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Ulrich Bongertmann, Wolfgang Hammer, Margit Liskow, Frank ...

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Trostbüchlein für Referendare 1<br />

<strong>Wolfgang</strong> <strong>Hammer</strong>/<strong>Margit</strong> <strong>Liskow</strong><br />

Praxisschock<br />

oder<br />

Wie überlebe ich nur die nächsten Tage?<br />

Nun sind sie also wieder alle versammelt,<br />

die neuen Referendare, voller Stolz auf die<br />

bestandenen Staatsexamina, voller Wissen,<br />

das sie verbreiten wollen, voller Hoffnung,<br />

sich nun endlich in der Praxis beweisen zu<br />

können, voller Erwartung auf "die erste Begegnung"<br />

mit einer Klasse.<br />

Sicherlich redet der Seminarleiter in seiner<br />

Begrüßungsrede von dienstlichen Pflichten,<br />

die man ja sowieso erfüllen will, oder von<br />

Lernzielen, die man an der Universität doch<br />

schon kennengelernt hat; der Begriff Schulrecht<br />

verdüstert etwas die hoffnungsfrohen<br />

Gemüter, das Wort Unterrichtsbesuch - alternativ<br />

Hospitation für die Gebildeten - löst<br />

die erste Panik aus -, aber laßt ihn/sie nur<br />

reden, den älteren Herrn oder die ältere Dame<br />

Seminarleiter/in, endlich, endlich in die<br />

Klassen!<br />

Im Lehrerkollegium des XY - Gymnasiums sitzen<br />

altergraute Klassenkämpfer lässig in den<br />

Sesseln und zeigen während der ersten<br />

Dienstberatung demonstrativ völliges Desinteresse<br />

an Verkündungen über Klassenstärken,<br />

Lehrereinsatz und Profilbildung der Schule.<br />

Andere Kollegen freuen sich sichtbar auf das<br />

neue Schuljahr, planen bereits neue Projekte<br />

und, und, und ...<br />

Der Schulleiter begrüßt die "neuen, jungen<br />

Kollegen", die "frischen Wind" in "unsere<br />

Schule" bringen. Der Mentor nimmt sich sei-


2 Trostbüchlein für Referendare<br />

nen Schützling in eine Ecke und erklärt ihm,<br />

daß er in den ersten Wochen nur mal hospitieren<br />

sollte.<br />

"Aber ich will doch u-n-t-e-r-r-i-c-h-t-e-n<br />

!!!"<br />

So sitzt er frustriert seine Stunden ab, immer<br />

auf dem Sprung, doch selber vor der<br />

Klasse stehen. Mit seinen Mentoren plant er<br />

Stunden, spricht mit ihnen über Klassen,<br />

aber es ist halt nur ein Trockenschwimmkurs.<br />

In seiner Angst vor dem Neuen und Unbekannten<br />

in der Schule, bedrängen ihn Vorstellungen,<br />

daß die Sekretärin ihn nicht möge (später<br />

wird sie ihn mütterlich trösten), daß<br />

Schüler nur darauf warten, ihn fertigzumachen<br />

(später macht er mit ihnen liebend gerne<br />

Klassenfahrten) oder daß der Schulleiter<br />

ihn bei einer Unkorrektheit oder gar einem<br />

Fehler erwischen möchte (die dieser natürlich<br />

lieber wohlwollend übersieht).<br />

In der ersten Seminarsitzung beim Studienleiter<br />

rollt eine riesige Lawine auf ihn zu,<br />

gefüllt mit Lernzielen, Methoden, Kerschensteiner,<br />

Gruppenarbeit, Demokratie und was<br />

noch alles zu dieser Mixtur gehört. Aber<br />

auch hier nur wieder Theorie!<br />

Dann endlich die erste eigene Stunde:<br />

"Guten Morgen, 6a!"<br />

"Guten Morgen, Herr XY!"<br />

Der Einstieg klappt vorzüglich, die Bildbeschreibung<br />

ist vollständig. Beim Hervorholen<br />

der Bücher, ja, da hat wohl der Karsten den<br />

Kurt geschubst, der fiel mit dem Stuhl um,<br />

erwischte dabei Antje ... Nach einer halben<br />

Stunde Chaos beginnt dann die Klasse endlich<br />

mit dem Vorlesen des Gedichtes: "Über allen<br />

Wipfeln ist Ruh ..."


Trostbüchlein für Referendare 3<br />

Nun, lieber junger Kollege, sinkst Du noch<br />

vor den Mittagessen in Dein Bett und hältst<br />

zum erstenmal Deinen Lehrerschlaf. Willkommen<br />

im Klub der Unterrichtenden!<br />

Die Erziehungswissenschaft nennt dies geschilderte<br />

Erleben der ersten Wochen in der<br />

Schule den Praxisschock. Aus der behüteten<br />

Zeit von Studium und Studentenleben plumbse<br />

der Referendar nun in ein System, das von<br />

vielen Konflikten und Anforderungen gekennzeichnet<br />

ist. Zwar habe ein Student ein Fach<br />

wohl studiert, doch wieviel er davon direkt<br />

im Unterricht brauchen kann, steht auf einem<br />

anderen Blatt. Neuerarbeitung von Stoffen<br />

folgt daraus. Zugleich muß man diese Stoffe<br />

auch noch Zehn-, Zwölf- oder Achtzehnjährigen<br />

beibringen, also didaktisch so geschickt<br />

reduzieren, daß Kinder und Jugendliche den<br />

Stoff gerne lernen und behalten.<br />

Außerdem lernt ein Referendar durch den Praxisschock,<br />

daß Kinder durchaus einen eigenen<br />

Willen haben, diesen auch äußern, oft lautstark,<br />

und so die Nerven des Lehrenden strapazieren.<br />

Dabei darf man als Junglehrer<br />

(auch als älterer) den Willen nicht brechen<br />

(die Zeit der schwarzen Pädagogik ist nun<br />

endgültig vorbei), sondern muß ihn, pädagogisch<br />

geschickt, in produktive Bahnen lenken,<br />

und das in 45 Minuten in der sechsten<br />

Stunde! Zugleich lernt ein Referendar, daß<br />

der freiheitliche Lebensstil eines Studenten<br />

kräftezehrend ist. Also muß er sein Leben<br />

auch noch nach den beruflichen Bedürfnissen<br />

ausrichten. Zwei Jahre Referendariat bedeuten<br />

eine tiefgreifende Änderung von Lebensstil<br />

und Verhalten, bei manchen mehr, bei<br />

manchen weniger, vermeiden läßt sich der<br />

Schock nicht, und es ist ja auch ein heilsa-


4 Trostbüchlein für Referendare<br />

mer Schock, der für die nächsten -zig Jahre<br />

als Lehrer ein gediegenes Fundament legt.<br />

Und Du, lieber Referendar, tauchst in die<br />

wunderbare und wunderliche Welt kindlichen<br />

Lebens ein.


Trostbüchlein für Referendare 5<br />

<strong>Ulrich</strong> <strong>Bongertmann</strong><br />

Lernziele im Unterricht<br />

oder<br />

schmackhafte Rezepte und ihre Verfeinerung<br />

durch den guten Praktiker<br />

Eine schematische Handlungsanweisung (=<br />

Kochrezept) zur Unterrichtsplanung könnte<br />

für Referendare etwa so lauten:<br />

Kochrezept für eine Unterrichtsstunde<br />

Zum Bereiten einer gefälligen Stunde<br />

nehme der Kochlehrling ein gut portioniertes<br />

Groblernziel, entwickle daraus<br />

in sachlogischem Aufbau und mit Blick<br />

auf angeblich wahrgenommene oder einfach<br />

unterstellte Schülerinteressen<br />

allerhand Feinlernziele in operationalisierter,<br />

d.h. = beim Verzehr eindeutig<br />

herausschmeckbarer Form. Unterdessen<br />

beachte er die nötige Dimensionierung<br />

derselben in ca. 80 - 90 % kognitive<br />

und restliche affektive oder instrumentelle.<br />

Die kognitiven Ziele<br />

stufe er noch gewissenhaft und mit Gefühl<br />

für Hierarchien (wenigstens!) in<br />

einfache Kenntnis- und komplexere =<br />

höhere Erkenntnisziele mit selbständigen<br />

analytischen oder synthetischen<br />

Komponenten, an deren Spitze die kritische<br />

Beurteilung des Unterrichtsthemas<br />

treten könnte. Dies feine, wohlerwogene<br />

Gespinst fülle er in eine feste<br />

Form mit exakten Minutenangaben.<br />

Man füge anfangs und immer wieder zwischendurch<br />

starke Prisen Motivation<br />

hinzu, bei passenden Umständen auch in


6 Trostbüchlein für Referendare<br />

Form humorvoll-spritziger Gags, unterlege<br />

das Ganze mit appetitfördernder<br />

methodischer Varianz, bei der ein<br />

starker Schuß gruppenfördernder Interaktion<br />

auffallen sollte, vergesse am<br />

Ende nicht immanente Wiederholungselemente<br />

zu Schonung der schon überforderten<br />

Geschmacksnerven und kröne alles<br />

für den Feinschmecker mit einem<br />

Hauch von Medienerziehung als geschätzte<br />

Saisonfrucht.<br />

Zum Nachtisch bereite man eine geeignete<br />

Lernzielkontrolle vor, die auch<br />

Leistungsdifferenzen der Essenden zu<br />

Tage fördert. Die Gäste des Mahls<br />

dürften begeistert zugreifen, vor allem<br />

aber dem Lehrkoch wird das Wasser<br />

im Munde zusammenlaufen.<br />

Doch halt! Hier regt sich das Gewissen eines<br />

redlichen Unterrichtskochs. Das Rezept mag<br />

in der Theorie stimmen, doch der erfahrene<br />

Praktiker weiß um die Schwierigkeiten, den<br />

speisenden Gast bei Laune zu halten. Allzuoft<br />

verweigert sein verwöhnter Gaumen die<br />

sorgfältig zubereitete Kreation: Er ißt zu<br />

langsam, so daß die eng und fein aufeinander<br />

abgestimmten Gänge nicht mehr harmonieren;<br />

oder er verweigert sich einzelnen Komponenten<br />

ganz und gar und bestellt anderes, was<br />

zur Zeit gar nicht in der Küche vorhanden<br />

ist. Wer dann noch spontan aus schmalen Resten<br />

im Vorratskeller etwas Schmackhaftes<br />

für den mäkelnden Gast zu erstellen weiß,<br />

der hat erst den Sprung vom Lehrling zum<br />

Meisterkoch geschafft.<br />

"Wer nicht genau weiß, wohin er will,<br />

braucht sich nicht zu wundern, wenn er ganz


Trostbüchlein für Referendare 7<br />

woanders ankommt." (Robert F. Mager, Lernziele<br />

und programmierter Unterricht, Weinheim,<br />

1965/77)<br />

Mit diesem berühmt gewordenen Angriff auf<br />

die angeblich zu schwammige und wenig zielbewußte<br />

Unterrichtstradition begann die<br />

lernzielorientierte Didaktik mit der Forderung<br />

nach -zig genaustens formulierten<br />

Feinzielen ihren Siegeszug durch die reformwilligen<br />

westdeutschen Studienseminare. Aber<br />

ihre Triumphfahnen verschwanden in den anschließenden<br />

Praxisjahren junger Lehrer wieder:<br />

Im Alltag erwiesen sich allzu genaue<br />

Lernzielkataloge als überflüssig, ja sogar<br />

hinderlich für guten Unterricht. Die Ursachen<br />

dieses Mißverhältnisses sind von der<br />

Pädagogik rasch erkannt worden: Unterricht<br />

ist ein wechselseitiges, kommunikatives Geschehen,<br />

dessen Verlauf nicht exakt voraussehbar<br />

ist. Wer seine Lernzielkataloge über<br />

die Köpfe der Schüler hinweg durchsetzt, unterbindet<br />

geradezu fruchtbare pädagogische<br />

Unterrichtsmomente. Daher sollten die Lernziellisten<br />

auch in der Ausbildung längst<br />

auf eine leicht handhabbare Länge geschrumpft<br />

sein, die Flexibilität vom Referendar<br />

erfordert und ihn im Bestehen offener<br />

Situationen trainiert: Eine Faustformel rät<br />

zu ca. fünf Lernzielen pro Stunde. Genaue,<br />

zweckrationale Planung im didaktischmethodischen<br />

Ziel-Mittel-Verhältnis kann<br />

zwar eine Facette guten Unterrichts sein,<br />

aber eine andere, mindestens so wichtige ist<br />

Nachdenken über begründbare Ziele überhaupt,<br />

die für die konkreten Schüler vor dem Lehrer<br />

Sinn machen. Eine weitere ist die Fähigkeit,<br />

erforderlichenfalls die angestrebten Lernziele<br />

sausen zu lassen und auf nicht vorher-


8 Trostbüchlein für Referendare<br />

sehbare Ereignisse und Entgegnungen der<br />

Schüler im Unterricht angemessen durch Weglassen<br />

und Neuorientierung reagieren zu können.<br />

Jedes Lernziel sollte außerdem intensiv<br />

auf seine methodische Tragfähigkeit und Ergiebigkeit<br />

überprüft werden. Was ein Schülermund<br />

in einem Halbsatz nebenbei ausspricht,<br />

ist noch längst kein ausgefüllter<br />

Lernprozeß mit einem dauerhaften Ergebnis.<br />

Der Lehrer, der mit dem Blick auf die Uhr in<br />

seiner Stunde Lernziel um Lernziel in Gedanken<br />

abhakt, um am Ende nach hundertprozentiger<br />

Plansollerfüllung stolz zu verkünden<br />

"Alles erreicht! Eine Superstunde!", kann<br />

nur eine Karikatur dieses Berufes sein. Vor<br />

allem hätte er nicht begriffen, daß Lernziele<br />

eigentlich nur Lehrziele sein können und<br />

die Kluft zwischen Planung und Ausführung<br />

für den Unterricht so wesentlich ist wie<br />

Salz für gutes Essen.<br />

Leider fehlt dafür bis heute eine novellierte<br />

lernzielorientierte Didaktik.


Trostbüchlein für Referendare 9<br />

<strong>Frank</strong> Mehlhaff<br />

Moderne Unterrichtsformen<br />

oder<br />

Drei Könige aus dem Abendland der Pädagogik<br />

bei einem jungen Hirten<br />

Personen:<br />

König Tiebraleznie, König Tiebrarentrap,<br />

König Tiebraneppurg,<br />

Hirte Radnerefer, Schafe, Sprecher<br />

Sprecher: Der Hirte Radnerefer steht auf<br />

seinen Hirtenstab gestützt und<br />

schaut voller Zufriedenheit seinen<br />

Schafen zu, die mechanisch<br />

die ihnen heute zugedachte Parzelle<br />

der saftigen Wiese der Erkenntnis<br />

abgrasen. Sie wachsen<br />

gut und haben eine glänzende Wolle.<br />

Da wird er jäh in seiner Meditation<br />

gestört, es ist der König<br />

Tiebraneppurg, der ihn anspricht.<br />

Tiebraneppurg:<br />

Du hütest deine Schafe auf den<br />

Wiesen der Erkenntnis. Die Absicht<br />

ehrt dich, doch allein die<br />

FORM, wie du sie weidest, verurteilt<br />

dich zum Scheitern. Denn<br />

die Weideformen regeln die Beziehungsstruktur<br />

beim Schafehüten.<br />

Sie haben eine äußere, räumlichpersonal-differenzierende<br />

und eine<br />

innere, die Kommunikationsund<br />

Interaktionsstruktur regelnde<br />

Seite. Und Du hütest zu frontal!


10 Trostbüchlein für Referendare<br />

Hirte:<br />

Hirte:<br />

Warum? Ich hüte meine Schafe so,<br />

wie es mich mein Großvater lehrte.<br />

Ich bestimme, was sie fressen,<br />

wann sie saufen, wo sie ruhn<br />

und wohin sie laufen. So werden<br />

sie fett, und ich kann sie verkaufen.<br />

Fett??? Hast du denn nicht die<br />

neue Verkündigung gehört? Fette<br />

und träge Schafe sind megaout.<br />

Die Herren wollen mageres<br />

Fleisch, sie wollen Schafe, die<br />

sich flexibel verarbeiten lassen.<br />

Flexible Schafe? Wie soll ich das<br />

erreichen?<br />

Nun höre! Gruppenhüten ist eine<br />

Weideform des Hütens, bei der<br />

durch zeitlich begrenzte Teilung<br />

der Schafherde in mehrere Abteilungen<br />

freßfähige Kleingruppen<br />

entstehen, die gemeinsam auf der<br />

vom Hirten zugewiesenen oder<br />

selbst gesuchten Wiese weiden.<br />

Du hütest alle Schafe gleich, die<br />

Jungen wie die Alten wie die<br />

Mittleren. Aber sie fressen und<br />

verdauen doch alle unterschiedlich!<br />

Darum bilde mit ihnen<br />

homogene Gruppen, in denen gleiche<br />

Schafe gemeinsam fressen und<br />

verdauen und behüte diese Gruppen<br />

je nach ihrem Bedarf und auch<br />

nach ihrem Willen. Gib jeder<br />

Gruppe einen eigenen Leithammel.<br />

Du wirst sehen, der Erfolg wird<br />

sich bald einstellen. Die Schafe<br />

werden flexibler fressen und besser<br />

verdauen.<br />

Tiebraneppurg:<br />

Tiebraneppurg:


Trostbüchlein für Referendare 11<br />

Hirte:<br />

Schafe:<br />

Sprecher:<br />

Tiebrarentrap:<br />

Hirte:<br />

Schafe:<br />

Toll, ich will es gleich versuchen!<br />

Bäh!<br />

An den folgenden Abenden brauchte<br />

der Hirte etwas länger, um die<br />

Schafgruppen in den Kral zurückzutreiben.<br />

Tagsüber hatte der<br />

Hirte Probleme, die Einteilung<br />

der Gruppen aufrecht zu erhalten.<br />

Die Leithammel gerieten untereinander<br />

in Streit um die angenehmsten<br />

Freßbedingungen. Am<br />

siebenten Tag runzelte der Hirte<br />

die Stirn und wollte gerade zu<br />

seinen Schafen ein paar wahrlich<br />

schlechte Worte sagen, da kam der<br />

König Tiebrarentrap des Weges.<br />

Was, Du läßt Deine Schafe in großen<br />

Gruppen weiden? Und dann auch<br />

noch unter dem Diktat jeweils eines<br />

Leithammels! So wirst Du keinen<br />

Erfolg haben. Höre, die Schafe<br />

unterscheiden sich doch nicht<br />

nur im Alter, sondern es gibt<br />

auch weiße, graue und sogar<br />

schwarze Schafe. Nun gib immer<br />

zwei gleiche zusammen, und Du<br />

wirst sehen, daß sie gut miteinander<br />

kommunizieren werden und<br />

gemeinsam ihren optimalen Freßplatz<br />

auf der Wiese der Erkenntnis<br />

finden werden. Oder tue zwei<br />

verschiedene zusammen und Du<br />

wirst sehen, wie sie voneinander<br />

lernen, schnell zu fressen. Dann<br />

werden es prächtige Schafe.<br />

Nun, ich werde es versuchen!<br />

Bäh! Bäh!


12 Trostbüchlein für Referendare<br />

Sprecher:<br />

An den folgenden Abenden brauchte<br />

der Hirte sehr lange, um die<br />

Schafe zum Schlafplatz zurückzutreiben.<br />

Einige hatten sich auf<br />

der Wiese der Erkenntnis verirrt,<br />

so daß der Hirte sehr lange<br />

brauchte, um sie zum gemeinsamen<br />

Sammelplatz zu treiben. Tagsüber<br />

hatte er große Mühe, die Raubtiere<br />

von der zerstreuten Herde<br />

fernzuhalten und fand so kaum<br />

noch eine Ruhepause. Viele Schafe<br />

sahen absolut nicht ein, warum<br />

sie nur zu zweit fressen sollten<br />

und riefen laut nach ihren Mitschafen.<br />

Andere Schafpaare kamen<br />

nicht miteinander klar und störten<br />

sich gegenseitig beim Weiden.<br />

Müde und abgemagert wie einige<br />

seiner Schafe schaute der Hirte<br />

am siebenten Tag in den Himmel<br />

und wollte gerade mit ein paar<br />

Flüchen auf Schafe und Könige<br />

seinem Herzen Luft machen, da<br />

stand neben ihm der König Tiebraleznie.<br />

Er legte seine Hand auf<br />

die Schulter des Hirten und<br />

sprach mitfühlend auf ihn ein.


Trostbüchlein für Referendare 13<br />

Tiebraleznie:<br />

Hirte:<br />

Schafe:<br />

Ich sehe Deinen Kummer wohl und<br />

auch seine Ursache, nämlich die<br />

FORM, wie Deine Schafe weiden.<br />

Jedes Schaf hat seine eigene Persönlichkeit,<br />

da kann man nicht<br />

einfach zwei verkuppeln. Sind sie<br />

sich ähnlich, streiten sie um jedes<br />

Blatt, doch sind sie verschieden,<br />

so verstehen sie einander<br />

nicht. Du mußt Obacht geben,<br />

daß jedes Schaf einzeln steht und<br />

daß es fressen und saufen kann,<br />

wie es ihm beliebt. Das Einzelhüten<br />

ist eine Form des Hütens, bei<br />

dem jedes Schaf einzeln, günstigenfalls<br />

auf einem extra für ihn<br />

bestimmten Wiesenstück weiden<br />

kann. Nur so kann es sich optimal<br />

entwickeln. Und schreibst Du ihm<br />

nicht vor, was es fressen soll,<br />

dann lernt es die Selbständigkeit,<br />

da es selber probieren muß.<br />

So hast Du als Hirte binnen 5 Tagen<br />

weniger Anstrengung beim Hüten.<br />

Ich glaube es nicht, aber ich muß<br />

es wohl erst mal versuchen.<br />

Bäh! Bäh! Bäh!


14 Trostbüchlein für Referendare<br />

Sprecher: Den ganzen Tag über hatte der<br />

junge Hirte zu tun, die Schafe<br />

einzeln von der Wiese der Erkenntnis<br />

fressen zu lassen. Immer<br />

wieder liefen die Schafe zu Gruppen<br />

zusammen und schienen sich<br />

gegenseitig zu behindern. Einzeln<br />

gestellt hatten sie plötzlich<br />

keine Lust mehr, zu fressen und<br />

fingen an, miteinander laut über<br />

große Entfernung hinweg zu kommunizieren.<br />

Dadurch wurden Raubtiere<br />

angelockt und einige Schafe<br />

wurden gerissen, weil der Hirte<br />

nicht mehr alle unter Kontrolle<br />

hatte. Andere wußten plötzlich<br />

nicht mehr, wie sie fressen sollten,<br />

und fingen an, erbärmlich zu<br />

hungern. Wieder andere fraßen<br />

schwerverdauliche oder sogar giftige<br />

Kräuter von der Wiese der<br />

Erkenntnis und bekamen große Beschwerden.<br />

Etliche fühlten sich<br />

durch die zunehmende Unruhe gestört<br />

und wurden aggressiv zu ihren<br />

Mitschafen und zum Hirten.<br />

Wiederum am siebenten Abend<br />

schaffte es Radnerefer nicht<br />

mehr, die nun mageren Schafe mit<br />

stumpfer, zottiger Wolle zum<br />

Schlafplatz zu führen. Er schlief<br />

bei seinen Schafen auf der saftigen<br />

Wiese der Erkenntnis vor Erschöpfung<br />

ein.<br />

Als er wieder erwachte, hatten<br />

sich die Schafe zu einer zufriedenen<br />

großen Herde zusammengefunden,<br />

fraßen gemeinsam, wurden<br />

bald fett und hatten wieder eine<br />

prächtige Wolle. Der junge Hirte<br />

hatte wohl selber im Schlaf etwas<br />

Gras von der Wiese der Erkenntnis<br />

gegessen, denn er sagte:


Trostbüchlein für Referendare 15<br />

Hirte:<br />

Die Könige mögen vielleicht wissen,<br />

wie man junge Menschen hütet,<br />

jedoch vom Schafehüten haben<br />

sie keine Ahnung.<br />

Und die Moral von der Geschicht: Schafen<br />

hilft Pädagogik nicht!<br />

Doch bei Schülern mußt du´s schon versuchen,<br />

willst du Lernerfolg verbuchen.<br />

UND<br />

Hören Sie ruhig zu, was Ihnen die ” Könige”<br />

erzählen, aber seien Sie kritisch und kreativ!<br />

Pädagogische Weisheiten sterben im<br />

Schulalltag ohne das Vitamin ” Kreativität<br />

des Lehrers” schnell. Die Überlegenheit einer<br />

einzelnen Weideform, äh, Sozialform<br />

konnte bisher nicht empirisch nachgewiesen<br />

werden. Die weiseste Entscheidung ist wohl<br />

die, eine gute Mischung der Sozialformen im<br />

Unterricht zu verwirklichen.


16 Trostbüchlein für Referendare<br />

Elke Müller<br />

Die Lehrprobe<br />

oder<br />

der gekonnte Schuß aufs Tor<br />

Vor der Lehrprobe<br />

Oh je! Nun bin ich dran! So gut wie Antje<br />

und Michael kriege ich das nie hin. Mein<br />

Kopf ist leer! Dieser Langentwurf! Er ist<br />

ein Graus!<br />

Ach, prima ich komme gut voran.<br />

Die Magenschmerzen müssen vom vielen Kaffee<br />

kommen. Oder von den durchgemachten Nächten?<br />

Angst habe ich nicht! - Oder doch?<br />

Ich hätte ein besseres Konzept finden können!<br />

Lehrprobe...<br />

Die Schüler? Sie sind lieb - heute besonders.<br />

Die Besucher? Sie sind außerhalb des Bewußtseins.<br />

Ich? Stehe unter Hochspannung und versuche<br />

trotzdem, den Schülern Normalität zu suggerieren.<br />

Es geht doch gut voran!<br />

Doch was ist nun passiert?<br />

Die Zeit läuft mir weg. Mit diesen Antworten<br />

habe ich überhaupt nicht gerechnet. Wie soll<br />

ich reagieren?<br />

Na, da habe ich wieder ein schönes Beispiel<br />

meiner Unfähigkeit abgeliefert.<br />

Nach der Lehrprobe...


Trostbüchlein für Referendare 17<br />

Es ist zum Glück vorbei!<br />

Aber man wird mich fertigmachen. Pingelig<br />

wie sie sind, werden sie jede Phase der<br />

Stunde auseinandernehmen und mich zerreißen!<br />

Kennen Sie diese Gefühle?<br />

Sie sind wohl normal für fast jeden Referendar.<br />

Unsicherheit und Aufregung lassen sich<br />

jedoch ganz schnell abbauen, wenn man es<br />

z.B. wie ein Fußballtrainer hält:<br />

Er bereitet sich exakt vor, wappnet sich gegen<br />

alle Gefahren und greift bei Mißgeschikken<br />

gekonnt in seine Trickkiste.<br />

Zunächst wird der Gegner gründlich studiert<br />

und die Frage gestellt: Mit welchen taktischen<br />

Mitteln kann ich überzeugen und meine<br />

Mannschaft zum Sieg führen? Ein umfangreiches,<br />

gewissenhaftes Studium der Fachliteratur<br />

ist die Basis des Erfolges. Auf dieser<br />

Grundlage erhält man Sicherheit und ist in<br />

der Lage, in Problemsituationen geschickt zu<br />

reagieren.<br />

Da er seinen Studienleiter genau kennt und<br />

über die neuesten Richtlinien sowie über die<br />

aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse<br />

seines Faches informiert ist, wird es ihm<br />

nicht schwerfallen, eine genau auf sein<br />

Stundenthema orientierte Sachanalyse anzufertigen.<br />

Danach wird überlegt, welche Potenzen in der<br />

Mannschaft stecken.<br />

Über Können, Interessen, Konflikte sowie<br />

Einstellungen zum Spiel ist der Trainer bestens<br />

informiert.<br />

Er kennt seine "Leuchten" ausgezeichnet,<br />

ebenso seine "Pappenheimer".


18 Trostbüchlein für Referendare<br />

Wer ist Angreifer oder Verteidiger? Wer<br />

"Mit"-läufer? Wen kann er wann am besten<br />

einsetzen? Im trockenen Amtsdeutsch heißt<br />

das Klassenanalyse.<br />

Nach der exakten didaktisch-methodischen<br />

Analyse hat er sich entschieden und alle<br />

Selbstzweifel abgelegt. Ihm ist klar, daß es<br />

noch eine Vielzahl anderer Varianten gibt.<br />

Er hat sie angedacht und immer wieder verworfen.<br />

Unter diesen ganz spezifischen Bedingungen<br />

führen genau seine Vorstellungen<br />

zum Sieg.<br />

Der Countdown läuft...<br />

Endlich! Es klingelt!<br />

Nach dem Anpfiff kommt das Spiel nur schleppend<br />

in Gang.<br />

Doch auf Grund des ausgeklügelten Systems<br />

läuft die Mannschaft zur Höchstform auf. Die<br />

Schüler kicken sich gekonnt Frage und Antwort<br />

zu. Die Diskussion kommt gut voran.<br />

Aber was ist das? Die Spielzüge werden immer<br />

verkrampfter. Es erfolgt kein Angriff mehr,<br />

nein, schlimmer noch, die Spieler begeben<br />

sich zunehmend in die Defensive. Anne<br />

schwatzt mit Lisa, Paul guckt aus dem Fenster<br />

und Helmut hat sogar seinen Kopf auf<br />

die Bank gelegt.<br />

Für einen Moment stockt dem Coach der Atem.<br />

Doch dann reagiert der erfolgreiche Trainer.<br />

Ein Zuruf genügt und Taktik wird geändert.<br />

Der Referendar hatte die Stunde sehr gut<br />

durchdacht. Daß diese Situation eintreten<br />

würde, hatte er befürchtet und eine andere<br />

Variante, die ebenso zum Ziel führt, parat.<br />

Da den Schülern alle Arbeitstechniken bekannt<br />

waren, führten die neuen Impulse so-


Trostbüchlein für Referendare 19<br />

fort zum Erfolg. Nun zeigt sich, daß sich<br />

das intensive Training ausgezahlt hat. Sofort<br />

ist der Siegeswille wieder da.<br />

Mit einem Überraschungsangriff drängt die<br />

Mannschaft den Gegner zurück.<br />

Tor! Tor! Tor!<br />

Das Spiel ist gewonnen!<br />

In der anschließenden Pressekonferenz wird<br />

der Trainer von den Journalisten umringt und<br />

muß eine Vielzahl von Fragen beantworten.<br />

Sicher und gewandt erläutert der Referendar<br />

seinem Studienleiter sowie den anderen Hospitanten<br />

sein Vorgehen. Anregungen für die<br />

Konzeption späterer Stunden will er sich<br />

gern zu Gemüte führen.<br />

Doch zuvor genießt er die Glückwünsche zum<br />

Sieg.<br />

Eine tiefe Ruhe zieht in ihm ein.


20 Trostbüchlein für Referendare<br />

<strong>Wolfgang</strong> <strong>Hammer</strong><br />

Schwierige Schüler<br />

oder<br />

"Ich würde den Sven am liebsten ...!"<br />

Sicherlich, lieber Referendar und Junglehrer,<br />

begegnet Dir in Deinen ersten Jahren an<br />

der Schule Sven: Es dauert mindestens fünf<br />

Minuten, bist Du ihn beruhigt und auf seinen<br />

Platz manövriert hast.<br />

Daß er keine Hausaufgaben macht, geniert<br />

Dich schon lange nicht mehr. Aber daß er das<br />

Vorlesen der Ergebnisse der Matheaufgaben<br />

ständig durch laute zwischen Rufe wir: "Das<br />

habe ich auch!" oder "Falsch, du dumme Ziege"<br />

stört, erbost Dich noch immer. Seine wöchentlichen<br />

Tobsuchtsanfälle, meist am Freitag,<br />

bringen Dich zur Verzweiflung, denn da<br />

rebelliert die ganze Klasse mit. Schon zweimal<br />

ist Dein Schulleiter während des Unterrichts<br />

in solch einer Phase hereingestürmt,<br />

um - lautstark - für Ruhe zu sorgen: "Greifen<br />

Sie härter durch", hat er Ihnen geraten.<br />

Peinlich, peinlich!<br />

Zuerst haben Sie sich gedacht, das wird mit<br />

dem Jungen nicht so schlimm werden. Nach einigen<br />

Wochen schrecken Sie aus dem Schlaf,<br />

weil Sven grinsend durch jeden Traum geistert.<br />

Dann überwältigt Sie eine Welle des<br />

Hasses auf diesen Jungen, der ihnen das Referendariat<br />

verpatzt und das Leben vergällt.<br />

Gespräche, die Sie mit ihm führen, nützen<br />

nichts, Gespräche mit Eltern ebensowenig,<br />

die anderen Kollegen seufzen und orakeln von<br />

"Rauswurf" ... Sie fühlen sich alleingelassen<br />

- und sind es auch.


Trostbüchlein für Referendare 21<br />

Versuche, lieber Referendar und Junglehrer,<br />

einfach Deine Einstellung zu Schülern und<br />

Schule zu ändern. Erwarte nicht, daß sich 30<br />

Schüler gleich (ruhig) verhalten. Erwarte<br />

nicht, daß alle Dein Fach so gerne mögen wie<br />

Du. Betrachte diesen Sven als pädagogische<br />

Aufgabe.<br />

Sein Verhalten, das Dich stört, ist, neben<br />

biologischer Veranlagung, auch Produkt seiner<br />

Lebensgeschichte. Sein Verhalten erzählt<br />

Dir vieles über Familie, Lebensstil, Denken<br />

und Fühlen von Sven. Gerade er ist eine interessante<br />

Persönlichkeit, nervig zwar, zugegeben,<br />

aber interessant.<br />

Alle Deine (und anderer) pädagogischen Bemühungen<br />

scheitern an Sven deshalb, weil er<br />

eben eine andere Lebenserfahrung hat, als<br />

sie die "normalen" Schüler haben. Methoden,<br />

die sich bei diesen bewährt haben, greifen<br />

bei ihm nicht, weil sie für ihn falsch sind.<br />

Um einen Schlüssel zu ihm, zu seinem Herzen<br />

(ich weiß, das ist Kitsch), zu seinem Herzen<br />

zu finden, laß Dir etwas einfallen! (Literaturhinweis:<br />

Staabs: Der Scenotest, Bern<br />

1964/92; hier lernst Du die menschliche Dimension<br />

sehr anschaulich kennen.) Regeln,<br />

wie das geschehen kann, mußt Du selber finden,<br />

weil jeder Lehrer einen anderen Zugang<br />

zu solchen Schülern findet.<br />

Hüte Dich, ihn als "verhaltensgestört",<br />

"schwererziehbar", "neurotisch" abzustempeln.<br />

Überlasse die Verwendung dieser Vokabeln<br />

der Hilflosigkeit lieber Psychologen.<br />

Denke Dir lieber: "Er ist halt etwas anders".<br />

Er zwingt Dich, Dich mit Dir selbst zu beschäftigen,<br />

Deine Grenzen und Deine Möglich-


22 Trostbüchlein für Referendare<br />

keiten zu erkennen. Er zwingt Dich, zu lernen.<br />

Dann wirst Du stundenlang Schüler mit Freude<br />

beobachten, dann wirst Du Dich drängen, mit<br />

Klassen auf Klassenfahrt zu gehen, dann<br />

wirst Du hinter Deinem Unterrichtsstoff zum<br />

Wesentlichen des Lehrerdasein durchstoßen:<br />

zum Kind.<br />

Und Sven wird Dir dann (vielleicht) zu einem<br />

lieben Partner.<br />

(Literatur: Horst Brück: Die Angst des Lehrers<br />

vor dem Schüler, Reinbek 1978)


Trostbüchlein für Referendare 23<br />

<strong>Wolfgang</strong> <strong>Hammer</strong><br />

Erziehungswissenschaft<br />

oder<br />

"Grau, teurer Freund, ist alle Theorie ..."<br />

Immer wieder, lieber junger Freund, fühlst<br />

Du Dich von der Schulpädagogik im Stich gelassen.<br />

Du fragst Dich verzweifelt, was Dir<br />

eine systemtheoretische Gesellschaftsanalyse,<br />

die Dein Seminarleiter vor Dir ausbreitet,<br />

für die Stunde über die Gleichgewichtsorgane<br />

beim Menschen nützt, wozu Dein Wissen<br />

über Metakognitionen taugt, wenn Schüler die<br />

Rolle vorwärts lernen sollen, und die Didaktische<br />

Analyse nach Klafki bringt die 5a<br />

auch nicht zum Schweigen.<br />

Du hast recht, alle diese theoretischen<br />

Überlegungen nützen Dir in der Praxis wenig,<br />

oft bitter wenig. Sie sind halt einfach nur<br />

Stoff für die mündliche Prüfung, für Stundenentwürfe<br />

und für die Seminar- und Studienleiter.<br />

Als Naturwissenschaftler oder<br />

Sportler, so Dein Einwand, schwärmst Du mehr<br />

für das Realistische und nicht für so vage<br />

Sachverhalte, wie sie Erziehungswissenschaft<br />

anbietet. Mal behaupten Erziehungswissenschaftler,<br />

abwechslungsreicher Unterricht<br />

brächte den besten Erfolg, mal beharren sie<br />

- andere natürlich- darauf, streng autoritärer<br />

Unterricht hätte dies garantiert zur<br />

Folge. Was soll´s? Jeder behauptet irgendwas,<br />

nachprüfen kann man es leider sowieso<br />

nicht.<br />

Als "Studierter", lieber Referendar, solltest<br />

Du den Wert von Theorie, ja geradezu<br />

die Lust an Theorie, der die Lust am Denken<br />

vorangeht, hoch schätzen. Deshalb, und nicht<br />

um verwertbares Wissen anzuhäufen, hast Du


24 Trostbüchlein für Referendare<br />

studiert. So liegt es nahe, daß Du über Deine<br />

neue Tätigkeit - das Unterrichten- nachdenkst<br />

und nicht nur das Handwerkszeug einübst<br />

und anwendest. Als Lehrer, der der Gesellschaft,<br />

den Schülern, den Eltern, der<br />

Schulverwaltung und den Kollegen gegenüber<br />

seine Tätigkeit verantworten muß, brauchst<br />

Du auch Antworten auf Fragen nach Deinem<br />

Lehrerverhalten, nach Deinen Erziehungszielen,<br />

nach Deinem Menschenbild.<br />

Das (und mehr) kann die Erziehungswissenschaft<br />

bieten, nicht als Lernstoff, sondern<br />

als Anreiz zum Diskutieren und Nachdenken.<br />

Gymnasiallehrer heißen auch "Philologen",<br />

weil Wilhelm von Humboldt, der Erfinder des<br />

Gymnasiums, von ihnen Latein- und Griechischstudium<br />

in der ersten Zeit ihres Studiums<br />

verlangte nur zu dem Zweck, daß sie in<br />

der Originalsprache den Geist der griechischen<br />

und römischen Philosophen erfassen<br />

können, der Grundlage des humanistischen<br />

Menschentums bildete. Erst nach diesem Studium<br />

folgte das Studium der Fächer.<br />

Die Erziehungswissenschaft bietet eine Reihe<br />

von Erkenntnissen an, die heute zum "Allgemeingut"<br />

gehören: Demokratisches Lehrerverhalten,<br />

Unterrichtsformen, Lernziele ...<br />

Diese kannst Du in den üblichen Kompendien<br />

(s.u.) finden. Sie gehören zum intellektuellen<br />

Handwerkszeug des Lehrers. Ihr Sinn<br />

liegt darin, dem Junglehrer eine erste Orientierung<br />

zu geben, Unterricht vergleichbar<br />

und bewertbar zu machen und Schülern einen<br />

ihrer Persönlichkeit und den gesellschaftlichen<br />

Notwendigkeiten angemessenen Unterricht<br />

zu garantieren.<br />

Nur --- das alles genügt nicht, um einen Unterricht<br />

erfolgreich durchzuführen. Das al-


Trostbüchlein für Referendare 25<br />

les zu wissen, bleibt Dir nur "äußerlich",<br />

"angelernt", das alles ist nur Technik, mit<br />

der man Unterricht abspulen, die Schüler<br />

aber nicht fesseln kann.<br />

Es gehört mehr zum Lehrersein.<br />

Was?<br />

Setze Dich zwei Stunden an einen Kinderspielplatz<br />

und beobachte die Kleinen.<br />

Arbeite einen Tag in einer psychiatrischen<br />

Klinik.<br />

Beobachte Tiere in einem Zoo (natürlich wäre<br />

besser: in der freien Natur).<br />

Schreibe Deine Erinnerungen an Deine Schulzeit<br />

nieder. (Schreiben!)<br />

Setze Dich mindestens eine Stunde in eine<br />

Kirche.<br />

Lies von F.M. Dostojevskij " Schuld und Sühne"<br />

oder von Henrik Ibsen "Hedda Gabler"<br />

oder von Ludwig Wittgenstein "Tractatus logico-philosophicus"<br />

oder von Laotse "Tao Te<br />

King" oder ...<br />

Wenn Du das alles getan hast, dann hast Du<br />

Schülern wirklich etwas zu sagen.<br />

Literatur: Gislinde Bovet/ Volker Huwendiek<br />

(Hrsg.): Leitfaden Schulpraxis, Pädagogik<br />

und Psychologie für den Lehrberuf, Berlin<br />

1994<br />

Hans Hannappel: Lehren lernen, Bochum 1992


26 Trostbüchlein für Referendare<br />

<strong>Wolfgang</strong> <strong>Hammer</strong><br />

Schulrecht<br />

oder<br />

Sicherheit ist alles<br />

Wenn Referendare ins Schulleben kommen, beunruhigt<br />

sie die Frage nach ihren Rechten<br />

und Pflichten. „Darf ich einen Schüler aus<br />

der Klasse weisen, wenn er stört? Muß ich<br />

Vertretungsstunden geben? Wie oft? Darf ich<br />

mir nebenbei etwas verdienen?“<br />

Alle diese Fragen beantworten viele, viele<br />

Gesetze, Erlasse, Verordnungen, Vorschriften<br />

... - ein Irrgarten, in dem man, betritt man<br />

ihn, hoffnungslos verlorengeht. Viele Fragen<br />

sind geregelt, manche mit Vernunft, manche<br />

gegen den gesunden Menschenverstand, manches<br />

ist nicht geregelt, und man hat die unerwünschte<br />

Ehre, der "Präzedenzfall" zu sein.<br />

Bei der Lektüre von "Fällen" überkommt einen<br />

immer die nackte Verzweiflung, denn nun weiß<br />

man gar nichts mehr.<br />

"In einem weiteren Fall hatte der Schulleiter<br />

verboten, einen bestimmten Film über den<br />

Vietnamkrieg in der Schule vorzuführen. Ein<br />

Lehrer hatte sich um das Verbot nicht gekümmert,<br />

weil die Vorführung des Filmes sich<br />

bestens in das Unterrichtsprogramm des von<br />

ihm gestalteten Kurses "Sozialpädagogik" mit<br />

dem Thema "Schwierigkeiten des einzelnen,<br />

sich in der heutigen Welt zurechtzufinden"<br />

einfügen ließ. Der Schulleiter habe die Bedeutung<br />

dieses Anschauungsmaterials nicht<br />

hinreichend gewürdigt.<br />

Die Schulaufsicht mißbilligte dennoch das<br />

Verhalten des Lehrers, jedoch nicht, weil er<br />

die Grenzen seiner pädagogischen Freiheit<br />

überschritten habe, sondern schlichtweg we-


Trostbüchlein für Referendare 27<br />

gen mangelnder kollegialer Zusammenarbeit..<br />

Es sei nämlich die Pflicht des Lehrers gewesen,<br />

vor der Aufführung des Films seine Bedenken<br />

gegen das Filmverbot dem Schulleiter<br />

vorzutragen und so an einer Korrektur des<br />

Verbots mitzuwirken. Hiergegen hat der Lehrer<br />

- freilich ohne Erfolg- das Verwaltungsgericht<br />

angerufen (VG Berlin, Beschl. v.<br />

30.4.1974-AZ Disz.2.74-SPE VIAIV S.201).<br />

(zitiert aus: Norbert Niehues: Rechtsschutz<br />

durch die Verwaltungsgericht in schulischen<br />

Angelegenheiten, in: Loccumer Protokoll<br />

21/1981, S. 33 f.)<br />

Dieses Urteil eröffnet mehr Fragen, als es<br />

Probleme löst.<br />

Grundlage aller schulrechtlichen Bestimmungen<br />

findet man in Grundgesetz, z.B.: "Die<br />

Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu<br />

achten und zu schützen ist Verpflichtung aller<br />

staatlichen Gewalt." (GG Art.1,1) Damit<br />

verbietet sich von selbst das Schlagen von<br />

Schülern, was ja auch gesetzlich geregelt<br />

ist. Aber, und das ist nicht geregelt, auch<br />

ironische oder zynische Behandlung von Schülern<br />

können oft mehr die Würde verletzen als<br />

eine Ohrfeige. Hier zeigt sich, daß rechtliche<br />

Regelungen nicht weit genug greifen<br />

(können) und daß pädagogische Verantwortung<br />

aus dem Grundgesetz sehr umfassend hergeleitet<br />

werden kann und muß.<br />

Auf der nächsten Ebene von umfassenden Gesetzen<br />

stehen die Landesverfassungen. "Die<br />

Selbstverwaltung von Gemeinden und Kreisen<br />

dient dem Aufbau der Demokratie von unten<br />

nach oben."(Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern,<br />

Artikel 3, Absatz 2) Welche<br />

Implikationen der "Aufbau der Demokratie von


28 Trostbüchlein für Referendare<br />

unten nach oben" für die Verwaltung einer<br />

Schule, aber auch für den Unterricht hat,<br />

mag sich jeder selbst ausmalen. Nur darf man<br />

diese Gesetze nicht als "hohle Phrasen"<br />

übergehen, sondern muß darüber nachdenken<br />

und Folgerungen ziehen, wenn man pädagogische<br />

Verantwortung übernehmen möchte.<br />

Schulautonomie, Mitbestimmung, schülerorientierter<br />

Unterricht u.a. leiten sich von dieser<br />

Grundidee "Demokratisierung von unten"<br />

notwendig her.<br />

Schulgesetze geben dem Schulsystem des Bundeslandes<br />

eine Ordnung, die wiederum mit denen<br />

der anderen Bundesländer "kompatibel"<br />

sein muß, was durch Gremien der Kultusministerkonferenz<br />

(KMK) geschieht.<br />

Regelungen in Schulgesetzen gestalten die<br />

Schulverfassung, von den schulinternen Konferenzen<br />

bis zur Schulaufsicht, von der Rolle<br />

des Lehrers bis zur Wahl des Schulleiters.<br />

Auch hier läßt der Gesetzgeber noch<br />

Spielräume: "Die Lehrer gestalten Unterricht<br />

und Erziehung im Rahmen bestehender Rechtsund<br />

Verwaltungvorschriften auf Grundlage der<br />

Lehrpläne in eigener Verantwortung ." (<br />

Kultusministerium von Mecklenburg-<br />

Vorpommern: Erstes Schulreformgesetz, §21)<br />

Hier kann nun spekuliert werden, wieweit die<br />

pädagogische Freiheit des Lehrers geht<br />

(s.o.). Hier helfen keine engen Vorschriften<br />

mehr, hier muß in jedem Fall Für und Wider<br />

abgewogen werden.<br />

Und jetzt mußt Du Dich, lieber Berufsanfänger,<br />

durch den Bestimmungsdschungel wühlen:<br />

Was ist bei Radwanderungen alles zu beachten<br />

(steht im "Wandererlaß", aber auch nicht alles)?<br />

Wie mußt Du bei einem Schülerunfall<br />

handeln (verletzte Schüler nicht alleine


Trostbüchlein für Referendare 29<br />

lassen, Hilfe holen, Kurs beim Roten Kreuz<br />

machen)? Was mußt Du tun, wenn ein Schüler<br />

einen anderen ernsthaft in Gefahr bringt<br />

(mündlich verwarnen, zupacken ...)? Und wenn<br />

Du noch so viele Bespiele liest: "Dein Fall"<br />

ist juristisch dann doch immer anders. Deshalb,<br />

lieber Leser, sagte einmal ein bedeutender<br />

Schulrechtler: "Wer pädagogisch denkt<br />

und handelt, braucht kein Schulrecht!"<br />

Literatur: Hans Heckel/ Hermann Avenarius;<br />

Schulrechtskunde, Neuwied/Darmstadt 1986, 6.<br />

Auflage


30 Trostbüchlein für Referendare<br />

Die Autoren<br />

Alle Autoren arbeiten am Studienseminar Rostock<br />

für Gymnasien.<br />

<strong>Ulrich</strong> <strong>Bongertmann</strong>, Studienleiter für Geschichte<br />

<strong>Wolfgang</strong> <strong>Hammer</strong>, Seminarleiter<br />

<strong>Margit</strong> <strong>Liskow</strong>, Studienleiterin für Mathematik<br />

und stellvertretende Seminarleiterin<br />

Dr. <strong>Frank</strong> Mehlhaff, Studienleiter für Chemie<br />

Elke Müller, Studienleiterin für Sport<br />

Die Artikelserie erschien zuerst in der<br />

Deutschen Lehrerzeitung Nr. 7-44/1995


Trostbüchlein für Referendare 31<br />

Inhalt<br />

WOLFGANG HAMMER/MARGIT LISKOW: PRAXISSCHOCK ODER WIE<br />

ÜBERLEBE ICH NUR DIE NÄCHSTEN TAGE? 1<br />

ULRICH BONGERTMANN: LERNZIELE IM UNTERRICHT ODER<br />

SCHMACKHAFTE REZEPTE UND IHRE VERFEINERUNG DURCH DEN<br />

GUTEN PRAKTIKER 5<br />

FRANK MEHLHAFF: MODERNE UNTERRICHTSFORMEN ODER DREI<br />

KÖNIGE AUS DEM ABENDLAND DER PÄDAGOGIK BEI EINEM JUNGEN<br />

HIRTEN 9<br />

ELKE MÜLLER: DIE LEHRPROBE ODER DER GEKONNTE SCHUß AUFS<br />

TOR 16<br />

WOLFGANG HAMMER: SCHWIERIGE SCHÜLER ODER "ICH WÜRDE DEN<br />

SVEN AM LIEBSTEN ...!" 20<br />

WOLFGANG HAMMER: ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT ODER "GRAU,<br />

TEURER FREUND, IST ALLE THEORIE ..." 23<br />

WOLFGANG HAMMER: SCHULRECHT ODER SICHERHEIT IST ALLES 26<br />

DIE AUTOREN 30

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