21.01.2014 Aufrufe

Aufrufen - Hippopotamus

Aufrufen - Hippopotamus

Aufrufen - Hippopotamus

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ostsee rund<br />

Reise<br />

Die geschenkte Zeit<br />

Sie hängen Job und Studium an den Nagel, streifen die Uhren ab und se geln los. Für zwei Hamburger wird die Ostsee zum größten Abenteuer ihres Lebens<br />

Unendliche Weite. Die „<strong>Hippopotamus</strong>“ auf Entdeckerkurs entlang der baltischen und skandinavischen Küsten<br />

YACHT 22/2004<br />

21


Ostsee rund Reise<br />

Seit zwölf Jahren segeln sie gemeinsam. Nie hat es für mehr<br />

als vier Wochen am Stück gereicht. Das musste anders werden<br />

Wettererprobt. Ob Nebel, Regen oder Sturm – Helmut Adwiraah (l.) und Sönke Roever nehmen’s gelassen<br />

YACHT 22/2004<br />

23


Ostsee rund Reise<br />

Jenseits des Alltags. Die Gedanken an daheim<br />

schwinden, geben neuen Eindrücken Raum<br />

Ich bin Ins-Büro-Geher. Irgendwo in der New Economy.<br />

Morgens hin, nachts zurück und am nächsten Tag das<br />

gleiche Spiel. Tagein, tagaus. Fünf Tage die Woche. Etliche<br />

Jahre geht das jetzt schon so, und es macht ja auch<br />

Spaß. Und dennoch: Ist das alles? Wo sind die großen<br />

Abenteuer, die langen Segelurlaube geblieben, wie ich sie aus<br />

meiner Kindheit mit meinen Eltern in Skandinavien kenne? Sie<br />

werden in 25 Urlaubstage pro Jahr gepresst und der Kopf mit der<br />

Illusion gefüttert, dass das eines Tages anders wird.<br />

Im August 2003 gibt es diesen Tag. Zum ich-weiß-nicht-wievielten<br />

Mal philosophieren mein bester Freund und Mitsegler<br />

Helmut und ich darüber, dass wir mal ausbrechen sollten. Er ist<br />

27, zwei Jahre jünger als ich, und mit seinem Studium zum Bauingenieur<br />

fast fertig. Gemeinsam sind wir seit zwölf Jahren auf<br />

Elbe, Nord- und Ostsee unterwegs. Erst auf einem Folkeboot,<br />

seit acht Jahren auf meiner Ohlson 8:8 „<strong>Hippopotamus</strong>“. Mehr<br />

als vier Wochen Segeln am Stück haben Studium oder Job aber<br />

nie zugelassen.<br />

Wir wägen Pros und Contras ab, und am Ende steht fest:<br />

Wir werden zu zweit auf meinem Segelschiff mit seinen acht<br />

Quadratmeter Wohnraum gegen den Uhrzeigersinn die Ostsee<br />

absegeln. Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn wir erst Familie<br />

haben, wird ein solches Vorhaben deutlich schwieriger. Bis zur<br />

Rente warten steht nicht zur Debatte. Also parkt Helmut sein<br />

Studium, ich kündige den Job.<br />

Ostern ist es so weit. Nach einer rauschenden Farewell-Party<br />

kehren wir Hamburg den Rücken. Durch den Nord-Ostsee-<br />

Kanal geht es über Kiel nach Fehmarn und Gedser. Leider sind<br />

die ersten Tage wenig abwechslungsreich. Ständig Sonne und<br />

Flaute. Schon über 30 Motorstunden seit Hamburg. Jetzt rattert<br />

der Diesel auch gerade wieder, voraus liegt Hiddensee.<br />

Ein unerwarteter Start für unser Unternehmen. Hatten wir<br />

doch mit Nebel, Kälte, Regen und viel Westwind gerechnet. Und<br />

jetzt? Kein Lüftchen regt sich. Die Ostsee sieht aus wie ein großer<br />

bleierner Teich. Eine glänzende spiegelglatte dunkelblaue<br />

Fläche. Wir fühlen uns allein hier draußen.<br />

Also nutzen wir die Zeit, um uns einzurichten und die restlichen<br />

Abschiedsgeschenke auszupacken. Im Survival-Präsent<br />

von Freundespaar Christian und Kerstin findet sich ein Foto<br />

von den beiden. Ich hänge es spontan in der Pantry auf. Nun<br />

fahren sie mit uns. Von Tante Sabine gibt es einen „Auszug aus<br />

Sabines schneller schmackhafter schlitzohriger Schiffsküche“.<br />

Ich bin gespannt auf den Nudelsalat mit Apfel, Helmut auf den<br />

Linsentopf.<br />

Einlaufen in Danzig. Der Yachthafen befindet sich in unmittelbarer Nähe zur sehenswerten Altstadt<br />

Am späten Nachmittag werden wir nahe der Ansteuerungsmarke<br />

vor Hiddensee endlich erlöst. Eine leichte Abendbrise aus<br />

Nordost setzt ein. „Klar bei Spinnaker!“, rufe ich Helmut U<br />

24 YACHT 22/2004<br />

YACHT 22/2004<br />

25


Reise<br />

Ostsee rund<br />

Naturtörn. Die Segler<br />

inmitten der Einsamkeit<br />

der finnischen Schären<br />

Land und Leute.<br />

Geselliger Rentnerinnen-<br />

Tanzabend in Leba,<br />

gewaltige Stille auf den<br />

Wanderdünen im Slowinzischen<br />

Nationalpark<br />

zu, und kurz darauf stehen die 60 Quadratmeter<br />

Tuch gut gefüllt über dem<br />

Vorschiff. Allerdings dreht der Wind wenig<br />

später etwas recht auf Ost und fällt<br />

nun vorlicher ein. Spi bergen? Kommt<br />

nicht in Frage! Das reizen wir jetzt aus.<br />

„<strong>Hippopotamus</strong>“ fängt an zu laufen. Erst<br />

vier, dann fünf und schließlich sogar fast<br />

sechs Knoten. Was für eine Genugtuung.<br />

Wir knüppeln das Schiff an seine Grenze<br />

und rauschen zeitweilig 60 Grad am<br />

scheinbaren Wind zwischen den roten und grünen Tonnen der<br />

engen Fahrwasser hinter Hiddensee durch. Am Ende setzen wir<br />

noch einen drauf und legen pünktlich zum Sonnenuntergang unter<br />

Segeln im Hafen von Kloster an. In den nächsten Tagen umrunden<br />

wir erst Rügen, anschließend Bornholm. Bekannte Orte<br />

zu einem unbekannten Zeitpunkt. Wir treffen nirgends auf ein<br />

anderes Schiff. Der Zentralfriedhof von Hamburg ist lebendiger<br />

als die Häfen, die wir anlaufen.<br />

Ende April liegt Polen vor uns. Wir sind gespannt, was uns<br />

erwartet. Der Versuch, ein passendes Adjektiv für das Land zu<br />

finden, fällt schwer. „Interessant“ wäre denkbar. Aber „interessant“<br />

wird oft benutzt, wenn das Essen nicht schmeckt und die<br />

Mittendrin statt nur dabei. Wer die Fremde kennen<br />

und verstehen lernen will, muss sich ihr ausliefern<br />

Antwort höflich ausfallen soll. Uns schmeckt Polen, obwohl einiges<br />

auf dem Teller überflüssig ist. Beispielsweise die Art, wie<br />

hier mit der Ostsee umgegangen wird. Sie schimmert braun. Zu<br />

viele Getränkedosen treiben auf dem Wasser. Muss das sein?<br />

Versuchen wir es mit „aufregend“. Passt auch nicht richtig. Der<br />

Zöllner ist sichtlich entspannt, die Grenzformalitäten sind rasch<br />

erledigt. „Noch fünf Tage, dann gehören wir zur EU“, sagt er.<br />

Das weckt unsere Neugierde. In der Nacht vom 30. April auf den<br />

1. Mai stehen wir pünktlich zum EU-Beitritt auf dem Rathausmarkt<br />

in Danzig und fragen eine junge Polin, wie sie das mit der<br />

EU findet. Die Antwort überrascht uns: „Was ändert sich schon?<br />

Aber das Feuerwerk ist schön.“<br />

Vielleicht ist „abwechslungsreich“ ein besseres Wort für Polen.<br />

In Leba erfahren wir von einem öffentlichen Abend, bei dem<br />

polnische Damen singen. „Das sollten wir uns ansehen – man<br />

muss sich auch mit der Kultur eines Landes auseinander setzen“,<br />

schlägt Helmut vor. „Mittendrin statt nur dabei“, antworte ich.<br />

Aber da gab es wohl ein Missverständnis. Tatsächlich geraten wir<br />

in eine Busladung 60- bis 80-jähriger Witwen, die froh sind, dass<br />

zwei junge Männer zum Tanzen vorbeikommen. Wir sitzen an<br />

einem der eckigen Tische mit weißer Stoffdecke, die entlang der<br />

Tanzfläche aufgereiht sind. Darauf rosa Plastikrosen in kleinen<br />

Vasen und je eine Kerze. An der Decke bunte Scheinwerfer, eine<br />

Diskokugel, Schwarzlicht und Luftballons. Die Damen rocken,<br />

was das Zeug hält, und sehen alle sehr glücklich aus. Foxtrott,<br />

Rumba, Walzer? Wie ging das noch? Egal, wir greifen auf<br />

die bewährte Methode des Klammertangos zurück. Musik verbindet.<br />

Die Zeit vergeht wie im Flug. Nur gut, dass mich meine<br />

ehemaligen Kollegen so nicht sehen. Falls es sich ergibt, werde<br />

ich ihnen erzählen, dass wir den ganzen Abend mit 60 attraktiven<br />

blonden jungen Mädels getanzt haben. U<br />

26<br />

YACHT 22/2004


Reise<br />

Ostsee rund<br />

Stunden später schlendern wir zurück zum Portu Jachtowy.<br />

Ich glaube, jetzt haben wir es: Polen ist „einmalig“. Ich fühle<br />

mich wohl und unwohl zugleich. Weil es Spaß gemacht hat, mit<br />

den rüstigen Damen das Tanzbein zu schwingen und zu sehen,<br />

wie glücklich sie dabei sind. Weil es mich daran erinnert, wie gut<br />

es uns in unserer westlichen Welt geht und wie doppelt gut wir<br />

es im Moment haben. Wir brauchen nur aufzustehen, den Tag<br />

zu genießen und wieder ins Bett zu fallen. Wenn wir segeln wollen,<br />

segeln wir. Wenn wir schlafen wollen, schlafen wir. Wenn<br />

wir essen wollen, essen wir.<br />

Während in der Firma vermutlich wieder das Fach mit dem<br />

Kopierpapier leer ist, erreichen wir das Baltikum und vertäuen<br />

unser Nilpferd im Hafen von Klaipeda (Memel). Bisher waren<br />

wir überall das einzige deutsche Schiff. Jetzt liegt neben uns eine<br />

Motoryacht mit einem Ehepaar aus Halberstadt. Wir kommen<br />

ins Gespräch. „Jungs, wir beneiden euch. Toll, was ihr macht“,<br />

bestärken sie uns. „Guckt uns an. Wir hatten eine Segelyacht und<br />

mussten aus gesundheitlichen Gründen aufs Motorboot umsteigen.<br />

Dabei wollten wir doch einen großen Törn machen, sobald<br />

die Rente erreicht war. Jetzt haut das alles nicht mehr so hin.“<br />

Leben nach Lust und Laune. Fünf Monate wird nur<br />

das gemacht, wonach einem gerade der Sinn steht<br />

Unser Bordleben hat sich inzwischen eingespielt. Die Stimmung<br />

ist gut. Die Abende verbringen wir unter Deck, da es fürs<br />

Cockpit noch zu kalt ist. Helmut übt Trompete, ich versuche<br />

mich auf der Gitarre. Gelegentlich bringen wir unsere Homepage<br />

auf den neuesten Stand oder schreiben E-Mails. Wir lesen<br />

viel. Helmut Romane, ich Sachliteratur: Segeltrimm, das Handbuch<br />

meiner Kamera<br />

oder Zeitmanagement.<br />

Letzteres<br />

verbanne ich ziemlich<br />

schnell wieder<br />

in die hinterste Ecke<br />

des Regals. Im Vergleich<br />

zu früher haben<br />

wir nämlich<br />

Zeit im Überfluss:<br />

3552 Stunden oder<br />

Mußestunde. Zeit für viele gute Bücher 213 320 Minuten,<br />

um genau zu sein.<br />

Das Logbuch ersetzt den Terminkalender. Rückwirkende Betrachtung<br />

des Erlebten, statt die Zukunft gedanklich vorwegzunehmen.<br />

Für einen solchen Törn kann es ohnehin keine detaillierte<br />

Planung geben, ein grober Rahmen muss reichen.<br />

Selbst der ist noch zu fein, wie wir vor der Küste Lettlands<br />

einsehen müssen. Es gibt Motorausfälle im Leben, die kann man<br />

nicht planen. Totalschaden durch Überhitzung. Fazit: Wir brauchen<br />

eine andere Maschine. Dank des unermüdlichen Einsatzes<br />

meiner Eltern findet sich ein Austauschmodell an der Schlei.<br />

Per Spedition wird es nach Helsinki geschafft, da es in Lettland<br />

keine Volvo-Experten gibt. „Dann segeln wir die 200 Seemeilen<br />

nach Finnland eben“, kommen Helmut und ich überein. Gesagt,<br />

getan. Mit größerer Crew – meine Schwester Gesa und Freundin<br />

Kerstin sind dabei – stechen wir in See. Acht Hände zum Abhalten,<br />

Segelsetzen, Trimmen, Steuern und Festmachen. Nach<br />

72 Seemeilen erreichen wir den winzigen Hafen von Virtsu.<br />

Willkommen in der Walachei. Mal abgesehen von den etwa<br />

20 Häusern, einer stillgelegten Fabrik, einem Fährtermi- U<br />

Wildes Wasser. An manchen<br />

Tagen präsentiert<br />

sich die Ostsee von ihrer<br />

rauen Seite. Für die<br />

schon etwas betagte<br />

Ohlson 8:8 kein Problem<br />

28<br />

YACHT 22/2004


Reise<br />

Ostsee rund<br />

Steingarten. Die Segler<br />

mit Freundinnen in den<br />

schwedischen Schären<br />

Freizeitgestaltung. Von<br />

Törehamn geht es mit<br />

dem Auto zum Sightseeing<br />

ans Nordkap. Von<br />

Bord schallt die Trompete<br />

aufs Meer hinaus<br />

nal und dem kleinen Anleger gibt es Platz bis zum Horizont.<br />

Drei Tage warten wir auf passenden Wind, um durch die teilweise<br />

engen Rinnen der estnischen Inselwelt weiterzusegeln.<br />

Wir sind erleichtert, als wir endlich unter Groß und Fock unserem<br />

Ziel Tallin entgegenrauschen. Plötzlich gibt es einen<br />

Knall. Was war das? Unsere Augen suchen das Schiff ab: Wanten,<br />

Schoten, Blöcke, Segel. Treffer! Die Fock flattert – das Vorstag<br />

ist weg. Das Tuch hängt nur noch an Schot und Masttopp.<br />

Mit ohrenbetäubendem Lärm weht es nach Lee aus. Der durchgesteckte<br />

Mast tanzt in alle Richtungen,<br />

kommt aber zum Glück nicht von oben.<br />

Ich gehe auf einen Kurs mit Wind von<br />

achtern, um den Druck zu minimieren.<br />

Helmut stabilisiert den Mast mit Spiund<br />

Fockfall, Gesa und Kerstin sammeln<br />

den nassen Lappen ein.<br />

Unser Bugbeschlag ist längs der<br />

Schweißnaht abgerissen. Wir müssen<br />

uns zurück nach Virtsu schleppen lassen.<br />

Das ist ohne Vorsegel und ohne Maschine<br />

unsere einzige Chance. Kanal 16 wird<br />

aber scheinbar in Estland nicht abgehört, sodass unsere Panpan-<br />

Meldung im Off verhallt. Wir koordinieren die Bergung daher<br />

über Handy mit Bremen Rescue. Das klappt. Zurück in Virtsu<br />

hängen wir erst mal fest. Der Beschlag muss geschweißt werden.<br />

Die Vorfälle kommen uns vor wie ein Angriff auf unsere Auszeit.<br />

Aufgeben und zurück in die alte Welt? Nach nur einem Monat?<br />

Nicht mit uns!<br />

Zwei Wochen später ist tatsächlich alles vergessen. Nach etlichen<br />

Telefonaten sind wir nach Tallin geschleppt worden und<br />

konnten alles reparieren. Einziger Wermutstropfen: Wir haben<br />

Kontraste. Jeder Landstrich ist anders, allein<br />

das Ostseewasser ist das verbindende Element<br />

es nicht mehr bis nach Russland geschafft, eigentlich wollten wir<br />

noch St. Petersburg anlaufen. Dann heißt es jetzt eben: „Helsinki,<br />

wir kommen!“ Ein beständiger Nordwest mit 5 bis 6<br />

Windstärken lässt uns über den Finnischen Meerbusen rasen.<br />

Helmut notiert dazu im Logbuch: „Gutes Segeln! Reisegeschwindigkeit<br />

sieben Knoten! Mit Fock und einem Reff im Groß<br />

später sogar bis zu siebeneinhalb Knoten. Wenig Welle. Trotz<br />

Reff und Traveller in Lee kommt in den Böen ordentlich Druck<br />

aufs Ruder. Nach 45 Seemeilen auf demselben Bug und etlichen<br />

Stunden harter Arbeit an der Pinne wird mein rechter Arm noch<br />

lange von dem Tag zu berichten wissen.“<br />

Vor uns liegt die wundersame finnische Inselwelt: felsige<br />

Klippen, dürre Kiefern und seichte Buchten. Was für ein Kontrast<br />

zu Polen und dem Baltikum. Dort haben Sand und Laubbäume<br />

das Küstenbild geprägt. Die Seekarten sehen ebenfalls<br />

anders aus. Flaches Wasser ist gelb, das Land grün. Das verwirrt<br />

zunächst. „Ein neuer Abschnitt beginnt“, höre ich Helmut aus<br />

der Kajüte. „Urlaub statt Abenteuer“, ergänze ich. Wir legen im<br />

Barösund an. Ein Kleinod an einem verschlungenen Fahrwasser.<br />

Dort liegt Marrku aus Helsinki, der gerade sein neues Schiff von<br />

Haparanda überführt. Er will da oben noch Eisberge gesehen<br />

haben, wie er uns berichtet. Er freut sich, uns zu sehen. „You are<br />

the first German ship this year“, erklärt er und beginnt, uns U<br />

30<br />

YACHT 22/2004


Reise<br />

Ostsee rund<br />

Gegen die Uhr. Rechtsherum folgen die Segler den<br />

Küsten, am Ende kommt ihnen die Reise ewig vor<br />

auf seinen Seekarten verwunschene Plätze zu zeigen. Mithilfe einiger<br />

Bleistiftzeichnungen werden wir versuchen, sie auf unserem<br />

Weg zum nördlichsten Punkt der Ostsee anzulaufen.<br />

In der längsten Nacht des Jahres treiben wir vor der finnischen<br />

Westküste in einer Flaute und stellen fest, dass wir Bergfest<br />

haben. „Bist du traurig, dass die Hälfte schon hinter uns<br />

liegt?“, frage ich Freund Helmut. „Nein, es liegt noch so viel vor<br />

uns …“, kommt nach einer kurzen Pause die Antwort.<br />

Wir segeln nördlich des 63. Breitengrades. Es wird nicht<br />

mehr dunkel. Seit Hamburg tragen wir keine Uhren mehr, das<br />

Zeitgefühl ist vollends verloren gegangen. Wann sollen wir ins<br />

Bett gehen, wann aufstehen? Selbst wenn wir auf die Uhr in der<br />

Kajüte schauen, nützt das nichts. Der Körper hat der Zeit die<br />

Unabhängigkeit erklärt. Also schlafen wir, wenn wir müde sind,<br />

und stehen auf, weil wir wach sind. Wir besichtigen Inseln morgens<br />

um fünf und wundern uns, dass wir niemanden treffen. Eine<br />

beeindruckende Grenzerfahrung, weil die vorletzte Fremdeinwirkung<br />

in unserem Leben aufgehoben ist. Die letzte ist das<br />

Wetter, dem wir uns wohl aber nicht werden entziehen können.<br />

Ende Juni liegt die Hafeneinfahrt von Haparanda – dem vermeintlich<br />

nördlichsten Punkt der Ostsee – im fahlen Gegenlicht<br />

vor uns. Ein magischer Ort für viele Segler und auch für uns das<br />

Spiegelbild eines lang gehegten Traums. Allerdings gibt es einen<br />

Hafen, der nördlicher liegt als der, den alle für den nördlichsten<br />

der Ostsee halten. Das verkündet ein Schild am Schwarzen Brett<br />

des Clubhauses. Der Ort heißt Törehamn. Dort gibt es eine gelbe<br />

Tonne mit einem Briefkasten. „Wir haben zwar keine Rekordambitionen,<br />

aber da müssen wir hin“, befindet Helmut. Begeistert<br />

füllt er einige Tage später das Formular aus, damit uns das<br />

„Ostsee-Diplom“ per Post zugesendet wird. Nun bin ich also<br />

nicht nur Diplom-Kaufmann, sondern auch Diplom-Ostseemann.<br />

Vielleicht sollte ich das meinen Ex-Kollegen auf einer<br />

Postkarte mitteilen?<br />

Bei so einem Törn wie dem unsrigen gibt es immer irgendetwas<br />

zu tun, weil Dinge verbraucht sind oder nun mal kaputt<br />

gehen. In der Regel ist das kein Problem, sondern sorgt sogar für<br />

willkommene Abwechslung. Beim Segelbergen in Helsinki reißt<br />

beispielsweise das Großfall. Alle vier bis fünf Tage bunkern wir<br />

Trinkwasser, Diesel lediglich alle drei bis vier Wochen. An unserer<br />

Sprayhood geht eine Naht auf. Ich lasse mich gegen Zeckenbisse<br />

impfen. In Mariehamn ist unsere Gasflasche leer. In<br />

Stockholm tauschen wir die Lichtmaschine aus, und in Hankö<br />

ist das Bier alle.<br />

Während sich Griechenland Spiel für Spiel den Europameisterschaftstitel<br />

im Fußball erkämpft, fahren wir mit einem Mietwagen<br />

zur Mittsommernacht zum Nordkap und segeln danach<br />

weiter die ostschwedische Küste hinunter. Dort wartet das nächste<br />

„High“-Light auf uns – die Höga Kusten. Bis zu 250 Meter ragen<br />

bewaldete Felsen steil aus dem Meer. Wir hatten das nicht<br />

glauben wollen, als wir mit Harry aus Lulea darüber sprachen.<br />

Er war schon öfter hier mit seinem Motorboot. „Da brauchst du<br />

keine Seekarte, ein Autoatlas genügt. Wo Wasser ist, da ist es<br />

tief“, hatte er uns überzeugen wollen. Es stimmt. In der See-<br />

U<br />

10°<br />

15°<br />

20°<br />

20°<br />

Y<br />

Haparanda<br />

65° 65°<br />

NORWEGEN<br />

SCHWEDEN<br />

FINNLAND<br />

Wegepunkte. Nachts überquert das Duo den 60. Breitengrad<br />

Stillstand. Wie seit ewiger Zeit wird an den Höga Kusten gefischt<br />

Helsinki<br />

60° Åland-I.<br />

60°<br />

Oslo<br />

Tallin<br />

Vänern Stockholm<br />

ESTLAND<br />

Saaremaa<br />

Vättern<br />

Gotland<br />

LETTLAND<br />

Riga<br />

Öland<br />

OSTSEE<br />

Bornholm<br />

Klaipeda<br />

DÄNEMARK<br />

LITAUEN<br />

55° 55°<br />

Kiel<br />

Danzig<br />

Hamburg<br />

POLEN<br />

120 sm<br />

N<br />

10°<br />

15°<br />

20°<br />

20°<br />

KARTE: H. SELTMANN<br />

32<br />

YACHT 22/2004


Reise<br />

Ostsee rund<br />

Helle Nächte. Gegen<br />

zwei Uhr ist der Himmel<br />

blau. An einen geregelten<br />

Schlafrhythmus ist<br />

nicht zu denken<br />

karte fehlen die hellblauen Bereiche. Ein paar Tage treiben wir<br />

uns in dieser einmaligen Wasser-Berg-Landschaft herum, legen<br />

mal hier, mal dort an und klettern auf diesen und jenen Berg.<br />

Dann sind die hellen Nächte passé, es wird wieder dunkel.<br />

Wir haben in den letzten zwei Wochen viele Meilen zurückgelegt,<br />

immer nach Süden. Die ostschwedische Küste und der<br />

Stockholmer Schärengarten liegen hinter uns. Auf diesen langen<br />

Schlägen ähnelte unser Leben dem einer Wohngemeinschaft.<br />

Beim Wachwechsel werden Informationen ausgetauscht: „Es ist<br />

noch Suppe heiß, falls du möchtest.“ Oder: „Ich hab fünf Liter<br />

Diesel nachgekippt.“ Dann geht der eine in die Koje, der andere<br />

ans Ruder. Das hat durchaus sein Gutes. Jeder kann mal für sich<br />

sein, umgekehrt ist immer jemand da, wenn man ihn braucht.<br />

Selbst wenn wir beide an Deck sind, wird nicht allzu viel geredet.<br />

Nicht einmal bei Manövern. Wir nicken uns nur zu und wissen<br />

auch ohne Worte, was zu tun ist. Man mag es Routine nennen<br />

– oder aber blindes Vertrauen. Vielleicht ist dieses Wechselspiel<br />

aus Abstand und Nähe auch der Grund dafür, dass wir<br />

uns bis heute nicht gestritten haben.<br />

Endloser Sommer. Das Gefühl für Tag und Nacht,<br />

für Datum und Uhrzeit ist fort. So kann es bleiben<br />

Nach unserer Passage durch den Göta- und Trollhätte-<br />

Kanal kommen in Göteborg Anna und meine Freundin Judith<br />

an Bord. Sie freuen sich über das Wetter, erzählen, dass es in<br />

Deutschland diesen Sommer keinen Sommer gibt. Uns dagegen<br />

war es in den vergangenen Wochen fast zu warm. Kalte Winter,<br />

heiße Sommer – typisch Schweden. Wir schlafen draußen unter<br />

den Sternen, baden morgens, mittags, abends, nachts und dazwischen<br />

zum Abkühlen, segeln vorbei an Tausendundeiner Insel,<br />

angeln oder kaufen Fisch, grillen bei Sonnenuntergang und<br />

genießen das Leben. Besondere Vorkommnisse: keine. Von uns<br />

aus kann das ewig so bleiben.<br />

34<br />

YACHT 22/2004<br />

Die Schären sind ein Heimspiel für uns. Sechsmal waren wir<br />

schon hier und sind doch immer noch aufs Neue fasziniert. Es<br />

macht Spaß, sie Anna und Judith zu zeigen. Anna ist halbgebürtige<br />

Schwedin, und so erfahren wir über sie als „Lauschohr“ vieles<br />

von dem, was Schweden über Deutsche denken. Die Nachbarn<br />

auf Ussholmen wähnen sich etwa in sprachlicher Sicherheit,<br />

als sie ihren Neid auf unseren Heckkorb-Grill äußern. Ebenso<br />

die Folkeboot-Crew auf Lilla Kornö, die der Meinung ist, dass<br />

alle Deutschen in Hotels Seife und Handtücher klauen.<br />

Obwohl wir in diesen Tagen die 3000. Meile loggen, kommt<br />

uns die Tour kürzer vor. Wenn wir unsere Berichte auf der Homepage<br />

durchsehen, fühlen wir uns, als ob das alles auf einer ganz<br />

anderen Reise stattgefunden hat. Das Gehirn scheint eine offene<br />

Schublade zu sein: Vorn werden ständig neue Eindrücke hineingelegt,<br />

hinten fallen alte Erlebnisse runter.<br />

Von Oslo arbeiten wir uns über Strömstadt, Skagen und den<br />

Großen Belt südwärts in die Kieler Förde vor – 400 Meilen in<br />

zehn Tagen bei konsequentem Südsüdwest mit 6 bis 7 Windstärken.<br />

Theoretisch eine Belastungsprobe zum Ende der Reise.<br />

Praktisch sind wir Salzbuckel geworden und finden Gefallen an<br />

den vielen Wellen und Wenden. So sind wir am Ende durch Dänemark<br />

gerast. Ohne Anholt, ohne Samsø und ohne Musholm.<br />

Wir erleben eine grandiose Nachtfahrt durch den Großen Belt.<br />

Es ist Vollmond, die aufgewühlte See um uns herum leuchtet<br />

neongrün, am Himmel stehen unzählige Sterne.<br />

Am Ende kreuzen wir nach 146 Tagen und 3500 Seemeilen<br />

vor Laboe unser Kielwasser und sind ein wenig traurig, dass alles<br />

vorbei ist. Wir sind einmal rum und nun mit so mancher Ostseewelle<br />

per du. Hinter uns liegen die fünf schönsten Monate<br />

unseres Lebens. Es hat sich gelohnt, den Bürostuhl gegen die<br />

Cockpitbank zu tauschen. Der Zeitpunkt dafür war genau der<br />

richtige.<br />

Sönke Roever<br />

Weitere Informationen zur Ostsee-Rundreise sowie das Logbuch<br />

mit über 1000 Bildern und ausführlichen Berichten im<br />

@Internet unter www.hippopotamus.de<br />

ALLE FOTOS: S. ROEVER

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!