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Post-Polio-Syndrom - Neurologie Neuer Wall

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Das <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong><br />

Zusammenfassung eines Vortrages anlässlich des Welt-<strong>Polio</strong>-Tages am 2.11.2013 in<br />

Hamburg auf Einladung der <strong>Polio</strong>-Selbsthilfe e.V. Autor Dr. Karl-Christian Knop,<br />

<strong>Neurologie</strong> <strong>Neuer</strong> <strong>Wall</strong>, Hamburg.<br />

Einleitung<br />

Das <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong> ist eine eigenständige Erkrankung infolge einer durchgemachten<br />

<strong>Polio</strong>-Infektion. Die obligatorischen Diagnosekriterien des <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong>s (PPS) sind<br />

eine durchgemachte <strong>Polio</strong> einschließlich einer Impf-<strong>Polio</strong>, ein klinisch stabiles Intervall<br />

von mindestens 15 Jahren, neu aufgetretene neuromuskuläre Symptome, nachweisbare<br />

Folgen einer akuten <strong>Polio</strong>myelitis an mindestens einer Extremität sowie der Ausschluss<br />

anderer Ursachen. Im Mittel entwickeln sich die Beschwerden 20-30 Jahre nach akuter<br />

paralytischer <strong>Polio</strong>myelitis, teilweise erkranken Betroffene mit neuen voranschreitenden<br />

Symptomen, aber auch erst nach 40 oder 50 Jahren Abstand. Das Risiko für ein PPS bei<br />

Zustand nach paralytischer <strong>Polio</strong> liegt bei ca. 70%, das für sogenannte abortive Verläufe<br />

bei ca. 20%. Abortive Verläufe sind durchgemachte <strong>Polio</strong>-Infektionen, bei denen es<br />

offensichtlich nicht zu Lähmungen oder Muskelverschmächtigungen gekommen ist. Das<br />

Risiko scheint für Betroffene mit Lähmungen an Armen und Beinen, aber auch für Kinder,<br />

die erst nach dem 10. Lebensjahr erkrankt sind, aber insgesamt höher zu sein. In<br />

Deutschland geht man von mindestens 120.000 Betroffenen aus. Es gibt aber eine große<br />

Dunkelziffer nicht diagnostizierter Fälle, da vielfach Betroffene mit abortiver/ nicht paralytischer<br />

<strong>Polio</strong>-Infektion auch Symptome entwickeln, deren Zuordnung und Diagnose<br />

deutlich schwieriger ist. Einige Experten gehen deshalb von bis zu 1.2 Millionen<br />

Betroffenen aus.<br />

Klinische Symptome<br />

Die klinischen Merkmale und Symptome sind eine rasch auftretende Ermüdbarkeit und<br />

Erschöpfung sowohl im Hinblick auf die muskuläre Ausdauer und Belastungsfähigkeit als<br />

auch im Hinblick auf psychische und konzentrative Belastungsfähigkeit. Unter den<br />

muskulären Symptomen finden sich eine Zunahme von Muskelschwäche in bereits<br />

betroffenen Muskeln, teilweise aber auch in nicht betroffenen Muskeln, zunehmende<br />

Muskelverschmächtigungen, Muskelschmerzen und Muskelkrämpfe. Auch Gelenkschmerzen<br />

können auftreten. Besonders auffällig ist eine gewisse Kälteempfindlichkeit<br />

und Intoleranz, gelegentlich kann es zu Schluckbeschwerden und auch Atembeschwerden<br />

kommen.<br />

Die Symptome im Einzelnen sind häufig multifaktorieller Ursache. So kann die<br />

Muskelschwäche zum einen durch Lähmungen infolge eines Funktionsverlustes der<br />

Motoneurone (der motorischen Vorderhornzellen), aber auch durch Schmerzen oder<br />

durch längere Inaktivität hervorgerufen werden. Die Erschöpfbarkeit sowohl durch eine<br />

rasch eintretende muskuläre Überlastung, Überleitungsstörungen vom Nerven auf den<br />

Muskel sowie durch Störungen im Bereich des Zentralnervensystems, hier sei<br />

insbesondere auf eine auch histologisch nachgewiesene Schädigung durch das <strong>Polio</strong>virus<br />

im Bereich der Formatio reticularis hingewiesen, welches unter Umständen auch zu der<br />

psychischen Erschöpfung beitragen kann. Schmerzen finden ihre Ursache häufig durch<br />

die muskuläre Überlastung, durch rasch auftretende muskuläre Verkrampfungen als<br />

Ausdruck einer nervalen Übererregbarkeit sowie durch Schmerzen im muskuloskelettalen<br />

Bereich und Sehnenansätzen und Gelenken. Bei der Temperatursensitivität spielt neben<br />

der gestörten Muskelaktivität mit gestörter Muskelpumpe auch eine gestörte Hautdurchblutung<br />

eine Rolle, letztere möglicherweise bedingt durch eine Störung der<br />

sympathischen Gefäßregulation. Auch hier scheinen Einflussfaktoren aus dem Zentralnervensystem<br />

eine Rolle zu spielen.<br />

Ursachen<br />

Ursächlich für die erst mit so langer Latenz nach der durchgemachten Infektion neu<br />

auftretenden und zunehmenden muskulären Symptome ist vermutlich eine chronische<br />

Überlastung der motorischen Vorderhornzellen. Diese Zellen haben einen sehr hohen<br />

Das <strong>Post</strong>-<strong>Polio</strong>-<strong>Syndrom</strong>. Dr. Karl Christian Knop, <strong>Neurologie</strong> <strong>Neuer</strong> <strong>Wall</strong>. November 2013


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Energiebedarf und sind abhängig von einem oxidativen Stoffwechsel. Dieser kann über<br />

gestörte Stoffwechselabläufe zu starkem oxidativem Stress führen, welches die Zelle und<br />

den Zellkern schädigt, sodass dieser untergeht und damit auch der motorische Zellausläufer<br />

zum Muskel unwiederbringlich geschädigt wird. Diesen Vorgang nennt man eine<br />

axonale Degeneration. Infolgedessen kommt es auch zu einem Untergang von Muskelfasern<br />

und einem Verlust von sogenannten motorischen Einheiten, das heißt der Gesamtheit<br />

der Muskelfasern, die an einer motorischen Vorderhornzelle hängen. Als Folge der<br />

paralytischen <strong>Polio</strong>myelitis ist es seinerzeit schon zu einem Verlust von motorischen<br />

Vorderhornzellen gekommen, die damalige Regeneration fußte im Wesentlichen auf der<br />

sogenannten kollateralen Reinnervation. Hierbei handelt es sich um das Aussprossen von<br />

Nervenfasern aus intakt gebliebenen motorischen Nerven, die quasi Muskelfasern<br />

adoptieren. Dieser Mechanismus führt zu einer teilweisen funktionellen Verbesserung,<br />

eine grundsätzliche Erholung ist aber seinerzeit eben nicht eingetreten. Auch beim<br />

<strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong> finden axonale Regenerationsvorgänge statt, die jedoch nicht<br />

schritthalten mit dem Untergang, sodass hier insgesamt eine voran-schreitende<br />

Erkrankung besteht. Zusätzlich scheinen bei Betroffenen über 60 Jahren auch die<br />

physiologischen Faktoren der Alterung, die ja auch das Nervensystem betrifft, eine Rolle<br />

zu spielen. Der Nachweis einer persistierenden Infektion mit dem <strong>Polio</strong>virus konnte<br />

letztlich nie belegt werden, unter Umständen spielen noch autoimmune Mechanismen<br />

(z.B. vermutet durch Nachweis von entzündlichen Veränderungen der Muskulatur) eine<br />

Rolle, wobei ich insgesamt eher glaube, dass dieses sekundäre Faktoren sind.<br />

Behandlungsversuche mit immunmodulierenden Substanzen (z.B. Immunglobuline)<br />

konnten nur teilweise einzelne Symptome wie die motorische Erschöpfung etwas lindern,<br />

ohne dass der Verlauf gestoppt oder gar zurückgedreht werden konnte.<br />

Diagnostik<br />

Als Neurologe sehe ich die Aufgabe in erster Linie in der Notwendigkeit einer zweifelsfreien<br />

Diagnose dieser Erkrankung. Hierbei kommt neben der klinischen Untersuchung<br />

auch die Elektromyographie und andere neurophysiologische Verfahren zum Einsatz.<br />

Dabei geht es nicht darum, die Krankheit als solche zu widerlegen oder gegenüber<br />

anderen abzugrenzen, sondern andere zusätzliche Erkrankungen, deren Symptome sich<br />

mit denen eines <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong>s überlappen können, zu erkennen, um sie<br />

gegebenenfalls behandeln zu können. Ein <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong> schützt ja leider nicht vor<br />

der Entwicklung anderer Erkrankungen, somit ist insbesondere aus neurologischer Sicht<br />

die Notwendigkeit gegeben, andere neuromuskuläre Erkrankungen, z.B. Nervenwurzelschädigungen<br />

bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen, Polyneuropathien, Muskelerkrankungen<br />

oder eine Myasthenie abzugrenzen. Auch Erkrankungen des Zentralnervensystems<br />

können mit den Symptomen eines <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong>s überlappen,<br />

würden aber zu anderen Therapien führen. Auch zahlreiche nicht neurologische<br />

Erkrankungen haben negative Einflüsse auf die Ausprägung eines <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong>s,<br />

insbesondere ein Diabetes mellitus, Schilddrüsenerkrankungen, rheumatische<br />

Erkrankungen und degenerative Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen. Nicht zuletzt<br />

kann es im Rahmen von chronischen Erkrankungen zu seelischen Beeinträchtigungen<br />

kommen, die sich ebenfalls mit der Ausprägung körperlicher Symptome vermischen und<br />

überlappen. Somit besteht die Notwendigkeit, bei klinischer Erfordernis weitere<br />

apparative Untersuchungen, z.B. MRT-Untersuchungen oder Laboruntersuchungen zu<br />

ergänzen und auch andere Fachdisziplinen wie den Kardiologen, den Lungenfacharzt oder<br />

den Orthopäden mit hinzuziehen, um nach diesen Erkrankungen zu suchen.<br />

Therapie<br />

Die Therapie des <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong>s ist rein symptomatisch. Eine ursächliche Therapie<br />

gibt es nach wie vor nicht. Betroffene sollten vermeiden, gelähmte oder geschwächte<br />

Muskeln übermäßig zu beanspruchen. Sie sollten auf regelmäßige Pausen achten, um<br />

Erschöpfungen zu vermeiden. Sie sollten belastende Tätigkeiten und Aktivitäten<br />

gegebenenfalls aufgeben oder umstellen und gegebenenfalls zeitweise Hilfsmittel wie<br />

Orthesen oder Rollstuhl benutzen. Physiotherapie ist eine wichtige Säule in der<br />

Behandlung, diese sollte langsam aufbauend und nicht ermüdend sein, Massagen und<br />

Wärmeanwendungen, z.B. auch im Bewegungsbad, sind förderlich. Zusätzliche psycho-<br />

Das <strong>Post</strong>-<strong>Polio</strong>-<strong>Syndrom</strong>. Dr. Karl Christian Knop, <strong>Neurologie</strong> <strong>Neuer</strong> <strong>Wall</strong>. November 2013


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therapeutische oder soziotherapeutische Angebote können hilfreich sein. Wichtig ist das<br />

Erlernen einer individuellen Belastungsgrenze und Strategien zur Vermeidung von<br />

Überlastungen.<br />

Zur symptomorientierten Therapie können Medikamente hilfreich sein, wenngleich<br />

kontrollierte Studien hierzu fehlen. Im Alltag haben sich bewährt L-Carnitin-Dosen von 1-<br />

2 g täglich, gegebenenfalls eine zyklische Behandlung mit Kreatin mit 5 g täglich über<br />

einen Zeitraum von drei Monaten mit dazwischen liegenden Therapiepausen.<br />

Pyridostigmin kann hilfreich sein, insbesondere bei Schluckstörungen zur Verbesserung<br />

der neuromuskulären Erregungsübertragung. Allerdings kann es bei Langzeitanwendung<br />

zu einer Zunahme der Überlastung der neuromuskulären Einheit kommen. Amitriptylin<br />

kann bei chronischen Schmerzen hilfreich sein, Amantadin, ein NMDA-Rezeptor-<br />

Antagonist aus der Parkinson-Therapie kann in Einzelfällen die Fatigue-Symptomatik<br />

lindern. Diese Therapien sollten mit dem behandelnden Arzt abgesprochen und engmaschig<br />

überwacht werden. Auf Kontraindikationen durch Begleiterkrankungen und<br />

Nebenwirkungen ist zu achten.<br />

Im Gegensatz dazu ist auf zahlreiche Medikamente zu achten, die Symptome eines<br />

<strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong>s verschlechtern können. Diese Medikamente können trotzdem<br />

eingesetzt werden, bedürfen aber einer ärztlichen Überwachung und gegebenenfalls einer<br />

niedrigen Dosis, z.B. Antidepressiva, Tranquilizer, Neuroleptika, Betablocker, nicht<br />

steroidale Antirheumatika, einige Antibiotika, Cholesterinsynthese hemmende<br />

Medikamente und Antiallergika.<br />

Auch bei Narkosen ist eine gewisse Vorsicht geboten. Neben einer ausführlichen<br />

Abstimmung mit Operateur und Narkosearzt ist eine sorgfältige Überwachung vor,<br />

während und nach der OP erforderlich, gegebenenfalls sind längere<br />

Nachbeobachtungszeiten auf Intensivstationen möglich. Hier bietet sich insbesondere die<br />

Rücksprachen mit Pneumologen an, die sich gut mit neuromuskulären Erkrankungen<br />

auskennen. Prämedikationsmedikamente sollten vorsichtig dosiert werden, bei<br />

depolarisierenden Muskelrelaxantien kann es zu Myotonie-artigen Kontraktionen und zur<br />

Hyperkaliämie kommen, bei nicht depolarisierenden Muskelrelaxantien eventuell zu<br />

Myasthenie-artigen Störungen der neuromuskulären Übertragung. Zur Vermeidung einer,<br />

allerdings unwahrscheinlichen malignen Hyperthermie sollte gegebenenfalls auch auf<br />

sogenannte triggerfreie Narkosen zurückgegriffen werden.<br />

Zusammenfassung<br />

Das <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong> ist eine eigenständige Erkrankung ist, die mit langer Latenz nach<br />

der eigentlichen <strong>Polio</strong>-Infektion auftritt und anhaltend voranschreitend verläuft. Wichtig<br />

ist die korrekte und rechtzeitige Diagnose sowie der Nachweis und/oder die Abgrenzung<br />

zusätzlicher Erkrankungen, deren Symptome denen eines <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong>s ähnlich<br />

sind, um diese zusätzlich behandeln zu können. Die Behandlung des <strong>Post</strong>polio-<strong>Syndrom</strong>s<br />

ist eine interdisziplinäre Heraus-forderung von Neurologen, Orthopäden, Pneumologen<br />

und Physiotherapeuten. Im Vordergrund der Behandlung steht eine Anpassung an die<br />

individuelle Belastungsgrenze zur Vermeidung von Überlastung und Erschöpfung.<br />

Das <strong>Post</strong>-<strong>Polio</strong>-<strong>Syndrom</strong>. Dr. Karl Christian Knop, <strong>Neurologie</strong> <strong>Neuer</strong> <strong>Wall</strong>. November 2013

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