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HENRI BERGSON: ARBEIT AM BILD

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Markus Wild / Stephan Schmid (Basel):<br />

Henri Bergsons Arbeit am Bild: »une image qui est presque matière en<br />

ce qu’elle laisse encore voir, et presque esprit en ce qu’elle ne se laisse<br />

plus toucher«<br />

Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand<br />

innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen<br />

Theorie wird. (Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr.<br />

509)<br />

»Es ist an der Zeit, Bergson wieder zu lesen.« 1 Eine Reihe neuerer Publikationen gibt der<br />

Aufforderung Recht. 2 Wir schliessen uns an. Allerdings, so warnt ein Kommentator, müsse<br />

man die Frage stellen, welches Bild Henri Bergsons zur Debatte stehe. 3 In diesem Beitrag<br />

steht jedoch zunächst weniger ein bestimmtes Bild Bergsons zur Debatte, als vielmehr das<br />

Bild bei Bergson; und zwar sein Gebrauch von Bildern, seine Arbeit am Bild. Auch hier<br />

müssen wir einschränken: Es geht uns weniger um den von Bergson – vor allem in Materie<br />

und Gedächtnis – entwickelten epistemischen Bildbegriff, der späterhin oft diskutiert und<br />

variiert worden ist: als Zeit-, Bewegungs-, Wahrnehmungs- oder Gedächtnis-Bild. Vielmehr<br />

geht es um Bergsons, wie wir es nennen wollen, intuitiven Bildbegriff. An der spezifisch<br />

philosophischen Intuition gewinnt Bergson primär seine Bilder. Die Arbeit an und mit diesen<br />

Bildern erweitert den intuitiven Bildbegriff zum argumentativen und methodischen. 4<br />

Es ist an der Zeit, Bergson wieder zu lesen. Weshalb wieder? Bergson gehörte zu den<br />

einflussreichsten Philosophen des vergangenen Jahrhunderts. Die öffentliche<br />

1 M. Vrhunc: Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München: Wilhelm Fink, 2002, 11.<br />

2 K. Ansell Pearson: Philosophy and the Adventure of the Virtual. Bergson and the Time of Life, London / New<br />

York: Routledge, 2002; M. Vrhunc (op. cit.); J. Mullarkey (ed.): The New Bergson, Manchester University Press,<br />

1999; F. Cossutta (éd.): Lire Bergson: ‚Le possible et le réel‘, Paris: PUF, 1998; F. C. T. Moore: Bergson.<br />

Thinking Backwards, Cambridge University Press, 1996; F. Burwick & P. Douglas (eds.): The Crisis in<br />

Modernism: Bergson and the Vitalist Controversy, Cambridge University Press, 1992; H. Hude: Bergson (I &<br />

II), Paris: édition universitaire, 1989; A. R. Lacey: Bergson, London / New York: Routledge, 1989; A. C.<br />

Papanicolaou & P. A. Y. Gunter (eds.): Bergson and Modern Thought. Towards a Unified Science, Chur:<br />

Harwood Academic Publishers, 1987; L. Kolakowski: Henri Bergson. Ein Dichterphilosoph, München: Piper,<br />

1985. Ein kreatives Interesse an Bergson durchzieht das Werk von G. Deleuze, vgl. insbesondere G. Deleuze:<br />

Bergson zur Einführung, Hamburg: Junius, 1989; G. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt a. M:<br />

Suhrkamp, 1989; Das Zeit-Bild, Kino 2, Frankfurt a. M: Suhrkamp, 1991. Es ist bedauerlich, dass M. Vrhunc in<br />

ihrer lesenswerten Studie die angelsächsische Forschung wenig berücksichtigt.<br />

3 »[W]e must always ask which image of Bergson is under consideration«, S. Schwartz: »Bergson and the<br />

Politics of Vitalism«, in: F. Burwick & P. Douglas (op. cit.) 303.<br />

4 Wir zitieren Bergson in deutscher Übersetzung mit Sigeln nach folgenden Ausgaben: ZF = Zeit und Freiheit,<br />

Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1994 (Essai sur les données immédiates de la conscience). MG =<br />

Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg: Felix<br />

Meiner, 1991 (Matière et mémoire). L = Das Lachen, Jena: E. Diederichs, 1921 (Le rire). SE = Schöpferische<br />

Entwicklung, Jena: E. Diederichs, 1912 (L’évolution créatrice). DSW = Denken und schöpferisches Werden:<br />

Aufsätze und Vorträge, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1993 (La pensée et le mouvement). Für den<br />

französischen Text verweisen wir nach dem Sigel und der Seitenangabe der genannten deutschen Ausgaben auf<br />

die Oeuvres (textes annotés par A. Robinet; introd. par H. Gouhier), Paris: PUF, 1970.<br />

1


Aufmerksamkeit, die er auf sich zog, sucht seines gleichen. Einige Schlaglichter mögen dies<br />

veranschaulichen: Seine Gastvorlesung an der Columbia University 1913 soll den ersten<br />

Verkehrsstau in New York verursacht haben; 5 John Dewey stellte 1919 einer chinesischen<br />

Studentenschaft Bergson – nebst William James und Bertrand Russell – als einer der<br />

wichtigsten zeitgenössischen Philosophen vor; 6 Heinrich Rickert sah 1920 in Bergson den<br />

einschlägigen Stichwortgeber der modischen ›Lebensphilosophie‹; 7 1927 wurde Bergson der<br />

Nobelpreis für Literatur verliehen; für den Logischen Positivismus wurde Bergson zum<br />

Inbegriff jener unwissenschaftlichen, intuitionistischen und irrationalen Metaphysik, die es<br />

durch logische Analyse der Sprache zu überwinden galt. 8 Der englische Philosoph Thomas<br />

Ernest Hulme brachte den Einfluss Bergsons mit einem Vergleich zum Ausdruck: »If I<br />

compare my nightmare to imprisonment in a cell, then the door of that cell was for the first<br />

time thrown open.« 9 Hulmes Alptraum bezieht sich auf die intellektuelle Situation um 1910.<br />

Spätestens nach 1945 aber schwindet die Anerkennung Bergsons rapide. 10 Charles Péguy<br />

äusserte schon früher die Ansicht, die Menschen hätten es Bergson nicht verziehen, dass er sie<br />

befreit habe. 11 Hulme und Péguy fassen die Popularität und das Verklingen des Bergsonismus<br />

in ein Bild. Sie bezeichnen damit zugleich einen der vielen Faktoren der euphorisierenden<br />

Wirkung Bergsons und der teilweise heftigen Kritik an ihm: sein Gebrauch von Vergleichen<br />

und Bildern. Bergson ist – unter anderem – seinem systematischen und methodischen<br />

Gebrauch von Bildern und der philosophischen Bilderjagd des 20. Jahrhunderts zum Opfer<br />

gefallen. Einer der hartnäckigsten Kritiker Bergsons, Bertrand Russell, meinte feststellen zu<br />

können, dass sich in Bergsons Werken mehr Vergleiche finden würden als bei allen ihm<br />

bekannten Dichtern und – so suggeriert Russell maliziös – die Vergleiche seien<br />

unvergleichlich viel schlechter. 12 Russell wiederholte damit einen Topos, der sich sowohl bei<br />

Kritikern als auch bei vorsichtigeren Verehrern Bergsons durchgesetzt hatte: In Bergsons<br />

Werken finden sich Bilder anstelle von Argumenten und Vergleiche, welche den Job<br />

5 Zum Einfluss Bergsons in den USA vgl. T. Quirk: Bergson and American Culture. The Worlds of Willa<br />

Carther and Wallace Stevens, North Carolina University Press, 1990.<br />

6 Vgl. J. Dewey: The Middle Works, vol. 12, Carbondale / Edwardsville: Southern Illinois University Press &<br />

London / Amsterdam: Feffer & Simons, 1982, 221-235.<br />

7 H. Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik einer philosophischen Modeströmung unserer<br />

Zeit, Tübingen, 1920, 20.<br />

8 Vgl. M. Schlick: Allgemeine Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, 101-115 (1925); R. Carnap:<br />

Der logische Aufbau der Welt, Hamburg: Meiner, 1961, 258-9 (1928); R. von Mises: Kleines Lehrbuch des<br />

Positivismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, 123-8 (1939).<br />

9 T. E. Hulme: »Notes on Bergson«; zitiert nach T. Quirk (op. cit.) 82.<br />

10 Zur Kritik an Bergson in der französischen Philosophie der 30’er-Jahre vgl. J. Hyppolite: Figures de la pensée<br />

philosophiques (Bd. 1), Paris: PUF, 1971, 443-498 und G. Gutting: French Philosophy in the Twentieth Century,<br />

Cambridge: Cambridge University Press, 2001, Kap. 4.<br />

11 Vgl. Kolakowski (op. cit.) 12-13.<br />

12 B. Russell: History of Western Philosophy, London: Routledge, 1996, 761 & 764.<br />

2


diskursiver Erörterungen übernehmen. 13 Noch 1977 greift ein Kommentator diesen Topos auf,<br />

um ihn zurückzuweisen:<br />

Car l’image, il [Bergson] l’a maintes fois répété et s’est longuement expliqué là-dessus<br />

dans l’Introduction à la métaphysique et L‘intuition philosophique, lui paraissait mieux<br />

correspondre à un certain aspect des choses et de la pensée que le concept abstrait. Mais il<br />

n’a jamais fait de l’image une preuve et n’a jamais entendu la donner pour une<br />

démonstration. 14<br />

Doch angemessener ist es zu sagen, dass es in einem gewissen Sinne richtig ist zu behaupten,<br />

Bergson setze Bilder an die Stelle von Argumenten oder Definitionen. Das ist unsere These,<br />

die wir im folgenden darlegen möchten.<br />

In einem ersten Abschnitt (Bilderjagd) werden wir auf einige Verwendungen von ‚Bild‘<br />

hinweisen und insbesondere skizzieren, was wir als ›philosophische Bilderjagd‹ im 20. Jh.<br />

bezeichnen. Im Abschnitt II (Die falschen Bilder der Metaphysik: Übertragung vom Raum auf<br />

die Zeit) wenden wir uns Bergsons Kritik falscher oder irreführender Bilder in der<br />

philosophischen Tradition zu und zeigen, inwiefern sich Bergson an der philosophischen<br />

Bilderjagd beteiligt. Abschnitt III (Das intuitive Bild: Produktion und Vermittlung) entwickelt<br />

Bergsons konkrete Arbeit am Bild – im Sinne des intuitiven Bildbegriffs – in mikroskopischer<br />

Perspektive vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung zwischen Intuition und Analyse. Im<br />

Abschnitt IV (Das argumentative Bild: Metaphysik und Recoupage) erörtern wir genauer<br />

unsere These, dass es in gewissem Sinne richtig ist, dass Bergson Bilder an die Stelle von<br />

Argumenten setze. Der Abschnitt V (Das methodische Bild: Familienähnlichkeiten am<br />

Beispiel von Das Lachen) zeigt Bergsons Arbeit am Bild – im Sinne des methodischen<br />

Bildbegriffs – in makroskopischer Perspektive am Beispiel des kleineren Werks Das Lachen<br />

und stellt einige Beziehungen zum späten Wittgenstein her. Schliesslich weisen wir im letzten<br />

Abschnitt darauf hin, dass unsere Darstellung von Bergsons Arbeit am Bild Anlass zu einem<br />

revidierten Bild Bergsons gibt (Schluss: Bergsons Bilder und das Bild Bergsons).<br />

13 W. Durants populäres Buch Grosse Denker von 1926 fasst den Topos wie folgt zusammen: »Wenn Bergson<br />

gelegentlich unverständlich bleibt, so liegt das am verschwenderischen Reichtum seiner Bilder, seiner Analogien<br />

und Beispiele; er besitzt eine fast semitische Leidenschaft für Metaphern und bringt es gelegentlich fertig,<br />

geniale Vergleiche an Stelle von Beweisen zu setzen. Man muss sich vor diesem Bilderfabrikanten in acht<br />

nehmen...«, W. Durant: Grosse Denker, Zürich, 1930, 441-2.<br />

14 J. Theau: La philosophie française dans la première moitié du XXe siècle, Ottawa: éditions de l'université,<br />

1977, 94-5.<br />

3


I. Bilderjagd<br />

Der Ausdruck ›Bild‹ kennt zahlreiche Verwendungen. 15 Wir bezeichnen damit Artefakte (z.B.<br />

Gemälde), natürliche Abbilder (z.B. Schatten), mentale Repräsentationen (z.B. Erinnerungen),<br />

das Abhängigkeitsverhältnis zum Original (z.B. ›das ist ein Abbild von X‹), normative Muster<br />

(z.B. Vorbilder), allgemeine Orientierungen (z.B. ›sich ein Bild der Situation machen‹) und<br />

schliesslich Sprachbilder (Tropen und Figuren). Für die Philosophie sind alle diese<br />

Verwendungsweisen einschlägig, als Gegenstand der Reflexion einerseits (z.B. der<br />

Bildbegriff in der Kunstphilosophie, das platonische Verhältnis von Urbild und Abbild) oder<br />

als Mittel der Reflexion andererseits. Bemerkenswert ist, dass sich zentrale philosophische<br />

Sprachbilder oft an den übrigen Verwendungsweisen von ›Bild‹ orientieren, denn Gemälde,<br />

Schatten oder die neuzeitliche Explikation mentaler Repräsentationen als Bilder sind zentrale<br />

Sprachbilder der philosophischen Tradition. Aber die Philosophie steht diesem Mittel der<br />

Reflexion auch argwöhnisch gegenüber. Wir verweisen auf drei Momente, welche den letzten<br />

Typus der Verwendung von ›Bild‹ betreffen, das ›Sprachbild‹. (i) Die Philosophie bezieht, in<br />

Abgrenzung zur Literatur, einen gewichtigen Anteil ihres Selbstverständnisses gerade aus<br />

dem Verzicht auf Sprachbilder zugunsten eines argumentativen Diskurses. Das der Vorbehalt<br />

Russells (und anderer) gegenüber Bergson. (ii) Die Metaphysik wird der unumgänglichen<br />

Metaphorizität verdächtigt 16<br />

und als misslungene Dichtung mit überzogenen<br />

Erkenntnisansprüchen abgetan. So die Verortung Bergsons (und anderer) durch den<br />

Logischen Positivismus. (iii) Schliesslich gibt es in der Philosophie des 20. Jh. eine Art<br />

Bilderjagd auf Götzenbilder, auf irreführende Bildfelder, auf ein Bild, das uns gefangen hält 17<br />

(wiederum das Bild der Gefangenschaft), welches die philosophische Reflexion vor immer<br />

gleiche Sackgassen, falsche Gegensätze und Scheinprobleme führt. Nehmen wir als Beispiel<br />

die berühmte Kritik das amerikanischen Philosophen Richard Rorty an der neuzeitlichen<br />

Philosophie:<br />

Nicht Sätze, sondern Bilder, nicht Aussagen, sondern Metaphern dominieren den grössten<br />

Teil unserer philosophischen Überzeugungen. Das Bild, das die traditionelle Philosophie<br />

15 Vgl. dazu J. Steinbrenner & U. Winko: »Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften«,<br />

in: dies. (Hg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften, Paderborn: Ferdinand<br />

Schöningh, 1997, 13-40. Der systematische Versuch einer Typologie, Bestimmung und Funktionsanalyse von<br />

Bildern mit zahlreichen Bezügen zu Bergson findet sich bei J. - J. Wunenberger: Philosophie des images, Paris:<br />

PUF, 1997.<br />

16 Vgl. dazu B. Hilmer: »Metaphysik und Metapher«, in: U. J. Wenzel (Hg.): Vom Ersten und Letzten.<br />

Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, Frankfurt a. M.: Fischer, 1998, 111-130.<br />

17 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 115: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus<br />

konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.« M.<br />

Vrhunc (op. cit.) 134 zitiert diesen Paragraphen als Motto ihres dritten Kapitels. Leider versäumt sie es,<br />

Beziehungen zwischen Wittgenstein und Bergson fruchtbar zu machen. Wir werden dies ansatzweise in<br />

Abschnitt V versuchen.<br />

4


gefangenhält, ist das Bild vom Bewusstsein als einem grossen Spiegel, der verschiedene<br />

Darstellungen enthält – einige davon akkurat, andere nicht – und mittels reiner,<br />

nichtempirischer Methoden erforscht werden kann. Ohne eine Idee des Bewusstseins als<br />

Spiegel hätte sich eine Bestimmung der Erkenntnis als Genauigkeit der Darstellung nicht<br />

nahegelegt. Ohne sie wiederum wäre die Strategie von Descartes bis Kant – sozusagen<br />

durch Prüfen, Reparieren und Polieren des Spiegels zu immer akkurateren Darstellungen<br />

zu gelangen – nicht sinnvoll gewesen. 18<br />

Mentale Repräsentationen als (Ab)Bilder realer Dinge auffassen, die Bilder im Geist analog<br />

zu materiellen Dingen verstehen, 19 den Geist als Spiegel oder inneres Theater sich vorstellen –<br />

das wird in der Philosophie des 20. Jahrhunderts in der einen oder anderen Form als zentrales,<br />

aber falsches philosophisches Bild identifiziert, als »Welt-bild« im Sinne Martin Heideggers:<br />

die Welt (repräsentiert) als Bild. 20 Was aber ist zu tun, wenn das irreführende Bild identifiziert<br />

ist? Kann man es so einfach loswerden, wenn unser Denken so lange darin gefangen gewesen<br />

ist? Bleibt es darin gefangen? Wie und durch welche Mittel befreit sich das Denken aus seiner<br />

imaginären Gefangenschaft und womit und in welche Freiheit wird es entlassen? Bergson ist<br />

gerade hier originell, denn sein Gedanke könnte so formuliert werden: Wenn es Bilder gibt,<br />

die unser Denken gefangen halten, dann muss es auch Bilder geben, die unser Denken<br />

befreien. Bergson verwendet Bilder auf komplexe, dynamische und verzweigte Weise, in<br />

kritischer aber auch in konstruktiver Absicht. Er kritisiert die Metaphysik, insofern sie auf<br />

falschen Bilder und Übertragungen beruht und er nimmt damit teil an der Bilderjagd der<br />

modernen Philosophie. Dennoch bleiben Bilder im Bergsonismus unabdingbare Bestandteile<br />

einer erneuerten Metaphysik und Erkenntnistheorie. Philosophie, so meinen wir, ist nach<br />

Bergson Arbeit am Bild, und insofern ist es in gewissem Sinne richtig zu behaupten, Bergson<br />

setze Bilder an die Stelle von Argumenten oder Definitionen.<br />

18 R. Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1981, 22. Rorty hat<br />

eine führende Rolle in der Wiederentdeckung der klassischen amerikanischen Pragmatisten W. James und J.<br />

Dewey übernommen, die derjenigen von G. Deleuze für Bergson gleich kommt. James und Bergson standen in<br />

regem Kontakt und haben je übereinander geschrieben. Angesichts der zahlreichen Übereinstimmungen<br />

zwischen James und Bergson dürfte es nicht verwundern, dass sich der gegenwärtigen ›Renaissance des<br />

Pragmatismus‹ eine ›Renaissance des Bergsonismus‹ zur Seite stellen könnte.<br />

19 Vgl. J. - P. Sartre: »Die Imagination«, in: Die Transzendenz des Egos. Philosophische Essays 1931-1939,<br />

Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1982, 97-254.<br />

20 Vgl. M. Heidegger: »Das Zeitalter des Weltbilds«, in: Holzwege, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1977,<br />

75-95.<br />

5


II.<br />

Die falschen Bilder der Metaphysik: Übertragung vom Raum auf die Zeit<br />

Bergson ist gegenüber Sprachbildern – Metaphern, Vergleichen und Analogien – keineswegs<br />

unkritisch, im Gegenteil. Seine Kritik an der Metaphysik kann als eine Kritik an falschen<br />

Übertragungen verstanden werden und deshalb ist Bergson gerade Metaphern gegenüber<br />

skeptisch. Metaphern können – trotz des unübersichtlichen Angebots an Metapherntheorien –<br />

basal und sinngemäss als Übertragungen verstanden werden. Allerdings reicht die einfache<br />

aristotelische Definition der Metapher als »Übertragung eines fremden Nomens [...] gemäss<br />

der Analogie« 21 nicht aus, um Bergsons Skepsis zu verstehen. Es braucht eine erweiterte<br />

Übertragungstheorie, denn es geht um die Übertragung eines ganzen Schemas oder Sets von<br />

Prädikaten einer Sphäre in eine andere Sphäre. 22 Das ist die Pointe von Nelson Goodmans<br />

Definition der »Metapher als eine[r] kalkulierte[n] Kategorienverwechslung«. 23 Ein einfaches<br />

Beispiel: ›Der Mensch ist ein Tier‹. Unter einem zoologischen Blickwinkel ist das strikt wahr.<br />

Als Ausdruck einer pessimistischen Anthropologie jedoch wird ein Set von Prädikaten aus der<br />

Sphäre des Tiers (z.B. Wildheit, Triebsteuerung, Natürlichkeit des Kampfes, männliche<br />

Dominanz, usw.) auf die Sphäre des Menschen übertragen. Diese Übertragung exemplifiziert<br />

drei wichtige Elemente einer falschen Übertragung: sie pickt ein fragwürdiges Set von<br />

Prädikaten heraus, sie übersieht reale Differenzen, aber sie orientiert sich an der strikten<br />

Wahrheit der zoologischen Perspektive. Für Bergsons Kritik falscher Übertragungen nun ist<br />

das zweite Element das wichtigste. 24<br />

Eines der Grundmotive des Bergsonismus besteht in der wiederholten Artikulation einer<br />

realen Differenz zwischen räumlicher Ausdehnung und zeitlicher Dauer (»durée«). 25 Bergsons<br />

Kritik an falschen Übertragungen richtet sich daher wiederholt gegen die Übertragung eines<br />

21 Die bekannte Definition aus der Poetik, 1457a33, des Aristoteles.<br />

22 Vgl. N. Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, 75 &<br />

83-84; ders. Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987, 112.<br />

23 N. Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, 77.<br />

24 Vgl. dazu D. Deleuze (op. cit., 1989) 34-45. Deleuze formuliert dies als eine von drei methodischen Regeln<br />

des Bergsonismus: »ZWEITE REGEL: Gegen den Schein ankämpfen, die wahren Wesensunterschiede<br />

[différences de nature] oder die natürliche Einteilung des Wirklichen [articulations du réel] zu ihrem Recht<br />

kommen lassen.« (ebd., 34).<br />

25 Die Dauer ist ein Schlüsselbegriff in der Philosophie Bergsons. Sie ist ein Gegenbegriff zur Zeit, die aus einer<br />

Verräumlichung unseres Denkens – einer falschen Metapher – hervorgeht: Die Zeit assoziieren wir gemeinhin<br />

mit einer unendlichen Gerade im Raum, einem Zeitstrahl, oder etwa den Räumen, die ein Uhrenzeiger während<br />

eines bestimmten Zeitintervalls durchmisst. Die Zeit ist unser analytisches Verständnis der Dauer: »Wenn wir<br />

die Vorstellung der Zeit bilden wollen, so ist es in Wirklichkeit ein Raum, der sich uns darstellt« (DSW, 25 /<br />

1256). Im Gegensatz dazu stellt die Dauer ein unendliches in sich übergreifendes Fliessen dar, »eine unteilbare<br />

Kontinuität« (DSW, 26 / 1257) – ein steter Fluss des Werdens und der Veränderung. Sie ist »ein Werdendes und<br />

sogar der Grund von allem übrigen Werden« (DSW, 23 / 1254). Die Dauer kann in ihrem dynamischen Wesen<br />

von der Intelligenz nicht erfasst werden, da diese als Organ der Analyse zergliedernden Charakter hat und somit<br />

dieses unteilbare Ganze der Dauer in statische Einzelteile – z.B. Zeitintervalle – zerlegt. In diesem Sinne entzieht<br />

sich die Dauer auch jeder quantitativen Messmethode. Sie ist allein der Intuition zugänglich und bildet mit ihr<br />

zusammen die Grundlage des bergsonschen Metaphysikkonzeptes (vgl. Abschnitt III).<br />

6


Sets von Prädikaten aus der quantitativen Sphäre der räumlichen Ausdehnung auf die<br />

qualitative Sphäre der zeitlichen Dauer. Diese Übertragung nämlich beherrsche die ganze<br />

abendländische Metaphysik:<br />

Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch sind Zeit und Raum auf dieselbe<br />

Ebene gestellt und wie Dinge derselben Art behandelt worden. Man untersucht dann eben<br />

nur den Raum, bestimmt seine Natur und seine Funktion und überträgt [transporte] die<br />

gefundenen Ergebnisse auf die Zeit. (DSW, 24 / 1256) 26<br />

Die wichtigsten Prädikate der Raum-Sphäre sind – laut Bergson – Koexistenz, Homogenität,<br />

Reversibilität und Separabilität. Ganz im Gegensatz dazu – so Bergson – muss die Zeit-<br />

Sphäre, die Dauer, als sukzessiv, heterogen, irreversibel und kontinuierlich beschrieben<br />

werden. Werden nun die Prädikate der Raum-Sphäre auf die Zeit-Sphäre übertragen, so<br />

entsteht ein – wie Bergson sagt – »Bastardbegriff« (ZF, 76 / 66) der Zeit und dieser<br />

Bastardbegriff entspricht dem gewöhnlichen Zeitbegriff des Commen-sense, der modernen<br />

Naturwissenschaft und der klassischen Metaphysik: »[K]urz, wir projizieren die Zeit in den<br />

Raum, wir drücken die Dauer durch Ausgedehntes aus, und die Sukzession nimmt für uns die<br />

Form einer stetigen Linie oder Kette an, deren Teile sich berühren, ohne sich zu<br />

durchdringen.« (ZF, 78 / 68) Im Bild der Zeit als einer Linie verortet Bergson diesen<br />

fundamentalen Kategorienfehler und deshalb greift er auch immer wieder auf die Paradoxa<br />

des Zenon zurück. Das Paradox von Achilleus und der Schildkröte oder das Paradox des<br />

unbeweglichen Pfeils entstehen durch eine falsche Übertragung von Prädikaten der Raum-<br />

Sphäre auf die Zeit-Sphäre, als gelebte Zeit oder Dauer, so dass sich letztere räumlichgeometrisch<br />

als Linie darstellt. 27 Die einzelnen Punkte einer Linie sind alle zugleich präsent<br />

(Koexistenz), sie unterscheiden sich qualitativ nicht voneinander (Homogenität), man kann<br />

die Linie vor- und zurück verfolgen (Reversibilität) und die Punkte lassen sich von einander<br />

trennen (Separabilität). Nichts von dem – so Bergson – trifft auf die Zeit als Dauer zu. Ein<br />

weiteres falsches Bild ist die Vorstellung der Zeit als einer Uhr, beispielsweise als Sanduhr:<br />

»[E]s ist nicht leicht, dem Bilde der Sanduhr zu entgehen, wenn man an die Zeit denkt.« (SE,<br />

24 / 509) 28 Auch hier treffen die soeben auf das Bild der Linie angewendeten Prädikate zu.<br />

Durch diese Übertragung wird das Wesen der Zeit, als gelebte Zeit oder Dauer, verfälscht und<br />

eine reale Differenz ignoriert. Dieses fundamental falsche Bild hat für Bergson Auswirkungen<br />

auf wichtige metaphysische und wissenschaftliche Themen, die wir hier nur stichwortartig<br />

andeuten: Zeit, Freiheit, Bewusstsein, Erkenntnis, Erinnerung, Evolution und Leben. Jeder<br />

26 Eine kritische Darstellung dieser Geschichte gibt Bergson im letzten Kapitel von Die schöpferische<br />

Entwicklung.<br />

27 Zum Verhältnis Bergsons zu den Paradoxa des Zenon vgl. H. Gouhier: Bergson et l’histoire de la pensée<br />

occidentale, Vrin: Paris, 1989, 23-34; A. R. Lacey (op. cit.) 32-38.<br />

28 Vgl. auch ZF, 82-84 / 71-74.<br />

7


dieser Themenbereiche und die in ihnen sich stellenden Scheinprobleme im Gefolge der<br />

falschen Übertragung vom Raum auf die Zeit analysiert Bergson sukzessive in seinen<br />

Werken.<br />

Wir haben zu Beginn dieses Abschnitts das Problem metaphorischer Übertragungen am<br />

Beispiel von ›Der Mensch ist ein Tier‹ kurz veranschaulicht und drei Elemente der<br />

Übertragung hervorgehoben. Was ist mit dem ersten und dem dritten Element bei Bergson?<br />

Bergson ist der Ansicht, dass Koexistenz, Homogenität, Reversibilität und Separabilität reale<br />

Prädikate der räumlichen Ausdehnung sind - das im Gegensatz zum ersten Element unseres<br />

Beispiels, in welchem fragwürdige Prädikate übertragen werden. Bemerkenswert ist hier<br />

folgendes: Bergson hält die genannten Prädikate, wenn sie auf Räumliches oder<br />

Ausgedehntes, kurz: auf die Materie angewendet werden für zutreffend, für wahr. Ihre<br />

metaphorische Anwendung auf die Zeit, auf das Bewusstsein und das Leben jedoch hält<br />

Bergson für unzutreffend, für falsche Übertragung. Damit ist aber auch gesagt, dass nicht nur<br />

assertorische Aussagen einen Wahrheitswert haben, d.h. wahr oder falsch sein können,<br />

sondern auch metaphorische Aussagen können wahr oder falsch sein.<br />

Bergson ist weiter der Ansicht, dass sich sowohl die verräumlichte Zeit (der »Bastardbegriff«<br />

der Zeit) als auch der Raum messen und quantifizieren lassen. Von daher die Tendenz, Zeit<br />

ganz und gar dem Raum anzugleichen – das entspricht dem dritten Element unseres Beispiels.<br />

Nichts an den Raum-Vorstellungen des Common-sense, der Naturwissenschaften und der<br />

Metaphysik, insofern sie die ausgedehnte Materie betreffen, steht für Bergson in Frage. Er<br />

erhebt jedoch vehement Einspruch gegen die Übertragung dieser Raum-Vorstellung auf die<br />

Dauer (und damit auf das Bewusstsein und das Lebendige). Diese Übertragung schafft Bilder,<br />

die unser Denken gefangen halten.<br />

Der negative Teil der Arbeit am Bild besteht in der Abarbeitung falscher Übertragungen. Im<br />

Vortrag Die philosophische Intuition (DSW, 126-148 / 1345-1362) legt Bergson dar, dass der<br />

erste Schritt der philosophischen Intuition gleichfalls negativ ist. Er vergleicht sie mit dem<br />

Daimonion des Sokrates, »das diesen nur vor falschen Entscheidungen zurückhält, ihn jedoch<br />

nie zu Entscheidungen anhält«. Bergson spricht von einer »einzigartigen Macht der<br />

Verneinung«, die in der Intuition – genauer: im intuitiven Bild, »immanente à l’intuition ou à<br />

son image« – stecke (DSW, 129 / 1348). Sie vermittelt das Gefühl, dass etwas ›nicht stimmt‹,<br />

dass etwas ›falsch läuft‹, dass Themen unter falschen Gesichtspunkten angegangen werden<br />

und die so entstehenden Probleme Scheinprobleme sind. Im Erkennen der falschen<br />

Übertragungen, die uns gefangen halten, übt die philosophische Intuition ihre negative Kraft<br />

in elaborierter Weise aus. Wodurch aber werden die befreienden Bilder geschaffen? Bergsons<br />

8


positive Antwort, wie wir im folgenden Abschnitt darlegen, lautet ebenfalls: durch die<br />

Intuition.<br />

III.<br />

Das intuitive Bild: Produktion und Vermittlung<br />

In der 1903 erschienenen Einführung in die Metaphysik (DSW, 180-225 / 1392-1432)<br />

unterscheidet Bergson zwei Arten der Erkenntnis: relative und absolute Erkenntnis;<br />

alltägliche und naturwissenschaftliche Erkenntnis einerseits, metaphysische Erkenntnis<br />

andererseits. Erstere gewinnt man mit Hilfe der Analyse, letztere mit Hilfe der Intuition. 29<br />

Analytische Erkenntnis ist stets relativ: Sie operiert mit Symbolen und ist<br />

gesichtpunktsabhängig. Im Gegensatz dazu ist intuitive Erkenntnis absolut: Sie ist wesentlich<br />

asymbolisch und hängt von keinem Gesichtspunkt ab. Während sich analytische Erklärungen<br />

der Naturwissenschaft in einer Unzahl von Begriffen und Symbolen verlieren und umso mehr<br />

begrifflichen Aufwand betreiben müssen, je genauer sie die einfache, ungeteilte, individuelle<br />

Besonderheit eines Gegenstandes zu fassen versuchen, 30 gelingt es der Intuition genau diese<br />

unaussprechliche ungeteilte Einfachheit eines Gegenstandes als Einheit zu erfassen. Genau<br />

um diese Einfachheit geht es Bergson in seinem metaphysischen Programm. Gerade in dieser<br />

einfachen Ungeteiltheit besteht auch das Absolute eines Gegenstandes, das gerade deshalb<br />

nicht begrifflich erfasst werden kann, weil die Begriffe als Instrument der Analyse immer<br />

verallgemeinern, etwas immer nur relativ - in Abgrenzung oder Anlehnung zu etwas anderem<br />

- erfassen können, doch nicht die Einzigartigkeit eines Gegenstandes. 31 Dieses Einfache oder<br />

Absolute eines Gegenstandes, zu dem die Analyse nie gelangen kann, ist etwas von allen<br />

aufzählbaren Bestandteilen und Eigenschaften wesentlich Verschiedenes. Bergson<br />

veranschaulicht dies mit dem Bild des Auges:<br />

29 Der Gegensatz zweier Arten von Erkenntnis hat eine lange philosophische Tradition, von der sich Bergson<br />

jedoch immer wieder abzusetzen versucht. Das gilt insbesondere für die romantische Philosophie eines Schelling<br />

oder Schopenhauer. 1901 und also zeitgleich mit Bergson hat Benedetto Croce den Unterschied zwischen<br />

Intuition und diskursiver Erkenntnis an den Anfang seiner Ästhetik gestellt, nämlich in: Ästhetik als<br />

Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft (nach der 6. erw. ital. Aufl. übertr. v. H. Feist<br />

und R. Peters), Tübingen: J. C. B. Mohr, 1930 (= Gesammelte philosophische Schriften in deutscher<br />

Übertragung; Bd. 1). Allerdings entfernt sich Croces Unterscheidung von Intuition und Begriff schnell von<br />

Bergsons Unterscheidung, denn Croce erhebt die Intuition als Anschauung zum Inbegriff der Kunst. Da Kunst<br />

für Croce primär Expression ist, lautet die Formel: Was intuitiv erfasst wird, kann auch ausgedrückt werden.<br />

Demgegenüber verhält sich Bergsons Intuition zum Ausdruck problematisch und sie ist auch nicht mit der<br />

Anschauung gleichzusetzen.<br />

30<br />

Der begriffliche Aufwand einer analytischen Untersuchung verhält sich reziprok zur angestrebten<br />

Präzisierung. D.h. je genauer ein Gegenstand beschrieben werden will, desto mehr Begriffe sind nötig. Je<br />

präziser die an sich ungeteilte Ein- und Einfachheit eines Gegenstandes erfasst werden will, desto mehr<br />

begriffliches Material muss dazu verwendet werden.<br />

31 Diese ungeteilte Einfachheit auszudrücken gelingt den Begriffen nicht, weil sie Dinge durch ihre<br />

zergliedernde Eigenschaft stets approximativ erfassen und wesentlich Definitionscharakter haben (vgl. dazu<br />

Anm. 37).<br />

9


Zwei Dinge sind es, die bei einem Organ wie dem Auge in gleicherweise frappieren: die<br />

Vielseitigkeit des Baus und die Einfachheit der Funktion. Das Auge setzt sich aus<br />

deutlich geschiedenen Teilen, wie Skelera, Hornhaut, Retina, Linse und so weiter<br />

zusammen. Bei jeden dieser Teile geht das Detail ins Grenzenlose. Um nur von der<br />

Retina zu sprechen, so umfasst sie bekanntlich übereinanderliegende Schichten nervöser<br />

Elemente, multipolare, bipolare und Sehzellen, deren jede ihre Besonderheit besitzt und<br />

unzweifelhaft einen äusserst vielgliedrigen Organismus bildet, und doch ist auch dies<br />

noch ein vereinfachtes Schema des feinen Baus dieses Häutchens. Aus unzähligen<br />

Maschinen also, deren jede von äusserster Kompliziertheit ist, setzt sich die Maschine des<br />

Auges zusammen. Dennoch ist das Sehen ein einfacher Vorgang. (SE, 93-4/570)<br />

Das Sehen selbst ist ein an sich einfacher und ungeteilter Akt und kann als solcher nicht aus<br />

der Analyse des Auges mit seinen Bestandteilen erklärt werden. Ganz analog dazu erklärt<br />

Bergson die Kompliziertheit mancher philosophischen Lehre. Auch ihnen liegt ein solch<br />

einfacher Gedanke zu Grunde, der gerade seiner Einfach- und Einzigartigkeit wegen nie hat<br />

ausgesprochen werden können.<br />

In diesem Punkt liegt irgend etwas so Einfaches, so unendlich Einfaches, so<br />

aussergewöhnlich Einfaches, dass es dem Philosophen niemals gelungen ist, es<br />

auszudrücken. Und darum hat er sein ganzes Leben lang darüber gesprochen. [...] Die<br />

ganze Kompliziertheit seiner Lehre, die bis ins Unendliche gehen würde, bedeutet also<br />

nur die Inkommensurabilität zwischen seiner einfachen Grund-Intuition und den<br />

Ausdrucksmitteln, über die er verfügte. (DSW, 127-8 / 1347)<br />

Das Erfassen dieser Einfachheit bleibt alleine der Intuition vorbehalten. Sie wird somit zur<br />

Methode der Metaphysik schlechthin. Sie erfasst das Innere eines Gegenstandes, indem sie<br />

sich in einem Akt der Sympathie 32 in den Gegenstand selbst hineinversetzt, und vermag<br />

dadurch Subjekt und Objekt zu identifizieren. Durch diese Identifikation wird der<br />

Gesichtspunkt aufgehoben, die Erkenntnis verliert ihre Relativität und wird absolut.<br />

Bergsons Metaphysik geht von einer Intuition der Dauer aus. Ausgehend von dieser basalen<br />

Intuition können alle weiteren Gegenstände in ihrer Absolutheit erfasst werden. Diese<br />

Intuition kann jedoch nicht begrifflich umschrieben werden 33 : Der Mensch muss sie selbst<br />

erfahren. Als intelligenzbestimmtes Wesen muss er erst zu dieser Intuition geführt werden.<br />

Sie muss ihm vermittelt werden. Diese Vermittlung findet mit Hilfe von Bildern statt, obwohl<br />

sich die Intuition selbst letztlich nicht in einem Bild erschöpft. Dieses vermittelnde Bild nennt<br />

Bergson in Die philosophische Intuition »image intermédiaire«. 34 In diesem besonderen Bild<br />

32 »Wir bezeichnen hier als Intuition die Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes<br />

versetzt, um mit dem was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren«<br />

(DSW, 183 / 1395). Es sollen hier nicht die Folgen eines solchen Intuitionsverständnisses erörtert werden, die in<br />

logischer Konsequenz auf eine Art Panpsychismus auslaufen: Denn die Sympathie, ist auf »ein Inneres,<br />

sozusagen einen Seelenzustand« (DSW, 181 / 1393) des absolut zu erfassenden Gegenstandes angewiesen.<br />

33 Denn genau dann wäre sie wieder analytisch, was sie angesichts ihrer metaphysischen Aufgabe gerade nicht<br />

sein soll. Wie im zuvor aufgeführten Beispiel ist nur die Intuition dazu fähig, das Sehen des Auges als einfachen<br />

Akt wahrzunehmen. Die Analyse könnte lediglich die einzelnen Bestandteile des Auges aufzählen, aufgrund<br />

deren Kenntnis jedoch das Sehen nicht erfasst werden könnte. Die Intuition ist etwas von der Begrifflichkeit<br />

wesentlich Verschiedenes.<br />

34 An anderen Stellen spricht Bergson auch von einem »image médiatrice«.<br />

10


esteht die grösst mögliche Nähe zur Intuition. Es erfasst diese unaussprechliche Einfachheit<br />

der Intuition am besten, da es »wie ein Schatten« dieser Intuition ist.<br />

Aber was wir erfassen und festlegen können, das ist ein gewisses, zwischen der<br />

Einfachheit der philosophischen Intuition und der sie ausdrückenden Fülle der<br />

Abstraktionen vermittelndes Bild [image intermédiaire], ein flüchtig aufleuchtendes Bild,<br />

welches vielleicht ihm selber unbewusst, ihm dauernd nachgeht, ihn wie ein Schatten<br />

durch alle Windungen seines Gedankens verfolgt, und das, wenn es auch nicht die<br />

Intuition selbst ist, sich ihr sehr viel mehr annähert als der begrifflich Ausdruck, der<br />

notwendigerweise symbolisch ist, auf den die Intuition zurückgreifen muss, um sog.<br />

›Erklärungen‹ darzubieten. (DSW, 128 / 1347)<br />

Die ganze Anstrengung der Metaphysik besteht somit darin solche »images intermédiaires«<br />

zu entwerfen, die zu der fundamentalen Intuition der Dauer führen. Die Bildproduktion wird<br />

zur Hauptaufgabe der Philosophie.<br />

Demjenigen der nicht fähig wäre, die sein Wesen aufbauende Dauer intuitiv selbst zu<br />

erfassen, würde man sie weder durch Begriffe noch durch Bilder vermitteln können. Die<br />

einzige Aufgabe des Philosophen beschränkt sich hier darauf, zu einer gewissen geistigen<br />

Anstrengung anzuregen, die bei den meisten Menschen durch die praktischen<br />

Denkgewohnheiten gehindert wird. Nun hat das Bild wenigstens den Vorteil, dass es uns<br />

im Bereich des Konkreten belässt. Kein Bild kann die unmittelbare Intuition der Dauer<br />

ersetzen, aber viele verschiedenartige Bilder, die den verschiedensten Bereichen der<br />

Dinge entlehnt werden, können durch die Konvergenz der Wirkung [par la convergence<br />

de leur action] das Bewusstsein auf den Punkt hinlenken, wo eine gewisse Intuition<br />

möglich ist. (DSW, 187-8 / 1399)<br />

Die verschiedenen Bilder sollen die Intuition durch die »Konvergenz ihrer Wirkung« anregen.<br />

Sie müssen sich in ihrer Wirkung überlappen. Die Notwendigkeit der verschiedenartigen<br />

Bilder, die aus verschiedenen Richtungen in der Intuition konvergieren sollen, erklärt sich<br />

auch in der Schattenhaftigkeit des »image intermédiaire«:<br />

Sehen wir uns den Schatten einmal näher an: wir werden aus ihm die Haltung des<br />

Körpers, der ihn wirft, erraten, und wenn wir uns sehr bemühen die Haltung<br />

nachzuahmen, oder besser noch, uns in sie hineinzuversetzen, so werden wir, so weit das<br />

möglich ist” zur Intuition gelangen. (DSW, 128 / 1347)<br />

Die Gestalt eines Körpers kann umso besser aufgrund der Form seiner Schatten erschlossen<br />

werden, je grösser die Kenntnis vielfältiger und verschiedenartiger Schatten durch eine<br />

unterschiedliche Beleuchtung ist.<br />

Damit die Bilder ihre Funktion der Intuitionsvermittlung übernehmen können, müssen sie<br />

eine gewisse Leistung vollbringen: Diese besteht in der Produktion von Gemeinsamkeiten.<br />

Denn eine konvergente Wirkung ist auf solche Gemeinsamkeitsleistung angewiesen.<br />

Bergsons Beispiele selbst belegen, dass zwischen den Bildern keine thematische<br />

Gemeinsamkeit besteht. Im Gegenteil gerade solche Gemeinsamkeiten sollen vermieden<br />

werden. 35 Die Gemeinsamkeit ist vielmehr struktureller Art und zeigt sich in der inhaltlichen<br />

35 Bergson meint, dass die verschiedenartigen Bilder »den verschiedensten Bereiche der Dinge« (DSW, 187 /<br />

1399) entlehnt werden sollen.<br />

11


Gliederung seiner »images intermédiaires«, durch die Unterteilung seiner Bilder in ein<br />

Positivum und in ein Negativum. Untersuchen wir dies an Bergsons Beispielen direkt. Das<br />

erste Bild stammt aus dem Alltag. Es soll die Dauer anhand der persönlichen Erfahrung des<br />

eigenen fliessenden Bewusstseinsstrom, die sich im Bild eines Rouleaus manifestiert,<br />

anregen.<br />

Es ist, wenn man so will, wie das Abrollen eines Rouleaus, denn es gibt kein Lebewesen,<br />

das sich nicht allmählich am Ende seiner Rolle ankommen fühlt [qui ne se sente arriver<br />

peu à peu au bout de son rôle]; und Leben besteht im Altern. Aber es ist ebenso auch ein<br />

beständiges Aufrollen wie beim Faden auf einem Knäuel, denn unsere Vergangenheit<br />

folgt uns, sie wächst unaufhörlich mit der Gegenwart, die sie unterwegs aufnimmt [...].<br />

Im Grunde genommen handelt es sich weder um ein Aufrollen noch um ein Abrollen,<br />

denn beide Bilder rufen die Vorstellungen von Linien und Flächen wach, deren Teile<br />

untereinander homogen und vertauschbar sind. (DSW, 185-6 / 1397-8) 36<br />

In positivem Sinne soll die Dauer durch das Gefühl eines im steten qualitativen Wandel<br />

befindenden Bewusstseins dargestellt werden: Eine Rolle die bei jeder neuen Umdrehung<br />

sämtliche schon vollzogenen Umdrehungen mit sich führt. Dagegen soll von diesem »image<br />

intermédiaire« die geometrische resp. räumliche Anschauung abstrahiert werden. Indem<br />

Bergson das Negativum seines Bildes expliziert, schärft er das Bewusstsein für falsche Bilder<br />

resp. deren falsche Übertragung und schliesst damit offensichtlich an die Bekämpfung<br />

falscher Metaphern an, die wir im zweiten Abschnitt beschrieben haben.<br />

Das zweite Bild stammt aus der Optik.<br />

Man muss also das Bild eines Spektrums mit 1000 Nuancen wachrufen, mit<br />

unmerklichen Übergängen, die von einem zum anderen führen. Ein Gefühl, das dieses<br />

Spektrum durchliefe, indem es nacheinander von jeder dieser Nuancen gefärbt würde,<br />

würde graduelle Veränderungen empfinden, von denen jede die folgende ankündigte und<br />

alle vorhergehenden in sich zusammenfasste, wobei allerdings die aufeinanderfolgenden<br />

Nuancen des Spektrums äusserlich zueinander blieben, weil sie Raum einnehmen und<br />

sich so nebeneinander reihen. Die reine Dauer jedoch schliesst jede Vorstellung des<br />

Nebeneinanders, einer gegenseitigen Äusserlichkeit und Ausdehnung aus. (DSW, 186 /<br />

1398)<br />

Der positive Teil dieses Bildes versucht die Intuition der Dauer mit Hilfe der Vorstellung<br />

eines unmittelbaren, momentanen, rein qualitativen Erlebnisses anzuregen. Der negative Teil<br />

besteht aus einer Einschränkung am Ende: In ihr gibt Bergson die noch bestehende Differenz<br />

zwischen dem illustrierenden Bild und der reinen Dauer an.<br />

36 Bergson gebraucht dieses etwas merkwürdige Bild des Rouleaus auch oft in SE. Dort allerdings weist er das<br />

Bild der absteigenden Tendenz der Materie (im Gegensatz zur aufsteigenden Tendenz des élan vital) innerhalb<br />

der Evolution des Lebens zu (vgl. SE, 17 / 503). Dieses Bild der Materie zuweisen bedeutet, es dem Raum<br />

zuweisen. Bergson bedient sich dabei gerne eines Wortspieles, denn »arriver au bout de son rouleau / rôle«<br />

bedeutet so viel als: am Ende seiner Weisheit, seines Lateins ankommen. Genau das aber passiert dem<br />

räumlichen Denken, der Analyse, wenn es auf die Zeit, auf das Bewusstsein oder das Leben stösst (vgl. SE, 216-<br />

217 / 675).<br />

12


Das unmittelbar anschliessende Bild stammt aus der Mechanik und versucht die Intuition der<br />

Dauer strukturanalog zu vermitteln.<br />

Stellen wir uns ein unendlich kleines Gummiband vor, das, wenn es möglich wäre, in<br />

einem mathematischen Punkt zusammengezogen wäre. Ziehen wir es allmählich<br />

auseinander, sodass aus dem Punkt eine stetig sich verlängernde Linie hervorgeht.<br />

Richten wir dabei unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Linie als Linie, sondern auf die<br />

Kraft, die sie entstehen lässt. Erwägen wir, dass diese angespannte Energie trotz ihrer<br />

Dauer unteilbar ist, wenn man annimmt, dass sie sich ohne Aufenthalt auswirkt, dass,<br />

wenn man einen Ruhepunkt einschiebt, man aus der einen Handlung zwei macht, von<br />

denen jede wieder unteilbar wäre, dass niemals der die Bewegung erzeugende Akt teilbar<br />

ist, sondern nur die unbewegliche Linie, die sie als eine Spur im Raume gleichsam hinter<br />

sich zurücklässt. Machen wir uns schliesslich ganz frei von dem Raum, der die<br />

Bewegung unterspannt um nur die Bewegung selbst, den Akt der Spannung oder<br />

Entspannung, kurz, die reine Bewegung ins Auge zu fassen. Diesmal haben wir schon ein<br />

getreueres Bild unserer Entwicklung in der Dauer. (DSW, 186-187 / 1398)<br />

Der negative Teil besteht in diesem Falle wiederum aus der am Ende angefügten<br />

Einschränkung, die auf den Unterschied zwischen seinem Bild und wirklichen Dauer<br />

verweist. Es ist wie im ersten und zweiten Bild eine Aufforderung, die Vorstellung des<br />

Raumes aufzugeben, weil die Dauer - im Gegensatz zur Zeit - mit dem Raum nichts zu tun<br />

hat. Im positiven Sinne soll die Intuition der Dauer durch die Vorstellung einer Kraft oder<br />

Spannung als solche hervorgerufen werden.<br />

Während sich die negativen Teile dieser Bilder explizit überschneiden, besteht zwischen den<br />

positiven Teilen der Bilder lediglich eine implizite Gemeinsamkeit: Diese Beispiele<br />

suggerieren das Gefühl einer einfachen Ungeteiltheit. Bergsons intuitionsvermittelnde Bilder<br />

produzieren demnach in ihrer konvergenten Wirkung Gemeinsamkeiten, die auf einen<br />

bestimmten Punkt hin zu verweisen scheinen: auf eine Erfahrung einer ungeteilten<br />

Einfachheit losgelöst von jeglicher räumlicher Anschauung.<br />

Bergson scheint an seinen Bildern regelrecht zu arbeiten: Er präzisiert sie, baut sie aus, stellt<br />

sie unter einander in Abhängigkeit und schafft Bezüge unter ihnen, die selbst wieder<br />

Rückwirkungen auf sie ausüben. Sein Umgang mit Bildern erweist sich nicht bloss als<br />

Exemplifikation seiner Theorie, sondern als Bilderarbeit. Mit Hilfe dieser Bilderarbeit zieht<br />

Bergson den Rezipienten explizit mit in den Text ein. In seinen Bilder legt er durch die<br />

Angabe ihrer positiven und negativen Teile deren Produktionsplan offen: Er zeigt, wie sie<br />

konstruiert sind und auf was sie abzielen. Damit legt Bergson eine Tendenz fest, die als<br />

Anweisung zur eigenen Bildproduktion dient. Genau dieser seinen Bildern inhärente<br />

Produktionsplan befähigt den Rezipienten die Bilder in sich weiter zu verarbeiten, sich ihrer<br />

Wirkung hinzugeben und dadurch zur Intuition zu gelangen. Seine Bildproduktion ist also ein<br />

wesentlicher Bestandteil der Intuitionsvermittlung, bei der sich die klare Grenze zwischen<br />

Rezipient und Produzent auflöst. Bergson produziert seine Bilder nicht zuerst alleine und legt<br />

13


sie anschliessend der Leserin vor, damit diese Bilder in ihr die Intuition der Dauer vermitteln.<br />

Im Gegenteil, er vermittelt sie, indem und während er sie produziert. In der Bilderarbeit findet<br />

die Vermittlung produktiv statt: Die Intuition wird gerade dadurch vermittelt, dass in der<br />

Bildproduktion die Tendenz zum angestrebten Punkt, an dem man zur Intuition der Dauer<br />

gelangen kann, angezeigt wird. Ansonsten müsste die Intuition nicht dadurch vermittelt<br />

werden, indem die Produktion des Bildes selbst im Text stattfindet. Bergson könnte bloss<br />

Beispiele nennen.<br />

Bergsons Bilderarbeit, seine selbstbewusste Produktion von Bildern, die auf etwas zielen, das<br />

selbst nicht Bild und nicht Sprache sein kann, nämlich die Intuition, verweist auf ein<br />

ästhetisches Phänomen der selbstbewussten literarischen Moderne. In ihr geht es nicht nur<br />

darum, Bedeutungen zu erzeugen, sondern die Erzeugung von Bedeutungen selbst<br />

offenzulegen, nicht nur auf das Was, das Signifikat, zu zielen, sondern auf das Wie, das<br />

Signifizieren selbst. Das Signifizieren selbst in der Bilderarbeit trifft freilich das intentierten<br />

Signifikat nicht, der sich der sprachlichen Erfassung entzieht. Die Bilder können lediglich auf<br />

die Intuition verweisen. Bergson konzentriert diesen Prozess des Signifizierens jedoch auf die<br />

Bilderarbeit, keineswegs aber auf seinen Sprachgebrauch schlechthin. Sein argumentativer<br />

Sprachgebrauch ist direkt und referentiell. Um eine Unterscheidung von Paul de Man<br />

aufzunehmen: Bergsons diskursiver Stil ist semantisch (auf das Was der Bedeutung gerichtet),<br />

seine Bilderarbeit aber semiologisch (auf das Wie des Bedeutens – oder: Andeutens –<br />

gerichtet). 37<br />

IV.<br />

Das argumentative Bild: Metaphysik und Recoupage<br />

Die Bilderarbeit nimmt in Bergsons Projekt der Metaphysik einen wichtigen Stellenwert ein.<br />

In gewissem Sinne verweist ein solcher Umgang mit Bildern auf Argumentationscharakter.<br />

Die Bilder bleiben nicht nur illustrative Begleiterscheinungen im Text, welche die Theorie<br />

veranschaulichen sollen, sondern sie nehmen eine konstitutive Rolle in Bergsons<br />

Argumentation ein. Ja, die Bilder sind in gewissem Sinne die Argumente seiner Metaphysik,<br />

da diese wesentlich auf der Intuition der Dauer beruht, die wiederum erst durch Bilder<br />

vermittelt werden kann. Eingangs stellten wir die These auf, das Bergsons Bilder in gewissem<br />

37 Vgl. P. de Man: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New<br />

Haven: Yale University Press, 1979, 5.<br />

14


Sinne als Argumente verstanden werden können. Eine solche Auffassung ist nicht problemlos<br />

und verlangt nach einer genauen Spezifizierung. Vordergründig handelt es sich bei den<br />

Bildern Bergsons nicht um Argumente:<br />

Erstens sind sie keine Argumente im logischen Sinne. Denn logische Argument kennzeichnen<br />

sich dadurch, dass sie in sich Bestandteile enthalten, welche die logischen Funktionen von<br />

Prämissen und Konklusionen übernehmen. Solche Bestandteile sind bei Bergsons Bildern<br />

nicht - auch nicht strukturell - auszumachen.<br />

Zweitens sind die Bilder keine Argumente in Bergsons Philosophie, da er ja selbst<br />

argumentiert. Es würde Bergsons Anstrengungen nicht gerecht werden, seinen<br />

Argumentationsgang zu missachten und stattdessen diese Funktion seinen Bildern<br />

zuzusprechen.<br />

Drittens ist ein Argument immer mit einem Urteil verbunden und ist daher wesentlich<br />

begrifflich. Das Argument gehört daher qua Begrifflichkeit in den Bereich der Analyse, dem<br />

sich das Bild hingegen durch seine Unbegrifflichkeit gerade entzieht.<br />

Jedoch ist es gerade diese Unbegrifflichkeit der Bilder, die ihnen unter besonderen<br />

Umständen argumentativen Charakter verleihen: Im Rahmen seiner Metaphysik übernehmen<br />

Bilder durchaus die Funktion von Argumenten, insofern man unter einem Argument ein<br />

strukturelles Element eines Beweisganges versteht. Da metaphysische Erkenntnis – die<br />

Erkenntnis des Absoluten – in Bergsons Konzeption wesentlich unbegrifflich 38 ist und auf der<br />

Intuition beruht, deren Vermittlung durch die Bilderarbeit stattfindet, geht die Metaphysik<br />

Bergsons aus Bildern und der Arbeit an ihnen hervor. Die Bilderarbeit wird somit zur<br />

eigentlichen Argumentation der Metaphysik Bergsons. 39<br />

Im grösseren Umkreis der Philosophie Bergsons erhalten die Bilder zusätzlich argumentativen<br />

Charakter, insofern sie strukturelle Bedingungen für richtige Prämissen schaffen. Will<br />

heissen: In seiner Metaphernkritik (vgl. Abschnitt II) wehrt sich Bergson gegen den falschen<br />

Gebrauch von Bildern. Viele Aporien und Missverständnisse der Philosophie rühren seiner<br />

Meinung nach von einer falschen Übertragung der Bilder her. 40 Bei solchen Problemen ist es<br />

gerade wichtig, das richtige Bild zu finden. Denn erst aufgrund des richtigen Bildes kann der<br />

38 Die Begriffe sind im Bereich der Analyse angesiedelt und daher ungeeignet zu metaphysischer Erkenntnis.<br />

Wie alle analytischen Instrumente operieren sie approximativ, d.h. sie versuchen Einzigartigkeit durch<br />

Anhäufung immer weiter spezifizierender Begriffe zu fassen. »[D]er Begriff verallgemeinert in demselben<br />

Masse wie er abstrahiert. Der Begriff kann eine bestimmte Eigenschaft nur dadurch symbolisieren, dass er sie<br />

einer Unzahl von Dingen beilegt. Er entstellt sie also mehr oder weniger durch die Ausdehnung, die er ihr gibt.<br />

[...] Die verschiedenen Begriffe, die wir von den Eigenschaften eines Dinges bilden, beschreiben so um dieses<br />

herum ebenso viele immer weiter um sich greifende Kreise, von denen keiner mit dem Dinge sich selbst deckt.«<br />

(DSW, 189 / 1400-1401) In diesem Sinne sind sprachliche Argumente in Bergsons Metaphysik von vornherein<br />

ausgeschlossen. (Vgl. zur Unbegrifflichkeit des Absoluten auch Anm. 30).<br />

39 Wenn in seiner unbegrifflich angelegten Metaphysik überhaupt ein Argumentationsgang angelegt sein soll, so<br />

besteht dieser am ehesten in seiner spezifischen Verwendungsweise des intuitiven Bildes.<br />

15


Gegenstand auch richtig angegangen und untersucht werden. In diesem Sinne ist jede<br />

Argumentation von einem ihr zu Grunde liegenden Bild geprägt, von dessen Richtigkeit der<br />

Erfolg der daraus geschlossenen Folgerungen abhängt. Das Bild kann also in Bergsons<br />

Philosophieren generell als argumentative Grösse gesehen werden – wo nicht selbst als<br />

Argument, wie z.B. in seiner Metaphysik, so doch als eine jeder Argumentation impliziten<br />

Voraussetzung.<br />

Die Wichtigkeit der richtigen Bilderwahl demonstriert Bergson selbst in seinem<br />

Philosophieren: Auf einzigartige Weise vermag er immer wieder scheinbar widersprüchliche<br />

und gegensätzliche Anschauungen der Philosophie als je verschiedene Interpretationen eines<br />

ihnen zu Grunde liegenden Bildes zu verstehen und damit zu vereinen. Dieses Vorgehen<br />

nennt der Leszek Kolakowski »recoupage«. 41 Scheinbare Gegensätzlichkeiten lösen sich dabei<br />

als unterschiedliche Auslegungen eines ihnen implizit zu Grunde liegenden Bildes auf. Die<br />

Recoupage ermöglicht ihm, sämtliche Divergenzen zweier widersprechender Systeme als<br />

Produkt einer falschen, geteilten Annahme zu verstehen, die sich bereits in ihrer falsch<br />

gestellten Frage zeigt 42 . In Materie und Gerdächtnis überwindet Bergson den scheinbar<br />

unüberbrückbaren Gegensatz von Realismus und Idealismus dadurch, dass er ihnen das<br />

(intuitive) Bild des (epistemischen) Bildes zu Grunde legt. 43 In der Schöpferische Entwicklung<br />

40 Bergson formuliert diese These in seinem Vorwort zu Zeit und Freiheit in einer rhetorischen Frage: »Es liesse<br />

sich jedoch die Frage aufwerfen, ob nicht die unübersteiglichen Schwierigkeiten, die gewisse philosophische<br />

Probleme bieten, daher kommen, dass man dabei beharrt, die Erscheinungen, die keinen Raum einnehmen, im<br />

Raume nebeneinander zu ordnen, und ob sich der Streit nicht oft dadurch beenden liesse, dass man von den allzu<br />

groben Bildern abstrahiert, um die er sich abspielt« (ZF, 7 / 4).<br />

41 Vgl. L. Kolakowski (op. cit.) 13-14. Kolakowski stellt die Recoupage Bergsons als Hinterfragen der<br />

Gemeinsamkeit zweier entgegengesetzten Systeme dar. Sie sei dadurch gekennzeichnet, dass Bergson sich<br />

fragte, »an welchem Punkte sie (die beiden Systeme) sich kreuzten, das heisst, was ihnen gemeinsam war.<br />

Daraufhin zeigte er, dass beide eine falsche Annahme teilten [...]. Auf diese Weise brachte er sich in die Lage,<br />

das Problem an seiner Wurzel zu packen« (ebd.). Kolakowski vertritt also die Ansicht, Bergson sei durch die<br />

Analyse der beiden Systeme auf die ihnen zu Grunde liegende Gemeinsamkeit gestossen. Die Recoupage besteht<br />

dabei in der vereinigenden Textanalyse. Wir hingegen sind der Meinung, dass erst das Setzen eines Bildes –<br />

einer neuen strukturellen Bedingung für Prämissen – diese Recoupage ermöglicht. Das fundamentale Bild wird<br />

nicht induktiv über die Gemeinsamkeit der Systeme erschlossen, sondern die beiden Systeme werden als<br />

deduktiv einseitig gefolgerte Auslegungen dieses Bildes erfasst. Somit wird das Bild zur wichtigsten<br />

argumentativen Kraft seiner Recoupage.<br />

42 Gerade dieses Phänomen der Recoupage, die falsche Prämissen als Ausdruck eines falsch verstandenen oder<br />

an sich falschen Bildes entlarvt, verweist auf die argumentative Grösse, die dem Bild im Rahmen einer<br />

strukturellen Bedingung für richtige Prämissen zukommt: Die richtigen Prämissen können nur aufgrund eines<br />

richtigen Bildes entwickelt werden.<br />

43 In seiner in Materie und Gedächtnis ausgeführten Theorie der Wahrnehmung geht Bergson von dem für uns<br />

und für den gesunden Menschenverstand immer schon gegebenen aus: Von der Welt wie sie uns a priori<br />

erscheint – von einer Ansammlung von Bildern (vgl. MG, 1 / 169). Aus diesen Bildern besteht die ganze Welt:<br />

Sie erscheint uns grundsätzlich in zwei verschiedenen Bildsystemen. Im einen sind Bilder a-zentrisch oder<br />

ungeordnet, stehen in kausaler Abhängigkeit zu einander und sind Naturgesetzen unterworfen. Es sind dies die<br />

Bilder, die man gewöhnlich Dinge der Welt nennt. Im anderen sind sie konzentrisch um ein ausgezeichnetes Bild<br />

– mein Leib – angeordnet und sie ändern sich, sobald dieses ausgezeichnete Bild seine Lage verändert. Diese<br />

Bilder werden gemeinhin Wahrnehmungen der Welt genannt. Die Widersprüchlichkeit oder die Inkompatibilität<br />

von Realismus und Idealismus diagnostiziert Bergson in ebendieser dualen Erscheinungsweise der Welt: Der<br />

Realist bezieht sich in seinen Erklärungen auf die Wissenschaft, der gemäss alle Bilder in einer Ebene kausal<br />

16


geschieht dasselbe mit dem Gegensatz zwischen Finalismus und Mechanismus. Für diese<br />

Recoupage verwendet Bergson das Bild des élan vital – der ›Lebensschwungkraft‹, die für<br />

den Bergsonismus schon fast emblematisch wurde. Der Grundirrtum der beiden<br />

Erklärungsansätze Finalismus und Mechanismus entdeckt Bergson in ihrer Unfähigkeit die<br />

Dauer zu erkennen, was sich in der ihnen gemeinsamen deterministischen Konsequenz<br />

äussert: In der Zweckmässigkeitslehre<br />

wie in der mechanistischen Hypothese, wird vorausgesetzt, es sei alles gegeben. So<br />

angegeben ist der Finalismus nur ein umgekehrter Mechanismus. Ihn beseelt das gleiche<br />

Postulat; mit dem einzigen Unterschied nur, dass er die Leuchte, mit der er unsere<br />

endlichen Intelligenzen auf ihrer Wanderung durch das ganz und gar scheinhafte<br />

Nacheinander der Dinge führen will, vor uns statt hinter uns aufpflanzt. [...] Einer wie der<br />

andere lehnt es ab, im Fluss der Dinge oder auch nur in der Entwicklung des Lebens eine<br />

unvorhersehbare Schöpfung von Form zu erblicken. (SE, 45 & 51 / 528 & 533)<br />

Das Bild des élan vital ermöglicht Bergson die beiden widersprüchlichen Systeme als<br />

Konsequenz einer einseitigen Interpretation dieser ›Lebensschwungkraft‹ zu sehen. Er<br />

erkennt, dass Finalismus und Mechanismus »beide im Grunde nur Gesichtspunkte des<br />

menschlichen Geistes sind« (SE, 95 / 571). 44 So legt der Finalismus in der<br />

Entwicklungsgeschichte eines Organs sein Augenmerk auf dessen Funktion, dessen<br />

Verwirklichung ihm als einfacher Plan schon immer vorgeschwebt hat, während der<br />

Mechanismus dieselbe Entstehung aus dem Aufbau seiner Bestandteile zu erklären versucht 45 .<br />

Doch beide verkennen den jeder Entwicklung zu Grunde liegenden Akt des élan vital.<br />

Bergson veranschaulicht dessen Wirkungsweise mit einem Bild einer durch Eisenspäne<br />

gleitenden Hand.<br />

angeordnet sind. Er gerät jedoch in Konflikt, sobald er unsere Wahrnehmungen erklären muss, bei der sich<br />

Bilder zentrisch anzuordnen scheinen. Im Gegensatz dazu geht der Idealist vom Bewusstsein, dem System der<br />

zentrisch angeordneten Bilder aus. Er gerät in Verlegenheit, sobald objektive Kriterien aufstellen soll oder wenn<br />

er versucht über die äussere Welt Prognosen anzustellen, weil er damit auf eine kausale Ordnung der Bilder<br />

zurückgreifen müsste (vgl. MG, 229 / 361).<br />

44 Das weist wiederum auf Bergsons grundlegende Unterscheidung zwischen absoluter (intuitiver) und relativer<br />

(wissenschaftlicher, alltäglicher) Erkenntnis (vgl. Abschnitt III). Letztere ist gesichtspunktabhängig und zwar<br />

vom Gesichtspunkt des Menschen abhängig. Die Medien der Intelligenz und der Analyse – Wahrnehmung,<br />

Verstand, Wissenschaft, Sprache – sind Gesichtspunkte des menschlichen Geistes. Demgegenüber ist die<br />

metaphysische Erkenntnis absolut, sie erfolgt von keinem Gesichtspunkt aus, sie ist – um eine Wendung des<br />

amerikanischen Philosophen Thomas Nagel aufzunehmen – eine View From Nowhere. Bergsons Intuition sollen<br />

auch dazu dienen, diesen Ort ohne Gesichtspunkt zu erreichen. Die intuitiven Bilder dienen dazu, die<br />

gewöhnliche Richtung des menschlichen Gesichtspunkts umzukehren, sozusagen dessen habituelle<br />

Blickrichtung umzuwenden. Das ist der Grundgedanke, den F. C. T. Moore (op. cit.) bei Bergson verfolgt:<br />

»thinking backwards«. (»Philosopher consiste à invertir la direction habituelle de la pensée.«). Die intuitiven<br />

Bilder dienen jedoch auch dazu, den menschlichen Gesichtspunkt zu überschreiten und über ihn hinauszudenken.<br />

Das ist der Grundgedanke, den K. Ansell Pearson (op. cit) bei Bergson verfolgt: »to think beyond the human<br />

condition«.<br />

45 Die Entwicklung eines so komplexen Organs wie das Auge erklärt der Finalismus mit dessen Funktion, die als<br />

Einheit erscheint: Das Auge sei so entstanden, damit man sehen könne. Der Mechanismus erklärt sie, indem sie<br />

auf seine Bestandteile verweist, deren Anzahl sich jedoch je nach Genauigkeit der Analyse beliebig vergrössert.<br />

Während sich diese Bestandteile des Auges nach mechanistischer Theorie spontan nach den Grundsätzen der<br />

Mutation und Selektion nach und nach herausgebildet haben, versieht der Finalismus zur Garantie dieses<br />

einfachen Resultats diese Entstehung noch mit einem organisierenden Plan (vgl. SE, 94 / 569).<br />

17


Stellt man sich dagegen vor, dass auch die Hand, statt durch Luft zu durchgleiten, sich<br />

durch Eisenfeilicht schiebe, der sich zusammendrängt und im Mass ihres Vordringens<br />

Widerstand leistet, dann würde die Kraft meiner Hand, in einem bestimmten Moment<br />

erlahmen, und in demselben Moment würde die Eisenkörner zu einer bestimmten Form,<br />

zur Form eben der innehaltenden Hand und eines Teils ihres Armes zusammengerückt<br />

und geordnet haben. Angenommen nun Hand und Arm wären unsichtbar geblieben.<br />

Würden dann die Zuschauer den Grund der Gruppierung in den Eisenfeilspänen und in<br />

inneren Kräften der Masse selbst suchen? Wobei die einen die Lage jedes Körnchens auf<br />

die Wirkung zurückführen würden, die es von seinem Nachbarkörnchen erfährt: dies<br />

wären die Mechanisten; während andere behaupten würden, dass ein Gesamtplan über die<br />

elementaren Wirkungen gewacht habe; dies wären die Finalisten. Die Wahrheit aber ist,<br />

dass bloss ein unsichtbarer Akt existiert hat, jener der Hand, der das Eisenfeilicht teilte:<br />

die unerschöpfliche Zerlegtheit der Körnchenbewegung ebenso wie das Gesetz ihrer<br />

schliesslichen Gruppierung ist gewissermassen nur ein negativer Ausdruck dieser<br />

ungeteilten Bewegung [...]. (SE, 100 / 575-576)<br />

Das ›richtige‹ Bild – das Bild des élan vital – ist in diesem Falle die Bedingung dafür, dass<br />

die phänomenalen Vorgänge korrekt erklärt und verstanden werden können. Ohne dieses<br />

muss man unweigerlich in einen Mechanismus oder Finalismus verfallen. Dieses richtige Bild<br />

ist zugleich die Grundlage der Recoupage: Das fundamentale Bild wird nicht durch die beiden<br />

gegensätzlichen Systeme induziert, diese werden vielmehr ausgehend von demselben<br />

deduziert. 46 In diesem Sinne ist auch Bergsons eindrücklichstes Argumentationsmuster der<br />

Recoupage wesentlich vom Bild abhängig. Sie kann erst stattfinden, nachdem ein geeignetes<br />

Bild eingeführt worden ist, das die beiden zu überwindenden Systeme durch eine gemeinsame<br />

Grundlage zu vereinen vermag. Denn gerade weil das richtige Bild – als strukturelle<br />

Bedingung für richtige Prämissen – nicht vorhanden war, verfingen sich die beiden<br />

konkurrenzierenden Systeme in unüberwindbaren Schwierigkeiten und Differenzen,<br />

insbesondere weil beide in ihrem Rahmen plausibel, jedoch in ihren einseitig verfassten<br />

Bildern selbst gefangen waren.<br />

Die argumentative Kraft, die in Bergsons Bildern steckt, lässt sie unter einem neuen<br />

Gesichtspunkt erscheinen: Das intuitive Bild, das zunächst zur metaphysischen Erkenntnis<br />

dient, übernimmt im Bereich der Metaphysik oder in der Recoupage wichtige Funktionen<br />

seiner Argumentation und wird dabei wesentlicher Bestandteil der Methode Bergsons.<br />

46 So kann Bergson Realismus und Idealismus erst tiefgründig miteinander vereinen, nachdem er für seine<br />

Wahrnehmungstheorie das Bild des (epistemischen) Bildes eingeführt hat. Erst nach dem Setzen dieser<br />

fundamentalen Bedingung können diese beiden Systeme als je verschiedene Deutungen dieses Bildes gesehen<br />

werden. Denn die Tatsache, dass es sich bei den verschiedenen kontradiktorischen Systemen um einseitige<br />

Interpretationen des ihnen zu Grunde liegenden Bildes handelt, ist offensichtlich und bestechend einfach<br />

einzusehen, sobald das Bild nur gesetzt ist. Zu dieser Einsicht ist auch ein Realist und Idealist fähig. Nur muss zu<br />

dieser Einsicht das entsprechende Bild bereits vor der Recoupage eingeführt werden.<br />

18


V. Das methodische Bild: Familienähnlichkeiten am Beispiel von Das Lachen<br />

Die grossen Werke Bergsons werden weniger mit Hilfe einer (oder mehrerer) zentralen(r)<br />

These(n) strukturiert, als vielmehr entlang eines zentralen Bildes (»image centrale«). Gemäss<br />

Bergsons Methode und seiner Theorie der Intuition ist das wenig verwunderlich. Ein Bild ist<br />

ein Nukleus, dem die Energien der philosophischen Reflexion Bergsons für einem<br />

bestimmten Problembereich entströmen und in dem sie sich immer wieder konzentrieren. Das<br />

zentrale Bild für Zeit und Freiheit ist der Gegensatz zwischen einem ›oberflächlichen<br />

Krusten-Ich‹ und einem ›tiefen Zeit-Ich‹ (ZF, 93-97 & 171 / 82-86 & 151); 47 dasjenige für<br />

Materie und Gedächtnis ist das Bild des Bildes selbst; dasjenige für Schöpferische<br />

Entwicklung ist das Bild des élan vital; 48 schliesslich durchzieht Die beiden Quellen der<br />

Moral und der Religion das Bild der geschlossenen und der offenen Gesellschaft. Im<br />

Folgenden wollen wir die methodische Funktion des Bildes bei Bergson an Das Lachen<br />

exemplifizieren und seine Arbeit am Bild in einer makroskopischen Perspektive, im<br />

Unterschied zur an Einführung in die Metaphysik exemplifizierten mikroskopischen<br />

Perspektive (Abschnitt III), darstellen. Das Lachen, oft als Gelegenheitsarbeit vernachlässigt,<br />

versammelt in hervorragender Weise zentrale Momente des Bergsonismus. 49 Wir werden<br />

jedoch weniger die inhaltlichen als die methodischen Momente hervorheben.<br />

Bergson macht in Das Lachen von Anfang an deutlich, dass es nicht um eine Definition des<br />

Komischen geht, »dass es uns fern liegt, das Wesen des Komischen [la fantaisie comique] in<br />

eine Definition zu zwängen. Wir sehen in ihm vor allem etwas Lebendiges.« (L, 5 / 387) 50 Er<br />

hält dafür, dass Definitionen (mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen versehen)<br />

hier fehl am Platz sind. Dieser Punkt ist von Kritikern oft übersehen worden. 51 Allerdings<br />

setzen die Fragen, mit denen Bergson das erste Kapitel eröffnet, die Leserschaft auf eine<br />

falsche Fährte. Denn es macht den Anschein, als wolle Bergson die klassische sokratische<br />

Was-ist-X-Frage nach der Essenz des Lachens und des Komischen beantworten. 52 Doch das<br />

47 Vgl. H. Hude (op. cit., Bd. I) 151-3.<br />

48 Vgl. J. Theau (op. cit.) 94-95; K. Ansell Pearson (op. cit.) Kap. 5: »The élan vital as an image of thought:<br />

Bergson and Kant on finality«.<br />

49 Vgl. F. C. T. Moore (op. cit) 66-90.<br />

50 Der Titel des Appendix zu Das Lachen lautet: »Sur les définitions du comique, et sur la méthode suivie dans<br />

ce livre.« Zu beachten ist, dass Bergson nicht vom »Wesen des Komischen«, sondern von »la fantaisie comique«<br />

spricht. Das steht in Übereinstimmung mit unserer anti-essentialistischen Deutung von Das Lachen.<br />

51 Ein frappierendes Beispiel ist B. Russells Kritik, die in folgendem Witz kulminiert: Bergson betrachtet das<br />

Lachen als eine Reaktion auf die Mechanisierung von Lebendigem; Bergson zwängt das Lachen (immerhin ein<br />

ausgezeichnetes Phänomen des Lebendigen) in Das Lachen in eine mechanische Definition; also ist Bergsons<br />

Buch zum lachen (oder lächerlich). Das mag als Beispiel für Russells Humor hingehen, verfehlt aber<br />

vollkommen Bergsons Intentionen; vgl. B. Russell: »A Professor’s Guide to Laughter« von 1912, in: The<br />

Collected Papers of Bertrand Russell, vol. 6, Routledge: London, 1992, 309-312.<br />

52 Vgl L, 1 / 387 : »Was ist das Wesen des Lachens ? Was liegt allem Lächerlichen zugrunde ? Was haben [...]<br />

gemeinsam ? Wie destillieren wir die Substanz heraus, die so verschiedenen Dingen das gleiche, bisweilen<br />

19


Gegenteil ist der Fall. Bergson geht von einem zentralen Bild aus: »unser zentrales Bild [...]:<br />

Mechanisches als Überzug, als Kruste über Lebendigem [notre image centrale: du mécanique<br />

plaqué sur du vivant].« (L, 41 / 414) Das Komische wird laut Bergson durch die<br />

Mechanisierung von Lebendigem (nicht definiert, sondern) produziert 53 und das Lachen ist<br />

gleichsam die bestrafende Reaktion auf diesen Prozess. Bergson führt dieses Bild (oder<br />

»Leitmotiv«; L, 18 / 397) an früher Stelle ein und entwickelt es im weiteren Verlauf des<br />

Werks, um stets wieder darauf zurück zu kommen. Wie entwickelt Bergson das »image<br />

centrale«?<br />

Am Beispiel einer Person, deren Körper in einer komischen Pose erstarrt, gibt Bergson<br />

folgende methodische Anweisung:<br />

Man sehe einmal mit dem Auge und lasse alle Reflexion und vor allem alles<br />

Raisonnement beiseite. Wenn wir alles vergessen, was wir wissen, und auf den<br />

unmittelbaren, den ursprünglichen, naiven Eindruck zurückgehen, dann kommen wir<br />

sicher zu einer Vorstellung dieser Art. (L, 19-20 / 398) 54<br />

Wir sehen, so Bergson, dass Körper komisch in dem Masse sind, als ihre Posen, Gesten und<br />

Bewegungen uns an einen simplen Mechanismus erinnern (wo wir eine lebendige oder<br />

spontane Bewegung erwartet hätten). 55 Es ist wichtig, dass Bergson hier sagt »erinnert an<br />

[nous fait penser à]« (L, 23 / 401), denn er entwickelt das »image central« anhand weiterer<br />

Bilder, die mit dem ursprünglichen Bild eine gewisse Ähnlicheit oder Verwandtschaft<br />

aufweisen. Im Kapitel 1 (das die Komik der Formen und Bewegungen behandelt) geht<br />

Bergson den folgenden Bildern nach: Das Bild des verkleideten Körpers, 56 das Bild der im<br />

Körper eingeschlossenen Seele, das Bild einer Person als Sache. Im Kapitel 2 (das die<br />

Situations- und die Sprachkomik behandelt) entwickelt Bergson den folgenden Bilder-<br />

Dreischritt: der Springteufel, die Marionette, der Schneeball(effekt), 57 um schliesslich auf<br />

abstraktere und generelle Strukturen des Komischen zu kommen, welche sowohl komische<br />

Situationen als auch das komische Sprechen beherrschen können: die Repetition, die<br />

Inversion und die Interferenz von Serien (L, 80 / 443). Diese Weiterentwicklungen des<br />

zentralen Bildes werden durch Bergson stets an einer Vielzahl empirischer (alltäglicher und<br />

aufdringlich starke, bisweilen ganz diskrete Aroma verleiht [Quelle distillation nous donnera l’essence, toujours<br />

la même]?« Man sieht in der letzten Frage, wie Bergson mit dem Essentialismus in der Doppelbedeutung von<br />

Aroma / Essenz spielt.<br />

53 Vgl. L, 484 : »J’ai tenté quelque chose de tout différent. J’ai cherché dans la comédie, dans la farce, dans l’art<br />

du clown, etc., les procédés de fabrication du comique.« Der Appendix ist in der deutschen Ausgabe nicht<br />

übersetzt worden, da er aus einer späteren Auflage stammt.<br />

54 Der Charakter einer methodischen Anweisung zeigt sich im Original besser: »Tâchez de voir avec vos yeux<br />

seulement. Ne réfléchissez pas et surtout ne raisonnez pas. Effacez l’aquis; allez à la recherche de l’impression<br />

naïve, immédiate, originelle.«<br />

55 Vgl. L, 22-23 / 400 ; ein ausgezeichnetes Beispiel stellt Chaplin in Modern Times dar.<br />

56 Vgl. zu diesem Bild SE, 6 / 493.<br />

57 Vgl. zu diesem Bild SE, 9 / 496.<br />

20


literarischer) Beispiele exemplifiziert. Dadurch entstehen Anwendungen, Ausdehnungen und<br />

Modifikationen des ursprünglichen, zentralen Bildes.<br />

Diese unterschiedlichen Triaden scheinen weit entfernt vom ursprünglichen zentralen Bild zu<br />

sein. Bergson gibt das zu und erläutert:<br />

All das ist vom Urgrund des Lachens [cause originelle] ziemlich entfernt. Manche<br />

komische Erscheinung, die an sich unerklärlich ist, wird in der Tat nur durch ihre<br />

Ähnlichkeit [ressemblance] mit einer anderen verstanden, die ihrerseits nur durch ihre<br />

Verwandtschaft [parenté] mit einer dritten komisch wirkt, und so geht das lange weiter,<br />

[...] Durch welchen Druck, welchen seltsamen stoss gleitet das Komische so von Bild zu<br />

Bild [d’image en image], immer weiter weg von seinem Ursprung [point d’origine], bis<br />

es sich in unendich fernen Analogien bricht und verliert ? Aber wir fragen ja auch :<br />

welche Kraft teilt die Äste des Baumes in Zweige, die Wurzeln in Würzelchen ? Ein<br />

strenges Gesetz nötigt jede lebendige Energie, in der kurzen Zeit, die ihr gegeben ist, sich<br />

soviel Raum zu erobern [couvrir], wie sie irgend kann. (L, 46 / 417-418)<br />

Ein rhizomartiges Geflecht der Ähnlichkeit und Verwandtschaft verbindet die verschiedenen<br />

Formen des Komischen mit dem ursprünglichen, zentralen Bild. 58 Die von uns<br />

hervorgehobenen Momente – der Verzicht auf die Definition, die methodische Anweisung,<br />

das »image centrale«, die Entwicklung von weiteren Bildern, die Exemplifizierng anhand<br />

zahlreicher Beispiele, die Betonung organischer Ähnlichkeiten und Verwandtschaften, die<br />

stete Rückkehr zum zentralen Bild – veranschaulichen aufs beste Bergsons Methode der<br />

Intuiton.<br />

Erstaunlicherweise liegt hier ein Vergleich mit dem späten Wittgenstein auf der Hand. In den<br />

Philosophischen Untersuchungen lenkt Wittgenstein unsere Aufmerksamkeit auf die<br />

verschiedenen Spiele (Brett-, Karten-, Ball-, Kampfspiele, usw.):<br />

Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: »Es muss ihnen etwas gemeinsam sein,<br />

sonst hiessen sie nicht ›Spiele‹« - sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. –<br />

Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam<br />

wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe.<br />

Wie gesagt: Denk nicht, sondern schau! [...] Ich kann diese Ähnlichkeit nicht besser<br />

charakterisieren als durch das Wort »Familienähnlichkeiten«; denn so übergreifen und<br />

kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie<br />

bestehen... 59<br />

Wittgensteins methodische Anweisung (»Denk nicht, sondern schau!«) ist dieselbe, die<br />

Bergson gibt (»Tâchez de voir avec vos yeux seulement. Ne réfléchissez pas et surtout ne<br />

raisonnez pas.«). Der Unterschied besteht freilich darin, dass Bergson diese Anweisung als<br />

Beitrag zur metaphysischen Intuition versteht und nicht – wie Wittgenstein – als eine<br />

Aufmerksamkeit auf den alltäglichen Sprachgebrauch, der durch den philosophischen irritiert<br />

58 Bergsons Ausführungen bleiben jedoch der Frage gegenüber ambivalent, ob dieses Geflecht eine Erscheinung<br />

in der Produktion oder in der Rezeption des Komischen ist. Die Formulierung »nous fait penser à« lässt auf<br />

letzteres schliessen, die Formulierung »les procédés de fabrication du comique« hingegen auf ersteres. Eine ganz<br />

ähnliche Ambivalenz lässt sich in der im dritten Abschnitt dargestellten Arbeit am intuitiven Bild ausmachen.<br />

59 Philosophische Untersuchungen, §§ 66 & 67.<br />

21


wird. 60 Worin besteht Wittgensteins Pointe, auf die er mit seinem Begriff der<br />

»Familienähnlichkeit« hinaus möchte? Worin besteht, wie Wittgenstein sagt, »grosse Frage,<br />

die hinter allen diesen Betrachtungen steht«? Wittgenstein meint, er wolle darauf verzichten<br />

»etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist«. Stattdessen ist<br />

»diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam«, sondern sie »sind miteinander in vielen<br />

verschiedenen Weisen verwandt«. 61 Bergson meint, dass es nichts gibt, was dem Lachen oder<br />

den Formen des Komischen (der Komik von Gesten, Posen, Bewegungen, Situationen,<br />

Äusserungen oder Charakteren, usw.) im Sinne einer Definition mit notwendigen und<br />

hinreichenden Bedingungen gemeinsam ist, sondern es gibt Ähnlichkeiten und<br />

Verwandtschaften. Im Unterschied zu Wittgensteins striktem Anti-Essentialismus, ist<br />

Bergsons Ablehnung der Definition nicht anti-essentialistisch. Vielmehr geht sie von der<br />

Unterscheidung zweier Erkenntnisarten, der Intuition und der Analyse, aus. Die Analyse, die<br />

definitorisch vorgeht, findet gerade keinen Zugang zur Essenz der Dinge und die Essenz<br />

zeichnet sich auch nicht durch den von den Einzelphänomenen abstrahierten kleinsten Nenner<br />

aus (das Gemeinsame). Vielmehr vermag die in der Intuition erfasste Essenz zur Produktion<br />

eines »image centrale« anzuregen, das dann in weitere Bilder weiterentwickelt werden kann,<br />

welche auf »Familienähnlichkeiten« beruhen. Bergson möchte, im Unterschied zu<br />

Wittgenstein, nicht keine Metaphysik betreiben, sondern eine in seinen Augen angemessenere<br />

Metaphysik. Aus diesen Gründen vertraut Bergson den Bildern und betrachtet sie nicht, wie<br />

Wittgenstein, primär als philosophische Vexierbilder, die unser Denken gefangen halten.<br />

Bergsons Gedanke kann – wie gesagt – so formuliert werden: Wenn es Bilder gibt, die unser<br />

Denken gefangen halten, dann muss es auch Bilder geben, die unser Denken befreien. Für<br />

Bergson besteht der entscheidende Unterschied dieser befreienden Bilder gegenüber den<br />

durch ihn kritisierten Bilder gerade in ihrer Entwicklungsfähigkeit und ihrer Fähigkeit, einen<br />

Bereich methodisch zu strukturieren. In Das Lachen spricht Bergson von einer Beweglichkeit<br />

der Intelligenz, die »sich genau nach den beweglichen Umständen richtet [se règle<br />

exactement sur la mobilité des choses]«. (L, 123 / 475) Dass Bergson hier von Genauigkeit<br />

oder Exaktheit spricht, ist kein Zufall. Es handelt sich um jene Exaktheit oder Präzision<br />

(»précision«), welche er zu Beginn der grossen Einleitung zu Denken und schöpferisches<br />

Werden (DSW, 21-27 / 1253-1254) der Philosophie gegenüber einklagt. 62 In Das Lachen<br />

60 Vgl. ebd., §§ 11 & 38.<br />

61 Ebd., § 65.<br />

62 Vgl. F. C. T. Moore (op. cit.) 14-17 zu Bergsons Begriff der Präzision im Kontrast zu Descartes, dessen<br />

Kriterium der klaren und deutlichen Idee formal gleichgültig gegenüber dem Gegenstand verhält und analytisch<br />

durch das Vorgehen der Auflösung eines Problems in seine einfachen Bestandteile bestimmt ist: »Precision<br />

would become a matter of pure methodology: a style of thought« (ebd., 14). Demgegenüber ist Bergsons<br />

Präzision »a matter of adequacy to the subject-matter« (ebd., 16).<br />

22


spricht Bergson von einem bestimmten komischen Charaktertyp, der einer Logik des<br />

Absurden folge, vom »Typ eines Menschen, der einer einzigen Idee nachgeht«. (L, 124 / 476)<br />

Dieser Typ zeichne sich dadurch aus, dass er die Dinge nach einer Idee – oder: nach einer<br />

Definition – modelliert und nicht die Ideen nach den Dingen. Die exemplarische Gestalt<br />

dieser »folie normale« stellt sich für Bergson in Don Quichote dar. (ebd.) Wer nach dem<br />

Komisch-Gemeinsamen im Sinne einer Definition mit notwendigen und hinreichenden<br />

Bedingungen sucht, betreibt philosophische Donquichotterie. Bergson deutet hier – und an<br />

anderen Stellen in Das Lachen – an, dass seine Figuren des Komischen als implizite Kritik an<br />

bestimmten falschen Problemstellungen und Methoden der Philosophie gelesen werden<br />

können. Denn die falschen Bilder der Philosophie lassen sich um dasselbe »image centrale«<br />

gruppieren, wie das Komische, nämlich als als Überzug, als Kruste über Lebendigem, als »du<br />

mécanique plaqué sur du vivant«. 63<br />

VI.<br />

Schluss: Bergsons Bilder und das Bild Bergsons: »rien de mystérieux«<br />

Wir sind dem intuitiven Bild Bergsons gefolgt und haben dessen Bearbeitungen im<br />

methodischen und argumentativen Bild aufgezeigt. Dies im Unterschied, aber nicht im<br />

Gegensatz, zu den Studien, die sich auf Bergsons epistemischen Bildbegriff (als Zeit-,<br />

Bewegungs-, Wahrnehmungs- oder Gedächtnis-Bild) konzentrieren. 64 Wir haben aufgezeigt,<br />

in welchem Sinne es richtig ist zu behaupten, dass Bergson Bilder anstelle von Argumenten<br />

und Definitionen verwendet. Wir haben Bergsons Bilderarbeit in den Kontext der<br />

philosophischen Bilderjagd des 20. Jahrhunderts gestellt. Beides im Unterschied und im<br />

Gegensatz zu den philosophischen Verächtern Bergsons. Wir haben das Bild und die Arbeit<br />

an ihm in die Nähe der philosophischen Intuition und damit ins Zentrum des Bergsonismus<br />

gerückt. Dies ganz im Sinne von Bergson selbst, wie die oft zitierte Briefstelle an Harald<br />

Höffding belegt. 65 Welches Bild Bergsons entsteht so? 66<br />

Die bergsonsche Intuition – genauer: deren Gegensatz zur Analyse – stellt ein zentrales<br />

Problem in der Rezeption Bergsons dar. Von seinen Anhängern wurde sie als grosse<br />

63 Man vergleiche dazu nur, was Bergson über die drei ersten aus diesem ursprünglichen Bild weiterentwickelten<br />

Bilder (das Bild des verkleideten Körpers, der im Körper eingeschlossenen Seele und einer Person als Sache)<br />

schreibt: L, 28-46/404-418.<br />

64 Vgl. etwa M. Vrhunc (op. cit.), G. Deleuze (op. cit., 1989 & 1991), F. C. T. Moore (op. cit.).<br />

65 In H. Bergson : Mélanges (textes publiés et annotés par A. Robinet avec la collaboration de M.-R. Mossé-<br />

Bastide, M. Robinet et M. Gauthier ; avant propos par H. Gouhier), Paris: PUF, 1972, 1148: »[...] le centre<br />

même de la doctrine: l’intuition de la durée«.<br />

66 Wir haben zu Beginn auf diese Frage von S. Schwartz hingewiesen: »[W]e must always ask which image of<br />

Bergson is under consideration”, S. Schwartz: ”Bergson and the Politics of Vitalism«, in: F. Burwick & P.<br />

Douglas (op. cit.) 303.<br />

23


Befreiung von der Moderne gefeiert, als Lebensphilosophie mit transzendenten (mystischen<br />

und religiösen) Einschlägen, die hoch über den praktischen und naturwissenschaftlichen<br />

Niederungen bloss diskursiver, analytischer Erkenntnis stehe. 67 All das im Gegensatz zu<br />

Bergsons moderatem Modernismus, zu seiner Beteuerung der Immanenz der Intuition und<br />

seiner Betonung der Gleichwertigkeit intuitiver und analytischer Erkenntnis. Bergsons Gegner<br />

nahmen ihn aus demselben Blickwinkel wahr wie die Anhänger, nur mit umgekehrten<br />

Vorzeichen: als anti-modernistischen, anti-wissenschaftlichen, reaktionären, irrationalen<br />

Metaphysiker, der über ein ominöses Erkenntnisorgan, Intuition oder Instinkt genannt,<br />

verfügt. 68 Hier haben wir das Bild Bergsons als eines neuen Mystikers oder als eines neuen<br />

Irrationalisten. Bereits eingangs haben wir darauf hingewiesen, dass diese entgegengesetzte<br />

Bewertung Bergsons unter anderem mit seiner Verwendung von Bildern zu tun hat und dass<br />

Bergson schliesslich mit zu den Opfern der philosophischen Bilderjadg des 20. Jh. gehört<br />

(Abschnitt I). Zugleich kann aber nochmals hervorgehoben werden, dass Bergson selbst an<br />

dieser Jagd teilnimmt, ja sie mitinitiiert (Abschnitt II) und mit der Recoupage eine darauf<br />

aufbauende, genuin philosophische Methode praktiziert (Abschnitt IV).<br />

Positiv oder negativ ist in den beiden extremen Bewertungen der Gegensatz zwischen<br />

intuitiver und analytischer Erkenntnis (oder Intellekt) zentral. 69 Bergson, der sich selber als<br />

einen Dualisten besonderer Art bezeichnet, ist auch epistemologisch Dualist. Wie kann der<br />

scharfe Gegensatz überwunden werden? Man kann eine Arbeitsteilung vorschlagen. In der<br />

schwachen Version ist die Intuition die kreative Vorstufe der Analyse; oder wie der<br />

Wissenschaftstheoretiker Henri Poincaré es formuliert: »C’est par logique qu’on démontre,<br />

c’est par l’intuition qu’on invente.« 70 Man kann darauf hinweisen, dass die Intuition sehr wohl<br />

am Anfang eines Erkenntnisprozesses stehen kann und wissenschaftlichen Entdeckungen<br />

schwer nachvollziehbare psychische Prozesse zugrunde liegen mögen. Die Überprüfung der<br />

Resultate aber ist eine Sache des diskursiven und logischen Denkens. 71 In einer stärkeren<br />

Version hingegen ist die Intuition Zugriff auf das Wahre, auf die Realität; oder wie Edouard<br />

Le Roy, ein Schüler Bergsons, es formuliert:<br />

67 In aller Klarheit bei F. Meyer: Pour connaître la pensée de Bergson, Grenoble: Les Editions Françaises<br />

Nouvelles, 1944, 85: Die Intuition sei »connaissance plus parfaite que la connaissance mécanistique et<br />

symbolique.«<br />

68 Stellvertretend, wie fast immer, die Malice von B. Russell (op. cit.) 756 & 758: »The main effect of Bergsons<br />

philosophy was conservative, and it harmonized easily with the movement which culminated in Vichy. But<br />

Bergson’s irrationalism made a wide appeal [...] in the main intellect is the misfortune of man, while instinct is<br />

seen at its best in ants, bees, and Bergson.«<br />

69 Vgl. P. A. Y. Gunter: »The Dialectic of Intuition and Intellect: Fruitfulness as a Criterion« in: A. C.<br />

Papanicolaou / P. A. Y. Gunter (op. cit.) 3-18.<br />

70 H. Poincaré: Science et méthode, Paris: E. Flammarion, 1924, 137.<br />

71 Für eine klare Formulierung dieser Ansicht, ganz ohne Bezug auf Bergson, vgl. H. Reichenbach: Elements of<br />

Symbolic Logic, New York: Macmillan, 1947, § 1.<br />

24


Il n’y a connaissance de l’immédiat que par intuition: et, réciproquement, l’intuition est<br />

toujours connaissance de l’immédiat. De là résulte – remarque d’importance capitale –<br />

que toute vraie intuition es nécessairement une intuition vraie. 72<br />

Die Analyse bleibt dem gegenüber in ihren Begriffen stecken, sie gelangt nicht über den<br />

Gesichtspunkt des Körpers, des praktischen Lebens, der Wissenschaft und der Sprache<br />

hinaus. Hier haben wir das Bild Bergsons als eines anspruchslosen Erkenntnispyschologen<br />

oder als eines anspruchsvollen Metaphysikers.<br />

Aber genau so wenig, wie Bergson der extremen Vereinnahmung einiger seiner Anhänger und<br />

der pauschalen Ablehnung einiger seiner Gegner und ihrer Verschärfung des Gegensatzes von<br />

Intuition und Analyse überlassen werden kann, sollte man den der Entschärfung des<br />

Gegensatzes im Sinne einer schwach oder stark interpretierten Arbeitsteilung beipflichten.<br />

Einige Interpreten entschärfen den Gegensatz auch dadurch, dass sie die Intuition und die<br />

Bilder Bergsons gleichsam übersehen und sich seinen diskuriven Erörterungen zuwenden<br />

oder indem sie die Intuition 73 und ihre Bilder intellektualisieren und aus der Intuition eine<br />

regelgeleitete Methode extrahieren (die sich so nicht einmal in den Naturwissenschaften<br />

findet). 74<br />

Keines dieser Bergsonbilder ist unser Bergsonbild. Wir haben Bergson als einen Philosophen<br />

zu charakterisiernen versucht, der mit und an Bildern arbeitet. Nicht der Gegensatz zwischen<br />

Intuition und Analyse ist für unser Verständnis von Bergson. leitend, auch nicht seine<br />

zentralen Gedanken der Realität der durée, oder des epistemischen Bildes oder der<br />

schöpferischen Entwicklung, sondern vielmehr das Bild selber. Denn mit und in Bildern<br />

spricht Bergson in den Gegensatz von Intuition und Analyse hinein und mit Bildern bewegt er<br />

seine zentralen Gedanken vorwärts und entwickelt sie. Es geht also nicht darum, den<br />

Gegensatz zwischen Analyse und Intuition zu verschärfen oder zu entschärfen. Vielmehr geht<br />

es darum zu sehen, dass Bergson sich stets in diesem Gegensatz bewegt und ihn immer schon<br />

überbrückt, nämlich mit dem intuitiven Bild – »une image qui est presque matière en ce<br />

qu’elle laisse encore voir, et presque esprit en ce qu’elle ne se laisse plus toucher« (DSW, 137<br />

/ 130) – und der Arbeit an ihm.<br />

Wie Bergson mit und an Bildern arbeitet, haben wir gezeigt. Nicht aufgezeigt wurde der<br />

andere Teil dieser Arbeit, den Bergson immer wieder betont. Er besteht in der<br />

Materialkenntnis eines wissenschaftlichen Gebietes. Die Intuition hat »nichts<br />

Geheimnisvolles an sich [rien de mystérieux]« (DSW, 224 / 1431). Sie erfolgt vielmehr aus<br />

72 Edouard Le Roy: La pensée intuitive, Paris: Boivin, 1929-1930, _______________<br />

73 Exemplarisch F. C. T. Moore (op. cit.).<br />

74 Das der Vorschlag von G. Deleuze (op. cit., 1989); zum Problem der wissenschaftlichen Methode vgl. P.<br />

Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1976.<br />

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der intensiven Beschäftigung mit einem Gegenstand, aus einem sich Vertiefen in die zu<br />

untersuchende Materie. Sie ist also mit einer Anstrengung verbunden und liegt nicht in einer<br />

blossen, müssigen Betrachtung. Die Intuition gelingt nicht, »wenn man nicht durch eine<br />

lange Vertrautheit mit ihren oberflächlichen Bekundungen ihr Vertauen gewonnen hat«.<br />

(DSW, 225 / 1432) Die Intuition ist aber nicht lediglich eine synthetische Gesamtschau eines<br />

Gebiets, wie Bergson mit einem Bild erläutert:<br />

Aber auch wenn man nur durch gesättigte Materialkenntnis zur metaphysischen Intuition<br />

vordringen kann, so ist sie doch etwas ganz andersartiges als das Resumé oder die<br />

Synthese dieser Erkenntnisse. Sie unterscheidet sich davon, wie der Bewegungsantrieb<br />

sich von dem Weg unterscheidet, den das bewegte Ding durchläuft, wie die Spannung der<br />

Feder sich unterscheidet von der sichtbaren Bewegung des Pendels. (ebd.)<br />

Aus der materiellen Beschäftigung mit einem Gebiet erst entsteht die Intuition und aus ihr das<br />

Bild. Durch die Arbeit am Bild arbeitet Bergson von Neuem ein Gebiet – das Bewusstsein,<br />

das Gedächtnis, die Evolution, das Komische – durch und strukturiert es mithilfe von Bildern.<br />

Das Ziel besteht darin, einen neuen Gesichtspunkt für die Forschung anzuregen, der sich aus<br />

einer Intimität mit dem Wirklichen – der »zarten Empirie« – speist.<br />

Man kann das Bild, das wir von Bergson entwerfen, als dasjenige eines Arbeiters und seine<br />

Arbeit als Ikonopoiesis ansprechen. Bergson ist ein Philosoph, der sich durch das empirische<br />

Material, die Diskurse des Wissens seiner Zeit, durcharbeitet und es im Bild ver-, um- und<br />

bearbeitet. Man könnte hier von einer ›Poetik des Wissens‹ sprechen. Nicht aber haben wir<br />

dieses Wissen thematisiert, das Bergsons Bilder durcharbeiten. Wir haben hier versucht, die<br />

Grundstruktur dieser Poetik im intuitiven, argumentativen und methodischen Bild und die<br />

kritischen Ansätze in der Ablehnung der Übertragung und in der Anwendung der Recoupage<br />

aufzuzeigen.<br />

Markus Wild & Stephan Schmid<br />

Philosophisches Seminar<br />

Universität Basel<br />

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