Der Dichter - johannes werschitz
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Johannes Werschitz<br />
<strong>Der</strong> <strong>Dichter</strong>.<br />
Erzählung.<br />
Ein Textfragment aus dem Jahr 2006. Bearbeitung März 2008.
<strong>Der</strong> <strong>Dichter</strong>.<br />
Johannes Werschitz (www.<strong>johannes</strong><strong>werschitz</strong>.com)<br />
Das Leben steckt voller Entscheidungen. Manche werden schnell getroffen, andere nach<br />
reiflicher Überlegung, wieder andere vorschnell, einige vielleicht leichtfertig, die nächsten<br />
unbedacht, jene unterbewusst, diese aus Prinzip. Da gibt es hundert Arten und mehr. Auch<br />
unser Mann hatte eine Entscheidung getroffen, nachdem er sie Jahr und Tag mit sich<br />
geschleppt hatte wie eine Bürde, die man an seine Satteltasche geheftet hat, ohne sich an<br />
einen Ort zu bemühen, wo man sich ihrer entledigen hätte können. Sie mag durchaus banal<br />
wirken, die Entscheidung, die der Mann schließlich gefällt hatte: Er hatte sich entschlossen,<br />
einen Laptop zu kaufen. Und vielmehr: Er hat diese Entscheidung endlich auch in die Tat<br />
umgesetzt. Lange hatte er mit dem Gedanken gespielt, immer wieder hatte er sich eingebläut,<br />
was ihm so ein Gerät alles erleichtern, ja überhaupt erst so richtig ermöglichen würde. Vor<br />
allem: Er würde schreiben können, wo immer er wollte, hatte er sich gesagt. Er müsste sich<br />
dann nicht mehr mit diesen vielen, losen Zetteln begnügen, die überall in seiner Wohnung,<br />
bald gesucht, bald vergessen umherflatterten, wie ein wild gewordener, unkontrollierbarer<br />
Schwarm von Schmetterlingen. All das würde entfallen, das Schreiben, das bei ihm noch gar<br />
nicht so richtig in Gang gekommen war, sieht man von ein paar durchaus ehrenwerten, aber<br />
auch nicht besonderen Gedichten ab, würde viel geordneter ablaufen. Ja, es würde überhaupt<br />
erst beginnen: Bisher hielt ihn die reine Mechanik, die Technik, das Umfeld davon ab, etwas<br />
Größeres zu schaffen, es verlor sich im Chaos seiner Wohnung, im Chaos seines Gehirns. Er<br />
musste die Situation ändern, durch den Kauf eines passenden Hilfsmittels. Das Schreiben<br />
würde beginnen. Bequemer als bisher. Gerade diese Bequemlichkeit aber war der Grund<br />
dafür, warum der Mann erst vor kurzem, unter Hinzuziehen der fachkundlichen Beratung<br />
eines Bekannten, mit einem handkoffergroßen Paket in seiner Wohnung angelangt war.<br />
Das Paket legte er ab, in eine Ecke, und es dauerte einige Tage, bis er ihm erneut seine<br />
Aufmerksamkeit schenkte. Seltsam mag dies einem unkundigen Beobachter erscheinen, ein<br />
so lange ersehntes Hilfsmittel nicht gleich zu benutzen, doch der Mann wollte es reifen lassen,<br />
sich an die Möglichkeit gewöhnen, es zu benutzen, sollte es doch vieles revolutionieren.<br />
Zudem hatte er einige Sorge vor den Mühen, die das neue Gerät mit seinen Unbekannten und<br />
seinen Tücken ihm noch bereiten würde. So schenkte er ihm eben erst nach einigen Tagen<br />
seine Aufmerksamkeit. Zu seiner Erleichterung war das Gerät viel einfacher als befürchtet in<br />
Betrieb nehmen und zu bedienen. Sogar ein Schreibprogramm war schon mitgeliefert. Gleich<br />
sein erster Akt war es, dieses Programm zu öffnen, nachdem er es sich auf seiner Couch<br />
bequem gemacht hatte. Er begann sofort, einen lang gefassten Vorsatz in die Tat umzusetzen:<br />
Er wollte aus dem Nichts heraus eine Geschichte erschaffen.<br />
Die Beine auf einem Hocker ausgestreckt, befand sich der Laptop auf seinen<br />
Oberschenkeln, die er in eine beige Flanelldecke gewickelt hatte, obwohl in seinem kleinen<br />
Wohnzimmer ohnehin behaglich geheizt war. <strong>Der</strong> Mann, sein Alter war schwer auszumachen,<br />
liebte es, sich zuzudecken. Er liebte die Sicherheit, die er sich so suggerierte, und er liebte das<br />
Gefühl, beschützt zu sein. Er trug einen Bart, drei Tage alt vielleicht. Dieser Dreitagesbart<br />
war jedoch nicht so beschaffen, wie man das hinlänglich von verwegenen Abenteurern<br />
kannte. Seinem Wuchs, und den Linien, über die er nach jeder Rasur wie Unkraut immer<br />
wieder aufs Neue zu wuchern begann, sah man an, dass nicht das Abenteuer, sondern die<br />
Trägheit der Urheber war. Sein Blick, die Augen in heller Farbe, schweifte durch den Raum,<br />
blieb aber immer wieder auf dem Bildschirm haften, verhakte sich mit den Zeilen, die<br />
entstanden, während er ihrem Wachsen folgte. Das Geräusch, das dabei entstand, zerhackte<br />
die ansonsten flächendeckende, ausgebreitet ruhende Stille mit einem metallenen Klicken.<br />
Klick-klick-klick. Pause, Nachdenken. Er horchte auf: Die Stille, da war sie eben wieder<br />
gewesen. Er hörte genauer hin. Er atmete sie ein, sie umhüllte ihn wie ein Raum, der sich<br />
selbst immer enger umschloss, fort gleitend aus dem Tag, den er zuvor gelebt hatte. Er<br />
speicherte ab, was er bisher geschaffen – und die Stille blieb trotzdem. Nur ein Geräusch war<br />
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<strong>Der</strong> <strong>Dichter</strong>.<br />
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noch da: Jenes des Computers, es verwob sich mit der Ruhe im Raum, nicht so, als hätte es<br />
seine Fäden in die Ruhe hineinwinden, ein wirres Netz ziehen wollen und sich so die Stille<br />
vereinnahmen, sie gefangen setzen wollen. Seine Umschlingung formte vielmehr ein<br />
Fundament als ein Durchdringen, ein Fundament, auf dem sich die Stille aufbaute, auftürmte<br />
zu einem Raum der Gelassenheit.<br />
<strong>Der</strong> Mann fühlte diese Gelassenheit, sie war eine andere als jene, die er, wenn er einen der<br />
wenigen ehrlichen Momente zu sich selbst hatte, doch zumeist wieder nur aus seiner<br />
Bequemlichkeit, seiner Trägheit heraus erklären musste.<br />
<strong>Der</strong> Fernseher summte leise, der Mann hatte den Ton abgestellt. Immer wieder schweifte<br />
er mit langsamen Blicken über den Bildschirm. Blicke, als würden sie ihn ungesteuert,<br />
selbstständig und ohne sein Zutun verlassen. Einige Signale nahm er auf, eine Untermalung,<br />
ein Bild, weich und farbenfroh. Die Bilder wechselten, die Stimmungen, Töne, neue<br />
Menschen, immer andere Menschen, Gesten, die Münder, dazwischen Luftholen. Nicht jedes<br />
Bild konnte er sich erklären, nicht in dem Sinne, wie es von den Regisseuren beabsichtigt<br />
war, schnell wurden sie belanglos, weil sie sich so schnell abwechselten, dass der Blick auf<br />
ihrem Flackern nicht mehr zu ruhen vermochte. So mit seiner Umgebung vertraut,<br />
eingeschlossen in die Stille, gewann der Mann seine Aufmerksamkeit wieder und wandte sich<br />
erneut seinem Vorhaben zu.<br />
Zwiespältig sah er stets dem Moment vor dem weißen Blatt entgegen, das unberührt und<br />
jungfräulich naturgemäß eines großen Künstlers verlangte, sollte dieses perfekte Weiß nicht<br />
mit Worten verdorben werden, die sich wie Gitterstäbe darübersuhlten, die die reine, weiße<br />
Schönheit einkerkerten. Er wehrte sich meistens dagegen, überhaupt herauszufinden, ob er ein<br />
großer Künstler war oder nur sein könnte. Nur manchmal, in der Euphorie eines Rausches<br />
etwa, war er fest überzeugt davon und nahm sich gleich vor, fortan auch künftig davon<br />
überzeugt zu bleiben, dass er einer sei. Er verlor diese Überzeugung dann aber für<br />
Gewöhnlich schon am nächsten Morgen. Jedenfalls wusste er, dass schon die ersten Zeilen<br />
maßgeblich über das Gelingen der Geschichte entschieden, auch daher seine Zwiespältigkeit<br />
vor dem weißen Blatt. Wann würde er das erste Mal stocken? Wann würde ihm zum ersten<br />
Mal der Atem des Schreibens ausgehen, wann würde er Luft holen müssen, in Tinte tauchen,<br />
eine Pause machen, Inspiration holen, bei einem Spaziergang etwa… Nach einem Satz, nach<br />
dem ersten, nach einigen Worten schon? Er kannte diese Phänomene, wusste, wie leicht er<br />
stockte, und sah es auch für den Schreibversuch, den er gleich starten wollte, voraus.<br />
Er blickte kurz auf, suchend und griff nach dem Glas, das er sich bereitgestellt hatte.<br />
Nichts sollte ihn unterbrechen, auch nicht eine etwaige Suche nach einer<br />
Befriedigungsmöglichkeit für sein körperliches Bedürfnis nach Flüssigkeit.<br />
Er sich vorgenommen, diesmal einfach los zu schreiben. Er atmete einmal laut auf, dann<br />
ein zweites Mal, so, als wollte er testen, ob er anwesend sei.<br />
Zuerst sollte die Hauptperson geschaffen werden, er wollte einen Schriftsteller<br />
beschreiben, und ihn dabei begleiten, wenn er beginnt, eine Geschichte zu verfassen. <strong>Der</strong> Rest<br />
würde sich dann daraus ergeben, dass er einfach über diesen Mann schrieb. Er wollte ihn<br />
entdecken, aus dem Stein befreien wie eine Skulptur, ihm dann Leben einhauchen und ihn<br />
erleben lassen, was schon immer geschrieben stand. Dieses Bild, sicherlich von ihm erstmals<br />
auf Erden entdeckt, erinnerte ihn an eine alte griechische Sage, jene von Pigmalion, der sich<br />
die perfekte Frau in Form einer Statue geschaffen hatte und diese sich nun zum Leben<br />
erweckt wünschte. So ähnlich wollte der Mann vorgehen, einfach die Statue, den Text aus<br />
dem Fels befreien, Leben einhauchen hingegen wollte er dem Text durch die Form, durch den<br />
Inhalt, das Gewebe, das die Worte bilden würden. Ein Schriftsteller am Beginn eines Werkes<br />
also als Hauptperson. Und die Pigmalion-Geschichte für den Prozess. Aber was weiter? Bei<br />
der Namensgebung sollte diese alte Geschichte jedenfalls keine Rolle spielen, der Name<br />
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Hauptperson sollte weniger antik sein, und so wählte er den Namen Andreas Weitschreiber,<br />
um ihn gleich wieder zu löschen. Zu konstruiert.<br />
Außerdem, einen Namen brauchte er doch noch gar nicht unbedingt. Vielleicht muss sich<br />
seine Hauptperson ihren Namen erst im Text verdienen, kam es dem Mann, der es schon<br />
immer für schwierig befunden hatte, seinen Protagonisten Namen zu geben. So entschied er<br />
sich für ein Kürzel. Es sollte eine schöne Form aufweisen in seiner buchstäblichen<br />
Manifestation, und in gar keinen Fall sollte es den Eindruck erwecken, er ließe sich zu sehr<br />
von dem Vorbild Kafkas leiten. Er wollte keinesfalls kopieren oder auch nur als Kopist<br />
fälschlicherweise angesehen werden, aber er wollte jedenfalls auch nicht auf den ihm als<br />
Schriftsteller doch gleichermaßen zustehenden Kunstgriff, ein Kürzel zu verwenden, wenn<br />
ihm noch keinen Namen eingefallen ist, verzichten. Gleiches Recht für alle.<br />
Ein weicher Buchstabe wäre das B, in seiner Form fast symmetrisch, zwei Schlingen an<br />
einer Stange. Doch das äußere und auch der Laut, den er, sich selber vorhergesagt habend, aus<br />
seinem Mund vernahm, waren ihm zu weich, verschwindend in Watte, insignifikant. F sollte<br />
seine Hauptfigur heißen. Einfach F.<br />
Ein angehender Schriftsteller, von der Erscheinung her mittelgroß, wohl genährt, mit<br />
einem Gesicht, dem man zwanzig Jahre genauso abnahm wie dreißig, saß in dem Raum, den<br />
er Schreibstube nannte. Er wollte sich gerade nach schon zahlreichen vergeblichen Versuchen<br />
am selben Nachmittag wieder daran machen, zu schreiben, da brachte ihn ein seltsamer<br />
Gedanke von diesem Vorhaben ab:<br />
Sein Name ging ihm durch den Kopf: F. Wieso hatte er gerade diesen erhalten? Und von<br />
wem? Natürlich, es war der Name seines Vaters, dieser hatte ihn wiederum von seinem Vater.<br />
<strong>Der</strong> Name klang in Fs Ohren natürlich vertraut, aber, wenn das Gehirn kurz, durch den<br />
altersbedingten Verlust einer Synapse etwa, die Verbindung zu dieser Vertrautheit unterbrach,<br />
war ihm sein eigener Name fremd, als hörte er ihn zum ersten Mal. Dieses eigenartige Gefühl<br />
befiel ihn auch jetzt. Dann drehte er ihn in seinem Hirn, wendete ihn, suchte nach der<br />
fehlenden Verbindung. Er liebte diese Spiegel, diese Außensicht auf Bekanntes, Vertrautes,<br />
Eingefahrenes. Es erinnerte ihn daran, dass er die Welt so sah, wie er sie sich schuf. Er schuf<br />
sie sich auf Grund seiner Voraussetzungen, seiner Meinung, seiner Einschätzungen, alles in<br />
Wechselwirkung mit seiner Umwelt, vor allem mit den Menschen, entstanden und stets<br />
wachsend.<br />
Schließlich hatte er über diese Gedanken den Zugang zu seinem Namen wieder gefunden,<br />
er lag wieder vor ihm, greifbar und abrufbar so, wie er sich ein Leben lang gebildet hatte. Und<br />
dennoch musste er daran denken, wie gefangen er doch war – in seinem Beruf wie als<br />
Mensch. Alles, was er zur Verfügung hatte, war Sprache. Als Mensch konnte er die Welt nur<br />
mit seiner Sprache analysieren, sie bildete sein Gerüst, mit dem er auf die Ebene klettern<br />
konnte, von der aus er die Welt über die reine Wahrnehmung hinaus zerlegen, verarbeiten und<br />
zu verstehen versuchen konnte. Er wusste, dass er nur so viel Verständnis festhalten konnte,<br />
wie ihm die Sprache erlaubte. Alles andere verschwand, weil es mit jenem Gerüst eben nicht<br />
erreichbar war, zu hoch, flüchtig, immateriell lag vieles, von dem er nicht wissen konnte, ob<br />
es da war. Eigentlich, fand er, müsste er annehmen, dass da nichts war, was er von seinem<br />
Gerüst aus nicht wenigstens schimmern sehen konnte. Was er nicht wahrnehmen konnte, war<br />
für ihn ja nicht mehr greifbar, nachweisbar.<br />
Aber dachte er in diese Richtung, besann er sich meist auf sein Gefühl: Es konnte dort<br />
nicht doch nichts sein, wo es sich nicht danach, jedenfalls nicht nach nichts anfühlte. Schon<br />
das Gefühl von nichts war ja nicht nichts, oder der bloße Gedanke daran. Er wusste zwar<br />
natürlich nicht, wie sich Nichts anfühlte, genauso wenig, wie er die Unendlichkeit begreifen<br />
konnte, aber er ahnte, dass da mehr war, vielleicht nicht räumlich, materiell begriffen, aber<br />
mehr, als er sich mit seiner Sprache finden und erfinden konnte. Leider war ihm nicht<br />
möglich, aus nichts etwas zu machen; auch wenn er es für möglich hielt. Schließlich konnte<br />
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und wollte er nicht akzeptieren, dass über seine Wahrnehmung hinaus, die ja durch den Filter<br />
seines Körpers begrenzt schien, nichts war.<br />
Als Schriftsteller, für den er sich bezeiten zu halten pflegte, galt ihm die Gebundenheit der<br />
Sprache jedenfalls in gleichem, ja in noch konzentriertem Maße denn in seiner Gesamtheit als<br />
Mensch. Meistens machte es F nicht weiter etwas aus, seine Grenzen zu erkennen. Es verhielt<br />
sich bei ihm so, dass er vor Grenzen großen Respekt hatte. Einmal in einer Weise gesetzt, die<br />
ihm vermittelte, dass sie unüberwindbar waren, und er versuchte gar nicht mehr daran zu<br />
denken, wie er sie vielleicht doch aufheben konnte. Auch das machte F nichts weiter aus, weil<br />
er ohnehin nicht oft über seine Grenzen nachdachte. Denn auch bei Grenzen traf für ihn das<br />
Sprichwort zu: Aus den Augen, aus dem Sinn, darum verschwendete er eben nach<br />
Möglichkeit keine Gedanken an seine Grenzen, auch nicht an die Grenzen seiner Sprache und<br />
die Grenzen der Wahrnehmung. Heute würde ihm ohnehin das Repertoire ausreichen, das ihm<br />
seine Sprache lieferte, um zu gestalten.<br />
Mehr brauchte er ja nicht, um zu schreiben. Dies fertig gedacht, wollte er sich daran<br />
machen, sein Werk zu beginnen. Er hatte so viele Worte in sich, er streifte seine Ärmel<br />
zurück, griff nach seinem Füller, hielt ihn sich an den Mund, klopfte leise an seine Unterlippe,<br />
unregelmäßig, willkürlich, als wollte er Schnee aus einer fernen Gedankenwelt in sich zum<br />
Rieseln bringen, Einfälle, Worte, er hatte so viele Worte in sich, welches sollte er nehmen,<br />
wie sollte er beginnen? Er hatte doch so viele Worte in sich. Zu viele. Sie wollten sich nicht<br />
ordnen, zu viele Eindrücke, Gedanken und dazwischen eine Leere, die ihm nun aus der Stille<br />
des Raumes befiel, ließen es nicht zu, dass sie sich zu einem Text fügten. Er wollte die Leere<br />
verlieren, sie aus der Stille verbannen, damit ihn die Stille wieder tragen konnte. Also stand er<br />
auf, mit schneller abrupter Bewegung, öffnete die Tür zur Garderobe. Er schlüpfte in seine<br />
Schuhe, nahm Mantel und Hut – draußen begann der Herbst – und verließ seine Wohnung.<br />
Auf der Straße herrschte mäßiger Verkehr. Die Häuserreihen, manchmal unterbrochen<br />
durch vereinzelte Grundstücke mit kleinen Gärten, Bäumen und je einer Villa, zogen sich<br />
parallel zueinander der Straße entlang, wie in so vielen ehemaligen Vororten. <strong>Der</strong> Großteil der<br />
Gebäude waren zwei oder dreistöckige Mietzinshäuser aus unterschiedlichen Epochen, wie<br />
sie großzügig in den Jahrzehnten um die vorigen Jahrhundertwende entstanden waren:<br />
Jugendstil neben Bauhaus hauptsächlich, aus der Zeit, als die Stadt begann, den ehemaligen<br />
Vorort für sich in Besitz zu nehmen, den Vorort mit seinem gemächlichen Treiben, welches<br />
zur heutigen Zeit größere Spektakel im Zentrum erahnen ließ; schien sich bei aller<br />
Gemächlichkeit doch alles dorthin oder von dort her zu bewegen. <strong>Der</strong> Bürgersteig war durch<br />
wuchtige Granitsteine von der Straße abgehoben, vor den Häuserreihen waren lange, aber<br />
eher schmale Grünstreifen angelegt, sie wurden nur durch Querstraßen unterbrochen, die Fs<br />
Straße kreuzten. Darauf waren vor hundert Jahren Bäume zu einer Allee gepflanzt worden,<br />
die erst vor Kurzem von der Gartenabteilung der Stadt gefällt worden waren, von jener<br />
Gartenabteilung, die sie, sogar die Bäume überdauernd, auch gepflanzt hatte, damals. An ihre<br />
Stelle wurden neue Bäume gesetzt, Kastanien und Eichen, wie früher, nun waren sie wieder<br />
jung und mussten sich erst zu ihrer vollen Größe auswachsen. Die Eichen erlebten ihren<br />
ersten Herbst, noch neu in dieser Straße, und doch warfen sie schon ihr erstes Eichenlaub.<br />
Ebenso die Kastanien, sie ließen ihre morgensternbewehrten Früchte zu Boden sausen, ein<br />
dumpfes Ploppen, wie Pferdeäpfel, und als die stacheligen, grünen Hüllen verfärbt und<br />
verweichlicht aufquollen, gaben sie für einige Tage glänzende braune Perlen frei, bevor auch<br />
diese verschrumpelten sich wieder in sich zusammenzogen. Die Blätter beider Baumarten<br />
jedenfalls, noch vor wenigen Tagen in sattem, aber weicher werdendem Grün, hatten sich nun<br />
beinahe alle braun gefärbt, der Wind spülte schon an ihnen, manche riss er mit, den<br />
Verschonten ihr sicheres Schicksal vorspielend.<br />
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So war auch der Bürgersteig schon bedeckt, und Herr F, gedankenlos, wäre fast in Frau<br />
Ms aufragendes, kittelbewehrtes Hinterteil gestoßen, hätte diese nicht Fs Schatten – die Sonne<br />
senkte sich hinter den beiden dem Abend entgegen – sich ihr nähern gesehen. Im Reflex<br />
richtete sie sich auf, drehte sich rasch, und so bemerkte sie F. Jener wiederum konnte seinen<br />
Körper gerade noch so stoppen, dass sich seine Augen keine zwanzig Zentimeter von den<br />
ihren entfernt wieder fanden. <strong>Der</strong> erschreckte, abwehrende und schließlich vorwurfsvoll<br />
angriffslustige Ausdruck ihrer Augen riss ihn aus seinen Gedanken, die sich eben auf den<br />
Weg gemacht hatten, die Leere zu vergessen, und die richtigen Worte zu finden und zu<br />
ordnen. Ihre Blicke jedoch warfen Kübel ätzenden Wassers auf sein Gesicht. Sie wuschen ihm<br />
die Haut weg, die Knochen, und stellten ihn bloß. Wie ein offenes Buch für Frau M, das<br />
vermeinte er schon immer gewesen zu sein, deswegen hatte er großen Respekt vor Frau M<br />
Das, obwohl er eigentlich wusste, dass sie ihn doch in Wirklichkeit gar nicht richtig lesen<br />
könnte; kein Mensch konnte das doch bei einem anderen Menschen in dem Maße, wie er es<br />
ihr, warum, dem vermochte er nicht auf den Grund zu kommen, zutraute. Alle<br />
Menschenkenner waren doch auch nur auf ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse<br />
zurückgeworfen, das konnte man nicht einfach auf andere Menschen übertragen, so ganz ohne<br />
Filter, von außen in ein anderes Ich hinein. Das wusste er. Aber M kam aus einer Welt, die F<br />
nicht vollkommen beherrschte, weil er sie auch nicht vollends nachvollziehen konnte. Nicht<br />
so wie andere fühlte er sich unsicher und unwohl in ihrer Welt, jener Welt, die unter den Frau<br />
Ms und der großen Überzahl ähnlicher Menschen aufgeteilt war. Frau M hatte zu allem eine<br />
Meinung, regte sie sich auf, regte sie sich zurecht auf, tat man etwas anders als sie, war es<br />
nicht normal, und jene, die ihr fremd waren, vor denen hatte sie Angst.<br />
Herr F trat einen Schritt zurück: Weniges war ihm unangenehmer, als Frau M so nahe<br />
gegenüber zu stehen, wie es die Situation gerade mit sich gebracht hatte.<br />
„Jetzt haben Sie mich aber ganz schön erschreckt, Herr F“, sagte sie, keuchend vor<br />
Aufregung und von der Arbeit, die sie gerade noch ausgeführt hatte, einen kleinen Handbesen<br />
und eine Kerichtschaufel in ihren Händen haltend. Ein langer Besen lehnte zudem an einem<br />
der jungen Kastanienbäume, die – wenn man die Straße entlang in die Ferne blickte – einer<br />
nach dem anderen sich mit einer halbwüchsigen Eiche abwechselnd, kleinen Zündhölzern<br />
glichen, in Reih und Glied gerammt. <strong>Der</strong> Herbst ließ ihre Köpfe nun wirken wie ausgedörrte<br />
Fackeln, abgebrannt und langsam die Asche von sich werfend, vor die Füße der Menschen. M<br />
konnte die schmutzigen Blätter auf dem Bürgersteig nicht vertragen, nicht vor ihrem Haus, in<br />
dem sie jene Partei war, bei der es am ordentlichsten aussah. Diesen Zustand hielt sie in ihrer<br />
Wohnung, im Stiegenhaus und auch auf dem Bürgersteig vor dem Haus, weil alles seine<br />
Ordnung haben musste und weil sie der festen Überzeugung war, dass der Zustand von Hab<br />
und Gut eine Menge über deren Besitzer aussagen konnte.<br />
Frau M selber hatte irgendwann um die fünfzig aufgehört zu altern, ihre Resolutheit<br />
konservierte sie. So manchem wäre es nicht anders möglich gewesen, sie als wandelndes<br />
Klischee bezeichnen zu müssen. Jedoch war es die Zeit, die Klischees formt, dachte sich F,<br />
und Klischees entstanden dadurch, dass es eine Epoche, ein Zustand in der Gesellschaft<br />
begünstigte, Menschen mit ähnlichen Mustern in größerer Zahl hervorzubringen. Frau M<br />
mochte vielleicht genau in ein solches Muster passen. Auf jeden Fall war sie ein Original, wie<br />
jeder Mensch. Ihre Arbeitsschürze war durch ein blau, grün, rotes Blumenmuster, kleine,<br />
bunte Gänseblümchen vielleicht, geschmückt. Die Schleife, dort wo sie die<br />
Halterungsbändchen zusammenband, fixierte sie immer über ihrer rechten Hüfte. Sie fand es<br />
praktischer so, und auch schick, ein wenig eitel durfte man ja sein. Das Tuch um den Kopf<br />
fehlte ihr nicht, auch war es herbstfarben meist, grau, doch sie verzichtete auf die bei anderen<br />
häufig anzutreffende Masche über ihrer Stirn. Sie verzichtete darauf zugunsten eines Knotens<br />
in ihrem Nacken. Auch das fand sie praktischer, und auch schick. Ihr Haar färbte sie nicht, es<br />
war grau, ein schönes Grau, fast silbern, als hätte sie ein Stück Mond eingefangen, um auf<br />
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ihrem Kopf dauerhaft zu lumineszieren. Das Gesicht verlief hinter den Falten immer noch<br />
ebenmäßig, straff, fast kantig, die Falten verrieten ein bewegtes Leben, aber nicht, welche<br />
Emotion im Leben bisher die Vorherrschende gewesen war. Da gab es Lachfalten, verbissene<br />
Einschnitte unter den Mundwinkeln, das vorgeschobene Kinn, zwei dicke Kerben in der Stirn<br />
zwischen den Brauen, und auch einige undefinierbare Einbuchtungen und Furchen, welche<br />
sich scheinbar wahllos auf ihrem Antlitz eingenistet hatten. Ihre Statur glich jener einer Venus<br />
in ihrer barocken Ausformung, die Waden waren auch im Herbst nackt hinter<br />
Nylonstrümpfen, mehr und mehr Gewebe schien sich in sie zu senken, zwei massive Sockeln,<br />
die dem Oval ihres Köpers verlässlichen Halt boten. Viel mehr war von Frau M nicht zu<br />
erkennen. Ihre Arbeitsschürze war weit und lang und gewährte nicht mehr Einblick in die<br />
Frau, die Klischee und Original in einem war. Natürlich achtete Frau M darauf, dass alles<br />
ordentlich saß, auch wenn sie nun, mit dem Reinigen und Ordnen beschäftigt, nicht<br />
verhindern konnte, dass ihre Kleidung auch mit Schmutz in Berührung kam. Das machte M<br />
nichts aus, sie hatte gelernt, zu schuften, hatte viel erlebt, und die Kleidung war ja zum<br />
Arbeiten da. Es war ja ihre Arbeitskleidung.<br />
F hatte mittlerweile das Repertoire aktiviert, das er sich in jahrelanger<br />
Konversationserfahrung, nicht zuletzt mit Frau M, aufgebaut hatte.<br />
„Entschuldigen Sie bitte, liebe Frau M“, erwiderte F, der seine Routine für solche<br />
Begegnungen wieder gefunden hatte, „ich war in Gedanken versunken. Bisher wollte mir<br />
einfach nichts Gelingen.“<br />
„Bringt Ihnen das Schreiben denn nun endlich etwas ein? Sie werden in letzter Zeit immer<br />
magerer. Wissen Sie, ich war gestern beim Fleischhauer, und da habe ich zufällig<br />
aufgeschnappt, wie er seine Frau überzeugen wollte, doch einen Gehilfen anzustellen. Mein<br />
Gott, ich versteh’s ja, die sind beide nicht mehr die jüngsten, aber das Geschäft geht in letzter<br />
Zeit wieder besser. Komisch eigentlich. Das Haus hat er renoviert, und haben Sie sein Auto<br />
schon einmal gesehen?“<br />
M hatte nicht vor, Fs Antwort abzuwarten. F machte auch keinerlei Anstalten, ihr etwas<br />
entgegnen zu wollen, das Konversationsverhalten war ganz klar geregelt, schon nach den<br />
ersten Gesprächen, die nun schon einige Jahre zurücklagen, als F seine kleine<br />
Junggesellenwohnung bezogen hatte.<br />
„Ich glaube ja, das ist ein Ferrari. Irgendetwas Italienisches eben. Mein Mann meinte, das<br />
ist ein Alfaromeo. <strong>Der</strong> ist wahrscheinlich noch teurer. Also, wo der das ganze Geld herhat, ich<br />
weiß nicht, ob das Geschäft das alles abwirft. Aber egal, ich hab das Gespräch mitgehört, und<br />
da dachte ich gleich an Sie, Herr F Seine Frau ist ja in meiner Kartenrunde, Sie wissen ja,<br />
immer am Sonntag. Ich mein, ich habe Sie ja auch dazu eingeladen, und Sie wissen ja,<br />
normalerweise dürfen nur Frauen dabei sein.“ M bemühte sich um Vieldeutigkeit. Ein<br />
glucksendes Geräusch wollte sich dabei aus ihrem Zwerchfell den Weg zum lachenden<br />
Gegacker freikämpfen. Es blieb jedoch irgendwo auf dem Weg stecken.<br />
F blickte verlegen zu Boden. Er hatte es zur Meisterschaft darin gebracht, sich auf Jahre<br />
hinaus immer mit einer neuen Ausrede, so gelungen gewoben, dass es nicht ablehnend wirken<br />
konnte und Frau M immer noch der Meinung blieb, er würde grundsätzlich jederzeit<br />
begeistert teilnehmen wollen, es wäre ihm eine Ehre und es wäre ein unglaubliches Unglück,<br />
dass es ihm die Fügung bisher immer auf so unpassende und überraschende Weise unmöglich<br />
gemacht hatte, ihrer freundlichen Einladung Folge zu leisten. Diesmal jedoch fühlte er sich<br />
bei aller Routine nicht dazu in der Lage, gerade aus seinen Gedanken herausgeschleudert, eine<br />
angemessene Geschichte zu erfinden, mit der er sich auch diesmal glatt, aber galant aus der<br />
Verpflichtung winden konnte. Zu seiner großen Erleichterung war Frau M von der Idee, dem<br />
armen Schriftsteller, den sie für etwas unbeholfen hielt, was seine Lebensführung betraf,<br />
endlich zu einem ordentlichen Brotberuf zu verhelfen, so angetan, dass sie die Einladung<br />
diesmal gar nicht aufs Neue aussprach. So blieb, und F ordnete dies, innerlich lächelnd in<br />
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einer fast sarkastischen Erleichterung, einer Fügung zu, die M überraschend von einer<br />
Auffrischung ihrer Einladung abhielt.<br />
„Na, jedenfalls werde ich mit ihr reden, sie wird ihrem Mann schon beigeben, dann. Ist ja<br />
auch besser, die beiden arbeiten sich ja noch kaputt, sind ja nicht mehr die jüngsten. Und auch<br />
Sie hätten etwas davon, was meinen Sie?“<br />
<strong>Der</strong> Wasserfall ihrer Rede stoppte jäh in der Luft, als würden die Worte, aus denen er<br />
gesponnen war, sich F nochmals eindringlich präsentieren wollen. Die Worte spiegelten sich<br />
wider in Ms erwartungsvoller Haltung, die Beine senkrecht auf die Erde, den Rumpf aus der<br />
Hüfte nach vorne gebeugt, das Kinn ebenso F entgegengereckt, grinste sie ihn stolz forschend<br />
an, in den Augen die Vorfreude auf den gebührenden Dank und gerechten Beifall, den Sie<br />
sich erwartete, ja von dem sie sich sogar zu ernähren schien.<br />
F jedoch tat nichts dergleichen. Kein überschwänglicher Beifall folgte. Er kratze sich am<br />
Hinterkopf, sein kurzes Haar knisterte, der Hut verschob sich leicht, verdeckte kurz sein<br />
Blickfeld, ein angenehmer Augenblick, aber er durfte darin nicht verweilen, er befand sich ja<br />
im Gespräch mit Frau M, die breitbeinig seine Antwort in sich hinunterschlingen wollte. So<br />
schob er mit einer schnellen Handbewegung den Hut wieder zurecht und wies ihr Angebot<br />
freundlich zurück.<br />
„Vielen Dank für Ihre Mühen, liebe Frau M, aber ich denke, es wird nicht notwendig sein,<br />
dass sie sich bei der Fleischersfrau bemühen.“ Frau M wollte etwas einwenden, doch F sprach<br />
höflich, aber energisch weiter: „Wenn ich einer geregelten Arbeit nachgehen muss, dann kann<br />
ich nicht schreiben. Nicht so, wie es das erfordert, was ich schaffen möchte. Aber meine<br />
aufrichtige Anerkennung für Ihre Mühen.“<br />
„Ach, so ist das“, Frau M nickte mit dem Kopf, langsam, in bedeutungsvoller Zeitlupe, die<br />
in ihrer Enttäuschung jene majestätische Erhabenheit unterstreichen sollte, die sie dem Grad<br />
ihrer aufrichtigen, natürlich zu jedermanns Besten und gut gemeinten Mühen für angemessen<br />
befand. Schnell jedoch schlug ihre Haltung wieder um, sie mochte Erfahrung haben mit Fs<br />
subtilen Zurückweisungen, vielleicht durchschaute sie ihn sogar doch, oder sie veranstaltete<br />
ihre Anstrengungen um Fs Status aus einem mütterlichen Gefühl heraus. F wischte diese<br />
Ahnung von sich, als er sich erneut am Kopf kraulte. Wieder rückte er seinen Hut zurecht,<br />
Frau M sprach weiter: „Nun, Sie werden schon wissen, was Sie tun, Herr F Na hoffentlich<br />
geht Ihnen beim Schreiben bald der Knopf auf. Ich wünsch es Ihnen, aber ich kann nur immer<br />
wieder sagen: Was Lustiges sollten’S schreiben. Was zum Lachen, das mögen die Leute.<br />
Schauen Sie sich nur um: Das Leben ist hart genug, da wollen die Leute doch ihre traurigen<br />
Gedichte nicht. Von Gedichten kann man doch sowie nicht leben. Reimen sich Ihre Gedichte<br />
wenigstens inzwischen?“ Frau M schüttelte dabei den Kopf.<br />
„Frau M, ich weiß schon, was Sie denken. Sie sollten doch etwas mehr Vertrauen zu mir<br />
haben. Außerdem schreibe ich fast keine Gedichte mehr, nicht hauptsächlich. Ich schreibe<br />
Kurzgeschichten, und wissen Sie was, irgendwann werde ich diese Episoden zu einem Roman<br />
verbinden. Damit ich besser arbeiten kann, werde ich mir sogar einen Laptop kaufen.“<br />
„Ein Roman, ja, das klingt schon besser,“ – Frau M wandte ihren Hausverstand mit der<br />
gleichen Selbstverständlichkeit auch auf den Kunstbereich an, so wie auf alle anderen Dinge,<br />
in denen sie leidlich, verknappt, aber überzeugt Bescheid zu wissen glaubte – „schreiben Sie<br />
schnell einen. Am besten über eine unglücklich verliebte Frau. Eine arme Frau, die einen<br />
stattlichen Offizier liebt, einen adeligen, und der Offizier kann sie deshalb auch nicht heiraten.<br />
Seine Standesehre verbietet es ihm. Und das Tragische: Außerdem muss er die Tochter eines<br />
reichen Fabrikbesitzers heiraten, weil seine verarmte Familie vor dem Ruin steht.<br />
Romantisch, oder? So was könnten Sie schreiben, das mögen die Leute. Ich habe grad<br />
unlängst so eine Geschichte gelesen, in meiner Zeitschrift, eine Fortsetzungsgeschichte. Fünf<br />
mal zwei Doppelseiten. Morgen kommt der letzte Teil. Ich bin schon so gespannt. Wissen Sie,<br />
dann ist mir das Stiegenhaus und der Bürgersteig egal, die Leute machen eh, was sie wollen.<br />
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<strong>Der</strong> <strong>Dichter</strong>.<br />
Johannes Werschitz (www.<strong>johannes</strong><strong>werschitz</strong>.com)<br />
Unter uns gesagt: Sie können sich gar nicht vorstellen, was für Schweine die Leute sind. <strong>Der</strong><br />
junge angehende Herr Anwalt aus dem ersten Stock, der hat sogar ins Blumenbeet gepinkelt.<br />
Gestern Nacht. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen, weil… ich hatte zufällig gerade am<br />
Fenster zu tun. Ich habe gedacht, ich seh’ nicht richtig. Am liebsten hätte ich das Amt<br />
verständigt, gleich heute Früh, aber was kann ich schon machen, gegen so einen Herrn<br />
Advokaten. So einer kann sich alles erlauben, so ein Herr Advokat. Ich glaub, er studiert das<br />
erst, ist noch nicht mal einer. Hält sich für was Besseres und pinkelt in den Garten. Schämen<br />
soll er sich.“<br />
Frau M hatte mit dem Verlauf Ihrer Rede ihren Kopf näher an Fs heran geneigt, und sie<br />
dämpfte ihre Stimme, flüsterte beinahe, und sie hatte dabei in heiligem Ernst gesprochen.<br />
Dann beugte sie sich wieder zurück, durch ihr Gesicht ging ein Ruck, und sie fragte: „Wo war<br />
ich eigentlich stehen geblieben?“<br />
„Sie sprachen, glaube ich, von Ihrer Zeitschrift“, entgegnete F, im selben Moment<br />
erkennend, dass er damit das Gespräch verlängert hatte, zumindest verlängert um den<br />
M’schen Monolog, dem er mit seiner Erinnerung soeben den roten Teppich ausgebreitet hatte.<br />
„Achja, Zeitschrift.“ Sofort fand sie wieder zur Sache: „Ja, so was sollten Sie schreiben.<br />
Ich würd’s kaufen, und glauben’S mir, nicht nur ich. Auch alle aus meiner Kartenrunde. Das<br />
ist so schön, da denke ich immer an früher, wo alles noch einfach war. Ich mein, es hat schon<br />
immer Verwicklungen gegeben um – Sie wissen schon – die Liebe. Aber irgendwie hat sich<br />
alles immer gelöst. Viel einfacher war alles. Ja, aber ein gutes Ende sollte es natürlich schon<br />
haben. Dass sie doch zusammen kommen, mein ich. Und am Schluss eine Hochzeit. Das<br />
gehört sich so. Das ist auch gut für die Kinder, weil für die ist es ja fast schon ein Normalfall,<br />
dass sich die Eltern scheiden lassen, oder dass sie gar nicht einmal heiraten. Wo kommen wir<br />
da hin? Dann sehen sie, dass es auch anders geht. Nix für ungut. Ich mach mir schon so meine<br />
Gedanken, Herr F, ganz blöd bin ich auch nicht, Herr Schriftsteller.“ Herr Schriftsteller, das<br />
klang wie vorhin der „junge, angehende Herr Advokat“. Herr Schriftsteller, dieser stumme,<br />
forsche wie forschende Vorwurf. Ein Mensche, der sein Leben lebt und ändert, als stünde es<br />
ihm offen, das zu tun. Als könne man tun, was man wolle, wenn man die Frechheit dazu hat.<br />
F gab sich ja alle Mühe, sich als Teil jener Masse zu fühlen, die in der Gleichförmigkeit ihr<br />
Heil zu bewahren glaubte. Er wollte sich nicht nur so geben, er wollte es werden, auch wenn<br />
es ihm bisher nie so richtig gelungen war. So wusste er nie, ob er authentisch genug war, oder<br />
ob Frau M ihn nicht im Geheimen für arrogant hielt, weil sie glaubte, er nähme sich für etwas<br />
Besseres aus. Und dabei hatte er, nicht dass er wüsste, jemals in den Garten gepinkelt.<br />
„Herr Schriftsteller, hallo?“ F schreckte hoch, er hatte sich eine Unkonzentriertheit<br />
erlaubt. „Hören Sie mir überhaupt zu?“<br />
„Jaja, selbstverständlich“, gab er reflexartig von sich, so, wie man ein Objekt, das man im<br />
letzten Moment auf sich zurasen sieht, noch blitzschnell abzuwehren versucht. Er gewann<br />
seine Fassung zurück, eine wegwischende Handbewegung: „Bitte, reden Sie weiter…“<br />
„Nur, wenn Sie’s interessiert. Ich weiß schon, wie der Hase läuft. Dass Sie mir nur ja<br />
heiraten. Da habe ich doch letztens ein junges Fräulein bei Ihnen klingeln sehen. Sie waren<br />
nicht da, jedenfalls ging das Fräulein wieder, weil niemand die Tür aufgemacht hat. Hübsch<br />
war Sie, sauberes Kleid, nicht zu kurz auch, darauf müssen Sie achten, nicht dass Sie einem<br />
dieser Flittchen auf den Leim gehen. Das könnten Sie gerade noch brauchen, in Ihrer<br />
Situation. Und die Frisur, sehr ordentlich. Darf man da gratulieren? Wollen Sie sich etwa gar<br />
verloben?“<br />
„Ich bin überrascht. Ich wüsste nicht, was ein Fräulein vor meiner Tür zu suchen hätte.<br />
Also, da muss ich Sie enttäuschen, aber ich kann eines garantieren: Wenn es einmal soweit<br />
kommen sollte, werden Sie es bestimmt als Erste wissen.“<br />
Da Frau Ms Hoffnungen nach einer derart brisanten Neuigkeit nicht bedient wurden,<br />
schaltete sie einfach weiter auf das Nächste, das sie unbedingt in Erfahrung bringen wollte.<br />
Sie war mit einer angeborenen Neugier gesegnet, in einem Übermaß, wie sie nur ganz<br />
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<strong>Der</strong> <strong>Dichter</strong>.<br />
Johannes Werschitz (www.<strong>johannes</strong><strong>werschitz</strong>.com)<br />
wenigen Menschen zuteil wurde. So begann Sie erneut, vielleicht mit der Absicht, einer<br />
Schimpftirade auf alles Politische die Bühne zu ebnen: „Was sagen Sie eigentlich zur Wahl?“<br />
„Ach, als Künstler musste man bisher noch mit jeder Wahl unzufrieden sein.“<br />
„Sag ich ja. Also, manchmal glaube ich, die Welt ist auch nicht mehr das, was sie einmal<br />
war.“<br />
Herr F nützte, dem Impuls einer günstigen Ahnung folgend, die Gelegenheit, sich zu<br />
verabschieden, und bediente sich dabei einer jener Floskeln, die fast immer Gültigkeit hatten<br />
und deshalb auch immer anwendbar waren. In der Regel wurde der Gebrauch so einer allzeit<br />
und überall gültigen Stehphrase mit anerkennendem Kopfnicken quittiert. Man bewies, sich in<br />
jenem Kanon der belanglosen Konversation auszukennen, jener hohe Kanon, der einer<br />
festgezurrten Konvention unterworfen war, welche unter anderem auch verbot, die<br />
Tiefgründigkeit solcher Floskeln zu hinterfragen. Denn, täte man das, würden diese Floskeln<br />
unbrauchbar werden, und das Repertoire an Worthülsen, die man in jeder Situation, wenn<br />
notwenig, verwenden konnte, würde verschwindend klein werden. Dessen wollte sich die<br />
Gesellschaft nicht berauben. Zu oft gab es Situationen, wo das unverzichtbare Gespräch nur<br />
mit Floskeln auf kalter, kleiner Flamme am Köcheln gehalten werden konnte. Und die<br />
Flamme musste köcheln, kalt, ohne Feuer, sonst würde ja gar Stille herrschen. Und damit<br />
konnte niemand umgehen, der in Gesellschaft war. Deshalb waren diese Redewendungen von<br />
solcher Bedeutung im Kommunikationswesen. So einer Floskel bediente sich F nun also, auch<br />
wenn er einer jener Menschen war, der Ihnen mit größtmöglichem Geschick immer noch<br />
jedes Mal so etwas wie Originalität, Ursprünglichkeit und Selbstverständlichkeit abringen<br />
wollte:<br />
„Es wird schon werden, Frau M,“ versuchte sich F im Beschwichtigen, „es wird nichts so<br />
heiß gegessen wie gekocht. – Ah, aber ich muss mich jetzt verabschieden, es wird ja bald<br />
finster und ich möchte noch spazieren gehen. Sie wissen ja, dabei hole ich mir meine<br />
Eingebungen. Im Dunkeln kann ich die Dinge nicht mehr so gut erkennen, wie soll ich dann<br />
darüber schreiben, wenn ich sie nicht sehe? Wenn man nicht sieht, kann man nicht schreiben.“<br />
Das erkannte Frau M freilich an, es leuchtete ihr ein, es war mit ihrem Hausverstand<br />
kompatibel. Für F freilich war es ein Vorwand. Tatsächlich liebte er das Dunkle, und er<br />
konnte sehr gut gerade über etwas schreiben, das er sich vorstellen musste, weil er es nicht<br />
sah.<br />
„Ja, Herr F, da haben’S Recht. Was man nicht sieht, darüber kann man nicht schreiben.<br />
Das steht heute sogar in der Zeitung, oder so ähnlich, bei „Heute Wichtig“. Da stehen immer<br />
so gescheite Sätze. Was man nicht sieht, darüber kann man nicht schreiben. Oder so. Wie Sie<br />
halt auch gesagt haben… Na, dann schauen’S schon, dass Sie weiterkommen.“ Frau M sagte<br />
dies mit jovialer Gefälligkeit. F, hiermit offiziell aus ihren Klauen entlassen, nickte freundlich<br />
zum Gruß, lächelte verbindlich und setzte sich gleichzeitig in Bewegung, an Frau M vorbei<br />
die Alleenstraße weiter entlang, in der Richtung, in der die Straße tief in die Stadt hineinstieß.<br />
„Die <strong>Dichter</strong>…“, hörte er Frau M noch murmeln. Er konnte ihr Kopfschütteln förmlich<br />
fühlen, es schien hinter ihm her zu fliegen, ihn zu umkreisen und zu verfolgen wie eine Wolke<br />
jovialen, aber nichts desto weniger hochberechtigten Unverständnisses. Dann begann Frau M<br />
sich wieder ihrer Tätigkeit zuzuwenden. Sie schien nun nach dem langen Besen gegriffen zu<br />
haben, denn F hörte, wie etwas über den Bürgersteig schrubbte. Es waren energische<br />
Schwünge, aber dennoch monoton gleichförmig abfolgend, immer im selben Moment lauter<br />
und höher werdend, bis sich der Klang schließlich in dem Augenblick, als die Borsten die<br />
Reibung mit dem Boden verloren, mit dem Besenschaft sirrend in die Luft erhob, dort, einen<br />
sanften Kreis mit ihm ziehend verebbte, um sich beim nächsten Kontakt mit dem Boden<br />
wieder zu sammeln und erneut aufzubrausen. Wie das Meer, dachte F, so monoton und<br />
beruhigend wie das Meer. Er kannte dieses Geräusch und die Bewegung dazu im Schlaf, hatte<br />
er doch das Fenster seines Schreibzimmers meist geöffnet, es lag mit Blickrichtung auf den<br />
Bürgersteig. Wie das Meer, wenn es gegen Felsen kracht, manchmal, als schmiegte es sich an<br />
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Johannes Werschitz (www.<strong>johannes</strong><strong>werschitz</strong>.com)<br />
einen blütenweißen, feucht gesogenen Sandstrand, so klang es in F auf, und er vermutete, dass<br />
Frau M in diesem Takt ihre Ruhe fand.<br />
Er ordnete seine Schritte in den Rhythmus ihres Kehrens ein, passte sie ihm an, bis das<br />
leise Schaben des Besens auf dem Bürgersteig in der Ferne versunken war, als könnte sich<br />
auch Schall im Nebel zurückziehen, verstecken, und in einen tiefen, langen, sorgenfreien<br />
Schlaf fallen.<br />
F fand allmählich zu seinen eigenen Takt wieder, und machte sich auf den Weg, die Welt<br />
anzuschauen und die in ihm umherschwirrenden Worte dabei zu einem Text zu formen. In<br />
seinem Schreibzimmer hatte ihn die Leere zu sehr ausgefüllt, deshalb war er ja eigentlich ins<br />
Freie gegangen, die Worte hatten die Leere umkreist, konnten sich aber nicht setzen in der<br />
Beengtheit des Raumes. Manchmal funktionierte das schon, doch heute, wieder einmal, nicht.<br />
Die Eindrücke eines Spaziergangs, so hoffte F, sollten den Worten genug Halt bieten, sich um<br />
das eine oder andere zu gruppieren, was ihm noch in der Welt, die er mit Körper und Geist<br />
durchstreifen würde, begegnen würde. Er wählte dazu, halb instinktiv, vielleicht auch, weil er<br />
es M gegenüber erwähnt hatte, den Weg in die Stadt, vielleicht kam er bei einem Geschäft<br />
vorbei, in der er bei dieser Gelegenheit gleich seinen lang gehegten Vorsatz in die Tat<br />
umzusetzen gedachte. Er wollte sich endlich einen Laptop kaufen, endlich, nachdem ihm<br />
zuvor stets seine Bequemlichkeit und die Unlust auf die dafür erforderliche<br />
Verkaufskommunikation davon abgehalten hatten, wie bleierne Säcke, die seinen Willen<br />
schwer machten und machtlos, dem Körper diesen Unannehmlichkeiten auszusetzen. Diesmal<br />
aber nahm er es sich fest vor. Er machte es zu einem fixen Ziel seines Spazierganges. Einmal<br />
erledigt, würde das Schreiben beginnen.<br />
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