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<strong>AHF</strong><br />

Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland e.V.<br />

<strong>AHF</strong>-<strong>Information</strong> Nr. 135 vom 08.10.2013<br />

Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur –<br />

Forschungsstand, Forschungskontroversen, Forschungsdesiderate<br />

Akademie für Politische Bildung Tutzing in Kooperation<br />

mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin<br />

Tutzing, 21. bis 23. Juni 2013<br />

Die 2010 erschienene Studie "Das Amt und die Vergangenheit" hat weit über die Kreise der Geschichtswissenschaft<br />

hinaus großes Aufsehen erregt. Die unter Joschka Fischer als damaligem Außenminister im Jahr<br />

2005 initiierte und von einer unabhängigen Historikerkommission erstellte Arbeit hat neben Zuspruch viel<br />

Kritik erfahren. Der Disput, der sowohl fachwissenschaftlich als auch publizistisch in einer Vielzahl von<br />

Medien ausgetragen wurde, kreiste u.a. um die Frage, inwieweit das Auswärtige Amt in die Politik des<br />

"Dritten Reichs" involviert war, ja gleichsam vorauseilend die nationalsozialistische Politik der Gewalt gegen<br />

Juden und den Holocaust aktiv mitgeplant und -gestaltet hat. Die Bandbreite der Diskussion reichte darüber<br />

hinaus von der Kritik an methodischen Aspekten über Fragen der Quellenauslegung bis zum Vorwurf der<br />

"Geschichtspornografie", der von Sönke Neitzel mit Blick auf eine vermeintliche Sensationsgier der Historikerkommission<br />

vorgebracht wurde. 1 Dem Streit gehörten neben historiographischen Kritikpunkten zugleich<br />

geschichtspolitische Aspekte an, deren polemische Stoßrichtung eine sachliche und argumentativ<br />

untermauerte Diskussion mitunter unmöglich machte. An die Stelle forschungsintensiver<br />

Auseinandersetzungen traten publizistisch scharf geführte Wortgefechte, Rechtfertigungsversuche und<br />

Diskussionen auf benachbarten Feldern, so etwa mit Blick auf die Rolle des Archivs des Auswärtigen Amts.<br />

Ein vitaler Diskurs jedoch, von dem etwa geschichtswissenschaftliche Impulse ausgegangen wären, hatte sich<br />

nicht ausgebreitet. Dieser Umstand wurde von Michael Mayer von der Akademie für Politische Bildung<br />

Tutzing und Johannes Hürter vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin zum Anlass genommen, zur<br />

Tagung "Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur" einzuladen, die als Bestandsaufnahme zu Forschungsstand,<br />

-kontroversen und -desideraten gedacht war, ohne einmal mehr die vorherigen Grabenkämpfe der<br />

Debattenteilnehmer, von denen zahlreiche anwesend waren, neu zu entfachen. Ziel der Tagung war vielmehr,<br />

die Ergebnisse der Studie wissenschaftlich zu prüfen und weiterzuentwickeln. Die Sektionseinteilung orientierte<br />

sich an den Kernpunkten der fachlichen Kritik. Die erste fokussierte die personale Struktur des Auswärtigen<br />

Amts unter dem Blickpunkt von Kontinuität und Diskontinuität. In der zweiten Sektion rückte die<br />

Politik des Auswärtigen Amts, mithin das Kerngeschäft in den Vordergrund, dessen Anteil an der<br />

Expansions- und Eroberungspolitik des "Dritten Reichs" gewichtet werden sollte. Die dritte Sektion führte zur<br />

Frage, inwieweit das Auswärtige Amt in die Gewalt und Verbrechen des NS-Staats involviert war – ein<br />

Aspekt, dem in der Studie viel Gewicht gegeben wurde, wonach dem Auswärtigen Amt eine zentrale Rolle in<br />

der Ermordung der europäischen Juden zugekommen sei. In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurde<br />

auf die vorhergehende Debatte zurückgeblickt, um diese in generelle Fragen nach Erinnerungskultur und<br />

Geschichtsbildern einzuordnen.<br />

1<br />

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-75476918.html


<strong>AHF</strong>-<strong>Information</strong> Nr. 135 vom 08.10.2013 2<br />

Die erste Sektion eröffnete Martin Kröger (Berlin). In seiner Darstellung behandelte er die Struktur und<br />

Entwicklung des mittleren und höheren Diensts im Auswärtigen Amt. Dessen Mitarbeiteranzahl habe im<br />

Verlauf seiner Geschichte und auch während des Zweiten Weltkriegs konstant zugenommen. Exakte quantitative<br />

wie qualitative Aussagen über die personale Organisation seien jedoch aufgrund der mangelhaften<br />

Aktenlage nur bedingt möglich, weil die einschlägigen Unterlagen der Personal- und Verwaltungsabteilung<br />

aufgrund von Kriegsschäden nur noch als Restbestände vorhanden seien. Es könne aber festgehalten werden,<br />

dass sowohl im gehobenen als auch im höheren Dienst die Zahl der NSDAP-Beitritte seit 1933 zunächst<br />

exponentiell angestiegen und bis 1939 wieder abgeebbt sei. Im höheren Dienst sei indes – anders als für den<br />

gehobenen Dienst – für die Jahre ab 1937 eine Zunahme von solchen Mitarbeitern festzustellen, die über<br />

Institutionen der NSDAP, z.B. die Dienststelle Ribbentrop, in das Auswärtige Amt gelangten, da zuvor gültige<br />

Einstellungskriterien im höheren Dienst nicht mehr beachtet worden seien.<br />

Annette Schmidt-Klügmann (Marburg) referierte in ihrem Vortrag über Bernhard von Bülow, Friedrich Gaus<br />

und Hans-Heinrich Dieckhoff als leitende Beamte des Auswärtigen Amts im Spannungsfeld zwischen<br />

Kontinuität und Anpassung an die NS-Politik in den ersten Jahren nach 1933. Sie stellte heraus, dass die<br />

Amtsleitung zunächst versuchte, eine eigene, sich von den Nationalsozialisten deutlich unterscheidende Revisionslinie<br />

durchzusetzen, sich dann aber zunehmend den aggressiven außenpolitischen Methoden Hitlers<br />

anglich, indem sie diese abschirmte und rechtfertigte. Diese beiden Tendenzen wurden am Beispiel der<br />

Ostpolitik und der Rheinlandpolitik veranschaulicht. Dem Erfolg der Methoden Hitlers hatten Revisionspolitiker<br />

wie Bülow, Gaus und Dieckhoff wenig entgegenzusetzen. Als Folge ihrer Anpassung leistete die<br />

Amtsleitung nicht nur der Aggressionspolitik Vorschub, sondern auch den weiterreichenden verbrecherischen<br />

Zielen des NS-Regimes. Der Vortrag endete mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit differenzierter<br />

biographischer Untersuchungen, um den Grad der Freiwilligkeit in diesem Prozess genauer austarieren zu<br />

können.<br />

Die Personalpolitik der Außenminister Konstantin von Neurath und Joachim von Ribbentrop stellte Lars<br />

Lüdicke (Potsdam) vor. Mit Hitler als neuem Reichskanzler habe sich die personale Zusammensetzung des<br />

Auswärtigen Amts nur sehr gering verändert. Das Ministerium habe im Gegenteil einen weitgehend<br />

homogenen Beamtenkörper dargestellt, von dem ein Großteil der aktiven Spitzendiplomaten bereits im<br />

Kaiserreich aktiv gewesen sei. In den frühen Jahren der NS-Diktatur seien nur wenige Quereinsteiger in das<br />

Auswärtige Amt gelangt, da die hohe Qualifikation für den auswärtigen Dienst der Gleichschaltung entgegenstand.<br />

Der Beitritt zur NSDAP sei darüber hinaus nur begrenzt aussagekräftig, wie das Beispiel<br />

Friedrich-Werner von der Schulenburgs zeige. Auch nach der Ernennung Ribbentrops zum Außenminister<br />

sei es zu keiner Einberufungs- oder Entlassungswelle von Mitarbeitern gekommen. Erst im Krieg und besonders<br />

ab 1943 habe Ribbentrop die Personalstruktur essenziell umgebaut, wodurch die vorherigen traditionellen<br />

Karrierewege in das Auswärtige Amt ihre Bedeutung zugunsten von Seiteneinsteigern verloren hätten.<br />

Rainer Blasius (Frankfurt a.M.) fokussierte in seiner Schilderung die Erinnerungspolitik des Auswärtigen<br />

Amts zum 20. Juli 1944. Zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime sei nach Kriegsende auch<br />

Ernst von Weizsäcker gezählt worden, dessen Nimbus in die Zeit des Wilhelmstraßen-Prozesses<br />

zurückreiche, in dem der ehemalige Staatssekretär des Auswärtigen Amts von seinen Verteidigern zu einem<br />

Mann des Widerstands stilisiert worden sei. Dieser Anschein habe sich ebenfalls auf das Auswärtige Amt<br />

übertragen und jenen positiven Traditionsstrang konstituiert, demzufolge das Ministerium von Ribbentrops<br />

Gefolgsleuten unterwandert worden, im Kern aber rechtschaffen und ein "Hort des Widerstands" gewesen sei.<br />

Problematisch und gleichermaßen brisant sei seit 1945 der Umstand gewesen, wer in der Gedenkpraxis des<br />

Auswärtigen Amts zum Widerstand gerechnet wurde. Dazu seien Personen wie etwa Rudolf von Scheliha zu<br />

zählen, dessen Name sich zwar nunmehr auf einer Gedenktafel befinde, dem aber bis zur Jahrtausendwende


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eine Ehrung verwehrt geblieben sei. Nach wie vor stehe indes eine Ehrung beispielsweise für die 1942<br />

hingerichtete Ilse Stöbe aus.<br />

Georges-Henri Soutou (Paris) verglich die deutsche und französische Diplomatie der Jahre 1933 bis 1945.<br />

Obwohl sich das Deutsche Reich und Frankreich in ihrer Innen- wie Außenpolitik grundsätzlich voneinander<br />

unterschieden hätten, seien sich die Diplomaten beider Länder hinsichtlich ihrer sozialen Stellung und ihrer<br />

politischen Disposition ähnlich gewesen. Als Verfechter vom Primat der Außenpolitik, wie Soutou ausführte,<br />

seien diese ab 1933 bzw. ab 1940 mit zwei grundlegenden Herausforderungen konfrontiert gewesen. Wie weit<br />

prägte erstens die Ideologie die auswärtige Politik, konnten zweitens Beamte einem Staat dienen, in dem die<br />

traditionellen bürgerlichen Werte negiert wurden? Gemein war beiderseits des Rheins, so betonte Soutou z.B.<br />

mit Blick auf Ernst von Weizsäcker in Berlin und Charles Rochat in Vichy, dass viele Diplomaten das Amt, für<br />

das sie arbeiteten, und dessen Organisation höher gewichteten als die persönliche Verantwortung im<br />

politischen Geschehen.<br />

Die zweite Sektion leitete Marie-Luise Recker (Frankfurt a.M.) mit einem Vortrag zu Ergebnissen und<br />

Perspektiven der Forschung zur Außenpolitik des Auswärtigen Amts ein. Diese könne als gut erforscht gelten,<br />

seien doch bereits frühzeitig zentrale Quellen zum Verlauf der Außenpolitik durch umfangreiche Akteneditionen<br />

verfügbar gewesen. Nach Recker kann die Meinung von der Dialektik traditioneller Revisions- und<br />

NS-Lebensraumpolitik als etabliert gelten. Darüber hinaus habe sich für das Gros der Forschung nichts an der<br />

Ansicht geändert, dass Hitler in der Außenpolitik gegenüber anderen Akteuren eine ausschlaggebende Rolle<br />

zugekommen sei. Recker skizzierte ferner die These vom »Niedergang« des Auswärtigen Amts, derzufolge<br />

dieses seit 1933 immer mehr an Einfluss einbüßen musste. Eng damit sei das Forschungsfeld zu Kontinuität<br />

und Neuansatz in der Außenpolitik des NS-Staats verbunden gewesen. Studien gleichwohl, die die Kriegsjahre<br />

in den Blick nehmen, seien demgegenüber unterrepräsentiert, was Recker zufolge einem klassischen<br />

Verständnis von Außenpolitik als Beziehung von souveränen Staaten geschuldet ist. Ein Desiderat der<br />

Forschung mache Recker ebenso in der kaum erforschten Kontinuitätslinie der organisatorischen und<br />

personalen Struktur des Auswärtigen Amts vom Beginn des 20. Jahrhunderts aus. Auch kulturgeschichtliche<br />

Annäherungen, etwa die Frage nach einem nationalsozialistischen Verhandlungsstil oder Inszenierungen von<br />

Staatsbesuchen, seien weitere zentrale Forschungsfelder, denen nachgegangen werden müsse.<br />

Über die Politik des Auswärtigen Amts bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs referierte Wolfgang Michalka<br />

(Heidelberg). Der Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und Polen habe 1934 zwar eine deutliche<br />

Abkehr von der traditionellen Revisionspolitik bedeutet, mit dem sich Hitler über die Interessen der<br />

Reichswehr, Wirtschaft und insbesondere des Auswärtigen Amts hinweggesetzt habe, wie Michalka darlegte.<br />

Nichtsdestotrotz habe bis zum eigentlichen Fernziel Hitlers, der "Eroberung von Lebensraum im Osten", eine<br />

Teilidentität in der außenpolitischen Stoßrichtung zwischen der konservativen Elite und dem »Führer«<br />

bestanden. Der zentrale Unterschied indes habe in der Wahl der Mittel gelegen, denn spätestens seit 1937 sei<br />

evident gewesen, dass Hitler vor einem Krieg nicht zurückschrecke. Dabei hatte nach Michalka Joachim von<br />

Ribbentrop einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass Hitler sich seitdem auch von seinem ursprünglich<br />

erhofften Bündnispartner Großbritannien ab- und sich zur Sowjetunion hinzuwenden begann. Bedeutsam<br />

für die Forschung sei, einzelne Entscheidungsträger in der Polykratie von Personen und Ressorts zu<br />

fokussieren, schließlich sei durch diese die deutsche Außenpolitik nicht unerheblich dynamisiert worden.<br />

Die Nordeuropapolitik des Auswärtigen Amts während des Zweiten Weltkriegs nahm Michael Jonas (Hamburg)<br />

in den Blick. Er skizzierte die Komplexität des nordeuropäischen Raums als Panorama aus divergierender<br />

Außenpolitik, der paradigmatisch für ganz unterschiedliche Modi von Bilateralität im Krieg, mithin<br />

für die Bündnis-, Expansions- und Besatzungspolitik des Deutschen Reichs stehen könne. Die Nordeuropapolitik<br />

des Auswärtigen Amts, namentlich des Referats VI für Skandinavien der Politischen Abteilung unter<br />

Werner von Grundherr hatte nach Jonas daher mit ganz unterschiedlichen Erfordernissen umzugehen. War


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in Dänemark unter Werner Best als Reichsbevollmächtigtem eine milde Variante der Bündnisverwaltung<br />

installiert worden, trat in Norwegen eine deutlich schärfere Okkupationspolitik zu Tage, während das Beispiel<br />

Finnland den komplexesten Fall darstellt: ein heterogenes Beziehungsgeflecht, wie Jonas bekräftigte, in dem<br />

der deutsche Gesandte Wipert von Blücher eine Art von Alternativpolitik zu initialisieren wusste. Wie Jonas<br />

betonte, könne damit eine verengte Perspektive von vergröberten Idealtypen nationalsozialistischer<br />

Gewaltherrschaft aufgebrochen und erweitert werden.<br />

Das Verhältnis zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) skizzierte<br />

Magnus Brechtken (München) innerhalb der dritten Sektion zum Auswärtigen Amt und den NS-Verbrechen.<br />

Brechtken verwies darauf, dass in der Regelung der sogenannten "Judenfrage" bis zum Krieg keine einheitliche<br />

Politik existiert habe. In der Interessendivergenz der unterschiedlichen Akteure habe das Auswärtige<br />

Amt indes nur eine untergeordnete Rolle gespielt, wenn es darum ging, die operative Handlungsdominanz zu<br />

gewinnen. Stärker in den Fokus rückte Brechtken das SD-Hauptamt, das eine praktische Lösung der<br />

"Judenfrage" befolgt habe. So entstamme der erstmals im Sommer 1938 gefallene Begriff der "Endlösung"<br />

gleichfalls einem SD-internen Papier. Im Prozess der Radikalisierung habe das Auswärtige Amt eher eine<br />

instrumentell-kooperative Funktion erfüllt. Die Bildung des RSHA sei eine organisatorische Antwort auf jene<br />

neue ideologische "Herausforderung" gewesen. Brechtken regte deshalb an, dass eine adäquate Bewertung<br />

einer Behörde nur in multi-institutionaler Perspektive möglich sei. Ihm zufolge ist eine solcherart integrierte<br />

Geschichte des Auswärtigen Amts nach wie vor ein Desiderat der Forschung.<br />

Michael Mayer (Tutzing) beleuchtete die deutsche Botschaft in Paris vor dem Hintergrund der NS-Politik im<br />

besetzten Frankreich. Dieses könne als Sonderfall der deutschen Besatzungsherrschaft in Europa gelten, da<br />

die Botschaft des Deutschen Reichs hier über vergleichsweise weitreichende Kompetenzen verfügte und, wie<br />

Mayer darlegte, eine tragende Säule der deutschen Okkupation war. Gleichwohl könne – entgegen der Studie<br />

der Historikerkommission – keine Rede davon sein, dass das Auswärtige Amt für Verfolgung, Deportation<br />

und Mord von Juden maßgebende Impulse gesetzt habe. Entscheidend war nach Mayer die Militärverwaltung,<br />

die über das letzte Wort in der Durchsetzung von antisemitischen Maßnahmen verfügt habe.<br />

Darüber hinaus sei die Deportation der Juden von der Zustimmung der Vichy-Regierung abhängig gewesen.<br />

Hier hatten für die deutsche Botschaft politische Erwägungen, etwa der Erhalt der Kollaborationsbereitschaft,<br />

größere Bedeutung als die Umsetzung des Holocaust. Entscheidend vorangetrieben wurde dieser, so Mayers<br />

Fazit, vom Auswärtigen Amt daher nicht.<br />

Über das Auswärtige Amt und den Holocaust referierte Moshe Zimmermann (Jerusalem). Im Vergleich zur<br />

Studie, an der Zimmermann als Mitglied der Historikerkommission beteiligt gewesen war, fiel sein Urteil<br />

darüber, inwieweit das Auswärtige Amt an den Verbrechen gegen Juden beteiligt war, milder aus. Es habe, so<br />

Zimmermann, innerhalb des Ministeriums verschiedene Grauschattierungen des Antisemitismus gegeben.<br />

Sicher sei, dass die Haupttäter des Holocaust nicht im Auswärtigen Amt angesiedelt gewesen seien. Dennoch<br />

sei festzustellen, dass hier ein antisemitischer "state of mind" vorgeherrscht habe – mit der Konsequenz, dass<br />

Diplomaten und andere Mitarbeiter des Auswärtigen Amts die Verbrechen gegen Juden toleriert, abgeschirmt,<br />

ja teilweise vorangetrieben hätten. Ebenfalls müsse man den Blick auf die Auslandsvertretungen des<br />

Auswärtigen Amts werfen, die als Teil des Gesamtapparates anti-jüdisch eingestellt gewesen seien und<br />

entsprechende Maßnahmen gegen Juden mitgetragen hätten, obgleich sie, dies das Fazit Zimmermanns, als<br />

Diplomaten vor Ort über nahen Kontakt zum Rest der Welt verfügten, mithin weniger von der NS-<br />

Propaganda beeinflusst hätten sein müssen.<br />

Den Anteil des Auswärtigen Amts, die nationalsozialistische Politik auch abseits des Holocaust<br />

durchzusetzen, betrachtete Sebastian Weitkamp (Esterwegen). Dies sei ein weniger beachtetes Feld als die<br />

Mitwirkung am Holocaust, obgleich beispielsweise im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess die Beteiligung<br />

des Auswärtigen Amts am Holocaust eine eher untergeordnete Rolle gespielt habe. Der Vorwurf habe sich in


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erster Linie dahin gerichtet, dass das Auswärtige Amt bei der Planung eines Angriffskrieges mitgewirkt habe.<br />

Dieses habe auch die Kriegsführung selbst dergestalt unterstützt, indem es im Ausland eine intensive Presse-<br />

Arbeit betrieben habe und an der Besatzungspolitik beteiligt gewesen sei. Als Instrument der NS-Führung sei<br />

das Auswärtige Amt den verbrecherischen Richtlinien der NS-Gewaltpolitik weitgehend gefolgt und habe eng<br />

mit anderen Institutionen, auch der SS, dem SD und der Sicherheitspolizei, zusammengearbeitet. Gängige<br />

Praxis war nach Weitkamp die konkrete Durchführung durch das RSHA und die SS, während das Auswärtige<br />

Amt diese Verbrechen unterstützte und auch außenpolitisch abzuschirmen versuchte.<br />

Im Vortrag Hans-Jürgen Döschers (Osnabrück) wurde für die Rolle ehemaliger Diplomaten nach 1945 das<br />

Beispiel des SS-Angehörigen Bernd Gottfriedsen dargelegt. 1937 wurde Gottfriedsen in die SS aufgenommen<br />

und stieg dort unter der Protektion Ribbentrops bis zum SS-Sturmbannführer auf. Im Auswärtigen Amt, wo<br />

er 1942 ohne Prüfung sogar zum Legationsrat I. Klasse befördert wurde, übernahm er die Verwaltung des<br />

Gold- und Devisenfonds und war am Raub von Kulturgütern in besetzten Gebieten beteiligt. Nach dem<br />

Kriegsende hatte sich Gottfriedsen vor der Spruchkammer in Bielefeld dafür zu verantworten, Mitglied der SS<br />

und im Wissen um deren Verbrechen gewesen zu sein. Nach einer milden Strafe, bedingt durch die Hilfe und<br />

Aussagen zweier Freunde aus der NS-Zeit, beantragte Gottfriedsen 1952 seine Wiederverwendung im Auswärtigen<br />

Amt. Doch der Antrag wurde abgelehnt. Er habe, so die Begründung des zuständigen Referatsleiters<br />

in Personalfragen, keine diplomatisch-konsularische Prüfung abgelegt gehabt und sei nur wegen seiner engen<br />

Verbindung zur NSDAP in das Auswärtige Amt gelangt. Trotz seines Widerspruchs blieb man dort bei der<br />

Entscheidung, Gottfriedsen nicht wiederzuverwenden. 1954 bewarb sich dieser daher bei der privaten evangelischen<br />

Christian-Schule in Hermannsburg und wurde vor seiner Pensionierung 1976 noch zum Oberstudienrat<br />

ernannt. Das Beispiel zeige, dass es für die Wiederverwendung von Diplomaten Grenzen gab. Viele<br />

Ehemalige jedoch hätten durch anderweitige Unterstützung, auch der Kirchen, zu neuen Karrieren gefunden.<br />

Die abschließende Podiumsdiskussion zwischen Johannes Hürter, Michael Mayer, Hans Mommsen sowie den<br />

beiden Kommissionsmitgliedern Eckart Conze und Moshe Zimmermann eröffnete Tagungsleiter Mayer mit<br />

seinem Resümee, dass drei Kernfragen der Debatte, die seit dem Erscheinen der Studie kontrovers diskutiert<br />

wurden, im Verlauf der Tagung geklärt worden und eindeutig zu verneinen seien. Dies seien die Fragen, ob<br />

das Auswärtige Amt tonangebend in den Entscheidungsprozess zum Holocaust involviert gewesen sei, ob<br />

zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Reichssicherheitshaupt eine gleichwertige Beziehung bestanden<br />

und ob das Auswärtige Amt entscheidende Impulse im Holocaust gegeben habe.<br />

Für Eckart Conze indes ist der Diskurs um das Auswärtige Amt nicht zu Ende. Ihm zufolge setzt die wissenschaftliche<br />

Diskussion erst ein. Er beobachte, dass die Studie das wissenschaftliche Interesse an weiterer<br />

Forschung angeregt habe. Diese gehe mittlerweile weit über die alte Apologetik vorheriger Jahre hinaus und<br />

analysiere das Auswärtige Amt vor dem Hintergrund eines anderen Verständnisses von Staatlichkeit, die<br />

nicht nur auf den Bedeutungsverlust der Diplomatie abhebe, sondern neue Interessenfelder und Desiderate<br />

ausfindig mache.<br />

Johannes Hürter hob hinsichtlich der Debatte der letzten Jahre darauf ab, dass für ihn die Nachwirkung einer<br />

defizitären Streitkultur vorhanden bleibe. Bezug nehmend auf seinen Rezensionsaufsatz, in dem er vor allen<br />

Dingen kritisiert habe, dass die diplomatische Elite als homogener Block ohne diachronen Transformationsprozess<br />

dargestellt werde, warf Hürter ein, dass sein Beitrag lediglich als Impuls zur Verwissenschaftlichung<br />

einer hitzig geführten Auseinandersetzung intendiert war. Vorgeworfen worden sei ihm aber, er habe eine<br />

politische Agenda verfolgt. Die rege Forschung zur Diplomatie sei darüber hinaus nicht nur der Studie selbst,<br />

sondern insbesondere auch der Debatte um diese zu verdanken.<br />

Die gleiche Stoßrichtung schlug Hans Mommsen ein. In der Studie sei zu einseitig fokussiert worden, inwieweit<br />

das Auswärtige Amt am Holocaust beteiligt gewesen sei. Er hätte sich gewünscht, dass das Blickfeld


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erweitert worden wäre und gleichzeitig andere NS-Verbrechen ins Blickfeld gerückt worden wären. Auch sei<br />

die Rolle des Widerstands im Auswärtigen Amt, wie Mommsen kritisierte, vergleichsweise heruntergespielt<br />

worden.<br />

Moshe Zimmermann dagegen versuchte, die Diskussion ebenso auf erinnerungspolitische Aspekte zu lenken.<br />

Er sei der Meinung, dass geschichtliche Erinnerung immerzu einer Auffrischung bedarf. Das, was man kenne,<br />

sei stets im Begriff zu erodieren. So sei beispielsweise der Reisekostenbericht Rademachers bereits seit<br />

längerem bekannt gewesen. Doch habe dieser erst jetzt durch die Studie für großes Aufsehen gesorgt. Daneben<br />

sei es für die Forschung bedeutsam, einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Es war nicht das Auswärtige<br />

Amt im "Dritten Reich", sondern das Auswärtige Amt des "Dritten Reichs". Es sei nicht die Rede<br />

davon, dass das Auswärtige Amt den Holocaust initiiert habe. Doch die Bereitschaft und das Mitwissen zur<br />

Ermordung der Juden seien vorhanden gewesen. Man könne, um den Sachverhalt auf einen Nenner zu<br />

bringen, von "Hitlers willigen Abschirmern" sprechen.<br />

Insgesamt wurde die dreitägige Tagung der anfänglich von Michael Mayer vorgebrachten Intention, die<br />

mitunter von politischer Motivation und polemischer Schärfe beeinflusste Debatte um "Das Amt und die<br />

Vergangenheit" auf eine ausschließlich wissenschaftliche Diskussionsebene zu stellen, voll gerecht. Die Tagung<br />

erfüllte dabei die beiden Ansprüche, eine Retrospektive auf den vorherigen Diskurs einzunehmen und<br />

neue Perspektiven für die Forschung aufzuzeigen. Im rein wissenschaftlichen Klima der Konferenz wurden<br />

zahlreiche Desiderate deutlich gemacht, die durch die Studie der Historikerkommission nicht oder nur in<br />

Teilen angerissen worden sind. Dazu gehören mentalitätsgeschichtliche Herangehensweisen oder auch Verbrechen<br />

abseits des Holocaust, in die das Auswärtige Amt involviert war. Es bleibt zu wünschen, dass sich die<br />

Aufforderung Johannes Hürters erfüllen wird: "Gehen Sie forschen!"<br />

Kontakt:<br />

Jan Zinke<br />

Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />

E-Mail: jan.zinke@uni-muenster.de<br />

Jan Zinke (Münster)<br />

Konferenzübersicht:<br />

Sektion 1: Das Personal des Auswärtigen Amts. Kontinuitäten und Diskontinuitäten<br />

Martin Kröger (Berlin): Personalstruktur und Personalentwicklung im Mittleren und Höheren Dienst<br />

Annette Schmidt-Klügmann (Marburg): Bernhard von Bülow, Friedrich Gaus, Hans-Heinrich Dieckhoff. Die<br />

Amtsleitung zwischen Kontinuität und Anpassung<br />

Lars Lüdicke (Potsdam): Die Personalpolitik der Minister Neurath und Ribbentrop<br />

Rainer Blasius (Frankfurt): Der 20. Juli in der Erinnerungspolitik des Auswärtigen Amts<br />

Georges-Henri Soutou (Paris): Amt und Verantwortung. Diplomaten in Deutschland und Frankreich 1933-<br />

1945


<strong>AHF</strong>-<strong>Information</strong> Nr. 135 vom 08.10.2013 7<br />

Sektion 2: Das außenpolitische Kerngeschäft des Auswärtigen Amts<br />

Marie-Luise Recker (Frankfurt): Die Außenpolitik des Auswärtigen Amts. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven<br />

der Forschung<br />

Wolfgang Michalka (Heidelberg): Das Auswärtige Amt und der Weg in den Krieg<br />

Michael Jonas (Hamburg): Die Nordeuropapolitik des Auswärtigen Amts im Zweiten Weltkrieg<br />

Sektion 3: Das Auswärtige Amt und die NS-Verbrechen<br />

Magnus Brechtken (München): Das Auswärtige Amt und das Reichssicherheitshauptamt<br />

Michael Mayer (Tutzing): Die Deutsche Botschaft Paris und die NS-Unrechtspolitik im besetzten Frankreich<br />

Moshe Zimmermann (Jerusalem): Das Auswärtige Amt und der Holocaust<br />

Sebastian Weitkamp (Esterwegen): Die Unterstützung des Auswärtigen Amts bei der Durchsetzung der NS-<br />

Gewaltpolitik abseits des Holocaust<br />

Hans-Jürgen Döscher (Osnabrück): Neue Forschungen zum Auswärtigen Amt vor dem Hintergrund älterer<br />

Befunde<br />

Podiumsdiskussion: Vom Nutzen und Nachteil eines Historikerstreits: Was bleibt von der Debatte über "Das<br />

Amt"?<br />

Empfohlene Zitierweise / recommended citation style:<br />

<strong>AHF</strong>-<strong>Information</strong>. 2013, Nr.135<br />

URL: http://www.ahf-muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/pdf/2013/135-13.pdf<br />

Die Rechte für den Inhalt liegen bei den jeweiligen Autoren. Die Rechte für die Form dieser Veröffentlichung liegen bei der<br />

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Telefon: 089/13 47 29, Fax: 089/13 47 39<br />

E-Mail: info@ahf-muenchen.de<br />

Website: http://www.ahf-muenchen.de

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