29.01.2014 Aufrufe

Elke Stölting Carolina und der seltsame Herr Puria - GwG

Elke Stölting Carolina und der seltsame Herr Puria - GwG

Elke Stölting Carolina und der seltsame Herr Puria - GwG

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Elke</strong> <strong>Stölting</strong><br />

<strong>Carolina</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>seltsame</strong> <strong>Herr</strong> <strong>Puria</strong>


Die Autorin<br />

Dr. <strong>Elke</strong> <strong>Stölting</strong> studierte Germanistik <strong>und</strong> Anglistik<br />

mit Promotion in Germanistik <strong>und</strong> im Zweitstudium<br />

Psychologie. Weiterbildung in Psychodrama<br />

<strong>und</strong> Mediation. Tätig in <strong>der</strong> Beratung von Hochschullehrern<br />

an <strong>der</strong> Ruhr-Universität Bochum <strong>und</strong><br />

in eigener Psychologischer Praxis. Zuletzt zwanzig<br />

Jahre Leiterin einer Beratungsstelle für Kin<strong>der</strong>, Jugendliche<br />

<strong>und</strong> Eltern in Dortm<strong>und</strong>.<br />

Ebenfalls von <strong>Elke</strong> <strong>Stölting</strong> sind im <strong>GwG</strong>-Verlag erschienen:<br />

Hibbel. Ein Vorlesebuch für Eltern unruhiger<br />

Kin<strong>der</strong>, Köln 2010 <strong>und</strong> Lisa-Marie. Ein Vorlesebuch<br />

für Kin<strong>der</strong>, <strong>der</strong>en Eltern sich getrennt haben,<br />

Köln 2012<br />

© 2013 <strong>GwG</strong>-Verlag, Köln<br />

www.gwg-ev.org<br />

Lektorat: Thomas Reckzeh-Schubert, Köln<br />

Layout: Uwe Kubassa, Düsseldorf<br />

Umschlagbild: Aquarell von Walter Koester, 1989<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-926842-52-7


<strong>Elke</strong> <strong>Stölting</strong><br />

<strong>Carolina</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>seltsame</strong> <strong>Herr</strong> <strong>Puria</strong><br />

<strong>GwG</strong>-Verlag Köln<br />

Gesellschaft für Personzentrierte<br />

Psychotherapie <strong>und</strong> Beratung e. V.


Inhalt<br />

Eine neue Bekanntschaft .....................7<br />

Ausflug mit <strong>Herr</strong>n <strong>Puria</strong> ....................31<br />

Unruhe in <strong>der</strong> Klasse. ......................54<br />

Zu Besuch bei <strong>Herr</strong>n <strong>Puria</strong> ..................66<br />

Verän<strong>der</strong>ungen ...........................86<br />

In <strong>der</strong> Beratungsstelle .....................102<br />

Briefe .................................114<br />

Stress mit <strong>der</strong> Clique ......................127<br />

Mams <strong>und</strong> <strong>Carolina</strong> bei <strong>Herr</strong>n <strong>Puria</strong> ..........150<br />

Gretas Geschichte ........................166<br />

Die Fahrt nach München ..................181<br />

Rückfall <strong>und</strong> Rettung .....................196<br />

Epilog .................................221


Eine neue Bekanntschaft<br />

<strong>Carolina</strong> lässt die Tür <strong>der</strong> Beratungsstelle<br />

mit lautem Knall ins Schloss fallen. So<br />

eine blöde Tussi, denkt sie. Erst ist sie ganz nett<br />

<strong>und</strong> fragt mit samtener Stimme, wie es einem<br />

geht <strong>und</strong> ob man zu Hause <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Schule<br />

auch klar kommt <strong>und</strong> dann fragt sie, ob man<br />

denn die Hausaufgaben auch täglich macht!<br />

Das ist ja wie bei Mams, die fragt, wenn überhaupt,<br />

auch immer danach, wie es in <strong>der</strong> Schule<br />

geht, ob eine Arbeit geschrieben worden ist <strong>und</strong><br />

ob sie ihre Hausaufgaben schon gemacht habe.<br />

Caro sagt dann immer: „Na klar, habe ich schon<br />

in <strong>der</strong> Schule gemacht“, o<strong>der</strong> sie sagt „Mach ich<br />

gleich!“, auch wenn das gar nicht stimmt.<br />

Wenn sie ehrlich zu Mams wäre, müsste sie<br />

jedes Mal sagen: „Ich habe keinen Bock auf<br />

7


Hausaufgaben, ich habe keinen Bock auf Lernen,<br />

ich habe Bock auf die Mädels von <strong>der</strong> Clique,<br />

mit denen ich rumhänge, <strong>und</strong> ich bin verliebt<br />

in Joey, <strong>der</strong> mich nicht mal anguckt. Ich<br />

finde mich hässlich, meine Haare sind nicht zu<br />

bändigen, die sehen aus wie ein ungepflegter<br />

roter Wischmopp <strong>und</strong> meine Nase ist zu klein.<br />

Ich müsste die Zahnklammer tragen wie die<br />

an<strong>der</strong>en Mädchen, aber ich kann damit nicht<br />

gut sprechen, <strong>und</strong> wenn ich es tue, lachen die<br />

an<strong>der</strong>en. So bleibt <strong>der</strong> Eckzahn oben immer ein<br />

Stückchen vor den an<strong>der</strong>n. Ich werde nie einen<br />

Fre<strong>und</strong> kriegen <strong>und</strong> als alte Jungfer enden.“<br />

Wenn man 14 Jahre alt ist, können einen solche<br />

Gedanken ganz schön runterziehen, denn<br />

die Fre<strong>und</strong>innen haben ähnliche Probleme <strong>und</strong><br />

die Erwachsenen lachen über einen, zumindest<br />

nehmen sie einen nicht ernst. Bei dieser Tussi<br />

8


hier, <strong>der</strong> Psycho-Frau in <strong>der</strong> Beratungsstelle, hatte<br />

sie zuerst gedacht, dass die ein bisschen an<strong>der</strong>s<br />

wäre, aber nun fängt die auch mit <strong>der</strong> Frage nach<br />

Hausaufgaben an. Mann, kann das nerven!<br />

Caro weiß nicht, wohin sie jetzt eigentlich<br />

rennen soll, ob nach Hause, wo sie laut Musik<br />

hören könnte, bis sich die Nachbarn beschweren<br />

o<strong>der</strong> sich vor die Glotze hängen bis Mams<br />

kommt o<strong>der</strong> – Hausaufgaben machen? Nee, keine<br />

Böcke, sie weiß auch gar nicht, was sie aufhat.<br />

In dem Augenblick kommt eine Straßenbahn<br />

vorbei, <strong>und</strong> weil <strong>Carolina</strong> ein Schülerticket<br />

hat <strong>und</strong> gerade an <strong>der</strong> Haltestelle vorbei<br />

kommt, steigt sie einfach ein <strong>und</strong> lässt sich auf<br />

einen Doppelsitz fallen. Von hinten hört sie<br />

plötzlich ihren Namen, <strong>und</strong> als sie sich umdreht,<br />

sieht sie, dass es die Trümper-Zwillinge<br />

9


sind <strong>und</strong> Joey, alle aus ihrer Klasse, die wohl<br />

über sie reden, aber Caro kann nichts verstehen.<br />

Aber das Gefühl, dass Joey hinter ihr sitzt,<br />

macht ihr heiße Wangen, <strong>und</strong> sie fragt sich, ob<br />

sie an <strong>der</strong> nächsten Haltestelle aussteigen soll,<br />

mit so einem ganz coolen Gesicht, damit die<br />

bloß nicht denken, dass sie wegen denen aussteigt.<br />

Am liebsten hätte sie jetzt hinten Augen <strong>und</strong><br />

Ohren wie Mikrophone, während sie gleichzeitig<br />

so tun muss, als interessiere sie sich für nichts<br />

in <strong>der</strong> Welt. Sie zieht die Ärmel ihres Pullovers<br />

bis über die Fingerspitzen, was Mams immer<br />

veranlasst zu sagen: „Kind, davon geht doch <strong>der</strong><br />

Pulli kaputt!“, <strong>und</strong> dann regt sich Caro tierisch<br />

auf, dass Mams wie<strong>der</strong> „Kind“ gesagt hat. Aber<br />

Caro will jetzt lieber nicht an Mams denken, die<br />

so um kurz nach acht aus dem Laden kommt,<br />

10


sich die Schuhe von den Füssen streift <strong>und</strong> in<br />

den Fernsehsessel plumpst. Meist hat sie etwas<br />

zu essen mitgebracht o<strong>der</strong> sie hat am Wochenende<br />

etwas vorbereitet, was sie eingefroren hat<br />

<strong>und</strong> nun in <strong>der</strong> Mikrowelle auftaut. Immer<br />

muss alles ganz schnell gehen, nie hat ihre Mutter<br />

die Zeit, mal in Ruhe etwas zu Ende zu bringen,<br />

mal so lange zuzuhören, bis Caro zu den<br />

Themen kommt, die sie wirklich angehen o<strong>der</strong><br />

einfach mal entspannt zu sein. Caro findet ihre<br />

Mutter daher „uncool“ <strong>und</strong> hat ihr das auch<br />

mal gesagt, aber da hat Mams …<br />

Lieber nicht dran denken, denn wenn <strong>Carolina</strong><br />

etwas nicht aushalten kann, dann ist es, ihre<br />

Mutter weinen zu sehen. Caro bekommt dann<br />

in <strong>der</strong> Brust ein Gefühl von Wut mit Mitleid,<br />

eine ganz fiese Mischung, über die sie sich auch<br />

noch gleichzeitig ärgert.<br />

11


An <strong>der</strong> Haltestelle Bäumerweg sieht sie,<br />

dass die Zwillinge aussteigen. Als die auf ihrer<br />

Höhe sind, ruft <strong>der</strong> eine von ihnen Caro etwas<br />

zu, aber sie versteht nicht, was er meint. Caro<br />

kann die beiden nur unterscheiden, wenn sie<br />

nahe vor ihr stehen, denn Tim hat eine kleine<br />

Narbe über <strong>der</strong> linken Augenbraue, Tom nicht.<br />

Beide schütteln sich jetzt aus vor Lachen, <strong>und</strong><br />

Caro ist die Situation so peinlich, dass sie in die<br />

an<strong>der</strong>e Richtung guckt <strong>und</strong> sehnlichst wünscht,<br />

dass die Bahn wie<strong>der</strong> anfährt. Dann fällt ihr mit<br />

Schrecken ein, dass nun Joey wohl alleine hinter<br />

ihr sitzt, o<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> schon vorher ausgestiegen?<br />

Vorsichtig dreht Caro sich um <strong>und</strong> sieht, dass<br />

Joey sie leicht grinsend ansieht, woraufhin sie<br />

sich mit einem Ruck zurückdreht. So was Blödes,<br />

das wäre ja nun nicht nötig gewesen, dass<br />

<strong>der</strong> auch noch sieht, dass ich mich nach dem<br />

12


umdrehe, denkt Caro, wütend über sich selber.<br />

Wenn <strong>der</strong> nun da aussteigt wie ich, wie soll ich<br />

mich da verhalten? Soll ich so tun, als ob ich<br />

ihn gar nicht sehe? O<strong>der</strong> süß lächeln? O<strong>der</strong> gar<br />

nichts tun <strong>und</strong> abwarten, was er tut? Furchtbar,<br />

immer diese Entscheidungen!<br />

Caro sieht die Häuser an sich vorbei ziehen<br />

<strong>und</strong> denkt: wenn ich doch jemand an<strong>der</strong>es wäre!<br />

Wenn ich zum Beispiel in diesem gelben Haus<br />

mit Vorgarten leben würde, dann ginge es mir<br />

bestimmt besser! Da, wo die Klematis hochrankt,<br />

lebt bestimmt eine komplette Familie,<br />

wo sich alle Familienmitglie<strong>der</strong> zum Abendbrot<br />

zusammensetzen <strong>und</strong> sich vergnügte Geschichten<br />

vom Tag erzählen. Der Vater lobt seine Kin<strong>der</strong>,<br />

weil sie so erfolgreich in <strong>der</strong> Schule sind, die<br />

Mutter bew<strong>und</strong>ert ihre Kin<strong>der</strong>, weil sie so gut<br />

aussehen <strong>und</strong> so viele Fre<strong>und</strong>e haben.<br />

13


Über ihre Träumerei hat Caro gar nicht gemerkt,<br />

dass sie schon in <strong>der</strong> Stadtmitte angekommen<br />

ist, aber sie sieht, dass die Türen an<br />

<strong>der</strong> Haltestelle Zentrum noch offen sind <strong>und</strong><br />

drückt schnell auf den Halteknopf, damit die<br />

Türen offen bleiben <strong>und</strong> sie noch rausspringen<br />

kann. Dabei hat sie ganz vergessen, darauf zu<br />

achten, ob Joey denn noch in <strong>der</strong> Bahn ist, aber<br />

sie kann ihn jetzt gar nicht entdecken. Na, ist<br />

auch so recht, sonst hätte sie wie<strong>der</strong> Probleme<br />

bekommen, was sie tun o<strong>der</strong> lassen sollte bei<br />

seinem Anblick.<br />

Und nun? Caro weiß eigentlich gar nicht,<br />

was sie nun machen soll. Es ist jetzt sechs Uhr,<br />

die Geschäfte sind noch zwei St<strong>und</strong>en offen.<br />

Meist ist sie mit den an<strong>der</strong>en Mädels ihrer<br />

Clique in <strong>der</strong> Stadt, sie streifen dann durch<br />

14


die Geschäfte <strong>und</strong> ziehen Klamotten an, die<br />

sie chic o<strong>der</strong> auffallend finden <strong>und</strong> zeigen sie<br />

sich gegenseitig. Aber Caro kann beim Kaufen<br />

nicht so mithalten, weil ihr Taschengeld schon<br />

zur Hälfte aufgebraucht ist. 200 Euro im Monat<br />

ist einfach zu wenig, das muss Mams doch<br />

mal einsehen!<br />

Caro schlen<strong>der</strong>t durch die Fußgängerzone<br />

<strong>und</strong> bleibt mal an einem Schaufenster stehen,<br />

in dem die neueste Young Fashion ausgestellt<br />

wird, probiert dann an einem Parfümladen<br />

draußen vor <strong>der</strong> Tür ein Parfüm, das ihr aber<br />

viel zu süß ist <strong>und</strong> merkt, dass sie eigentlich<br />

Hunger hat. Sie versucht sich zu orientieren,<br />

ob <strong>der</strong> Whopperladen links ist o<strong>der</strong> ob sie<br />

schon an ihm vorbei gegangen ist, da sieht sie,<br />

dass Lena gerade in ein Kaufhaus geht <strong>und</strong><br />

Caro beeilt sich, sie einzuholen. Aber als sie<br />

15


erkennt, dass Lena jetzt neben ihrer Mutter<br />

geht, bleibt Caro zurück. Das macht einfach<br />

keine Laune, wenn Erwachsene mit dabei sind.<br />

Lena ist dann auch immer so an<strong>der</strong>s, <strong>und</strong> Caro<br />

muss zugeben, dass sie in Anwesenheit von Erwachsenen<br />

sich auch nicht so verhält wie sonst.<br />

Da kommt dann so eine Beklemmung auf<br />

<strong>und</strong> blöde Gedanken wie: Ist das jetzt richtig<br />

so, das zu sagen? War das falsch, dumm, vorlaut?<br />

Was denken die an<strong>der</strong>en jetzt von mir?<br />

Und vor lauter Nachdenken über diese Fragen<br />

bleibt Caro stumm, merkt das selber <strong>und</strong><br />

kommt sich völlig behin<strong>der</strong>t vor. Und das ist<br />

das Oberletzte, das schlimmste Schimpfwort:<br />

du bist ja wohl behin<strong>der</strong>t!<br />

Weil Caro eigentlich nicht weiß, was sie<br />

jetzt anfangen soll, geht sie mal in Richtung<br />

Kino; es kann ja nicht schaden zu wissen, was<br />

16


dort gerade läuft. Und wenn die Clique morgen<br />

darüber redet, ob sie nicht mal ins Kino<br />

gehen sollen, kann Caro ihr Wissen ganz gelassen<br />

von sich geben.<br />

Vor dem Kino stehen Grüppchen von jungen<br />

Leuten, ein paar davon kennt Caro von ihrer<br />

Schule. Aber sie hat keine Lust, bei jemandem<br />

stehen zu bleiben, weil man dann doch<br />

meistens dumm angemacht wird, <strong>und</strong> so geht<br />

sie mit dem Blick auf ihre Fußspitzen weiter. Als<br />

Laura, eine Bekannte aus <strong>der</strong> 10. Klasse, zu ihr<br />

sagt: „Hallo, Caro, gehst du auch ins Kino?“,<br />

brummelt Caro nur: „Weiß noch nicht“, <strong>und</strong><br />

geht weiter. Es spielt um halb sieben <strong>der</strong> Film<br />

„Die wilden Hühner“, den Caro ganz gerne sehen<br />

würde, aber sie geht nur mit <strong>der</strong> Clique ins<br />

Kino. Um nicht wie<strong>der</strong> an den Grüppchen vor<br />

dem Kino vorbei zu müssen, macht <strong>Carolina</strong><br />

17


einen Umweg über die Sü<strong>der</strong>straße <strong>und</strong> biegt<br />

dann erst wie<strong>der</strong> ins Zentrum ein.<br />

Es hilft nichts: sie hat einen solchen Hunger,<br />

dass sie sich entschließt, im Kaufhaus oben im<br />

Schnellimbiss etwas zu essen, nur eine Kleinigkeit,<br />

damit sie nicht zu satt ist, wenn sie nach<br />

Hause kommt. Dort wartet nämlich dann wie<strong>der</strong><br />

so ein Essen auf sie, das Mams aus <strong>der</strong> Stadt<br />

mitgebracht hat. Am liebsten mag Caro etwas<br />

vom Chinesen, aber das ist auf Dauer zu teuer.<br />

O<strong>der</strong> es gibt einen Eintopf, den Mams aufgetaut<br />

hat, o<strong>der</strong> einen Rest von gestern Abend.<br />

Wenn Caro an das aufgetaute Essen denkt, hat<br />

sie gar keinen Appetit mehr.<br />

Sie fährt mit <strong>der</strong> Rolltreppe in den vierten<br />

Stock <strong>und</strong> nimmt sich am Eingang des<br />

Schnellimbisses ein Tablett. „Einmal Pommes<br />

18


mit Soße“, sagt sie zu <strong>der</strong> rotgesichtigen Frau<br />

hinter dem Glastresen. „Rot o<strong>der</strong> weiß?“ fragt<br />

die fre<strong>und</strong>lich zurück <strong>und</strong> Caro könnte sich<br />

in den Hintern beißen, dass sie nicht gleich<br />

gesagt hat: „Mit beidem“. Sie hat häufig den<br />

Eindruck, schon bei nichtigen Anlässen etwas<br />

falsch zu machen <strong>und</strong> ärgert sich dann wie wild<br />

über sich. Sie trägt ihr Tablett mit den Pommes<br />

<strong>und</strong> einem Glas Cola zu einem <strong>der</strong> Stehtische,<br />

weil da nur ein Mann alleine steht, da hat sie<br />

genügend Platz.<br />

Sie stippt ihre Pommes mit dem vor<strong>der</strong>en<br />

Ende in die rote <strong>und</strong> mit dem hinteren in die<br />

weiße Soße. Da merkt sie, dass <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Esser<br />

am Tisch auf ihren Teller guckt. Was sieht<br />

<strong>der</strong> da? Gehört sich das nicht, mit den Fingern<br />

zu essen? Sind doch Pommes! O<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> kennt dieses Essen nicht? Unsicher<br />

19


schaut sie hoch in sein Gesicht. Er hat zwar<br />

dunkle Haare, aber Auslän<strong>der</strong> ist er gewiss<br />

nicht: blaue Augen, ein glattes, faltenfreies Gesicht,<br />

nicht mal so eine Falte zwischen den Augenbrauen,<br />

die erwachsene Männer oft haben.<br />

Sicher schon alt <strong>der</strong> Mann, so über dreißig.<br />

„Is was?“ fragt <strong>Carolina</strong> mit einem leicht patzigen<br />

Ton in <strong>der</strong> Stimme. Der soll ihr ja nicht<br />

doof kommen, das kann sie auch! „Ich finde das<br />

schön, wie du deine Pommes isst: mit diesem<br />

Rhythmus, Pommes fassen, stippen, stippen,<br />

essen, Pommes fassen, stippen, stippen, essen.<br />

Klasse.“ <strong>Carolina</strong> glaubt, sie hört nicht recht! Da<br />

soll an ihrem Essen was gut sein? Na, immerhin<br />

hat er sie nicht unfre<strong>und</strong>lich angesprochen, so<br />

dass sie jetzt auch höflich sein will. „Mögen Sie<br />

auch Pommes?“ fragt sie im schönsten Konversationston,<br />

den sie von Mams kennt.<br />

20


„Überhaupt nicht“, sagt <strong>der</strong> Mann gut gelaunt,<br />

„ich finde das ist das abartigste Essen,<br />

das man überhaupt erf<strong>und</strong>en hat. Kommt<br />

gleich hinter Bratwurst.“ „Was haben Sie denn<br />

gegen Bratwurst?“ fragt Caro, nun wirklich interessiert,<br />

denn Bratwurst ist eines ihrer Lieblingsgerichte.<br />

„Das ist Essensabfall in einer zähen Pelle“,<br />

sagt <strong>der</strong> Mann ganz fre<strong>und</strong>lich, „wenn ich<br />

die weiße Seite an <strong>der</strong> Wurst sehe, wo so was<br />

wie graue Sägespäne durchscheint, bin ich<br />

bedient. Also esse ich keine Wurst <strong>und</strong> keine<br />

Pommes.“<br />

„Stört es Sie, wenn ich meine Pommes weiter<br />

esse?“ fragt Caro mit kleiner Stimme.<br />

„Nein, nicht doch! Ich wollte dir dein<br />

Essen nicht vermiesen, son<strong>der</strong>n dir meine<br />

Bew<strong>und</strong>erung für deine Essensweise ausdrücken.<br />

Gefällt mir!“<br />

21


Caro merkt, dass sie rot wird <strong>und</strong> greift daher<br />

schnell zu ihrem Glas <strong>und</strong> nimmt einen<br />

großen Schluck. Als sie das Glas wie<strong>der</strong> absetzt,<br />

sieht sie, dass ein Stück Pommes auf <strong>der</strong><br />

Oberfläche <strong>der</strong> Cola schwimmt, <strong>und</strong> was noch<br />

furchtbarer ist: <strong>der</strong> Mann sieht das auch.<br />

„Wie spät ist es eigentlich?“ fragt Caro<br />

schnell, um ihn abzulenken. Ihr ist jetzt eingefallen,<br />

dass Mams womöglich heute früher nach<br />

Hause kommt, ist ja Freitag.<br />

„Kurz vor sieben. Hast du keine Uhr?“ fragt<br />

<strong>der</strong> <strong>Herr</strong>, aber so interessiert, als frage er nach<br />

etwas ganz Wichtigem. „Ich habe selber keine,<br />

daher finde ich es interessant, dass du auch<br />

keine trägst. Hätte ich nicht erwartet. Darf ich<br />

nach deinen Gründen hierfür fragen?“<br />

„Die Batterie ist leer, <strong>und</strong> ich habe noch<br />

nicht daran gedacht, eine neue einsetzen zu las-<br />

22


sen. Aber warum haben Sie keine?“ Wenn <strong>der</strong><br />

fragt, frage ich auch, denkt sich Caro.<br />

„Ich brauche keine! Ich habe festgestellt,<br />

dass ich aufmerksamer auf die Zeit bin, die<br />

vergeht, wenn ich keine Uhr trage. Und sollte<br />

ich mal die Uhrzeit wissen müssen, frage ich<br />

jemanden, so wie du jetzt, o<strong>der</strong> ich suche die<br />

nächste öffentliche Uhr. So wie die da!“ Der<br />

Mann weist auf die Uhr hinter <strong>der</strong> Verkäuferin<br />

<strong>und</strong> grinst.<br />

Caro ist jetzt ein bisschen entspannter,<br />

<strong>und</strong> heimlich sieht sie ihn sich mal genauer<br />

an. Er ist picobello gekleidet, elegant, sauber,<br />

geschmackvoll, aber aus irgendeinem Gr<strong>und</strong><br />

sieht er an<strong>der</strong>s aus als an<strong>der</strong>e Männer. Lockerer?<br />

Offener?<br />

„Warum isst du hier <strong>und</strong> nicht zu Hause?“<br />

fragt <strong>der</strong> Mann nun mit dem gleichen inten-<br />

23


siven Interesse wie zuvor. Und in so einem<br />

neutralen Ton, das klingt nicht nach Vorwurf,<br />

son<strong>der</strong>n eher nach – Neugier!<br />

„Nachher esse ich zu Hause auch noch.<br />

Irgendwas von meiner Mutter. Was die mitbringt<br />

nach Hause o<strong>der</strong> was sie am Wochenende<br />

gekocht <strong>und</strong> eingefroren hat. Vielleicht<br />

ist es Kartoffelsuppe o<strong>der</strong> ein an<strong>der</strong>er Eintopf.<br />

Mögen Sie Eintopf? Ich hasse den!“ Caro hat<br />

das Gefühl, diesem Fremden dieses Geständnis<br />

machen zu können, ohne dass er sie dafür<br />

kritisiert.<br />

„Ich liebe Eintöpfe! Alle, ausnahmslos.<br />

Weiß deine Mutter denn, dass du Eintöpfe gar<br />

nicht magst?“ Jetzt guckt <strong>der</strong> Mann aber echt<br />

neugierig, beinahe mit offenem M<strong>und</strong>.<br />

„Nö, dann wäre die vielleicht beleidigt. Ich<br />

würge mir das eben so runter.“<br />

„Das könnte ich nicht.“<br />

24


„Kocht denn Ihre Frau immer nur das, was<br />

Sie mögen?“<br />

„Meine Frau kocht nicht für mich. Ich koche<br />

für mich, <strong>und</strong> ich koche mir das, was ich<br />

gerne mag. Zum Beispiel Eintöpfe.“ Er lacht<br />

so ein bisschen auf, als lache er über eine Abson<strong>der</strong>lichkeit<br />

von sich selber.<br />

<strong>Carolina</strong> staunt. So einen Erwachsenen hat<br />

sie noch nie kennengelernt, <strong>und</strong> dabei kennt<br />

sie doch ziemlich viele: eigentlich alle Eltern<br />

<strong>der</strong> Mädchen aus <strong>der</strong> Clique <strong>und</strong> sogar ein paar<br />

Mütter <strong>und</strong> vereinzelt auch Väter von den Jungs<br />

in <strong>der</strong> Klasse. Die kennt sie von den Feten, im<br />

letzten Winter, bei den Trümpers zum Beispiel<br />

war sie auch ein paar Mal eingeladen, natürlich<br />

nicht alleine, aber in <strong>der</strong> Clique.<br />

„Wie heißt du?“ fragt <strong>der</strong> Unbekannte ganz<br />

fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> so selbstverständlich, als wäre<br />

25


das nun aber mal dran.<br />

„<strong>Carolina</strong> Kehlmann. Und Sie?“<br />

„Leonardo <strong>Puria</strong>. Guten Tag, <strong>Carolina</strong>. Ich<br />

habe mal eine Frau gekannt, die auch Kehlmann<br />

hieß. Greta Kehlmann.“<br />

„Das ist meine Mutter!“ ruft <strong>Carolina</strong> <strong>und</strong><br />

schlägt sich dann leicht auf den M<strong>und</strong>, weil sie<br />

das so laut gerufen hat, dass die Verkäuferin zu<br />

ihr herübergeschaut hat.<br />

„Wir sind zusammen zur Schule gegangen.<br />

Ich mochte Greta immer sehr gerne, aber sie<br />

wollte von mir nichts wissen. Nach <strong>der</strong> Schule<br />

haben wir uns dann aus den Augen verloren.<br />

Weißt Du, was sie dann gemacht hat?“<br />

„Ich glaube, sie war dann ein paar Jahre in<br />

England, aber bevor ich geboren wurde, ist sie<br />

zu ihren Eltern zurückgegangen. Sie arbeitet<br />

jetzt in einem Supermarkt, die leitet den, <strong>und</strong><br />

darum kommt sie immer so spät nach Hause.<br />

26


Soll ich von Ihnen grüßen?“<br />

„Nein“, sagt <strong>Herr</strong> <strong>Puria</strong> ganz ruhig <strong>und</strong><br />

fre<strong>und</strong>lich, „ich wüsste nicht, warum ich mich<br />

jetzt noch für sie interessieren sollte. Bist du<br />

nun enttäuscht?“<br />

„Ich bin verblüfft, dass Sie das einfach so sagen.<br />

Muss man nicht aus Höflichkeit …?“<br />

„Ich finde, ich muss respektvoll sein, <strong>und</strong><br />

das bin ich. Du hast mich ehrlich etwas gefragt,<br />

<strong>und</strong> ich habe dir eine ehrliche Antwort<br />

gegeben. Kommst du eigentlich öfter hierher?“<br />

„Nein, das war heute Zufall, weil ich solchen<br />

Hunger hatte.“<br />

„Hoffentlich sehe ich dich einmal wie<strong>der</strong>,<br />

ich finde, du bist ein nettes Mädchen. Ganz<br />

an<strong>der</strong>s als meine Tochter, du musst etwa in<br />

ihrem Alter sein. Meine Luisa verachtet mich<br />

<strong>und</strong> meine Lebensweise.“<br />

„Was meinen Sie damit? Lebensweise?“<br />

27


„Ich lebe an<strong>der</strong>s als an<strong>der</strong>e Menschen, ich<br />

habe zum Beispiel nicht viele Sachen, auch<br />

nicht in meiner Wohnung. Luisa <strong>und</strong> ihre<br />

Mutter wollten so nicht mit mir leben. Sie<br />

wohnen jetzt in Berlin.“<br />

„Und sehen Sie Luisa manchmal?“<br />

„Nein, ich habe keine Lust, mich durch sie<br />

verletzen zu lassen, <strong>und</strong> das macht sie gerne.<br />

Aber mit ihrer Mutter telefoniere ich häufig.<br />

Lebt dein Vater bei Euch?“<br />

„Nein, den kenne ich gar nicht. Früher habe<br />

ich manchmal eine Karte zu Weihnachten aus<br />

England bekommen, aber jetzt schon lange<br />

nicht mehr.“<br />

„Darf ich dich wie<strong>der</strong>sehen? So dass wir uns<br />

weiter unterhalten können?“<br />

<strong>Carolina</strong> starrt <strong>Herr</strong>n <strong>Puria</strong> an, <strong>und</strong> in Windeseile<br />

rasen ihr all die Warnungen durch den<br />

28


Kopf, die sie von zu Hause her kennt: „Sprich<br />

nicht mit fremden Männern. Lass dich nicht<br />

von fremden Menschen einladen. Geh mit keinem<br />

Fremden mit!“<br />

Aber ist er denn ein Frem<strong>der</strong>? Er ist doch<br />

mit Mams in die Schule gegangen. Caro ist<br />

ratlos <strong>und</strong> guckt <strong>Herr</strong>n <strong>Puria</strong> unglücklich an.<br />

Sie möchte schon gerne mit ihm reden, aber<br />

ist das in Ordnung? Gehört sich das? Ist das<br />

gefährlich? Was will <strong>der</strong> von ihr?<br />

„Hast du Bedenken? Dann lieber nicht. Ich<br />

will nicht mit jemandem reden, <strong>der</strong> meint,<br />

Angst vor mir haben zu müssen.“ <strong>Herr</strong> <strong>Puria</strong><br />

schaut <strong>Carolina</strong> so fre<strong>und</strong>lich-neutral an, als<br />

spräche er mit ihr über Pilzzucht in Australien.<br />

„Doch, ich will schon, aber … ich möchte<br />

erst mit meiner Mutter reden. O.K.? Übermor-<br />

29


gen um sechs Uhr bin ich wie<strong>der</strong> hier, dann<br />

sage ich Ihnen Bescheid.“<br />

„Ich werde hier sein. Jetzt möchte ich gehen.“<br />

<strong>Herr</strong> <strong>Puria</strong> gibt <strong>der</strong> verdutzten <strong>Carolina</strong> die<br />

Hand, drückt fest zu, dreht sich um <strong>und</strong> geht<br />

davon. Er geht so – sorglos, so unbeschwert.<br />

Caro kann seinen eleganten Mantel noch mit<br />

den Augen verfolgen, bis er auf <strong>der</strong> Rolltreppe<br />

verschwindet.<br />

Merkwürdig! So einen direkten Menschen<br />

hat Caro noch nie erlebt. Aber war ganz einfach,<br />

mit ihm zu reden. Nicht so „hinten<br />

rum“, wie das häufig in <strong>der</strong> Klasse passiert,<br />

<strong>und</strong> jetzt fällt Caro auf, das die Frau in <strong>der</strong><br />

Beratungsstelle eben auch nicht so direkt mit<br />

ihr gesprochen hat! Eigentlich wollte die doch<br />

fragen: „Hast Du keine Lust, Hausaufgaben zu<br />

machen?“ Dann hätte Caro „Nee!“ gesagt.<br />

30

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!