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PDF 1.582kB - TOBIAS-lib - Universität Tübingen

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Es spricht für die Größe dieser Frau, dass sie zu dieser generösen Geste in der Lage ist, dass sie<br />

zwischen Menschen und Regime differenziert. Es ist nichts, was die Soldaten erwarten können, die<br />

schließlich widerrechtliche Besatzer in einem fremden Land sind, das unter einem unmenschlichen<br />

Regime zu leiden hat. Böll selbst erkennt dies rückblickend in seinem autobiographischen Interview<br />

mit René Wintzen auch an. Die folgende Aussage ist auf seine Zeit in der Kommandantur in Le Tréport<br />

(Februar-Mai 1943 547 ) bezogen, gilt aber, was die Distanziertheit der französischen Bevölkerung<br />

anbetrifft, erst recht in Situationen, in denen Böll deutlich weniger Kontakt mit der Bevölkerung<br />

möglich war:<br />

„Ich war eine Zeitlang Dolmetscher auf einer Kommandantur in Le Tréport, hatte da auch mit der Bevölkerung<br />

zu tun, das heißt, es mußten irgendwelche Transporte organisiert werden, Pferdewagen requiriert<br />

werden. Im übrigen spürten wir natürlich sehr deutlich die Kühle der französischen Bevölkerung. Ich<br />

habe das respektiert und natürlich auch verstanden, aber es war trotzdem hart. Man konnte kein Mädchen<br />

ansprechen, man konnte mit keinem Menschen, mit dem man gerne mal geredet hätte, offen reden. Aber<br />

ich bitte Sie, wie hätten die Franzosen dazu kommen können, mit einem Deutschen offen politisch zu reden,<br />

das wäre sehr gefährlich gewesen. Das wußte ich alles, hab das auch verstanden, es war trotzdem<br />

sehr hart, daß man überhaupt mit niemand in Kontakt kam, den man als Gesprächspartner sich gewünscht<br />

hätte. In dem Punkt war die Bevölkerung konsequent.“ 548<br />

An anderer Stelle wurde bereits festgehalten, dass die Liebe zu Annemarie und – so möchte ich jetzt<br />

ergänzen – ebenso die wahrgenommenen Bilder von Liebe für Böll eine Kraftquelle darstellen, die<br />

ihn aufrechthält, die ihn bei aller Krisenhaftigkeit seines Daseins nicht verzweifeln lässt. Eine besonders<br />

schöne Schilderung, wiederum eine fast lyrische Miniatur, gibt Böll im Oktober 1943, immer<br />

noch in Frankreich eingesetzt:<br />

„Weißt Du, auf meinem Posten dort unten am Meer habe ich jetzt alle Tage, morgens und auch abends ein<br />

nettes Paar beobachtet, von dem ich Dir noch schreiben wollte; sie, eine hübsche, kräftige Frau mit einem<br />

bunten Kopftuch, und er ein schlanker und sehr starker junger Mann; die beiden kamen jeden Morgen mit<br />

einer Anzahl Körben bewaffnet zum Strand, und dann spielte sich ein sehr stummes und doch inniges Arbeiten<br />

ab. Die Frau stand den ganzen Morgen gebückt an der Böschung des Strandes und las die glatten<br />

und dicken, dunkelblauen Kiesel, die von der Flut gewaschen waren, in die Körbe, und dann trug der<br />

Mann die Körbe, die sicher schweren Körbe, mit einer erstaunlichen Leichtigkeit und Eleganz die Böschung<br />

hinauf und schüttelte sie oben auf der Promenade zu hohen Bergen auf, und von dort holte sie<br />

dann ein sehr ehrwürdiger Großvater mit einem Pferdewagen ab. Diese Arbeit ging wirklich den ganzen<br />

Tag ununterbrochen mit sehr kleinen Pausen, wo die beiden sich auf die Schwelle eines der leeren Häuser<br />

setzten und etwas aßen, von morgens bis abends, bis die Flut wieder anrollte und die Arbeit beendete. Ich<br />

habe erst geglaubt, daß die beiden mit diesem intensiven, stillen Arbeitseifer Polen wären, besonders da<br />

die Frau mit ihrer graziösen Kraft mich sehr stark an die Polenmädchen erinnerte, und er, der Mann, von<br />

einem sehr auffälligen Rotblond war, wie man es in Polen oft findet. Aber ich hatte dann Gelegenheit, anlässlich<br />

eines kleinen Gesprächs mit den beiden, festzustellen, daß sie die schönen blauen Steine für eine<br />

Marmorfabrik auflasen, wo die Steine dann zermahlen und zu Kunstmarmor verarbeitet werden. Dieses<br />

Paar, das so anscheinend, stumm, stundenlang ohne ein Wort miteinander zu reden, arbeitete, hat mir<br />

wirklich Freude gemacht, und es hat mich auch um Frankreich gefreut, daß es noch solche Möglichkeiten<br />

hat. Es hat mich wirklich getröstet, dieses nette Paar, das so liebevoll und erfreulich miteinander arbeitete,<br />

eine wirklich innige Gemeinschaft offenbarend…“ 549<br />

Liebe wird hier zu einem Hoffnungsymbol, einem Hoffnungsgrund.<br />

Eine ähnliche Bedeutung kann auch ein freundschaftlicher Austausch bzw. Tauschhandel bekommen.<br />

So schreibt Böll im Oktober 1942 aus Léry:<br />

„Ich habe hier mit einem Russen Freundschaft geschlossen, der seit Ende des Weltkrieges hier in Frankreich<br />

ist; er hat meinen Nikotindurst ein wenig befriedigt; er hat mir Tabak geschenkt, denk Dir, ein Russe,<br />

der mir Tabak schenkt in Frankreich 1942! Das ist wahrlich ein Wunder! Wirklich! Dafür werde ich<br />

547<br />

Vgl. Böll 2003: Chronik 1917-1945, S. 1503f.<br />

548<br />

Böll 1979, S. 130f.<br />

549<br />

Böll 2003: Brief an Annemarie Böll vom 8.10.1943 (Nr. 652), S. 917f.<br />

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