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RA Nr. 227 - Rote Anneliese

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ROTE ANNELIESE / NR. <strong>227</strong> / Juni 2013<br />

11<br />

Ein anderer Blickwinkel<br />

Das Kind beim<br />

Namen nennen<br />

Buchtipp:<br />

Laura Kronig<br />

Du trägst deinen Namen seit deiner Geburt.<br />

Vermutlich haben deine Eltern über Wochen<br />

und Monate Listen geführt, Namen gestrichen,<br />

unterstrichen, kombiniert. Vielleicht stand der<br />

Name des Grossvaters oder der Urgrossmutter<br />

Pate. Kaum warst du auf der Welt, nannte man<br />

dich beim Namen.<br />

Nicht so bei mir. Jahrzehntelang, jahrhundertelang<br />

war ich namenlos. Bis ich bestiegen und<br />

vermessen und auf Karten gezeichnet wurde. Was<br />

aufgezeichnet, was bezwungen wird, das muss<br />

benannt sein. So kam auch ich 1840 zu meinem<br />

Namen.<br />

Es war eine Gruppe von Naturforschern, welche<br />

den Unteraargletscher erkundeten und rundum<br />

auf Berge stiessen, die namenlos dastanden.<br />

Vielleicht kam ihnen die Idee während der Wanderung<br />

auf dem Gletscher. Vielleicht nach dem<br />

zweiten Schnaps in der Berghütte. Sie verewigten<br />

renommierte Naturwissenschaftler, indem sie uns<br />

nach ihnen benannten. Escherhorn, Grunderhorn,<br />

Desorhorn, Hugihorn, Scheuzerhorn und<br />

Studerhorn heissen seither meine Nachbarn.<br />

Tollkühn verabreichte mir die Truppe den Namen<br />

ihres 33 Jahre jungen, noch unbekannten Expeditionsleiters.<br />

Aus ihm wurde später ein berühmter<br />

Wissenschaftler. Er wanderte nach Amerika aus,<br />

wo er als Professor in Harvard tätig war. Ich hätte<br />

allen Grund, stolz aus meinen Namenspatron zu<br />

sein. Wäre da nicht …<br />

Mit den Verhältnissen im Land der unbegrenzten<br />

Möglichkeiten konnte er sich allerdings nicht<br />

abfinden. Dort begegnete er erstmals Schwarzen,<br />

die er in Briefen in die Heimat als eine «verderbte<br />

und entartete Rasse» bezeichnete. Nachdem 1863<br />

die Sklaverei in den USA abgeschafft wurde, polterte<br />

er: «Wie ist das Stigma einer niederen Rasse<br />

auszurotten, wenn wir ihrem Blut erst einmal<br />

gestatten, sich ungehindert mit dem unserer<br />

Kinder zu vermischen?» Deshalb verlangte er,<br />

den Schwarzen spezielle Territorien – Ghettos –<br />

zuzuweisen. Es blieb aber nicht bei rassistischen<br />

Vorurteilen, sondern er begann diesbezüglich Forschungen<br />

anzustellen: Er liess den kongolesischen<br />

Sklaven Renty fotografieren, um an ihm die Minderwertigkeit<br />

der Schwarzen aufzuzeigen und zu<br />

belegen. Er sprach von einer «wissenschaftlichen<br />

Rangfolge der Rassen»: «Der unbezwingbare,<br />

mutige, stolze Indianer - in welch anderem Licht<br />

steht er neben dem unterwürdigen, kriegerischen,<br />

nachahmerischen Neger oder neben dem listigen,<br />

verschlagenen und feigen Mongolen! Verweisen<br />

diese Tatsachen nicht darauf, dass die verschiedenen<br />

Rassen von Natur aus nicht auf demselben<br />

Niveau stehen?»<br />

Mit solch inakzeptablen Aussagen und rassistischen<br />

Meinungen will ich nichts zu tun haben.<br />

Beschämt ziehe ich den Kopf ein. Auf 3946 Meter<br />

über Meer.<br />

Politiker und Künstler intervenierten in den letzten<br />

Jahren beim Bundesrat, bei den Regierungen<br />

der Kantone Bern und Wallis, der Stiftung Unesco-<br />

Welterbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch, bei<br />

den betroffenen Gemeinden Grinderwald, Guttannen<br />

und Fieschertal. Sie wollten mir zu einem<br />

neuen Namen verhelfen, mich nach dem kongolesischen<br />

Sklaven benennen. Vergeblich.<br />

Mit Agassizhorn bin ich nach wie vor auf Karten<br />

angeschrieben. Freunde nennen mich Rentyhorn.<br />

Ein Name, der versöhnt.<br />

Vom 30. Juni bis 19. Oktober 2013 ist auf dem Eggishorn<br />

(Bergstation Fiesch-Eggishorn) die Ausstellung «Gletscherforscher<br />

und Rassist: Louis Agassiz» eingerichtet.<br />

Die Vernissage ist am Samstag, 29 Juni 2013 um 16 Uhr.<br />

Mehr Infos unter www.louverture.ch<br />

Literatur der Rebellion<br />

Ägyptens Schriftsteller erzählen vom Umbruch<br />

Susanne Schanda<br />

Rotpunktverlag<br />

ISBN: 978-3-85869-536-9<br />

Die Journalistin Susanne Schanda porträtiert<br />

ägyptische Autorinnen und Autoren als Aktivisten<br />

für Freiheit und Demokratie und zeigt, wie<br />

diese mit ihrem Schreiben die Bereitschaft für eine<br />

Revolte seit Jahren genährt haben. In einer Zeit<br />

des politischen Stillstands sprengten sie Tabus,<br />

demaskierten Scheinheiligkeit und Korruption und<br />

mokierten sich über die Geistlosigkeit des Regimes.<br />

Der Bestsellerroman Der Jakubijan-Bau von Alaa<br />

al-Aswani löste 2002 einen Boom aus: Das Lesen<br />

von Romanen – bisher eine Angelegenheit von<br />

Intellektuellen – wurde zur unterhaltenden Selbstreflexion<br />

für breitere Leserschichten. Neue Bücher<br />

wurden in den sozialen Medien, unabhängigen<br />

Zeitungen und Strassencafés diskutiert. Die öffentlichen<br />

Debatten befeuerten die Kritik am Regime<br />

und halfen mit, den Boden für den Umsturz<br />

vorzubereiten. Als Seismografen der ägyptischen<br />

Gesellschaft haben Autorinnen und Autoren Jahre<br />

zuvor in ihren Werken eine von Wut aufgeladene<br />

Atmosphäre spürbar gemacht.<br />

16 Schreibende aus mehreren Generationen wie<br />

Gamal al-Ghitani, Chalid al-Chamissi, Nawal al-<br />

Saadawi, Ahdaf Soueif und Youssef Rakha äussern<br />

sich in diesem Buch über Selbstzensur und Zivilcourage,<br />

die Funktion des Schreibens für Selbstreflexion<br />

und Emanzipation und die Bedeutung der<br />

Intellektuellen für den gesellschaftlichen Wandel.

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