auch unterschiedliche Strategien der Geschlechter zu diesen<br />

Ergebnissen führen können. Viele beobachtbare Unterschiede sind wohl mehr kulturell als<br />

neurologisch bedingt. So sind offensichtlich in stark traditionellen Kulturen<br />

Geschlechtsunterschiede in der Wortwahl sehr groß, ohne daß jemand behaupten würde,<br />

dieses sei genetisch determiniert.


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8<br />

Lange Zeit war es nicht möglich, die Sprachdominanz direkt zu messen. Bei pathologischen<br />

Linkshändern war bekannt, daß viele rechtsdominant für Sprache waren. Man nahm an, daß<br />

Linkshänder sich in der gesamten Gehirnkonfiguration stark von Rechtshändern unterscheiden.<br />

Aber im Gegensatz zu den Beschreibungen von Linkshändern mit frühkindlichem Hirnschaden,<br />

gab es auch Beschreibungen besonders begabter Linkshänder wie z.B. Leonardo da Vinci,<br />

Benjamin Franklin und Michelangelo (Merbert und Michael 1980).<br />

Im Zusammenhang mit diesen Begabten, vermuteten Forscher auch hier, eine besondere<br />

Gehirnkonfiguration wie eine stärker ausgeprägte bilaterale Verteilung der Sprachfunktion. Die<br />

funktionelle Bildgebung ermöglichte, den Zusammenhang von Händigkeit und<br />

Sprachlateralisierung auch an der gesunden Bevölkerung zu messen. Sowohl bei rechts- als<br />

auch bei linkshändigen Personen gibt es rechtsdominante Sprache, allerdings ist sie bei<br />

Rechtshändern häufiger zu finden. Wir untersuchten 326 Probanden auf ihre<br />

Sprachlateralisation. Von diesen Probanden waren 191 rechtshändig und 135 linkshändig.<br />

Zwischen dem Grad der Händigkeit und dem Grad der Sprachlateralisierung besteht ein direkter<br />

linearer Zusammenhang. Je mehr ein Mensch seine linke Hand benutzt, desto größer ist die<br />

Wahrscheinlichkeit, daß auch seine rechte Gehirnhälfte an Sprachprozessen beteiligt ist<br />

(Knecht und Mitarbeiter 2000 B). Leider bestätigten auch hier die Ausnahmen die Regel, und<br />

bei niemandem läßt allein die Händigkeit auf seine Sprachlateralisation schließen.<br />

Ein Zusammenhang zwischen besonderen künstlerischen oder sprachlichen Fähigkeiten und<br />

der Sprachdominanz ließ sich in unseren Studien nicht nachweisen. Weder Linkshänder noch<br />

Rechtsdominante haben häufiger oder mit größerer Professionalität künstlerische Neigungen.<br />

Wahrscheinlich ist, daß Leonardo da Vinci oder Michelangelo nicht durch eine besondere<br />

Gehirnkonfiguration zu ihren überragenden Leistungen befähigt wurden, sondern durch eine<br />

besondere effiziente Verarbeitung von künstlerischen Prozessen. Auch muss man bedenken,<br />

daß Linkshändigkeit lange gegen gesellschaftliche Konventionen verstieß („Kind, nimm doch<br />

die schöne Hand !“). So macht es keinen Unterschied, ob der Mensch links- oder<br />

rechtsdominant ist, da anscheinend keine Hemisphäre der anderen in der Ausübung einer<br />

Funktion überlegen ist, wenn sie einmal mit ihr betraut wurde. Das heißt, keine Gehirnhälfte<br />

kann eine Aufgabe per se besser erfüllen als die andere.


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9<br />

Ein Beispiel: Aufgrund eines linkshemisphärischen Schlaganfalls wird eine alte Frau global<br />

aphasisch. Mit der Zeit erlangt sie ihre Sprachfunktion soweit zurück, daß ihr eine<br />

Verständigung problemlos möglich wird. Dreieinhalb Jahre nach dem ersten Schlaganfall<br />

erleidet sie einen erneuten Schlaganfall, diesmal in der rechten Hemisphäre. Ihre<br />

Sprachfähigkeit ist erneut stark eingeschränkt (Basso und Mitarbeiter 1989).<br />

Dieses Beispiel verdeutlicht die Plastizität des Gehirns und die Rolle der rechten Hemisphäre<br />

für die Erholung von Sprachfunktionen. Zwar ist die Sprache bei den meisten Menschen in der<br />

linken Hemisphäre angesiedelt, aber die Funktion ist nicht so festgelegt, daß nicht auch die<br />

rechte Hemisphäre Sprachfunktionen übernehmen kann. Leider erholt sich nur bei einem Drittel<br />

der Aphasiker die Sprachfunktion in befriedigendem Maße wieder. Bei wem und warum sich<br />

Sprachfunktionen erholen und welche Faktoren eine Spracherholung verhindern, sind bis heute<br />

ungelöste Fragen der Wissenschaft (Pedersen und Mitarbeiter 1995).<br />

In neueren Untersuchungen funktioneller Bildgebung wurde die Sprachaktivierung bei<br />

Aphasikern mittels funktioneller Kernspintomographie gemessen (Thulborn und Mitarbeiter<br />

1999, Weiller und Mitarbeiter 1995).<br />

Diese zeigten, daß Spracherholung entweder Erholung geschädigter Areale oder Rekrutierung<br />

neuer Areale voraussetzt.<br />

Anders als beim Erwachsenen erholen sich Sprachfunktion bei Kindern auch nach vollständiger<br />

Entfernung der linken Hemisphäre (Vargha Khadem und Polkey 1992).<br />

Je älter der Mensch wird, um so mehr scheinen bestimmte Hirnregionen auf ihre Funktion<br />

festgelegt zu sein, und um so schwieriger ist es für andere Hirnregionen, verlorene Funktionen<br />

zu übernehmen (Vargha Khadem und Mitarbeiter 1985).


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10<br />

Ein weitgestecktes Ziel der funktionellen Bildgebung ist, nicht nur Ist-Zustände zu beschreiben –<br />

i.S. von „wer aktiviert wann wo“, sondern auch Prognosen zu geben über Effizienz von<br />

Sprachtherapie. Schon heute sind bei Patienten mit chronisch degenerativen Erkrankungen des<br />

Gehirns anhand von erkennbaren Minderaktivierungen in der funktionellen Bildgebung<br />

Voraussagen möglich, ob später Defizite der Sprachfunktion zu erwarten sind. In der<br />

<strong>Aphasie</strong>therapie wäre es denkbar, je nach Aktivierungsmuster nach Schlaganfall individuell auf<br />

die noch verbliebene aktivierende Gehirnregion einzugehen und sie durch gezielte Therapie zu<br />

fördern. Dazu arbeiten wir seit einiger Zeit mit einem neuen Verfahren, der sogenannten<br />

Magnetpulsstimulation. Mit dieser Technik lassen sich die Erregbarkeit und die Funktion des<br />

Gehirns beeinflussen. In Untersuchungen gesunder Probanden haben wir festgestellt, daß sich<br />

durch die Magnetpulsstimulation bestimmter Gehirnregionen die Leistungen in sprachlichen<br />

Aufgaben beeinflussen lassen. Zurzeit versuchen wir, diese Ergebnisse auf Patienten mit<br />

Sprachstörungen anzuwenden und Sprachfunktionen bei Aphasikern durch Magnetstimulation<br />

zu fördern.


LWHUDWXUYHU]HLFKQLV<br />

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