18.02.2014 Aufrufe

Toleranz: Die Gnade, ein endliches Wesen zu sein - Evangelische ...

Toleranz: Die Gnade, ein endliches Wesen zu sein - Evangelische ...

Toleranz: Die Gnade, ein endliches Wesen zu sein - Evangelische ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Öffentlichkeitsarbeit<br />

der evangelischen Kirchenkreise an der Saar<br />

Vortrag von Professor Fulbert Steffensky am<br />

6. September 2013 in der Ludwigskirche in<br />

Saarbrücken<br />

<strong>Toleranz</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Gnade</strong>, <strong>ein</strong><br />

<strong>endliches</strong> <strong>Wesen</strong> <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong><br />

Von <strong>Toleranz</strong> redet man , diese Tugend braucht man, wenn<br />

man erfährt, dass man nicht mehr <strong>ein</strong>malig ist; nicht mehr<br />

<strong>ein</strong>malig in s<strong>ein</strong>en Lebensoptionen, s<strong>ein</strong>er Religion, der Art der<br />

eigenen Sexualität, der Sitten, der Kindererziehung . <strong>Die</strong><br />

Einmaligen Welten sind <strong>zu</strong>sammengebroch. Wir haben es mit<br />

den Fremden <strong>zu</strong> tun, ob wir wollen oder nicht. Mit dem Fremden<br />

und den Fremden m<strong>ein</strong>e ich nicht nur die fremde Religion oder<br />

die Menschen aus anderen Ländern. Wir stoßen unter den<br />

eigenen Leuten, in der eigenen Kirche, oft in der eigenen<br />

Familie auf Lebensarten und Lebensentwürfe, die uns fremd<br />

sind und die wir nur schwer nachvollziehen können. Ich bin<br />

aufgewachsen in <strong>ein</strong>em Dorf, in dem man <strong>zu</strong> m<strong>ein</strong>er Jugendzeit<br />

praktisch k<strong>ein</strong>e Fremden kannte. Es gab k<strong>ein</strong>e Ausländer, fast<br />

alle waren katholisch, man kannte k<strong>ein</strong>e andere Religion als<br />

das Christentum. Man kannte k<strong>ein</strong>e andere Form der Sexualität<br />

als die offiziell gebilligte; k<strong>ein</strong>e andere Form der<br />

Kindererziehung als die übliche und k<strong>ein</strong>e andere Weise des<br />

Kochens als die immer schon gewohnte. Es lebte sich gut in<br />

diesem Dorf, wenn man da<strong>zu</strong>gehörte und wenn man<br />

<strong>ein</strong>gebürgert war in den allgem<strong>ein</strong>en Glauben und die<br />

allgem<strong>ein</strong>e Lebenspraxis. Es war <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>stimmiges Dorf, aber<br />

dies war s<strong>ein</strong> Problem. Man weiß nur, wer man ist, wenn man<br />

sich dem Schmerz der Fremdheit aussetzt. Man lernt den<br />

eigenen Reichtum erst kennen, wo man sich mit fremden<br />

Lebensentwürfen und fremder Religion aus<strong>ein</strong>andersetzen<br />

muss. Man lernt den eigenen Mangel erst kennen, wenn man<br />

auf den Reichtum der Fremden stößt. Wo man nur sich selbst<br />

kennt, besteht die Gefahr, dass man sich für <strong>ein</strong>zigartig hält.<br />

Man kann sich kaum hinterfragen, wo man die Fremden und<br />

das Fremde nicht an sich heranlässt. Man bringt sich um die<br />

Helmut Paulus<br />

Talstr.44<br />

66119 Saarbrücken<br />

Tel.: 0681-53081<br />

Fax: 0681-583481<br />

Mobil: 0160-96 97 92 38<br />

Email: Oeffentlichkeitsarbeit<br />

@evangelische-kirchesaar.de<br />

www.evangelisch-imsaarland.de<br />

07. September 2013


Freiheit <strong>zu</strong> wachsen und mehr <strong>zu</strong> werden, als man ist, wo man sich der Fremdheit<br />

der anderen verweigert.<br />

Es gehört also <strong>zu</strong>m Reichtum und <strong>zu</strong>r Schönheit des menschlichen Lebens, die<br />

Fremden und das Fremde <strong>zu</strong> ertragen, <strong>zu</strong> beherbergen, sich damit<br />

aus<strong>ein</strong>ander<strong>zu</strong>setzen, davon <strong>zu</strong> lernen und damit im Eigenen gewisser <strong>zu</strong> werden.<br />

An den Fremden lernen wir, wer wir selbst sind. Ganz leicht ist das übrigens nicht. Es<br />

ist Arbeit. Das Fremde ängstigt auch. Alles, was ist wie wir selbst, kennen wir, ist uns<br />

vertraut und ist berechenbar. Wir gehen damit k<strong>ein</strong> Risiko <strong>ein</strong>, und das Leben ist<br />

absehbar; absehbar und gefährlich, wo man sich im Eigenen völlig <strong>ein</strong>kerkert. Man<br />

braucht sich also der Zurückhaltung oder gar der Angst vor dem Fremden nicht <strong>zu</strong><br />

schämen, sie ist natürlich. Der Mensch ist von Natur aus nicht fremdenfreundlich.<br />

Das stellen wir nicht erst fest, seit die Menschen anderer Kontinente und Hautfarben<br />

bei uns Schutz und Herberge suchen. Wer kennt nicht aus alten Zeiten die<br />

F<strong>ein</strong>dschaft zwischen Dörfern, die kaum <strong>ein</strong>en Kilometer aus<strong>ein</strong>anderliegen; die<br />

Verachtung der Kölner den Düsseldorfern gegenüber (und umgekehrt); der Bayern<br />

den Preußen gegenüber (und umgekehrt); den scheelen Blick der Katholiken auf die<br />

Protestanten (und umgekehrt)! Menschen wollen Grenzen zwischen sich und dem<br />

Fremden. Vielleicht hat dies sogar <strong>ein</strong>en Sinn. Grenzen sagen uns, wer wir sind und<br />

wer wir nicht sind. <strong>Die</strong> Frage ist nur, welcher Art diese Grenzbedürfnisse sind. Sind<br />

die Grenzen so durchlässig, dass sie nicht <strong>zu</strong>r Vernichtung der anderen führen?<br />

Nicht die Angst vor dem Fremden ist entscheidend. Sie gehört <strong>zu</strong> unserer Natur. <strong>Die</strong><br />

Frage ist, ob wir uns von der dumpfen Natur beherrschen lassen und ob die Angst<br />

uns so weit bringt, dass wir anderen das Lebensrecht absprechen. Ich brauche das<br />

Fremde und die Fremden nicht <strong>zu</strong> lieben, aber ich soll sie dulden, ich soll ihm Atem<br />

lassen, wie Gott uns mit unserer Art den Atem lässt. Humanität entsteht da, wo wir<br />

uns nicht von unserer eigenen Natur überwältigen lassen. <strong>Die</strong>se Humanität ist Arbeit.<br />

Sie ist uns nicht <strong>ein</strong>fach in die Wiege gelegt. <strong>Toleranz</strong> ist Arbeit, und nicht nur <strong>ein</strong> uns<br />

immer schon beschertes friedliches Gefühl.<br />

Was ich bisher gesagt habe, konnte ich mit menschlicher Vernunft sagen. Ich frage<br />

aber mehr. Ich frage nach der biblischen Tradition, die uns <strong>zu</strong>r <strong>Toleranz</strong> dem<br />

Fremden gegenüber ermutigt und stoße auf <strong>ein</strong>e wundervolle Stelle im Römerbrief:<br />

„Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ Der Geist<br />

bezeugt uns, und wir sind nicht gezwungen unserer eigenen Lebenszeugen <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>.<br />

Wir müssen uns nicht selber erjagen, nicht selber rechtfertigen. Wir sind vor dem<br />

Gott der <strong>Gnade</strong>, weil wir von ihm angesehen sind, nicht weil wir ansehnlich sind. Wir<br />

brauchen uns nicht selber <strong>zu</strong> gebären, weil wir von ihm geboren sind. Nicht unsere<br />

Weisheit, nicht die richtigen religiösen Sätze, nicht unsere eigenen Künste<br />

rechtfertigen uns vor dem Blick dieses Gottes. Wir sind die, als die wir vom Geist<br />

bezeugt sind, wir sind Kinder Gottes.<br />

Der Versuch, s<strong>ein</strong> eigener Lebensmeister <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>, sich selber <strong>zu</strong> erjagen und sich<br />

durch sich selber <strong>zu</strong> rechtfertigen; der Zwang, sich selber <strong>zu</strong> gebären und sich in der<br />

eigenen Hand <strong>zu</strong> bergen, führt in die Verzweiflung und in den Kältetod. Das, wovon<br />

wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen – nicht die Liebe, nicht die


Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit.<br />

Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich <strong>zu</strong> verfehlen. Man kann sich<br />

nicht selbst bezeugen, ohne der Verurteilung <strong>zu</strong> verfallen. „Der Geist selbst gibt<br />

Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ <strong>Die</strong>s nennen wir mit dem alten<br />

und schönsten Wort unserer Tradition <strong>Gnade</strong>.<br />

Was aber hat dies mit <strong>Toleranz</strong> <strong>zu</strong> tun? <strong>Die</strong>s: Gewaltlosigkeit ist die Form, in der sich<br />

der Verzicht auf die Selbstbegründung zeigt. Auf sich selber setzen und unter dem<br />

Zwang stehen, sich selber <strong>zu</strong> bezeugen, enthält hohe Anteile an Aggressivität und<br />

Gewalt. Ich denke z.B. an die nationalen Identitätszwänge. Nationalistische<br />

Selbstdarstellung ist durchweg mit kriegerischen Bildern verbunden. Ich denke an die<br />

Straßennamen unserer Städte, sie haben oft mit Kampf, Sieg und Gewalt <strong>zu</strong> tun. Ich<br />

denke an die Tannenbergplätze, die Sedanstraßen; an alle die Straßen und Plätze<br />

die mit Generalen und Feldherrn <strong>zu</strong> tun haben. Wir sagen uns, wer wir sind, indem<br />

wir aufzählen, welche Schlachten wir geschlagen und welche Siege wir errungen<br />

haben.<br />

Wer bezeugt ist, braucht sich nicht selber <strong>zu</strong> bezeugen. Er muss nicht über andere<br />

siegen. Er hat es nicht nötig, ständig s<strong>ein</strong>e Muskeln und s<strong>ein</strong>e Stärke <strong>zu</strong> zeigen. Er<br />

ist nicht <strong>zu</strong>m Siegen und nicht <strong>zu</strong>r Überheblichkeit verurteilt. Wir müssen uns nicht<br />

selber benennen, denn wir sind genannt, ehe wir uns <strong>ein</strong>en Namen gemacht haben.<br />

Wir können in Gelassenheit Fragment s<strong>ein</strong>, denn unsere Ganzheit liegt im Blick<br />

Gottes, nicht in uns selbst. Wir müssen nicht alles wissen, in uns muss nicht alle<br />

Wahrheit <strong>zu</strong> finden s<strong>ein</strong>. Wir sind Fragment, als <strong>ein</strong>zelne und als Kirche.<br />

Nur <strong>ein</strong>e Gruppe, die ihrer eigenen Endlichkeit <strong>zu</strong>gestimmt hat, ist dialogfähig. <strong>Die</strong><br />

Grundgefahr religiöser Systeme ist, dass sie sich nicht endlich denken können. Sie<br />

sind immer in der Gefahr, sich selber Gottesprädikate <strong>zu</strong><strong>zu</strong>legen: sie sind die all<strong>ein</strong><br />

seligmachenden, außerhalb von ihnen gibt es k<strong>ein</strong> Heil, sie sind die Wahren, und<br />

außerhalb von ihnen ist nur Lüge und Abfall. Ihre Gefahr ist, die Welt <strong>zu</strong> säubern von<br />

den Andersheiten. Der Zwang <strong>zu</strong>r Einstimmigkeit lässt sie nur schwer Fremdheiten<br />

denken und dulden. Der Verlust der Endlichkeit ist der Verlust der<br />

Geschwisterlichkeit. Nur endliche <strong>Wesen</strong> sind geschwisterliche <strong>Wesen</strong>. Sich für<br />

<strong>ein</strong>zigartig <strong>zu</strong> halten, heißt immer, bereit s<strong>ein</strong> <strong>zu</strong>m Eliminieren. <strong>Die</strong> Anerkennung von<br />

Pluralität ist die Grundbedingung menschlicher Existenz, so ungefähr hat es Hannah<br />

Arendt formuliert. Ich wünsche mir <strong>ein</strong>e Kirche und religiöse Gruppen von radikaler<br />

Deutlichkeit, die ihre eigenen Traditionen, Geschichten und Lieder kennen und nicht<br />

verschweigen. Ich wünsche mir religiöse Gruppen mit Konturen. Zugleich wünsche<br />

ich mir <strong>ein</strong>e Religion, die Gott unendlich s<strong>ein</strong> lässt und auf ihre eigene Unendlichkeit<br />

verzichtet. Erst sie ist fähig <strong>zu</strong>m Zwiegespräch.<br />

Ich wünsche uns den Mut <strong>zu</strong>r Endlichkeit. Ich wünsche uns die <strong>Gnade</strong> der<br />

Endlichkeit. Sie erleichtert uns das Leben. Wir als Einzelne, wir als religiöse Gruppe,<br />

wir als Nation sind nicht die Garanten der Welt. Wir sind nicht der Grund des Lebens,<br />

das ist Gott, in ihm sind das Leben und die Wahrheit begründet. So können wir<br />

Fragment s<strong>ein</strong>, auch als religiöse Gruppe. Welche Lebensleichtigkeit, dass wir nicht


alles s<strong>ein</strong> müssen und nicht allem überlegen s<strong>ein</strong> müssen! In uns muss nicht die<br />

ganze Wahrheit <strong>zu</strong> finden s<strong>ein</strong>. An unserem <strong>Wesen</strong> muss die Welt nicht genesen.<br />

Ein Nazi-Satz hieß: Am Deutschen <strong>Wesen</strong> soll die Welt genesen. Welche Aggression<br />

mit solchen Sätzen verbunden war, haben wir in Erinnerung. Wir können uns als<br />

religiöse Gruppe die Freiheit nehmen, nicht absolut <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>. Damit sind wir von der<br />

Last der Einzigartigkeit befreit. Und das ist dann <strong>zu</strong>gleich der Lebensraum für<br />

andere; für andere Wahrheiten, andere Lebensentwürfe, andere Hoffnungen. Ich bin<br />

<strong>ein</strong>er unter vielen, m<strong>ein</strong> Glaube ist <strong>ein</strong>er unter vielen, m<strong>ein</strong> Land ist <strong>ein</strong>es unter<br />

vielen. Das drückt nicht m<strong>ein</strong>en Mangel und m<strong>ein</strong>e Geringfügigkeit aus. Alle<br />

Lebensdialekte stammen von der <strong>ein</strong>en Grundsprache des Lebens. So gilt beides:<br />

Der andere Glaube ist anders als m<strong>ein</strong>er, und ich kann ihm s<strong>ein</strong>e Andersheit lassen.<br />

Er ist mir gleich, denn wir haben den gleichen Ursprung des Lebens. Andere<br />

Lebensentwürfe, andere Hautfarben, andere Religionen brauchen also nicht auf dem<br />

Altar m<strong>ein</strong>er eigenen Wahrheit geopfert <strong>zu</strong> werden. <strong>Die</strong> Menschen im anderen<br />

Glauben sind m<strong>ein</strong>e Geschwister – Menschen wie ich und Menschen anders als ich.<br />

Gott spricht in Dialekten. Im Talmud heißt es: „<strong>Die</strong> Sprache des <strong>ein</strong>en und die<br />

Sprache des anderen ist die Sprache des lebendigen Gottes.“ Und der jüdische<br />

Philosoph Levinas: „<strong>Die</strong> Sprache Gottes ist <strong>ein</strong>e mehrzahlige Sprache.“<br />

Nun habe ich nicht nur <strong>ein</strong> Problem mit religiöser Enge und mit <strong>ein</strong>em<br />

Einmaligkeitsfanatismus. Ich habe auch Probleme mit <strong>ein</strong>em modischen<br />

interreligiösen Flanieren. Ein Beispiel <strong>ein</strong>es vergnüglichen Mischmaschs: Eine<br />

Ostertagung in <strong>ein</strong>er christlichen Akademie! Am Gründonnerstag: Seder-Mahl;<br />

anschliessend: Feier der buddhistischen Liturgie „Tor des süßen Nektars“. Am<br />

Karfreitag: „Ahnenreise“ – Feier <strong>ein</strong>er schamanischen Liturgie, danach noch <strong>ein</strong><br />

„Kreuzweg ins Licht“. Man kann nicht ständig alle Dialekte vermischen. Je<br />

selbstverständlicher wir anderen ihre Selbstverständlichkeit lassen, umso weniger<br />

brauchen wir dauernd bei<strong>ein</strong>ander <strong>zu</strong> hocken. Wir sind nicht die anderen. <strong>Die</strong><br />

anderen sind nicht wir. Unsere Verschiedenheit ist unser gem<strong>ein</strong>samer Reichtum.<br />

Man muss jemand s<strong>ein</strong>, um jemanden begegnen <strong>zu</strong> können. Man muss <strong>ein</strong>e<br />

Sprache haben, um mit anderen sprechen <strong>zu</strong> können. Ein religiöses Esperanto gibt<br />

es nicht. Wir müssen nicht s<strong>ein</strong> wie die anderen. Es genügt, wenn wir ihnen nicht<br />

überlegen s<strong>ein</strong> wollen. Wir können anderen ihre Andersheit und ihr Geheimnis<br />

lassen, aber wir müssen nicht familiär mit<strong>ein</strong>ander s<strong>ein</strong>.<br />

Es gibt das Problem der Flucht in die Fremde, weil man dem eigenen Reichtum nicht<br />

traut, weil man ihn nicht kennt und weil man nicht gelernt hat, ihn schön <strong>zu</strong> finden.<br />

<strong>Die</strong> Vorausset<strong>zu</strong>ng <strong>ein</strong>es jeden interreligiösen Gespräches ist die Fähigkeit, die<br />

eigenen Schätze <strong>zu</strong> lieben und charmant <strong>zu</strong> finden. Wenn ich in <strong>ein</strong>em theologischen<br />

Seminar das Koan lobe, jene kurze Anekdote oder Sentenz, die <strong>ein</strong>e beispiel- oder<br />

lehrhafte Handlung oder pointierte Aussage <strong>ein</strong>es Zen-Meisters bedeutet, da finde<br />

ich meistens offene Ohre und leuchtende Augen. Wenn ich dagegen die Losungen<br />

empfehle, kommt es eher <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em großen Gähnen, obwohl das <strong>ein</strong>e mit anderen ja<br />

eng verwandt ist. Wie kann jemand mit uns reden wollen, wenn er merkt, dass wir<br />

nicht lieben, was wir haben? Vielleicht sind wir verbildet, weil wir immer nur gelernt


haben, etwas richtig oder falsch <strong>zu</strong> finden. Wir haben nicht gelernt, etwas schön <strong>zu</strong><br />

finden. Das aber ist die Vorausset<strong>zu</strong>ng <strong>ein</strong>es interreligiösen Gesprächs. Wir erwarten<br />

von <strong>ein</strong>em Buddhisten, dass er zeigt, worin er verliebt ist. Ein Buddhist, der vor<br />

s<strong>ein</strong>en eigenen Schätzen flüchtet, wäre k<strong>ein</strong> interessanter Gesprächspartner. Ein<br />

Christ, der dies tut, ist es auch nicht. Als ich noch an der Universität lehrte, habe ich<br />

gelegentlich <strong>ein</strong>en Bibeltext oder <strong>ein</strong>en religiösen Brauch ins Seminar mitgebracht<br />

und gefragt: Was findet Ihr charmant an diesem Text oder Brauch? <strong>Die</strong> Gefragten<br />

flüchteten meistens in <strong>ein</strong>e hilflose Wissenschaftlichkeit, sagten etwas <strong>zu</strong>r<br />

Formgeschichte oder was sie sonst von ihren klugen Lehrern und Lehrerinnen<br />

gelernt hatten. Ich bestand darauf: Was findet ihr charmant an dem Text. Das aber<br />

führte meistens <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em verlegenen Schweigen. <strong>Die</strong>s ist übrigens <strong>ein</strong>e Frage an<br />

uns, die theologischen Lehrer und Lehrerinnen: Lehren wir unsere Jugendlichen<br />

etwas lieben, oder erschöpfen wir uns in historischer Korrektheit? Interreligiöse<br />

Gespräch heißt, sich gegenseitig zeigen, was man charmant findet. So würde ich<br />

auch Mission definieren: Zeigen, was man liebt und was man charmant findet.<br />

Mit<strong>ein</strong>ander sprechen, heißt sich sichtbar machen und die Sichtbarkeit des anderen<br />

<strong>zu</strong>lassen.<br />

Wir sind nicht alles, wir sind endlich als Christen, als Jüdinnen, als Muslime und als<br />

Buddhistinnen. Wir sind nicht alles, aber wir sind lebendiger Teil von allem, und wir<br />

sind wahrheitsfähig. Aus dieser Gewissheit müsste man <strong>ein</strong>es können: streiten!<br />

Ökumene heißt nicht die geglückte Selbstliquidation in <strong>ein</strong> Allgem<strong>ein</strong>es. Wir sollen<br />

nicht in <strong>ein</strong> blasses Allgem<strong>ein</strong>es von Gesinnung, Lebensauffassung und Expression<br />

verschwimmen. Der Dialog soll jedem <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>er geläuterten Eigentümlichkeit<br />

verhelfen. Ökumene heißt nicht nur, dass ich geduldet bin mit m<strong>ein</strong>er Wahrheit,<br />

sonder dass ich nicht im Stich gelassen werde von der Wahrheit der anderen. Ich bin<br />

Fragment, ich weiß etwas, aber ich weiß nicht alles. So brauche ich die Korrektur und<br />

die Ergän<strong>zu</strong>ng durch die Wahrheit der anderen. Dialogische Ökumene, wenn sie<br />

nicht verzweifelt und wahrheitsdefätistisch ist, sucht den anderen auf, sie lernt und<br />

lehrt. <strong>Die</strong> Wahrheit entsteht und kommt voran im Gespräch der Geschwister. Sich<br />

selber sowohl für wahrheitsfähig als auch für irrtumsfähig <strong>zu</strong> halten; die anderen<br />

sowohl für wahrheitsfähig als auch für irrtumsfähig <strong>zu</strong> halten, das ist <strong>ein</strong>e Eigenart<br />

dialogischer Ökumene. Wo man ins Gespräch kommt, da stoßen Wahrheiten und<br />

Irrtümer auf<strong>ein</strong>ander, da gibt es Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ngen, da gibt es Streit. Der Streit<br />

ist <strong>ein</strong> Mittel, die Wahrheit <strong>zu</strong> ermitteln, aber nur unter der Bedingung, dass<br />

Menschen ihn austragen, die strikt auf Gewalt verzichten. Wir leiden nicht nur an<br />

Intoleranz, wir leiden auch an Harmoniediktaten und an Einigkeitssüchten, die die<br />

Wahrheit vernachlässigen. Der Streit verträgt das Licht der Öffentlichkeit, wo auf<br />

Gewalt verzichtet wird und wo nicht Schmähung, sondern Verständigung Zielt sind.<br />

Noch <strong>ein</strong>mal: <strong>Toleranz</strong> verlangt nicht von mir, dass ich die Eigenart der anderen<br />

liebe, ihre Lebensweisen, ihre Lieder, ihren Glauben. Der Mensch ist endlich, auch in<br />

s<strong>ein</strong>er Kraft <strong>zu</strong> lieben. Es wäre <strong>ein</strong>e Überforderung, von sich <strong>zu</strong> verlangen, nun<br />

plötzlich die türkische Musik <strong>zu</strong> lieben, die asiatische Küche, die Tänze der Indianer<br />

und die Spiritualität des buddhistischen Zen-Meisters. Ich kann mir gestehen, dass


mir sogar das <strong>ein</strong>e oder andere auf die Nerven geht. Noch mehr auf die Nerven<br />

allerdings gehen die, die ihr Eigenes nicht kennen und immer auf der Flucht in das<br />

Fremde sind. <strong>Die</strong> Hauptsache ist, wir haben die Kraft, den Fremden ihre Fremdheit<br />

<strong>zu</strong><strong>zu</strong>gestehen und sie <strong>zu</strong> achten. Mehr ist nicht verlangt, und das ist schon schwer<br />

genug.<br />

Eine praktische Streitfrage: Können Kirchen, die von Christen aufgegeben werden,<br />

Moscheen werden? Es ist <strong>ein</strong>e Testfrage an die Glaubwürdigkeit des Dialogs. Ich<br />

wurde in diesem Streit gefragt, ob ich wisse, wie engherzig Christen in islamischen<br />

Ländern behandelt werden. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könne, dass<br />

Muslime den Christen <strong>ein</strong>e Moschee für ihre Gottesdienste <strong>zu</strong>r Verfügung stellen. Ja,<br />

ich kenne die Intoleranz vieler islamischen Gruppen und Länder. N<strong>ein</strong>, ich kann mir<br />

nicht vorstellen, dass Christen in Moscheen beten dürfen. Aber es fällt mir nicht <strong>ein</strong>,<br />

die Intoleranz dieser Gruppen und Länder <strong>zu</strong>m Maßstab m<strong>ein</strong>er <strong>Toleranz</strong> <strong>zu</strong> machen.<br />

<strong>Die</strong> katholische deutsche Bischofskonferenz hat es beim Schweizer Minarettenstreit<br />

so formuliert: „Gerade weil wir Christen die Einschränkungen der Religionsfreiheit in<br />

muslimisch geprägten Ländern ablehnen und verurteilen, setzen wir uns nicht nur für<br />

die Rechte der dortigen Christen <strong>ein</strong>, sondern auch für die Rechte der Muslime bei<br />

uns.“ „Wir dürfen unsere Kirchen nicht preisgeben!“, sagte <strong>ein</strong> Bischof in dem Streit<br />

um die Benut<strong>zu</strong>ng <strong>ein</strong>er aufgegebenen Kirche durch Muslime. Ja, geben wir sie denn<br />

preis, wenn wir unser Haus anderen Weisen des Glaubens leihen, das wir selber<br />

nicht mehr brauchen? Könnte es s<strong>ein</strong>, dass nicht nur der Islam intolerant ist, sondern<br />

dass wir auch als Christen und als Kirchen unsere eigene Endlichkeit noch nicht<br />

erkannt und respektiert haben? Noch <strong>ein</strong>mal: Nur Gruppen, die sich ihrer<br />

Begrenztheit bewusst sind, können geschwisterlich mit<strong>ein</strong>ander umgehen. <strong>Toleranz</strong><br />

heißt nicht nur, den anderen und die anderen Gruppen ihre Wege gehen lassen. Es<br />

heißt auch, die anderen nicht im Stich lassen. In <strong>ein</strong>er Großstadt wurde <strong>ein</strong>e Kirche<br />

nicht mehr gebraucht. Sie ist nun <strong>ein</strong> edles Restaurant. K<strong>ein</strong> Mensch hat sich<br />

darüber aufgeregt, dass die Kirche <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>em Fresstempel wurde. In der selben Stadt<br />

wurde <strong>ein</strong>e evangelische Kirche entwidmet. Sie sollte dann der jüdischen Gem<strong>ein</strong>de<br />

<strong>zu</strong>r Verfügung gestellt werden. Es gab <strong>ein</strong>en riesigen Protest mit der Beset<strong>zu</strong>ng<br />

dieser Kirche. Merkwürdig, dass die Bar im Altarraum der alten Kirche nicht verstörte,<br />

wohl aber dass die andere Kirche <strong>ein</strong> Gebetshaus <strong>ein</strong>es anderen Glaubens werden<br />

sollte.<br />

Ich war vor <strong>ein</strong>igen Tagen in Hirsau, in <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Ort nahe Calw im<br />

Schwarzwald. Seit Mitte des 9. Jahrhunderts war es <strong>ein</strong> zentraler Ort christlichbenediktinischen<br />

Geistes. <strong>Die</strong> Ruinen des Klosters St. Peter und Paul sah ich dort,<br />

den gut erkennbaren Grundriss der großen Klosterkirche und ich sah die bewegend<br />

schöne Kirche St. Aurelius, die nur noch in ihrem Langhaus erhalten ist. Im Gespräch<br />

wurde ich gefragt: „Können Sie wünschen, dass an diesem Ort christlichen<br />

Ursprungs <strong>ein</strong> Minarett gebaut wird?“ Ich fühlte, dass ich dies nicht wünsche. Es<br />

muss ja auch nicht s<strong>ein</strong>. Schließlich will ich ja auch nicht unbedingt <strong>ein</strong>e Kirche in<br />

Mekka mit <strong>ein</strong>em hohen Turm. Aber es gibt an diesem Ort <strong>ein</strong>e muslimische<br />

Gem<strong>ein</strong>de. Auch sie hat Wünsche, und so würde ich nicht gegen <strong>ein</strong> Minarett in


Hirsau stimmen. Aber es würde mich schmerzen, wenn es dort entstände. Es gibt<br />

den Schmerz der Endlichkeit; den Schmerz darüber, dass wir auch an diesem<br />

urchristlichen Ort nicht mehr all<strong>ein</strong> sind. Ich brauche diesen Schmerz nicht <strong>zu</strong><br />

verleugnen. <strong>Die</strong> anderen anders s<strong>ein</strong> und leben <strong>zu</strong> lassen, ist nicht leicht. Aber m<strong>ein</strong><br />

Schmerz gibt mir nicht das Recht, anderen Schmerzen <strong>zu</strong><strong>zu</strong>fügen.<br />

+++<br />

Ich habe von der <strong>Toleranz</strong> dem Fremden gegenüber gesprochen. Wir leben aber in<br />

unseren Kirchen – nicht nur der evangelischen – in Häusern, in denen die<br />

Geschwister sich in vielen Dingen fremd geworden sind. Wir sind auch dort nicht<br />

mehr <strong>ein</strong>stimmig. Wir sind nicht mehr <strong>ein</strong>stimmig in unseren theologischen<br />

Auffassungen, in der Art unserer Gottesdienste, in unseren Lebensformen. Den<br />

Protestantismus gibt es nicht mehr, es gibt Protestantismen, wie es auch den<br />

Katholizismus nicht gibt, es gibt Katholizismen. Ich arbeite viel mit Pfarrern und<br />

Pfarrerinnen und mache mit ihnen gerne <strong>ein</strong>e Übung: Ich frage sie, welche Lieder<br />

lasst ihr im Gottesdienst vorrangig singe? Welche kommen nicht in Frage? Der Streit<br />

entsteht vor allem an der Christologie. N<strong>ein</strong>, wir sind nicht mehr <strong>ein</strong>s, ob wir das<br />

billigen oder nicht. Und wir leiden an unserer Un<strong>ein</strong>igkeit. <strong>Toleranz</strong> kommt von dem<br />

lat<strong>ein</strong>ischen Wort tolerare, d.h. tragen, ertragen, erdulden. Eine <strong>Toleranz</strong>, die nicht<br />

Gleichgültigkeit ist gegen jede Wahrheit, kommt nicht ohne Schmerzen aus.<br />

Mit der aus der <strong>Gnade</strong> geborenen Freiheit hat die nicht leicht <strong>zu</strong> ertragene Buntheit<br />

des Protestantismus <strong>zu</strong> tun. Es kann nicht von oben geregelt werden, was der Fall<br />

s<strong>ein</strong> soll. Und so gibt es den Protestantismus immer nur im Plural der<br />

Protestantismen. <strong>Die</strong> Gottesdienste im lutherischen Hamburg sehen anders aus als<br />

die der Reformierten in Emden. <strong>Die</strong> Theologien sind bunt und vielfältig. <strong>Die</strong><br />

Leitenden <strong>ein</strong>er Landeskirche heißen in Hannover Bischöfin, in der Rh<strong>ein</strong>ischen<br />

Kirche Präses, in Hessen Kirchenpräsident und als Gipfel des Understatement in der<br />

Bremischen Kirche Schriftführer. <strong>Die</strong>s sind nicht nur verschiedene Namen, es sind<br />

auch verschiedene Auffassungen von Kirchenämtern. Protestantismus kommt im<br />

Dialekt vor. Es gibt den heißen schwäbischen Pietismus und die norddeutsche<br />

Kirchenkühle. Viele stöhnen unter dieser Verschiedenheit und wünschen sich <strong>ein</strong>e<br />

Theologie, <strong>ein</strong>e Kirchenverfassung und Gottesdienste, die sich zwischen Flensburg<br />

und München aufs Haar gleichen. Aber Einförmigkeit ist nie <strong>ein</strong> Ideal. Geist will<br />

immer Muttersprache werden, d.h. er will sich <strong>ein</strong>lassen auf geistige Landschaften;<br />

auf ihre Probleme, Sprachen, Begabungen und Schönheiten.<br />

<strong>Die</strong>se Verschiedenheit ist allerdings die dauernde Quelle von anstrengenden<br />

Konflikten. Aber ohne Konflikte, ohne geschwisterliche Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ng ist die<br />

Wahrheit gefährdet. Der Protestantismus kennt ja nicht <strong>ein</strong> Depot von Wahrheiten,<br />

das von Kirchenleitungen verwaltet und von ihnen verkündet wird. Wie kommt die<br />

prophetische Wahrheit in unseren Kirchen <strong>zu</strong>stande, und wie findet der Geist dort<br />

s<strong>ein</strong>e Stelle? Gott hat in unseren Kirchen immer wieder prophetische Gestalten<br />

erweckt: Hildegard von Bingen, Martin Luther King, <strong>Die</strong>drich Bonhoeffer <strong>zu</strong>m<br />

Beispiel. Aber ich denke nicht nur an <strong>ein</strong>zelne große Figuren; ich denke an die


charismatischen Gruppen in unserer Kirche: die feministischen Gruppen, die<br />

Friedensgruppen; die Gruppen, die das Recht der Armen <strong>ein</strong>klagen; die Taizé-<br />

Gruppen, die <strong>ein</strong>e neue Spiritualität versuchen, die Schwulen- und Lesbengruppen,<br />

die uns mit <strong>ein</strong>er anderen Lebensform konfrontieren. Sie schaufeln dem Geist <strong>ein</strong>en<br />

Weg in den Kirchen von unten nach oben. Auch im Protestantismus denkt man ja oft<br />

von oben nach unten, und man erwartet die Ämter als die besondere Quelle des<br />

Geistes. Man erwartet ihn von den Bischöfen und den Kirchenleitungen.<br />

Kirchenleitende Institutionen aber sind eher an Bewahrung und Harmonie interessiert<br />

als an Aufbrüchen und Veränderungen. Daraus ist ihnen k<strong>ein</strong> Vorwurf <strong>zu</strong> machen.<br />

Falsch ist es, und Entmutigung ruft es hervor, wenn man anderes und mehr von<br />

ihnen erwartet. Es gibt nicht nur autoritäres Gebaren von leitenden Institutionen;<br />

autoritär ist vor allem die Äutoritätssüchtigkeit und sind die falschen Erwartungen an<br />

das überforderte Amt. Das Bischofsamt ist k<strong>ein</strong> Prophetenamt, aber natürlich gibt es<br />

Bischöfinnen, die Prophetinnen sind Ernst Lange unterscheidet zwei<br />

Grundstrategien kirchlichen Handelns, die „Vorwärtsstrategien“ und die<br />

„Bestandswahrungsstrategien“. Leitungsgremien verfolgen in der Regel<br />

Bestandswahrungsstrategien. Ihr Charisma ist das Pochen auf Konsens und<br />

Kontinuität. Dagegen ist nichts <strong>zu</strong> sagen, wenn die Leitungen die Beschränktheit des<br />

eigenen Charismas erkennen.<br />

Wie kommen Wahrheiten in der Kirche <strong>zu</strong>stande, und wie findet der Geist s<strong>ein</strong>en<br />

Ort? Wir haben k<strong>ein</strong>en Papst, der sie sagt. Sie stehen nicht <strong>ein</strong>fach ablesbar in<br />

<strong>ein</strong>em Buch geschrieben, auch nicht in der Bibel. Man kann den Geist dem Papst,<br />

der Bibel oder der Tradition also nicht <strong>ein</strong>fach von den Lippen lesen. Ein Weg der<br />

Wahrheit sind die prophetischen Charismen der Gruppen, die in der Kirche hart<br />

auf<strong>ein</strong>ander stoßen und mit<strong>ein</strong>ander reden und streiten. Menschen lernen im<br />

Konflikt, sie lernen am „Widerstand fremder Erfahrungen“ (E. Lange) .<strong>Die</strong> Gruppen<br />

in der Kirche sind die eigentlichen Protestanten. Sie profilieren sich durch Trennung<br />

vom allgem<strong>ein</strong>en Konsens. Das ist nicht unerlaubt, sofern sie die Trennung selber<br />

nicht schon für den Geist halten. Ihr klares Profil ist das Charisma für die<br />

Gesamtkirche und für die anderen Gruppen. Ihr klares Profil polarisiert, und so<br />

werden die Wahrheiten in den verschiedenen Nestern der Kirche vergleichbar. <strong>Die</strong><br />

Wahrheit ist <strong>ein</strong> Gespräch, und im Gespräch und in der Reibung der Gruppen wird<br />

sie geboren.<br />

Gruppen können auf <strong>ein</strong>e Weise kompromisslos <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>, wie es die Großinstitutionen<br />

nicht können. <strong>Die</strong> Großkirche hat es mit Menschen der verschiedensten Herkünfte,<br />

Interessen und Optionen <strong>zu</strong> tun. Wenn die Großkirche und die Gruppen<br />

gestaltungsfähig bleiben wollen, müssen sie fähig s<strong>ein</strong>, Kompromisse <strong>zu</strong> schließen,<br />

ob uns das recht ist oder nicht. Kompromisse sind schmerzliche und nützliche<br />

Versuche, <strong>zu</strong>m Wohl von vielen <strong>zu</strong> handeln. Ein Satz von Jens-Christian Rabe:<br />

„Unter der Bedingung der Unvermeidlichkeit von Kompromissen heißt Demokrat s<strong>ein</strong><br />

heute vor allem, verlieren <strong>zu</strong> lernen.“ (SZ 16.2.012) Sicher haben faule<br />

Kompromisse viele Opfer gefordert. Aber Kompromisslosigkeit vermutlich noch mehr.<br />

Der Kompromiss ist aber nicht die Wahrheit, höchstens <strong>ein</strong> Teil der Wahrheit. So


muss es Orte geben, an denen Menschen <strong>ein</strong>e gründlichere Wahrheit vertreten, <strong>ein</strong>e<br />

wahrere Wahrheit. Solche Orte sind die vorpreschenden Gruppen, die Kompromisse<br />

vielleicht zähneknirschend ertragen, aber die Wahrheit nicht aus dem Auge verlieren.<br />

<strong>Die</strong> Qualität <strong>ein</strong>er Gruppe entscheidet sich daran, dass sie das Verhältnis <strong>zu</strong>r<br />

Großkirche will und beibehält. <strong>Die</strong> Qualität der Großkirche entscheidet sich daran,<br />

dass sie die Gruppen duldet und wünscht, auch wenn diese sie noch so oft in<br />

Verlegenheit bringen. <strong>Die</strong> charismatisch-prophetischen Gruppen sind die Läuse im<br />

Pelz der Großkirche. Oft kann die Gesamtkirche noch nicht denken, was die Gruppen<br />

denken. Sie kann noch nicht handeln, wie die Gruppen es schon können. Aber sie<br />

könnte sie <strong>zu</strong>lassen, und sie könnte ertragen, dass <strong>ein</strong>ige das „deutlicher Zeichen“<br />

innerhalb des Christentums setzen. Sie könnte den Gruppen ihr Recht geben, auch<br />

ihr Recht auf Irrtum. <strong>Die</strong> Wahrheit kommt fast nie auf geraden Wegen daher. Sie<br />

macht Umwege, sie probiert und verwirft Wege; sie ruiniert alte Häuser, ehe die<br />

neuen schon be<strong>zu</strong>gsfertig sind. Damit müsste die Großkirche rechnen. Das heißt<br />

nicht, dass sie in liberalistischer Geduld alles hinnimmt, was die Gruppen denken und<br />

anstellen. So käme der Geist nicht voran. <strong>Die</strong> Großkirche muss mit den Gruppen<br />

rechten; sie darf die Gruppen nicht in Ruhe lassen, wie die Gruppen die Großkirche<br />

nicht in Ruhe lassen. Es gibt viele Situationen, in denen man sich gegenseitig<br />

Schmerzen <strong>zu</strong>fügen muss, damit der Geist nicht ausgelöscht wird.<br />

Noch <strong>ein</strong>mal: Wie kommt die die Wahrheit in unserer Kirche <strong>zu</strong>stande? Wir haben<br />

<strong>ein</strong>e alte Lehrerin, die uns zwar k<strong>ein</strong>e Rezepte der Wahrheit gibt, aber uns den Weg<br />

<strong>zu</strong> ihr zeigt, unsere Bibel. Was heißt es, <strong>ein</strong> heiliges Buch, die Bibel, im Zentrum<br />

unseres Selbstverständnisses <strong>zu</strong> haben? Ich habe <strong>ein</strong>e Kollegin, <strong>ein</strong>e Historikerin,<br />

die mit Religion außer im historischen Blick noch nie näher in Verbindung gekommen<br />

ist. Sie beschäftigt sich im Zusammenhang ihrer Themen mit dem deutschen<br />

Judentum im 18. Jahrhundert. Im Gespräch machte sie <strong>ein</strong>e fast neidische<br />

Bemerkung: „Wie merkwürdig und wie großartig, dass diese Juden <strong>ein</strong> Buch haben<br />

und dass sie sich alle auf dieses Buch beziehen, so als wäre die Welt noch lesbar!“<br />

Ich möchte das auf uns beziehen: Wie merkwürdig, dass sich in der Zeit der<br />

abgeschafften heiligen Bücher während der Kirchentage viele Tausende jeden<br />

Morgen um die Wahrheit <strong>ein</strong>es alten Textes bemühen! Wie merkwürdig, dass jeden<br />

Sonntag <strong>ein</strong> Text ausgelegt wird, so als sei die Welt noch <strong>ein</strong>sichtig und auslegbar.<br />

<strong>Die</strong> Systeme sind zerbrochen und Fragment geworden, auch die theologischen<br />

Systeme in unserer Kirche, aber wir haben noch <strong>ein</strong> altes Buch. Selbstverständlich<br />

haben wir das Buch nicht, wie man <strong>ein</strong>en Papst oder <strong>ein</strong> System hat. Das ist der<br />

Unterschied zwischen traditionalen Zeiten und der Jetztzeit: <strong>Die</strong> Wahrheit ist vom<br />

Diktat <strong>zu</strong>m Gespräch geworden. Ich rede k<strong>ein</strong>em Biblizismus das Wort. Aber ich will<br />

sehen und schätzen, was wir haben: <strong>ein</strong>e andere Stimme als unsere eigene. Eine<br />

Stimme, auf die sich alle beziehen. Wir sind nicht all<strong>ein</strong>, und wir sind in allen<br />

Aus<strong>ein</strong>anderset<strong>zu</strong>ngen in unserer Kirche mehr als unser Selbstzitat. <strong>Die</strong> Wahrheit<br />

braucht im Raum der Kirche nicht aufgelöst werden in die Häufung der Phänomene.<br />

Wir haben <strong>ein</strong>e Lehrerin, die nicht alles duldet. Wo gibt es das, und welche Hoffnung<br />

enthält dies auf Wahrheit und Versöhnung? Das allerdings müssen sich alle in dieser


Kirche fragen: verkündigen sie sich selbst, oder sind sie fähig auf diese Stimme <strong>zu</strong><br />

hören, die uns lenkt und die uns richtet.<br />

Ich möchte das heiße Eisen anfassen und etwas sagen <strong>zu</strong> der schwierigen<br />

Diskussion über die Lebensformen sagen, die uns in Atem hält, und beginne wieder<br />

mit dem Gedanken der <strong>Gnade</strong>. Der Glaube an die <strong>Gnade</strong> ist Trost und Götzenkritik.<br />

Er ist die Kritik an allem, was sich neben diesem Blick der Güte als unerlässlich, als<br />

<strong>ein</strong>malig und <strong>ein</strong>zigartig aufspielt. Es gibt k<strong>ein</strong>e absoluten Wichtigkeiten mehr über<br />

die <strong>Gnade</strong> hinaus. Man kann nicht an die <strong>Gnade</strong> glauben und <strong>zu</strong>gleich annehmen<br />

<strong>ein</strong>e bestimmte Form von Sexualität geniesse Absolutsheitsanspruch. Es gibt k<strong>ein</strong>e<br />

essentiellen Notwendigkeiten außer dem Zeugnis jenes Geistes, der uns <strong>zu</strong> Söhnen<br />

und Töchtern Gottes macht. Außer der <strong>Gnade</strong> Gottes ist unerlässlich nur die Liebe.<br />

Es ist uns verboten Götzen <strong>zu</strong> dienen, d.h. auf anderes <strong>zu</strong> hoffen als auf Gott selbst.<br />

Es ist verborten, <strong>ein</strong>e Form der Sexualität <strong>zu</strong> vergötzen.<br />

Mit <strong>Gnade</strong> und Rechtfertigung aus dem Glauben ist bei Paulus immer Freiheit<br />

verbunden. Freiheit heißt nicht, tun und lassen können, was man gerade will. Freiheit<br />

heißt, vom Götzendienst befreit und den „Elementen dieser Welt“ nicht mehr<br />

unterworfen <strong>zu</strong> s<strong>ein</strong>. Freiheit heißt, nur den <strong>ein</strong>en Gott anerkennen und ihm <strong>zu</strong><br />

dienen. Wir dienen nicht mehr der sogenannten „normalen“ Auffassung von<br />

Sexualität, wir dienen nicht <strong>ein</strong>mal mehr dem Buchstaben der Bibel. Auch er kann<br />

<strong>ein</strong> Götze s<strong>ein</strong>. „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ (2 Korinther<br />

3,6) Wir dienen Gott, und das genügt. So werden wir gelegentlich den Geist der Bibel<br />

gegen den Buchstaben der Bibel zitieren müssen, auch in der Frage der<br />

Homosexualität.<br />

Es gibt aber k<strong>ein</strong>e Freiheit ohne das Bekenntnis <strong>zu</strong>r Freiheit. Gleichgeschlechtliche<br />

Beziehungen <strong>zu</strong><strong>zu</strong>lassen, gehört <strong>zu</strong> diesem Bekenntnis der Freiheit. Freiheit ist k<strong>ein</strong>e<br />

Konzession, die unter der Theke <strong>zu</strong> haben ist. Zum Bekenntnis dieser Freiheit gehört<br />

die öffentliche Anerkennung der verschiedenen Lebensformen, ob in Pfarrhäusern<br />

oder in anderen Häusern. <strong>Die</strong>s nicht <strong>zu</strong> tun heißt, sich des Evangeliums <strong>zu</strong> schämen.<br />

(Römer 1,16)<br />

+++<br />

Zum Schluss <strong>ein</strong> Plädoyer für die Intoleranz und den Zorn. <strong>Die</strong> <strong>Toleranz</strong> endet, wo<br />

sie <strong>zu</strong>m schweigenden ertragen des Unrechts wird. „Alles ist relativ außer Gott und<br />

dem Hunger der Armen.“, sagt der brasilianische Armenbischof Pedro Casadaliga.<br />

Alles ist relativ: Unsere Lebensformen, die Formen unserer Gottesdienste, unsere<br />

theologischen Auffassungen. Alles ist relativ außer Gott und dem Hunger. Es gibt<br />

<strong>ein</strong>e Grenze der <strong>Toleranz</strong>, es ist die Frage ob jemandem mit unserer Lebensform,<br />

unserer theologischen Auffassung, unserem Denken und unserem Handeln Gewalt<br />

angetan wird. Da endet die <strong>Toleranz</strong> und das ist die Stelle der Empörung. Ja, es gibt<br />

<strong>ein</strong>e gefährliche <strong>Toleranz</strong>, <strong>ein</strong>e gefährliche Friedfertigkeit, die die Augen verschließt<br />

vor dem, was Menschen angetan wird. Hüte Dich, Kirche, vor der fahrlässigen<br />

Sanftmut und <strong>ein</strong>er <strong>Toleranz</strong>, die der Empörung nicht fähig ist!


Aber ich höre nicht auf, ohne unsere Kirche <strong>zu</strong> loben. Sie ist <strong>ein</strong> wundervoller Ver<strong>ein</strong>,<br />

der grössere Interessen kennt als die eigenen; <strong>ein</strong> Ver<strong>ein</strong>, der nicht nur an sich<br />

selber leidet, sondern die Schmerzen der Fremden wahrnimmt. Wem die Phantasie<br />

für fremdes Leid abhandengekommen ist, der ist gezwungen, übermässigt an sich<br />

selber <strong>zu</strong> leiden. Und umgekehrt: Wer mehr kennt und für mehr besorgt ist als für<br />

sich selbst, den werden die eigenen Sorgen nicht mehr ersticken. Es ist das Merkmal<br />

<strong>ein</strong>er erwachsenen <strong>ein</strong>er Kirche, wenn sie sich von der narzisstischen<br />

Selbstbesorgung gelöst hat und <strong>ein</strong>en Teil ihres Geldes und ihrer Kraft hergibt und<br />

Stellen schafft für die Aufmerksamkeit auf die Leidenden dieser Welt, auf den<br />

Frieden, auf die ökologische Bedrohung dieser Erde und der Lebensmöglichkeiten<br />

unserer Kinder und Enkel. Es ist schön, <strong>zu</strong> dieser Kirche <strong>zu</strong> gehören.<br />

Wir sind als Kirche dem Geheimnis Gottes nahe, wo wir uns dem Geheimnis der<br />

Armen nähern. Oscar Romero, <strong>ein</strong>er der Grundzeugen und Märtyrer unserer Zeit hat<br />

es so gesagt: „Wie du dich den Armen näherst, mit Liebe oder mit Geringschät<strong>zu</strong>ng,<br />

so näherst du dich Gott.“ Das Mysterium Gottes ist vom Mysterium der Armen nicht<br />

<strong>zu</strong> trennen. „Der Hunger dieser Welt ist der Ort Gottes.“, hat der in El Salvador<br />

ermordete Jesuit Ignacio Ellacuria gesagt, er fährt fort: „So müssen wir uns als Kirche<br />

fragen: Was haben wir getan, um die Armen ans Kreuz <strong>zu</strong> bringen? Was tun wir, um<br />

sie vom Kreuz ab<strong>zu</strong>nehmen? Was tun wir, um sie auf<strong>zu</strong>erwecken?“ Gott ist je<br />

kl<strong>ein</strong>er: Er versteckt sich im Schicksal der Geschlagenen. Er wird bei uns s<strong>ein</strong> bis<br />

<strong>zu</strong>m Ende der Tage, wie es verheissen ist. Er ist bei uns als Trost und als<br />

Versprechen. Er ist bei uns in allen Gestalten des Elends. Wenn die Kirche das<br />

vergisst, dann man sie religiös s<strong>ein</strong>, aber christlich ist sie nicht. „Gloria dei vivens<br />

homo.“, <strong>ein</strong> Satz von Irenäus. Oscar Romero hat ihn kurz vor s<strong>ein</strong>er Ermordung<br />

verändert: „Gloria dei vivens pauper.“<br />

<strong>Die</strong> Kirche wird ihre Bergpredigt nicht los, sie wird ihren Jesus nicht los. Der<br />

Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel sagte <strong>ein</strong>mal in <strong>ein</strong>em Gespräch mit Dorothee<br />

Sölle: „<strong>Die</strong> Kirche wird diesen Christus nicht loskriegen. Das mag ich ihr gönnen. Ich<br />

finde das so toll, dass sie das nicht kann. Denn seit annähernd 2000 Jahren versucht<br />

sie es. Sie weiß, wenn sie ihn loskriegt, gibt es sie nicht mehr. Solange es sie gibt, ist<br />

aber der Begründer der Kirche <strong>ein</strong>e ungem<strong>ein</strong>e Belastung.“ Der Christus der<br />

Bergpredigt – <strong>ein</strong>e glückliche Last der Kirche und der Christen. Sehr tolerant ist die<br />

Bergpredigt nicht. Sie ist parteiisch.<br />

Ich schließe mit <strong>ein</strong>er Geschichte, die ich in Christa Wolffs Buch Kassandra finde.<br />

<strong>Die</strong> Bewohner der Stadt fragen Kassandra: Wird diese unsere Stadt bestehen<br />

bleiben? <strong>Die</strong> Antwort der Seherin: Wenn ihr aufhören könnt <strong>zu</strong> siegen, wird eure<br />

Stadt bestehen. Sie fügt hin<strong>zu</strong>: Ich kenne k<strong>ein</strong>e Sieger, die aufhören konnten <strong>zu</strong><br />

siegen. Und dann mit verzweifelter Hoffnung: Ich kenne die menschliche Natur nicht<br />

genug. Vielleicht gibt es <strong>ein</strong>mal Menschen, die ihre Siege in Leben verwandeln. -<br />

Vielleicht werden wir alle es lernen: Aufhören über <strong>ein</strong>ander <strong>zu</strong> siegen. Vielleicht<br />

werden wir es lernen, die Siege in Leben <strong>zu</strong> verwandeln. Dann werden unsere<br />

Städte bewohnbar. Dann wird unser Glaube <strong>zu</strong> <strong>ein</strong>er bewohnbaren Sprache, in dem<br />

auch noch unsere Kinder wohnen wollen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!