Sigmund Freud - Irwish.de
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<strong>Sigmund</strong> <strong>Freud</strong><br />
Das Ich und das Es<br />
<br />
entnommen aus: Gesammelte Werke Band 13<br />
© 1940 by Imago Publishing Co., Ltd., London<br />
ISBN 3-446-13592-8<br />
Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte,<br />
Prinzessin Georg von Griechenland<br />
herausgegeben von Anna <strong>Freud</strong>,<br />
E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris, O. Isakower<br />
<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Einleitung ................................................................................................................................................ 2<br />
1 Bewußtsein und Unbewußtes ................................................................................................... 3<br />
2 Das Ich und das Es ...................................................................................................................... 6<br />
3 Das Ich und das Über-Ich (Ichi<strong>de</strong>al) .................................................................................... 11<br />
4 Die bei<strong>de</strong>n Triebarten ............................................................................................................... 17<br />
5 Die Abhängigkeiten <strong>de</strong>s Ichs ................................................................................................. 21<br />
Anmerkungen ...................................................................................................................................... 27
Einleitung<br />
Nachstehen<strong>de</strong> Erörterungen setzen Gedankengänge fort, die in meiner Schrift JENSEITS<br />
DES LUSTPRINZIPS 1920 1 begonnen wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen ich persönlich, wie dort erwähnt ist,<br />
mit einer gewissen wohlwollen<strong>de</strong>n Neugier<strong>de</strong> gegenüberstand. Sie nehmen diese Gedanken<br />
auf, verknüpfen sie mit verschie<strong>de</strong>nen Tatsachen <strong>de</strong>r analytischen Beobachtung,<br />
suchen aus dieser Vereinigung neue Schlüsse abzuleiten, machen aber keine neuen Anleihen<br />
bei <strong>de</strong>r Biologie und stehen darum <strong>de</strong>r Psychoanalyse näher als das »Jenseits«.<br />
Sie tragen eher <strong>de</strong>n Charakter einer Synthese als einer Spekulation und scheinen sich<br />
ein hohes Ziel gesetzt zu haben. Ich weiß aber, daß sie beim Gröbsten Halt machen, und<br />
bin mit dieser Beschränkung recht einverstan<strong>de</strong>n.<br />
Dabei rühren sie an Dinge, die bisher noch nicht Gegenstand <strong>de</strong>r psychoanalytischen<br />
Bearbeitung gewesen sind, und können es nicht vermei<strong>de</strong>n, manche Theorien zu streifen,<br />
die von Nicht-Analytikern o<strong>de</strong>r ehemaligen Analytikern auf ihrem Rückzug von <strong>de</strong>r<br />
Analyse aufgestellt wur<strong>de</strong>n. Ich bin sonst immer bereit gewesen, meine Verbindlichkeiten<br />
gegen an<strong>de</strong>re Arbeiter anzuerkennen, fühle mich aber in diesem Falle durch keine<br />
solche Dankesschuld belastet. Wenn die Psychoanalyse gewisse Dinge bisher nicht<br />
gewürdigt hat, so geschah es nie darum, weil sie <strong>de</strong>ren Leistung übersehen hatte o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung verleugnen wollte, son<strong>de</strong>rn weil sie einen bestimmten Weg verfolgt,<br />
<strong>de</strong>r noch nicht so weit geführt hatte. Und endlich, wenn sie dahin gekommen ist, erscheinen<br />
ihr auch die Dinge an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren.<br />
2
1 Bewußtsein und Unbewußtes<br />
In diesem einleiten<strong>de</strong>n Abschnitt ist nichts Neues zu sagen und die Wie<strong>de</strong>rholung von<br />
früher oft Gesagtem nicht zu vermei<strong>de</strong>n.<br />
Die Unterscheidung <strong>de</strong>s Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes ist die Grundvoraussetzung<br />
<strong>de</strong>r Psychoanalyse und gibt ihr allein die Möglichkeit, die ebenso häufigen<br />
als wichtigen pathologischen Vorgänge im Seelenleben zu verstehen, <strong>de</strong>r Wissenschaft<br />
einzuordnen. Nochmals und an<strong>de</strong>rs gesagt: die Psychoanalyse kann das Wesen <strong>de</strong>s Psychischen<br />
nicht ins Bewußtsein verlegen, son<strong>de</strong>rn muß das Bewußtsein als eine Qualität<br />
<strong>de</strong>s Psychischen ansehen, die zu an<strong>de</strong>ren Qualitäten hinzukommen o<strong>de</strong>r wegbleiben<br />
mag.<br />
Wenn ich mir vorstellen könnte, daß alle an <strong>de</strong>r Psychologie Interessierten diese Schrift<br />
lesen wer<strong>de</strong>n, so wäre ich auch darauf vorbereitet, daß schon an dieser Stelle ein Teil<br />
<strong>de</strong>r Leser Halt macht und nicht weiter mitgeht, <strong>de</strong>nn hier ist das erste Schibboleth <strong>de</strong>r<br />
Psychoanalyse. Den meisten philosophisch Gebil<strong>de</strong>ten ist die I<strong>de</strong>e eines Psychischen,<br />
das nicht auch bewußt ist, so unfaßbar, daß sie ihnen absurd und durch bloße Logik abweisbar<br />
erscheint. Ich glaube, dies kommt nur daher, daß sie die betreffen<strong>de</strong>n Phänomene<br />
<strong>de</strong>r Hypnose und <strong>de</strong>s Traumes, welche – vom Pathologischen ganz abgesehen –<br />
zu solcher Auffassung zwingen, nie studiert haben. Ihre Bewußtseinspsychologie ist<br />
aber auch unfähig, die Probleme <strong>de</strong>s Traumes und <strong>de</strong>r Hypnose zu lösen.<br />
Bewußtsein ist zunächst ein rein <strong>de</strong>skriptiver Terminus, <strong>de</strong>r sich auf die unmittelbarste<br />
und sicherste Wahrnehmung beruft. Die Erfahrung zeigt uns dann, daß ein psychisches<br />
Element, zum Beispiel eine Vorstellung, gewöhnlich nicht dauernd bewußt ist. Es ist<br />
vielmehr charakteristisch, daß <strong>de</strong>r Zustand <strong>de</strong>s Bewußtseins rasch vorübergeht; die jetzt<br />
bewußte Vorstellung ist es im nächsten Moment nicht mehr, allein sie kann es unter<br />
gewissen leicht hergestellten Bedingungen wie<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n. Inzwischen war sie, wir wissen<br />
nicht was; wir können sagen, sie sei latent gewesen, und meinen dabei, daß sie je<strong>de</strong>rzeit<br />
bewußtseinsfähig war. Auch wenn wir sagen, sie sei unbewußt gewesen, haben<br />
wir eine korrekte Beschreibung gegeben. Dieses Unbewußt fällt dann mit latentbewußtseinsfähig<br />
zusammen. Die Philosophen wür<strong>de</strong>n uns zwar einwerfen: Nein, <strong>de</strong>r<br />
Terminus unbewußt hat hier keine Anwendung, solange die Vorstellung im Zustand <strong>de</strong>r<br />
Latenz war, war sie überhaupt nichts Psychisches. Wür<strong>de</strong>n wir ihnen schon an dieser<br />
Stelle wi<strong>de</strong>rsprechen, so gerieten wir in einen Wortstreit, aus <strong>de</strong>m sich nichts gewinnen<br />
ließe.<br />
Wir sind aber zum Terminus o<strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>s Unbewußten auf einem an<strong>de</strong>ren Weg gekommen,<br />
durch Verarbeitung von Erfahrungen, in <strong>de</strong>nen die seelische Dynamik eine<br />
Rolle spielt Wir haben erfahren, das heißt annehmen müssen, daß es sehr starke seelische<br />
Vorgänge o<strong>de</strong>r Vorstellungen gibt, – hier kommt zuerst ein quantitatives, also ökonomisches<br />
Moment in Betracht – die alle Folgen für das Seelenleben haben können wie<br />
sonstige Vorstellungen, auch solche Folgen, die wie<strong>de</strong>rum als Vorstellungen bewußt<br />
wer<strong>de</strong>n können, nur wer<strong>de</strong>n sie selbst nicht bewußt. Es ist nicht nötig, hier ausführlich<br />
zu wie<strong>de</strong>rholen, was schon so oft dargestellt wor<strong>de</strong>n ist. Genug, an dieser Stelle setzt<br />
die psychoanalytische Theorie ein und behauptet, daß solcbe Vorstellungen nicht bewußt<br />
sein können, weil eine gewisse Kraft sich <strong>de</strong>m wi<strong>de</strong>rsetzt, daß sie sonst bewußt<br />
wer<strong>de</strong>n könnten und daß man dann sehen wür<strong>de</strong>, wie wenig sie sich von an<strong>de</strong>ren anerkannten<br />
psychischen Elementen unterschei<strong>de</strong>n. Diese Theorie wird dadurch unwi<strong>de</strong>rleglich,<br />
daß sich in <strong>de</strong>r psychoanalytischen Technik Mittel gefun<strong>de</strong>n haben, mit <strong>de</strong>ren<br />
Hilfe man die wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong> Kraft aufheben und die betreffen<strong>de</strong>n Vorstellungen bewußt<br />
machen kann. Den Zustand, in <strong>de</strong>m diese sich vor <strong>de</strong>r Bewußtmachung befan<strong>de</strong>n,<br />
heißen wir Verdrängung, und die Kraft, welche die Verdrängung herbeigeführt und aufrecht<br />
gehalten hat, behaupten wir während <strong>de</strong>r analytischen Arbeit als Wi<strong>de</strong>rstand zu<br />
verspüren.<br />
3
Unseren Begriff <strong>de</strong>s Unbewußten gewinnen wir also aus <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>r Verdrängung.<br />
Das Verdrängte ist uns das Vorbild <strong>de</strong>s Unbewußten. Wir sehen aber, daß wir<br />
zweierlei Unbewußtes haben, das latente, doch bewußtseinsfähige, und das Verdrängte,<br />
an sich und ohne weiteres nicht bewußtseinsfähige. Unser Einblick in die psychische<br />
Dynamik kann nicht ohne Einfluß auf Nomenklatur und Beschreibung bleiben. Wir heißen<br />
das Latente, das nur <strong>de</strong>skriptiv unbewußt ist, nicht im dynamischen Sinne, vorbewußt;<br />
<strong>de</strong>n Namen unbewußt beschränken wir auf das dynamisch unbewußte Verdrängte,<br />
so daß wir jetzt drei Termini haben, bewußt (bw), vorbewußt (vbw) und unbewußt<br />
(ubw), <strong>de</strong>ren Sinn nicht mehr rein <strong>de</strong>skriptiv ist. Das Vbw, nehmen wir an, steht <strong>de</strong>m Bw<br />
viel näher als das Ubw, und da wir das Ubw psychisch geheißen haben, wer<strong>de</strong>n wir es<br />
beim latenten Vbw um so unbe<strong>de</strong>nklicher tun. Warum wollen wir aber nicht lieber im<br />
Einvernehmen mit <strong>de</strong>n Philosophen bleiben und das Vbw wie das Ubw konsequenterweise<br />
vom bewußten Psychischen trennen? Die Philosophen wür<strong>de</strong>n uns dann vorschlagen,<br />
das Vbw wie das Ubw als zwei Arten o<strong>de</strong>r Stufen <strong>de</strong>s Psychoi<strong>de</strong>n zu beschreiben,<br />
und die Einigkeit wäre hergestellt. Aber unendliche Schwierigkeiten in <strong>de</strong>r Darstellung<br />
wären die Folge davon, und die einzig wichtige Tatsache, daß diese Psychoi<strong>de</strong> fast in<br />
allen an<strong>de</strong>ren Punkten mit <strong>de</strong>m anerkannt Psychischen übereinstimmen, wäre zugunsten<br />
eines Vorurteils in <strong>de</strong>n Hintergrund gedrängt, eines Vorurteils, das aus <strong>de</strong>r Zeit stammt,<br />
da man diese Psychoi<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r das Be<strong>de</strong>utsamste von ihnen noch nicht kannte.<br />
Nun können wir mit unseren drei Terminis, bw, vbw und ubw, bequem wirtschaften,<br />
wenn wir nur nicht vergessen, daß es im <strong>de</strong>skriptiven Sinne zweierlei Unbewußtes gibt,<br />
im dynamischen aber nur eines. Für manche Zwecke <strong>de</strong>r Darstellung kann man diese<br />
Unterscheidung vernachlässigen, für an<strong>de</strong>re ist sie natürlich unentbehrlich. Wir haben<br />
uns immerhin an diese Zwei<strong>de</strong>utigkeit <strong>de</strong>s Unbewußten ziemlich gewöhnt und sind gut<br />
mit ihr ausgekommen. Vermei<strong>de</strong>n läßt sie sich, soweit ich sehen kann, nicht; die Unterscheidung<br />
zwischen Bewußtem und Unbewußtem ist schließlich eine Frage <strong>de</strong>r Wahrnehmung,<br />
die mit Ja o<strong>de</strong>r Nein zu beantworten ist, und <strong>de</strong>r Akt <strong>de</strong>r Wahrnehmung selbst<br />
gibt keine Auskunft darüber, aus welchem Grund etwas wahrgenommen wird o<strong>de</strong>r nicht<br />
wahrgenommen wird. Man darf sich nicht darüber beklagen, daß das Dynamische in <strong>de</strong>r<br />
Erscheinung nur einen zwei<strong>de</strong>utigen Ausdruck fin<strong>de</strong>t. 2<br />
Im weiteren Verlauf <strong>de</strong>r psychoanalytischen Arbeit stellt sich aber heraus, daß auch diese<br />
Unterscheidungen unzulänglich, praktisch insuffizient sind. Unter <strong>de</strong>n Situationen,<br />
die das zeigen, sei folgen<strong>de</strong> als die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> hervorgehoben. Wir haben uns die<br />
Vorstellung von einer zusammenhängen<strong>de</strong>n Organisation <strong>de</strong>r seelischen Vorgänge in<br />
einer Person gebil<strong>de</strong>t und heißen diese das Ich <strong>de</strong>rselben. An diesem Ich hängt das Bewußtsein,<br />
es beherrscht die Zugänge zur Motilität, das ist: zur Abfuhr <strong>de</strong>r Erregungen in<br />
die Außenwelt; es ist diejenige seelische Instanz, welche eine Kontrolle über all ihre<br />
Partialvorgänge ausübt, welche zur Nachtzeit schlafen geht und dann immer noch die<br />
Traumzensur handhabt. Von diesem Ich gehen auch die Verdrängungen aus, durch welche<br />
gewisse seelische Strebungen nicht nur vom Bewußtsein, son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
Arten <strong>de</strong>r Geltung und Betätigung ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n sollen. Dies durch die<br />
Verdrängung Beseitigte stellt sich in <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>m Ich gegenüber, und es wird <strong>de</strong>r<br />
Analyse die Aufgabe gestellt, die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> aufzuheben, die das Ich gegen die Beschäftigung<br />
mit <strong>de</strong>m Verdrängten äußert.<br />
Nun machen wir während <strong>de</strong>r Analyse die Beobachtung, daß <strong>de</strong>r Kranke in Schwierigkeiten<br />
gerät, wenn wir ihm gewisse Aufgaben stellen; seine Assoziationen versagen,<br />
wenn sie sich <strong>de</strong>m Verdrängten annähern sollen. Wir sagen ihm dann, er stehe unter <strong>de</strong>r<br />
Herrschaft eines Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s, aber er weiß nichts davon und selbst, wenn er aus seinen<br />
Unlustgefühlen erraten sollte, daß jetzt ein Wi<strong>de</strong>rstand in ihm wirkt, so weiß er ihn nicht<br />
zu benennen und anzugeben. Da aber dieser Wi<strong>de</strong>rstand sicherlich von seinem Ich ausgeht<br />
und diesem angehört, so stehen wir vor einer unvorhergesehenen Situation. Wir<br />
haben im Ich selbst etwas gefun<strong>de</strong>n, was auch unbewußt ist, sich gera<strong>de</strong> so benimmt<br />
4
wie das Verdrängte, das heißt starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewußt zu wer<strong>de</strong>n,<br />
und zu <strong>de</strong>ssen Bewußtmachung es einer beson<strong>de</strong>ren Arbeit bedarf. Die Folge dieser Erfahrung<br />
für die analytische Praxis ist, daß wir in unendlich viele Un<strong>de</strong>utlichkeiten und<br />
Schwierigkeiten geraten, wenn wir an unserer gewohnten Ausdrucksweise festhalten<br />
und zum Beispiel die Neurose auf einen Konflikt zwischen <strong>de</strong>m Bewußten und <strong>de</strong>m<br />
Unbewußten zurückführen wollen. Wir müssen für diesen Gegensatz aus unserer Einsicht<br />
in die strukturellen Verhältnisse <strong>de</strong>s Seelenlebens einen an<strong>de</strong>ren einsetzen: <strong>de</strong>n<br />
zwischen <strong>de</strong>m zusammenhängen<strong>de</strong>n Ich und <strong>de</strong>m von ihm abgespaltenen Verdrängten. 3<br />
Die Folgen für unsere Auffassung <strong>de</strong>s Unbewußten sind aber noch be<strong>de</strong>utsamer. Die<br />
dynamische Betrachtung hatte uns die erste Korrektur gebracht, die strukturelle Einsicht<br />
bringt uns die zweite. Wir erkennen, daß das Ubw nicht mit <strong>de</strong>m Verdrängten zusammenfällt;<br />
es bleibt richtig, daß alles Verdrängte ubw ist, aber nicht alles Ubw ist auch<br />
verdrängt. Auch ein Teil <strong>de</strong>s Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil <strong>de</strong>s Ichs, kann ubw<br />
sein, ist sicherlich ubw. Und dies Ubw <strong>de</strong>s Ichs ist nicht latent im Sinne <strong>de</strong>s Vbw, sonst<br />
dürfte es nicht aktiviert wer<strong>de</strong>n, ohne bw zu wer<strong>de</strong>n, und seine Bewußtmachung dürfte<br />
nicht so große Schwierigkeiten bereiten. Wenn wir uns so vor <strong>de</strong>r Nötigung sehen, ein<br />
drittes, nicht verdrängtes Ubw aufzustellen, so müssen wir zugestehen, daß <strong>de</strong>r Charakter<br />
<strong>de</strong>s Unbewußtseins für uns an Be<strong>de</strong>utung verliert. Er wird zu einer viel<strong>de</strong>utigen<br />
Qualität, die nicht die weitgehen<strong>de</strong>n und ausschließen<strong>de</strong>n Folgerungen gestattet, für<br />
welche wir ihn gerne verwertet hätten. Doch müssen wir uns hüten, ihn zu vernachlässigen,<br />
<strong>de</strong>nn schließlich ist die Eigenschaft bewußt o<strong>de</strong>r nicht die einzige Leuchte im Dunkel<br />
<strong>de</strong>r Tiefenpsychologie.<br />
5
2 Das ich und das Es<br />
Die pathologische Forschung hat unser Interesse allzu ausschließlich auf das Verdrängte<br />
gerichtet. Wir möchten mehr vom Ich erfahren, seit<strong>de</strong>m wir wissen, daß auch das Ich<br />
unbewußt im eigentlichen Sinne sein kann. Unser einziger Anhalt während unserer Untersuchungen<br />
war bisher das Kennzeichen <strong>de</strong>s Bewußt- o<strong>de</strong>r Unbewußtseins; zuletzt haben<br />
wir gesehen, wie viel<strong>de</strong>utig dies sein kann.<br />
Nun ist all unser Wissen immer an das Bewußtsein gebun<strong>de</strong>n. Auch das Ubw können<br />
wir nur dadurch kennen lernen, daß wir es bewußt machen. Aber halt, wie ist das möglich?<br />
Was heißt: etwas bewußt machen? Wie kann das vor sich gehen?<br />
Wir wissen schon, wo wir hiefür anzuknüpfen haben. Wir haben gesagt, das Bewußtsein<br />
ist die Oberfläche <strong>de</strong>s seelischen Apparates, das heißt wir haben es einem System als<br />
Funktion zugeschrieben, welches räumlich das erste von <strong>de</strong>r Außenwelt her ist. Räumlich<br />
übrigens nicht nur im Sinne <strong>de</strong>r Funktion, son<strong>de</strong>rn diesmal auch im Sinne <strong>de</strong>r anatomischen<br />
Zerglie<strong>de</strong>rung. 4 Auch unser Forschen muß diese wahrnehmen<strong>de</strong> Oberfläche<br />
zum Ausgang nehmen.<br />
Von vornherein bw sind alle Wahrnehmungen, die von außen herankommen (Sinneswahrnehmungen),<br />
und von innen her, was wir Empfindungen und Gefühle heißen. Wie<br />
aber ist es mit jenen inneren Vorgängen, die wir etwa – roh und ungenau – als Denkvorgänge<br />
zusammenfassen können? Kommen sie, die sich irgendwo im Innern <strong>de</strong>s Apparates<br />
als Verschiebungen seelischer Energie auf <strong>de</strong>m Wege zur Handlung vollziehen,<br />
an die Oberfläche, die das Bewußtsein entstehen läßt, heran? O<strong>de</strong>r kommt das Bewußtsein<br />
zu ihnen? Wir merken, das ist eine von <strong>de</strong>n Schwierigkeiten, die sich ergeben,<br />
wenn man mit <strong>de</strong>r räumlichen, topischen Vorstellung <strong>de</strong>s seelischen Geschehens Ernst<br />
machen will. Bei<strong>de</strong> Möglichkeiten sind gleich unaus<strong>de</strong>nkbar, es müßte etwas drittes <strong>de</strong>r<br />
Fall sein.<br />
An einer an<strong>de</strong>ren Stelle 5 habe ich schon die Annahme gemacht, daß <strong>de</strong>r wirkliche Unterschied<br />
einer ubw von einer vbw Vorstellung (einem Gedanken) darin besteht, daß die<br />
erstere sich an irgendwelchem Material, das unerkannt bleibt, vollzieht, während bei <strong>de</strong>r<br />
letzteren (<strong>de</strong>r vbw) die Verbindung mit Wortvorstellungen hinzukommt. Hier ist zuerst<br />
<strong>de</strong>r Versuch gemacht, für die bei<strong>de</strong>n Systeme Vbw und Ubw Kennzeichen anzugeben,<br />
die an<strong>de</strong>rs sind als die Beziehung zum Bewußtsein. Die Frage: Wie wird etwas bewußt?<br />
lautet also zweckmäßiger: Wie wird etwas vorbewußt? Und die Antwort wäre: durch<br />
Verbindung mit <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Wortvorstellungen.<br />
Diese Wortvorstellungen sind Erinnerungsreste, sie waren einmal Wahrnehmungen und<br />
können wie alle Erinnerungsreste wie<strong>de</strong>r bewußt wer<strong>de</strong>n. Ehe wir noch weiter von ihrer<br />
Natur han<strong>de</strong>ln, dämmert uns wie eine neue Einsicht auf: bewußt wer<strong>de</strong>n kann nur das,<br />
was schon einmal bw Wahrnehmung war, und was außer Gefühlen von innen her bewußt<br />
wer<strong>de</strong>n will, muß versuchen, sich in äußere Wahrnehmungen umzusetzen. Dies<br />
wird mittels <strong>de</strong>r Erinnerungsspuren möglich.<br />
Die Erinnerungsreste <strong>de</strong>nken wir uns in Systemen enthalten, welche unmittelbar an das<br />
System W-Bw anstoßen, so daß ihre Besetzungen sich leicht auf die Elemente dieses Systems<br />
von innen her fortsetzen können. Man <strong>de</strong>nkt hier sofort an die Halluzination und<br />
an die Tatsache, daß die lebhafteste Erinnerung immer noch von <strong>de</strong>r Halluzination wie<br />
von <strong>de</strong>r äußeren Wahrnehmung unterschie<strong>de</strong>n wird, allein ebenso rasch stellt sich die<br />
Auskunft ein, daß bei <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rbelebung einer Erinnerung die Besetzung im Erinnerungssystem<br />
erhalten bleibt, während die von <strong>de</strong>r Wahrnehmung nicht unterscheidbare<br />
Halluzination entstehen mag, wenn die Besetzung nicht nur von <strong>de</strong>r Erinnerungsspur<br />
auf das W-Element übergreift, son<strong>de</strong>rn völlig auf dasselbe übergeht.<br />
Die Wortreste stammen wesentlich von akustischen Wahrnehmungen ab, so daß hiedurch<br />
gleichsam ein beson<strong>de</strong>rer Sinnesursprung für das System Vbw gegeben ist. Die<br />
visuellen Bestandteile <strong>de</strong>r Wortvorstellung kann man als sekundär, durch Lesen erwor-<br />
6
en, zunächst vernachlässigen und ebenso die Bewegungsbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Wortes, die außer<br />
bei Taubstummen die Rolle von unterstützen<strong>de</strong>n Zeichen spielen. Das Wort ist doch eigentlich<br />
<strong>de</strong>r Erinnerungsrest <strong>de</strong>s gehörten Wortes.<br />
Es darf uns nicht beifallen, etwa <strong>de</strong>r Vereinfachung zuliebe, die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r optischen<br />
Erinnerungsreste – von <strong>de</strong>n Dingen – zu vergessen, o<strong>de</strong>r zu verleugnen, daß ein<br />
Bewußtwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Denkvorgänge durch Rückkehr zu <strong>de</strong>n visuellen Resten möglich ist<br />
und bei vielen Personen bevorzugt scheint. Von <strong>de</strong>r Eigenart dieses visuellen Denkens<br />
kann uns das Studium <strong>de</strong>r Träume und <strong>de</strong>r vorbewußten Phantasien nach <strong>de</strong>n Beobachtungen<br />
J. Varendncks eine Vorstellung geben. Man erfährt, daß dabei meist nur das<br />
konkrete Material <strong>de</strong>s Gedankens bewußt wird, für die Relationen aber, die <strong>de</strong>n Gedanken<br />
beson<strong>de</strong>rs kennzeichnen, ein visueller Ausdruck nicht gegeben wer<strong>de</strong>n kann. Das<br />
Denken in Bil<strong>de</strong>rn ist also ein nur sehr unvollkommenes Bewußtwer<strong>de</strong>n. Es steht auch<br />
irgendwie <strong>de</strong>n unbewußten Vorgängen näher als das Denken in Worten und ist unzweifelhaft<br />
onto- wie phylogenetisch älter als dieses.<br />
Wenn also, um zu unserem Argument zurückzukehren, dies <strong>de</strong>r Weg ist, wie etwas an<br />
sich Unbewußtes vorbewußt wird, so ist die Frage, wie machen wir etwas Verdrängtes<br />
(vor)bewußt, zu beantworten: in<strong>de</strong>m wir solche vbw Mittelglie<strong>de</strong>r durch die analytische<br />
Arbeit herstellen. Das Bewußtsein verbleibt also an seiner Stelle, aber auch das Ubw ist<br />
nicht etwa zum Bw aufgestiegen.<br />
Während die Beziehung <strong>de</strong>r äußeren Wahrnehmung zum Ich ganz offenkundig ist, for<strong>de</strong>rt<br />
die <strong>de</strong>r inneren Wahrnehmung zum Ich eine beson<strong>de</strong>re Untersuchung heraus. Sie<br />
läßt noch einmal <strong>de</strong>n Zweifel auftauchen, ob man wirklich Recht daran tut, alles Bewußtsein<br />
auf das eine oberflächliche System W-Bw zu beziehen.<br />
Die innere Wahrnehmung ergibt Empfindungen von Vorgängen aus <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten,<br />
gewiß auch tiefsten Schichten <strong>de</strong>s seelischen Apparates. Sie sind schlecht gekannt,<br />
als ihr bestes Muster können noch die <strong>de</strong>r Lust-Unlustreihe gelten. Sie sind ursprünglicher,<br />
elementarer als die von außen stammen<strong>de</strong>n, können noch in Zustän<strong>de</strong>n getrübten<br />
Bewußtseins zustan<strong>de</strong> kommen. Über ihre größere ökonomische Be<strong>de</strong>utung und <strong>de</strong>ren<br />
metapsychologische Begründung habe ich mich an an<strong>de</strong>rer Stelle geäußert. Diese Empfindungen<br />
sind multilokulär wie die äußeren Wahrnehmungen, können gleichzeitig von<br />
verschie<strong>de</strong>nen Stellen kommen und dabei verschie<strong>de</strong>ne, auch entgegengesetzte Qualitäten<br />
haben.<br />
Die Empfindungen mit Lustcharakter haben nichts Drängen<strong>de</strong>s an sich, dagegen im<br />
höchsten Grad die Unlustempfindungen. Diese drängen auf Verän<strong>de</strong>rung, auf Abfuhr,<br />
und darum <strong>de</strong>uten wir die Unlust auf eine Erhöhung, die Lust auf eine Erniedrigung <strong>de</strong>r<br />
Energiebesetzung. Nennen wir das, was als Lust und Unlust bewußt wird, ein quantitativ-qualitativ<br />
An<strong>de</strong>res im seelischen Ablauf, so ist die Frage, ob ein solches An<strong>de</strong>res an<br />
Ort und Stelle bewußt wer<strong>de</strong>n kann o<strong>de</strong>r bis zum System W fortgeleitet wer<strong>de</strong>n muß.<br />
Die klinische Erfahrung entschei<strong>de</strong>t für das letztere. Sie zeigt, daß dies An<strong>de</strong>re sich verhält<br />
wie eine verdrängte Regung. Es kann treiben<strong>de</strong> Kräfte entfalten, ohne daß das Ich<br />
<strong>de</strong>n Zwang bemerkt. Erst Wi<strong>de</strong>rstand gegen <strong>de</strong>n Zwang, Aufhalten <strong>de</strong>r Abfuhrreaktion<br />
macht dieses An<strong>de</strong>re sofort als Unlust bewußt. Ebenso wie Bedürfnisspannungen kann<br />
auch <strong>de</strong>r Schmerz unbewußt bleiben, dies Mittelding zwischen äußerer und innerer<br />
Wahrnehmung, <strong>de</strong>r sich wie eine innere Wahrnehmung verhält, auch wo er aus <strong>de</strong>r Außenwelt<br />
stammt. Es bleibt also richtig, daß auch Empfindungen und Gefühle nur durch<br />
Anlangen an das System W bewußt wer<strong>de</strong>n; ist die Fortleitung gesperrt, so kommen sie<br />
nicht als Empfindungen zustan<strong>de</strong>, obwohl das ihnen entsprechen<strong>de</strong> An<strong>de</strong>re im Erregungsablauf<br />
dasselbe ist. Abgekürzter, nicht ganz korrekter Weise sprechen wir dann<br />
von unbewußten Empfindungen, halten die Analogie mit unbewußten Vorstellungen<br />
fest, die nicht ganz gerechtfertigt ist. Der Unterschied ist nämlich, daß für die ubw Vorstellung<br />
erst Verbindungsglie<strong>de</strong>r geschaffen wer<strong>de</strong>n müssen, um sie zum Bw zu bringen,<br />
während dies für die Empfindungen, die sich direkt fortleiten, entfällt. Mit an<strong>de</strong>ren<br />
7
Worten: die Unterscheidung von Bw und Vbw hat für die Empfindungen keinen Sinn,<br />
das Vbw fällt hier aus, Empfindungen sind entwe<strong>de</strong>r bewußt o<strong>de</strong>r unbewußt. Auch wenn<br />
sie an Wortvorstellungen gebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, danken sie nicht diesen ihr Bewußtwer<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn sie wer<strong>de</strong>n es direkt.<br />
Die Rolle <strong>de</strong>r Wortvorstellungen wird nun vollends klar. Durch ihre Vermittlung wer<strong>de</strong>n<br />
die inneren Denkvorgänge zu Wahrnehmungen gemacht. Es ist, als sollte <strong>de</strong>r Satz<br />
erwiesen wer<strong>de</strong>n: alles Wissen stammt aus <strong>de</strong>r äußeren Wahrnehmung. Bei einer Überbesetzung<br />
<strong>de</strong>s Denkens wer<strong>de</strong>n die Gedanken wirklich – wie von außen – wahrgenommen<br />
und darum für wahr gehalten.<br />
Nach dieser Klärung <strong>de</strong>r Beziehungen zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung und<br />
<strong>de</strong>m Oberflächensystem W-Bw können wir darangehen, unsere Vorstellung vom Ich<br />
auszubauen. Wir sehen es vom System W als seinem Kern ausgehen und zunächst das<br />
Vbw, das sich an die Erinnerungsreste anlehnt, umfassen. Das Ich ist aber auch, wie wir<br />
erfahren haben, unbewußt.<br />
Nun meine ich, wir wer<strong>de</strong>n großen Vorteil davon haben, wenn wir <strong>de</strong>r Anregung eines<br />
Autors folgen, <strong>de</strong>r vergebens aus persönlichen Motiven beteuert, er habe mit <strong>de</strong>r gestrengen,<br />
hohen Wissenschaft nichts zu tun. Ich meine G. Grod<strong>de</strong>ck, <strong>de</strong>r immer wie<strong>de</strong>r<br />
betont, daß das, was wir unser Ich heißen, sich im Leben wesentlich passiv verhält, daß<br />
wir nach seinem Ausdruck »gelebt« wer<strong>de</strong>n von unbekannten, unbeherrschbaren<br />
Mächten. 6 Wir haben alle dieselben Eindrücke empfangen, wenngleich sie uns nicht bis<br />
zum Ausschluß aller an<strong>de</strong>ren überwältigt haben, und verzagen nicht daran, <strong>de</strong>r Einsicht<br />
Grod<strong>de</strong>cks ihre Stelle in <strong>de</strong>m Gefüge <strong>de</strong>r Wissenschaft anzuweisen. Ich schlage vor, ihr<br />
Rechnung zu tragen, in<strong>de</strong>m wir das vom System W ausgehen<strong>de</strong> Wesen, das zunächst<br />
vbw ist, das Ich heißen, das an<strong>de</strong>re Psychische aber, in welches es sich fortsetzt, und das<br />
sich wie ubw verhält, nach Grod<strong>de</strong>cks Gebrauch das Es. 7<br />
Wir wer<strong>de</strong>n bald sehen, ob wir aus dieser Auffassung Nutzen für Beschreibung und<br />
Verständnis ziehen können. Ein Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt<br />
und unbewußt, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf, aus <strong>de</strong>m W-System als<br />
Kern entwickelt. Streben wir nach graphischer Darstellung, so wer<strong>de</strong>n wir hinzufügen,<br />
das Ich umhüllt das Es nicht ganz, son<strong>de</strong>rn nur insoweit das System W <strong>de</strong>ssen Oberfläche<br />
bil<strong>de</strong>t, also etwa so wie die Keimscheibe <strong>de</strong>m Ei aufsitzt. Das Ich ist vom Es nicht<br />
scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen.<br />
Aber auch das Verdrängte fließt mit<br />
<strong>de</strong>m Es zusammen, ist nur ein Teil<br />
von ihm. Das Verdrängte ist nur<br />
vom Ich durch die Verdrängungswi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong><br />
scharf geschie<strong>de</strong>n,<br />
durch das Es kann es mit ihm kommunizieren.<br />
Wir erkennen sofort,<br />
fast alle Son<strong>de</strong>rungen, die wir auf<br />
die Anregung <strong>de</strong>r Pathologie hin<br />
beschrieben haben, beziehen sich<br />
nur auf die – uns allein bekannten –<br />
oberflächlichen Schichten <strong>de</strong>s seelischen<br />
Apparates. Wir könnten von<br />
diesen Verhältnissen eine Zeichnung<br />
entwerfen, <strong>de</strong>ren Konturen<br />
allerdings nur <strong>de</strong>r Darstellung dienen,<br />
keine beson<strong>de</strong>re Deutung beanspruchen<br />
sollen. Etwa fügen wir<br />
8
hinzu, daß das Ich eine »Hörkappe« trägt, nach <strong>de</strong>m Zeugnis <strong>de</strong>r Gehirnanatomie nur<br />
auf einer Seite. Sie sitzt ihm sozusagen schief auf.<br />
Es ist leicht einzusehen, das Ich ist <strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n direkten Einfluß <strong>de</strong>r Außenwelt unter<br />
Vermittlung von W-Bw verän<strong>de</strong>rte Teil <strong>de</strong>s Es, gewissermaßen eine Fortsetzung <strong>de</strong>r<br />
Oberflächendifferenzierung. Es bemüht sich auch, <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>r Außenwelt auf das<br />
Es und seine Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die<br />
Stelle <strong>de</strong>s Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. Die Wahrnehmung<br />
spielt für das Ich die Rolle, welche im Es <strong>de</strong>m Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert,<br />
was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches<br />
die Lei<strong>de</strong>nschaften enthält. Dies alles <strong>de</strong>ckt sich mit allbekannten populären Unterscheidungen,<br />
ist aber auch nur als durchschnittlich o<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ell richtig zu verstehen.<br />
Die funktionelle Wichtigkeit <strong>de</strong>s Ichs kommt darin zum Ausdruck, daß ihm normaler<br />
Weise die Herrschaft über die Zugänge zur Motilität eingeräumt ist. Es gleicht so im<br />
Verhältnis zum Es <strong>de</strong>m Reiter, <strong>de</strong>r die überlegene Kraft <strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>s zügeln soll, mit<br />
<strong>de</strong>m Unterschied, daß <strong>de</strong>r Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten.<br />
Dieses Gleichnis trägt ein Stück weiter. Wie <strong>de</strong>m Reiter, will er sich nicht vom<br />
Pferd trennen, oft nichts an<strong>de</strong>res übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen<br />
will, so pflegt auch das Ich <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>s Es in Handlung umzusetzen, als ob es <strong>de</strong>r eigene<br />
wäre.<br />
Auf die Entstehung <strong>de</strong>s Ichs und seine Abson<strong>de</strong>rung vom Es scheint noch ein an<strong>de</strong>res<br />
Moment als <strong>de</strong>r Einfluß <strong>de</strong>s Systems W hingewirkt zu haben. Der eigene Körper und<br />
vor allem die Oberfläche <strong>de</strong>sselben ist ein Ort, von <strong>de</strong>m gleichzeitig äußere und innere<br />
Wahrnehmungen ausgehen können. Er wird wie ein an<strong>de</strong>res Objekt gesehen, ergibt aber<br />
<strong>de</strong>m Getast zweierlei Empfindungen, von <strong>de</strong>nen die eine einer inneren Wahrnehmung<br />
gleichkommen kann. Es ist in <strong>de</strong>r Psychophysiologie hinreichend erörtert wor<strong>de</strong>n, auf<br />
welche Weise sich <strong>de</strong>r eigene Körper aus <strong>de</strong>r Wahrnehmungswelt heraushebt. Auch <strong>de</strong>r<br />
Schmerz scheint dabei eine Rolle zu spielen und die Art, wie man bei schmerzhaften<br />
Erkrankungen eine neue Kenntnis seiner Organe erwirbt, ist vielleicht vorbildlich für<br />
die Art, wie man überhaupt zur Vorstellung seines eigenen Körpers kommt.<br />
Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, son<strong>de</strong>rn<br />
selbst die Projektion einer Oberfläche. Wenn man eine anatomische Analogie für dasselbe<br />
sucht, kann man es am ehesten mit <strong>de</strong>m »Gehirnmännchen« <strong>de</strong>r Anatomen i<strong>de</strong>ntifizieren,<br />
das in <strong>de</strong>r Hirnrin<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Kopf steht, die Fersen nach oben streckt, nach<br />
hinten schaut und wie bekannt, links die Sprachzone trägt.<br />
Das Verhältnis <strong>de</strong>s Ichs zum Bewußtsein ist wie<strong>de</strong>rholt gewürdigt wor<strong>de</strong>n, doch sind<br />
hier einige wichtige Tatsachen neu zu beschreiben. Gewöhnt, <strong>de</strong>n Gesichtspunkt einer<br />
sozialen o<strong>de</strong>r ethischen Wertung überallhin mitzunehmen, sind wir nicht überrascht zu<br />
hören, daß das Treiben <strong>de</strong>r niedrigen Lei<strong>de</strong>nschaften im Unbewußten vor sich geht, erwarten<br />
aber, daß die seelischen Funktionen um so leichter sicheren Zugang zum Bewußtsein<br />
fin<strong>de</strong>n, je höher sie in dieser Wertung angesetzt sind. Hier enttäuscht uns aber<br />
die psychoanalytische Erfahrung. Wir haben einerseits Belege dafür, daß selbst feine<br />
und schwierige intellektuelle Arbeit, die sonst angestrengtes Nach<strong>de</strong>nken erfor<strong>de</strong>rt,<br />
auch vorbewußt geleistet wer<strong>de</strong>n kann, ohne zum Bewußtsein zu kommen. Diese Fälle<br />
sind ganz unzweifelhaft, sie ereignen sich zum Beispiel im Schlafzustand und äußern<br />
sich darin, daß eine Person unmittelbar nach <strong>de</strong>m Erwachen die Lösung eines schwierigen<br />
mathematischen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Problems weiß, um das sie sich am Tage vorher vergeblich<br />
bemüht hatte. 8<br />
Weit befrem<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r ist aber eine an<strong>de</strong>re Erfahrung. Wir lernen in unseren Analysen, daß<br />
es Personen gibt, bei <strong>de</strong>nen die Selbstkritik und das Gewissen, also überaus hochgewertete<br />
seelische Leistungen, unbewußt sind und als unbewußt die wichtigsten Wirkungen<br />
äußern; das Unbewußtbleiben <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Analyse ist also keineswegs<br />
9
die einzige Situation dieser Art. Die neue Erfahrung aber, die uns nötigt, trotz unserer<br />
besseren kritischen Einsicht von einem unbewußten Schuldgefühl zu re<strong>de</strong>n, verwirrt uns<br />
weit mehr und gibt uns neue Rätsel auf, beson<strong>de</strong>rs wenn wir allmählich erraten, daß ein<br />
solches unbewußtes Schuldgefühl bei einer großen Anzahl von Neurosen eine ökonomisch<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielt und <strong>de</strong>r Heilung die stärksten Hin<strong>de</strong>rnisse in <strong>de</strong>n Weg<br />
legt. Wollen wir zu unserer Wertskala zurückkehren, so müssen wir sagen: Nicht nur<br />
das Tiefste, auch das Höchste am Ich kann unbewußt sein. Es ist, als wür<strong>de</strong> uns auf diese<br />
Weise <strong>de</strong>monstriert, was wir vorhin vom bewußten Ich ausgesagt haben, es sei vor<br />
allem ein Körper-Ich.<br />
10
3 Das Ich und das Über-Ich (Ich-I<strong>de</strong>al)<br />
Wäre das Ich nur <strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>s Wahrnehmungssystems modifizierte Anteil<br />
<strong>de</strong>s Es, <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>r realen Außenwelt im Seelischen, so hätten wir es mit einem<br />
einfachen Sachverhalt zu tun. Allein es kommt etwas an<strong>de</strong>res hinzu.<br />
Die Motive, die uns bewogen haben, eine Stufe im Ich anzunehmen, eine Differenzierung<br />
innerhalb <strong>de</strong>s Ichs, die Ich-I<strong>de</strong>al o<strong>de</strong>r Über-Ich zu nennen ist, sind an an<strong>de</strong>ren Orten<br />
auseinan<strong>de</strong>rgesetzt wor<strong>de</strong>n. 9 Sie bestehen zu Recht. 10 Daß dieses Stück <strong>de</strong>s Ichs eine<br />
weniger feste Beziehung zum Bewußtsein hat, ist die Neuheit, die nach Erklärung verlangt.<br />
Wir müssen hier etwas weiter ausgreifen. Es war uns gelungen, das schmerzhafte Lei<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>r Melancholie durch die Annahme aufzuklären, daß ein verlorenes Objekt im Ich<br />
wie<strong>de</strong>r aufgerichtet, also eine Objektbesetzung durch eine I<strong>de</strong>ntifizierung abgelöst<br />
wird. 11 Damals erkannten wir aber noch nicht die ganze Be<strong>de</strong>utung dieses Vorganges<br />
und wußten nicht, wie häufig und typisch er ist. Wir haben seither verstan<strong>de</strong>n, daß solche<br />
Ersetzung einen großen Anteil an <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>s Ichs hat und wesentlich dazu<br />
beiträgt, das herzustellen, was man seinen Charakter heißt.<br />
Uranfänglich in <strong>de</strong>r primitiven oralen Phase <strong>de</strong>s Individuums sind Objektbesetzung und<br />
I<strong>de</strong>ntifizierung wohl nicht voneinan<strong>de</strong>r zu unterschei<strong>de</strong>n. Späterhin kann man nur annehmen,<br />
daß die Objektbesetzungen vom Es ausgehen, welches die erotischen Strebungen<br />
als Bedürfnisse empfin<strong>de</strong>t. Das anfangs noch schwächliche Ich erhält von <strong>de</strong>n Objektbesetzungen<br />
Kenntnis, läßt sie sich gefallen o<strong>de</strong>r sucht sie durch <strong>de</strong>n Prozeß <strong>de</strong>r<br />
Verdrängung abzuwehren. 12<br />
Soll o<strong>de</strong>r muß ein solches Sexualobjekt aufgegeben wer<strong>de</strong>n, so tritt dafür nicht selten<br />
die Ichverän<strong>de</strong>rung auf, die man als Aufrichtung <strong>de</strong>s Objekts im Ich wie bei <strong>de</strong>r Melancholie<br />
beschreiben muß; die näheren Verhältnisse dieser Ersetzung sind uns noch nicht<br />
bekannt. Vielleicht erleichtert o<strong>de</strong>r ermöglicht das Ich durch diese Introjektion, die eine<br />
Art von Regression zum Mechanismus <strong>de</strong>r oralen Phase ist, das Aufgeben <strong>de</strong>s Objekts.<br />
Vielleicht ist diese I<strong>de</strong>ntifizierung überhaupt die Bedingung, unter <strong>de</strong>r das Es seine Objekte<br />
aufgibt. Je<strong>de</strong>nfalls ist <strong>de</strong>r Vorgang zumal in frühen Entwicklungsphasen ein sehr<br />
häufiger und kann die Auffassung ermöglichen, daß <strong>de</strong>r Charakter <strong>de</strong>s Ichs ein Nie<strong>de</strong>rschlag<br />
<strong>de</strong>r aufgegebenen Objektbesetzungen ist, die Geschichte dieser Objektwahlen<br />
enthält. Es ist natürlich von vorne herein eine Skala <strong>de</strong>r Resistenzfähigkeit zuzugeben,<br />
inwieweit <strong>de</strong>r Charakter einer Person diese Einflüsse aus <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r erotischen<br />
Objektwahlen abwehrt o<strong>de</strong>r annimmt. Bei Frauen, die viel Liebeserfahrungen gehabt<br />
haben, glaubt man, die Rückstän<strong>de</strong> ihrer Objektbesetzungen in ihren Charakterzügen<br />
leicht nach weisen zu können. Auch eine Gleichzeitigkeit von Objektbesetzung und<br />
I<strong>de</strong>ntifizierung, also eine Charakterverän<strong>de</strong>rung, ehe das Objekt aufgegeben wor<strong>de</strong>n ist,<br />
kommt in Betracht. In diesem Fall könnte die Charakterverän<strong>de</strong>rung die Objektbeziehung<br />
überleben und sie in gewissem Sinne konservieren.<br />
Ein an<strong>de</strong>rer Gesichtspunkt besagt, daß diese Umsetzung einer erotischen Objektwahl in<br />
eine Ichverän<strong>de</strong>rung auch ein Weg ist, wie das Ich das Es bemeistern und seine Beziehungen<br />
zu ihm vertiefen kann, allerdings auf Kosten einer weitgehen<strong>de</strong>n Gefügigkeit<br />
gegen <strong>de</strong>ssen Erlebnisse. Wenn das Ich die Züge <strong>de</strong>s Objektes annimmt, drängt es sich<br />
sozusagen selbst <strong>de</strong>m Es als Liebesobjekt auf, sucht ihm seinen Verlust zu ersetzen, in<strong>de</strong>m<br />
es sagt: »Sieh’, du kannst auch mich lieben, ich bin <strong>de</strong>m Objekt so ähnlich.«<br />
Die Umsetzung von Objektlibido in narzißtische Libido, die hier vor sich geht, bringt<br />
offenbar ein Aufgeben <strong>de</strong>r Sexualziele, eine Desexualisierung mit sich, also eine Art<br />
von Sublimierung. Ja, es entsteht die eingehen<strong>de</strong>r Behandlung würdige Frage, ob dies<br />
nicht <strong>de</strong>r allgemeine Weg zur Sublimierung ist, ob nicht alle Sublimierung durch die<br />
Vermittlung <strong>de</strong>s Ichs vor sich geht, welches zunächst die sexuelle Objektlibido in nar-<br />
11
zißtische verwan<strong>de</strong>lt, um ihr dann vielleicht ein an<strong>de</strong>res Ziel zu setzen. 13 Ob diese Verwandlung<br />
nicht auch an<strong>de</strong>re Triebschicksale zur Folge haben kann, zum Beispiel eine<br />
Entmischung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen miteinan<strong>de</strong>r verschmolzenen Triebe herbeizuführen,<br />
wird uns noch später beschäftigen.<br />
Es ist eine Abschweifung von unserem Ziel und doch nicht zu vermei<strong>de</strong>n, daß wir unsere<br />
Aufmerksamkeit für einen Moment bei <strong>de</strong>n Objekti<strong>de</strong>ntifizierungen <strong>de</strong>s Ichs verweilen<br />
lassen. Nehmen diese überhand, wer<strong>de</strong>n allzu zahlreich und überstark und miteinan<strong>de</strong>r<br />
unverträglich, so liegt ein pathologisches Ergebnis nahe. Es kann zu einer Aufsplitterung<br />
<strong>de</strong>s Ichs kommen, in<strong>de</strong>m sich die einzelnen I<strong>de</strong>ntifizierungen durch Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong><br />
gegeneinan<strong>de</strong>r abschließen, und vielleicht ist es das Geheimnis <strong>de</strong>r Fälle von sogenannter<br />
multipler Persönlichkeit, daß die einzelnen I<strong>de</strong>ntifizierungen alternierend das<br />
Bewußtsein an sich reißen. Auch wenn es nicht so weit kommt, ergibt sich das Thema<br />
<strong>de</strong>r Konflikte zwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen I<strong>de</strong>ntifizierungen, in die das Ich auseinan<strong>de</strong>rfährt,<br />
Konflikte, die endlich nicht durchwegs als pathologische bezeichnet wer<strong>de</strong>n können.<br />
Wie immer sich aber die spätere Resistenz <strong>de</strong>s Charakters gegen die Einflüsse aufgegebener<br />
Objektbesetzungen gestalten mag, die Wirkungen <strong>de</strong>r ersten, im frühesten Alter<br />
erfolgten I<strong>de</strong>ntifizierungen wer<strong>de</strong>n allgemeine und nachhaltige sein. Dies führt uns zur<br />
Entstehung <strong>de</strong>s Ichi<strong>de</strong>als zurück, <strong>de</strong>nn hinter ihm verbirgt sich die erste und be<strong>de</strong>utsamste<br />
I<strong>de</strong>ntifizierung <strong>de</strong>s Individuums, die mit <strong>de</strong>m Vater <strong>de</strong>r persönlichen Vorzeit. 14 Diese<br />
scheint zunächst nicht Erfolg o<strong>de</strong>r Ausgang einer Objektbesetzung zu sein, sie ist eine<br />
direkte und unmittelbare und frühzeitiger als je<strong>de</strong> Objektbesetzung. Aber die Objektwahlen,<br />
die <strong>de</strong>r ersten Sexualperio<strong>de</strong> angehören und Vater und Mutter betreffen,<br />
scheinen beim normalen Ablauf <strong>de</strong>n Ausgang in solche I<strong>de</strong>ntifizierung zu nehmen und<br />
somit die primäre I<strong>de</strong>ntifizierung zu verstärken.<br />
Immerhin sind diese Beziehungen so kompliziert, daß es notwendig wird, sie eingehen<strong>de</strong>r<br />
zu beschreiben. Es sind zwei Momente, welche diese Komplikation verschul<strong>de</strong>n, die<br />
dreieckige Anlage <strong>de</strong>s Ödipusverhältnisses und die konstitutionelle Bisexualität <strong>de</strong>s Individuums.<br />
Der vereinfachte Fall gestaltet sich für das männliche Kind in folgen<strong>de</strong>r Weise: Ganz<br />
frühzeitig entwickelt es für die Mutter eine Objektbesetzung, die von <strong>de</strong>r Mutterbrust<br />
ihren Ausgang nimmt und das vorbildliche Beispiel einer Objektwahl nach <strong>de</strong>m Anlehnungstypus<br />
zeigt; <strong>de</strong>s Vaters bemächtigt sich <strong>de</strong>r Knabe durch I<strong>de</strong>ntifizierung. Die bei<strong>de</strong>n<br />
Beziehungen gehen eine Weile nebeneinan<strong>de</strong>r her, bis durch die Verstärkung <strong>de</strong>r<br />
sexuellen Wünsche nach <strong>de</strong>r Mutter und die Wahrnehmung, daß <strong>de</strong>r Vater diesen Wünschen<br />
ein Hin<strong>de</strong>rnis ist, <strong>de</strong>r Ödipuskomplex entsteht. 15 Die Vateri<strong>de</strong>ntifizierung nimmt<br />
nun eine feindselige Tönung an, sie wen<strong>de</strong>t sich zum Wunsch, <strong>de</strong>n Vater zu beseitigen,<br />
um ihn bei <strong>de</strong>r Mutter zu ersetzen. Von da an ist das Verhältnis zum Vater ambivalent;<br />
es scheint, als ob die in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifizierung von Anfang an enthaltene Ambivalenz manifest<br />
gewor<strong>de</strong>n wäre. Die ambivalente Einstellung zum Vater und die nur zärtliche Objektstrebung<br />
nach <strong>de</strong>r Mutter beschreiben für <strong>de</strong>n Knaben <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>s einfachen, positiven<br />
Ödipuskomplexes.<br />
Bei <strong>de</strong>r Zertrümmerung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes muß die Objektbesetzung <strong>de</strong>r Mutter<br />
aufgegeben wer<strong>de</strong>n. An ihre Stelle kann zweierlei treten, entwe<strong>de</strong>r eine I<strong>de</strong>ntifizierung<br />
mit <strong>de</strong>r Mutter o<strong>de</strong>r eine Verstärkung <strong>de</strong>r Vateri<strong>de</strong>ntifizierung. Den letzteren Ausgang<br />
pflegen wir als <strong>de</strong>n normaleren anzusehen, er gestattet es, die zärtliche Beziehung zur<br />
Mutter in gewissem Maße festzuhalten. Durch <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />
hätte so die Männlichkeit im Charakter <strong>de</strong>s Knaben eine Festigung erfahren. In ganz<br />
analoger Weise kann die Ödipuseinstellung <strong>de</strong>s kleinen Mädchens in eine Verstärkung<br />
ihrer Mutteri<strong>de</strong>ntifizierung (o<strong>de</strong>r in die Herstellung einer solchen) auslaufen, die <strong>de</strong>n<br />
weiblichen Charakter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s festlegt.<br />
12
Diese I<strong>de</strong>ntifizierungen entsprechen nicht unserer Erwartung, <strong>de</strong>nn sie führen nicht das<br />
aufgegebene Objekt ins Ich ein, aber auch dieser Ausgang kommt vor und ist bei Mädchen<br />
leichter zu beobachten als bei Knaben. Man erfährt sehr häufig aus <strong>de</strong>r Analyse,<br />
daß das kleine Mädchen, nach<strong>de</strong>m es auf <strong>de</strong>n Vater als Liebesobjekt verzichten mußte,<br />
nun seine Männlichkeit hervorholt und sich anstatt mit <strong>de</strong>r Mutter, mit <strong>de</strong>m Vater, also<br />
mit <strong>de</strong>m verlorenen Objekt, i<strong>de</strong>ntifiziert. Es kommt dabei offenbar darauf an, ob ihre<br />
männlichen Anlagen stark genug sind – worin immer diese bestehen mögen.<br />
Der Ausgang <strong>de</strong>r Ödipussituation in Vater- o<strong>de</strong>r in Mutteri<strong>de</strong>ntifizierung scheint also<br />
bei bei<strong>de</strong>n Geschlechtern von <strong>de</strong>r relativen Stärke <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Geschlechtsanlagen abzuhängen.<br />
Dies ist die eine Art, wie sich die Bisexualität in die Schicksale <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />
einmengt. Die an<strong>de</strong>re ist noch be<strong>de</strong>utsamer. Man gewinnt nämlich <strong>de</strong>n Eindruck,<br />
daß <strong>de</strong>r einfache Ödipuskomplex überhaupt nicht das häufigste ist, son<strong>de</strong>rn einer<br />
Vereinfachung o<strong>de</strong>r Schematisierung entspricht, die allerdings oft genug praktisch gerechtfertigt<br />
bleibt. Eingehen<strong>de</strong>re Untersuchung <strong>de</strong>ckt zumeist <strong>de</strong>n vollständigeren Ödipuskomplex<br />
auf, <strong>de</strong>r ein zweifacher ist, ein positiver und ein negativer, abhängig von<br />
<strong>de</strong>r ursprünglichen Bisexualität <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, d.h. <strong>de</strong>r Knabe hat nicht nur eine ambivalente<br />
Einstellung zum Vater und eine zärtliche Objektwahl für die Mutter, son<strong>de</strong>rn er<br />
benimmt sich auch gleichzeitig wie ein Mädchen, er zeigt die zärtliche feminine Einstellung<br />
zum Vater und die ihr entsprechen<strong>de</strong> eifersüchtig-feindselige gegen die Mutter.<br />
Dieses Eingreifen <strong>de</strong>r Bisexualität macht es so schwer, die Verhältnisse <strong>de</strong>r primitiven<br />
Objektwahlen und I<strong>de</strong>ntifizierungen zu durchschauen und noch schwieriger, sie faßlich<br />
zu beschreiben. Es könnte auch sein, daß die im Elternverhältnis konstatierte Ambivalenz<br />
durchaus auf die Bisexualität zu beziehen wäre und nicht, wie ich es vorhin dargestellt,<br />
durch die Rivalitätseinstellung aus <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifizierung entwickelt wür<strong>de</strong>.<br />
Ich meine, man tut gut daran, im allgemeinen und ganz beson<strong>de</strong>rs bei Neurotikern die<br />
Existenz <strong>de</strong>s vollständigen Ödipuskomplexes anzunehmen. Die analytische Erfahrung<br />
zeigt dann, daß bei einer Anzahl von Fällen <strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Bestandteil <strong>de</strong>sselben<br />
bis auf kaum merkliche Spuren schwin<strong>de</strong>t, so daß sich eine Reihe ergibt, an <strong>de</strong>ren<br />
einem En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r normale, positive, an <strong>de</strong>ren an<strong>de</strong>rem En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r umgekehrte, negative<br />
Ödipuskomplex steht, während die Mittelglie<strong>de</strong>r die vollständige Form mit ungleicher<br />
Beteiligung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Komponenten aufzeigen. Beim Untergang <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />
wer<strong>de</strong>n die vier in ihm enthaltenen Strebungen sich <strong>de</strong>rart zusammenlegen, daß aus ihnen<br />
eine Vater- und eine Mutteri<strong>de</strong>ntifizierung hervorgeht, die Vateri<strong>de</strong>ntifizierung wird<br />
das Mutterobjekt <strong>de</strong>s positiven Komplexes festhalten und gleichzeitig das Vaterobjekt<br />
<strong>de</strong>s umgekehrten Komplexes ersetzen; Analoges wird für die Mutteri<strong>de</strong>ntifizierung<br />
gelten. In <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>n starken Ausprägung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ntifizierungen wird sich<br />
die Ungleichheit <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n geschlechtlichen Anlagen spiegeln.<br />
So kann man als allgemeinstes Ergebnis <strong>de</strong>r vom Ödipuskomplex beherrschten Sexualphase<br />
einen Nie<strong>de</strong>rschlag im Ich annehmen, welcher in <strong>de</strong>r Herstellung dieser bei<strong>de</strong>n,<br />
irgendwie miteinan<strong>de</strong>r vereinbarten I<strong>de</strong>ntifizierungen besteht. Diese Ichverän<strong>de</strong>rung<br />
behält ihre Son<strong>de</strong>rstellung, sie tritt <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Inhalt <strong>de</strong>s Ichs als Ichi<strong>de</strong>al o<strong>de</strong>r Über-<br />
Ich entgegen.<br />
Das Über-Ich ist aber nicht einfach ein Residuum <strong>de</strong>r ersten Objektwahlen <strong>de</strong>s Es, son<strong>de</strong>rn<br />
es hat auch die Be<strong>de</strong>utung einer energischen Reaktionsbildung gegen dieselben.<br />
Seine Beziehung zum Ich erschöpft sich nicht in <strong>de</strong>r Mahnung: So (wie <strong>de</strong>r Vater) sollst<br />
du sein, sie umfaßt auch das Verbot: So (wie <strong>de</strong>r Vater) darfst du nicht sein, das heißt<br />
nicht alles tun, was er tut; manches bleibt ihm vorbehalten. Dies Doppelangesicht <strong>de</strong>s<br />
Ichi<strong>de</strong>als leistet sich aus <strong>de</strong>r Tatsache ab, daß das Ichi<strong>de</strong>al zur Verdrängung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />
bemüht wur<strong>de</strong>, ja, diesem Umschwung erst seine Entstehung dankt. Die<br />
Verdrängung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes ist offenbar keine leichte Aufgabe gewesen. Da die<br />
Eltern, beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Vater, als das Hin<strong>de</strong>rnis gegen die Verwirklichung <strong>de</strong>r Ödipuswünsche<br />
erkannt wer<strong>de</strong>n, stärkte sich das infantile Ich für diese Verdrängungsleistung,<br />
13
in<strong>de</strong>m es dies selbe Hin<strong>de</strong>rnis in sich aufrichtete. Es lieh sich gewissermaßen die Kraft<br />
dazu vom Vater aus, und diese Anleihe ist ein außeror<strong>de</strong>ntlich folgenschwerer Akt. Das<br />
Über-Ich wird <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s Vaters bewahren, und je stärker <strong>de</strong>r Ödipuskomplex<br />
war, je beschleunigter (unter <strong>de</strong>m Einfluß von Autorität, Religionslehre, Unterricht,<br />
Lektüre) seine Verdrängung erfolgte, <strong>de</strong>sto strenger wird später das Über-Ich als Gewissen,<br />
vielleicht als unbewußtes Schuldgefühl über das Ich herrschen. – Woher es die<br />
Kraft zu dieser Herrschaft bezieht, <strong>de</strong>n zwangsartigen Charakter, <strong>de</strong>r sich als kategorischer<br />
Imperativ äußert, darüber wer<strong>de</strong> ich später eine Vermutung vorbringen.<br />
Fassen wir die beschriebene Entstehung <strong>de</strong>s Über-Ichs nochmals ins Auge, so erkennen<br />
wir es als das Ergebnis zweier höchst be<strong>de</strong>utsamer biologischer Faktoren, <strong>de</strong>r langen<br />
kindlichen Hilflosigkeit und Abhängigkeit <strong>de</strong>s Menschen und <strong>de</strong>r Tatsache seines Ödipuskomplexes,<br />
<strong>de</strong>n wir ja auf die Unterbrechung <strong>de</strong>r Libidoentwicklung durch die Latenzzeit,<br />
somit auf <strong>de</strong>n zweizeitigen Ansatz seines Sexuallebens zurückgeführt haben.<br />
Letztere, wie es scheint, spezifisch menschliche Eigentümlichkeit hat eine psychoanalytische<br />
Hypothese als Erbteil <strong>de</strong>r durch die Eiszeit erzwungenen Entwicklung zur<br />
Kultur hingestellt. Somit ist die Son<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Über-Ichs vom Ich nichts Zufälliges, sie<br />
vertritt die be<strong>de</strong>utsamsten Züge <strong>de</strong>r individuellen und <strong>de</strong>r Artentwicklung, ja, in<strong>de</strong>m sie<br />
<strong>de</strong>m Elterneinfluß einen dauern<strong>de</strong>n Ausdruck schafft, verewigt sie die Existenz <strong>de</strong>r<br />
Momente, <strong>de</strong>nen sie ihren Ursprung verdankt.<br />
Es ist <strong>de</strong>r Psychoanalyse unzählige Male zum Vorwurf gemacht wor<strong>de</strong>n, daß sie sich<br />
um das Höhere, Moralische, Überpersönliche im Menschen nicht kümmere. Der Vorwurf<br />
war doppelt ungerecht, historisch wie methodisch. Ersteres, da von Anbeginn an<br />
<strong>de</strong>n moralischen und ästhetischen Ten<strong>de</strong>nzen im Ich <strong>de</strong>r Antrieb zur Verdrängung zugeteilt<br />
wur<strong>de</strong>, letzteres, da man nicht einsehen wollte, daß die psychoanalytische Forschung<br />
nicht wie ein philosophisches System mit einem vollständigen und fertigen<br />
Lehrgebäu<strong>de</strong> auftreten konnte, son<strong>de</strong>rn sich <strong>de</strong>n Weg zum Verständnis <strong>de</strong>r seelischen<br />
Komplikationen schrittweise durch die analytische Zerglie<strong>de</strong>rung normaler wie abnormer<br />
Phänomene bahnen mußte. Wir brauchten die zittern<strong>de</strong> Besorgnis um <strong>de</strong>n Verbleib<br />
<strong>de</strong>s Höheren im Menschen nicht zu teilen, solange wir uns mit <strong>de</strong>m Studium <strong>de</strong>s Verdrängten<br />
im Seelenleben zu beschäftigen hatten. Nun, da wir uns an die Analyse <strong>de</strong>s<br />
Ichs heranwagen, können wir all <strong>de</strong>nen, welche, in ihrem sittlichen Bewußtsein erschüttert,<br />
geklagt haben, es muß doch ein höheres Wesen im Menschen geben, antworten:<br />
Gewiß, und dies ist das höhere Wesen, das Ichi<strong>de</strong>al o<strong>de</strong>r Über-Ich, die Repräsentanz<br />
unserer Elternbeziehung. Als kleine Kin<strong>de</strong>r haben wir diese höheren Wesen gekannt,<br />
bewun<strong>de</strong>rt, gefürchtet, später sie in uns selbst aufgenommen.<br />
Das Ichi<strong>de</strong>al ist also <strong>de</strong>r Erbe <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes und somit Ausdruck <strong>de</strong>r mächtigsten<br />
Regungen und wichtigsten Libidoschicksale <strong>de</strong>s Es. Durch seine Aufrichtung hat<br />
sich das Ich <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes bemächtigt und gleichzeitig sich selbst <strong>de</strong>m Es unterworfen.<br />
Während das Ich wesentlich Repräsentant <strong>de</strong>r Außenwelt, <strong>de</strong>r Realität ist,<br />
tritt ihm das Über-Ich als Anwalt <strong>de</strong>r Innenwelt, <strong>de</strong>s Es, gegenüber. Konflikte zwischen<br />
Ich und I<strong>de</strong>al wer<strong>de</strong>n, darauf sind wir nun vorbereitet, in letzter Linie <strong>de</strong>n Gegensatz<br />
von Real und Psychisch, Außenwelt und Innenwelt, wi<strong>de</strong>rspiegeln.<br />
Was die Biologie und die Schicksale <strong>de</strong>r Menschenart im Es geschaffen und hinterlassen<br />
haben, das wird durch die I<strong>de</strong>albildung vom Ich übernommen und an ihm individuell<br />
wie<strong>de</strong>r erlebt. Das Ichi<strong>de</strong>al hat infolge seiner Bildungsgeschichte die ausgiebigste<br />
Verknüpfung mit <strong>de</strong>m phylogenetischen Erwerb, <strong>de</strong>r archaischen Erbschaft <strong>de</strong>s Einzelnen.<br />
Was im einzelnen Seelenleben <strong>de</strong>m Tiefsten angehört hat, wird durch die I<strong>de</strong>albildung<br />
zum Höchsten <strong>de</strong>r Menschenseele im Sinne unserer Wertungen. Es wäre aber ein<br />
vergebliches Bemühen, das Ichi<strong>de</strong>al auch nur in ähnlicher Weise wie das Ich zu lokalisieren<br />
o<strong>de</strong>r es in eines <strong>de</strong>r Gleichnisse einzupassen, durch welche wir die Beziehung<br />
von Ich und Es nachzubil<strong>de</strong>n versuchten.<br />
14
Es ist leicht zu zeigen, daß das Ichi<strong>de</strong>al allen Ansprüchen genügt, die an das höhere<br />
Wesen im Menschen gestellt wer<strong>de</strong>n. Als Ersatzbildung für die Vatersehnsucht enthält<br />
es <strong>de</strong>n Keim, aus <strong>de</strong>m sich alle Religionen gebil<strong>de</strong>t haben. Das Urteil <strong>de</strong>r eigenen Unzulänglichkeit<br />
im Vergleich <strong>de</strong>s Ichs mit seinem I<strong>de</strong>al ergibt das <strong>de</strong>mütige religiöse<br />
Empfin<strong>de</strong>n, auf das sich <strong>de</strong>r sehnsüchtig Gläubige beruft. Im weiteren Verlauf <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
haben Lehrer und Autoritäten die Vaterrolle fortgeführt; <strong>de</strong>ren Gebote und<br />
Verbote sind im I<strong>de</strong>al-Ich mächtig geblieben und üben jetzt als Gewissen die moralische<br />
Zensur aus. Die Spannung zwischen <strong>de</strong>n Ansprüchen <strong>de</strong>s Gewissens und <strong>de</strong>n Leistungen<br />
<strong>de</strong>s Ichs wird als Schuldgefühl empfun<strong>de</strong>n. Die sozialen Gefühle ruhen auf I<strong>de</strong>ntifizierungen<br />
mit an<strong>de</strong>ren auf Grund <strong>de</strong>s gleichen Ichi<strong>de</strong>als.<br />
Religion, Moral und soziales Empfin<strong>de</strong>n – diese Hauptinhalte <strong>de</strong>s Höheren im Menschen<br />
16 sind ursprünglich eins gewesen. Nach <strong>de</strong>r Hypothese von TOTEM UND TABU<br />
wur<strong>de</strong>n sie phylogenetisch am Vaterkomplex erworben, Religion und sittliche Beschränkung<br />
durch die Bewältigung <strong>de</strong>s eigentlichen Ödipuskomplexes, die sozialen Gefühle<br />
durch die Nötigung zur Überwindung <strong>de</strong>r erübrigen<strong>de</strong>n Rivalität unter <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn<br />
<strong>de</strong>r jungen Generation. In all diesen sittlichen Erwerbungen scheint das Geschlecht<br />
<strong>de</strong>r Männer vorangegangen zu sein, gekreuzte Vererbung hat <strong>de</strong>n Besitz auch<br />
<strong>de</strong>n Frauen zugeführt. Die sozialen Gefühle entstehen noch heute beim Einzelnen als<br />
Überbau über die eifersüchtigen Rivalitätsregungen gegen die Geschwister. Da die<br />
Feindseligkeit nicht zu befriedigen ist, stellt sich eine I<strong>de</strong>ntifizierung mit <strong>de</strong>m anfänglichen<br />
Rivalen her. Beobachtungen an mil<strong>de</strong>n Homosexuellen stützen die Vermutung,<br />
daß auch diese I<strong>de</strong>ntifizierung Ersatz einer zärtlichen Objektwahl ist, welche die aggressiv-feindselige<br />
Einstellung abgelöst hat. 17<br />
Mit <strong>de</strong>r Erwähnung <strong>de</strong>r Phylogenese tauchen aber neue Probleme auf, vor <strong>de</strong>ren Beantwortung<br />
man zaghaft zurückweichen möchte. Aber es hilft wohl nichts, man muß <strong>de</strong>n<br />
Versuch wagen, auch wenn man fürchtet, daß er die Unzulänglichkeit unserer ganzen<br />
Bemühung bloßstellen wird. Die Frage lautet: Wer hat seinerzeit Religion und Sittlichkeit<br />
am Vaterkomplex erworben, das Ich <strong>de</strong>s Primitiven o<strong>de</strong>r sein Es? Wenn es das Ich<br />
war, warum sprechen wir nicht einfach von einer Vererbung im Ich? Wenn das Es, wie<br />
stimmt das zum Charakter <strong>de</strong>s Es? O<strong>de</strong>r darf man die Differenzierung in Ich, Über-Ich<br />
und Es nicht in so frühe Zeiten tragen? O<strong>de</strong>r soll man nicht ehrlich eingestehen, daß die<br />
ganze Auffassung <strong>de</strong>r Ichvorgänge nichts fürs Verständnis <strong>de</strong>r Phylogenese leistet und<br />
auf sie nicht anwendbar ist?<br />
Beantworten wir zuerst, was sich am leichtesten beantworten läßt. Die Differenzierung<br />
von Ich und Es müssen wir nicht nur <strong>de</strong>n primitiven Menschen, son<strong>de</strong>rn noch viel einfacheren<br />
Lebewesen zuerkennen, da sie <strong>de</strong>r notwendige Ausdruck <strong>de</strong>s Einflusses <strong>de</strong>r<br />
Außenwelt ist. Das Über-Ich ließen wir gera<strong>de</strong> aus jenen Erlebnissen, die zum Totemismus<br />
führten, entstehen. Die Frage, ob das Ich o<strong>de</strong>r das Es jene Erfahrungen und<br />
Erwerbungen gemacht haben, fällt bald in sich zusammen. Die nächste Erwägung sagt<br />
uns, daß das Es kein äußeres Schicksal erleben o<strong>de</strong>r erfahren kann außer durch das Ich,<br />
welches die Außenwelt bei ihm vertritt. Von einer direkten Vererbung im Ich kann man<br />
aber doch nicht re<strong>de</strong>n. Hier tut sich die Kluft auf zwischen <strong>de</strong>m realen Individuum und<br />
<strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r Art. Auch darf man <strong>de</strong>n Unterschied von Ich und Es nicht zu starr<br />
nehmen, nicht vergessen, daß das Ich ein beson<strong>de</strong>rs differenzierter Anteil <strong>de</strong>s Es ist. Die<br />
Erlebnisse <strong>de</strong>s Ichs scheinen zunächst für die Erbschaft verloren zu gehen, wenn sie sich<br />
aber häufig und stark genug bei vielen generationsweise aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Individuen<br />
wie<strong>de</strong>rholen, setzen sie sich sozusagen in Erlebnisse <strong>de</strong>s Es um, <strong>de</strong>ren Eindrücke<br />
durch Vererbung festgehalten wer<strong>de</strong>n. Somit beherbergt das erbliche Es in sich die Reste<br />
ungezählt vieler Ich-Existenzen, und wenn das Ich sein Über-Ich aus <strong>de</strong>m Es<br />
schöpft, bringt es vielleicht nur ältere Ichgestaltungen wie<strong>de</strong>r zum Vorschein, schafft<br />
ihnen eine Auferstehung.<br />
15
Die Entstehungsgeschichte <strong>de</strong>s Über-Ichs macht es verständlich, daß frühe Konflikte<br />
<strong>de</strong>s Ichs mit <strong>de</strong>n Objektbesetzungen <strong>de</strong>s Es sich in Konflikte mit <strong>de</strong>ren Erben, <strong>de</strong>m<br />
Über-Ich, fortsetzen können. Wenn <strong>de</strong>m Ich die Bewältigung <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes<br />
schlecht gelungen ist, wird <strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>m Es entstammen<strong>de</strong> Energiebesetzung in <strong>de</strong>r Reaktionsbildung<br />
<strong>de</strong>s Ichi<strong>de</strong>als wie<strong>de</strong>r zur Wirkung kommen. Die ausgiebige Kommunikation<br />
dieses I<strong>de</strong>als mit diesen ubw Triebregungen wird das Rätsel lösen, daß das I<strong>de</strong>al<br />
selbst zum großen Teil unbewußt, <strong>de</strong>m Ich unzugänglich bleiben kann. Der Kampf, <strong>de</strong>r<br />
in tieferen Schichten getobt hatte, durch rasche Sublimierung und I<strong>de</strong>ntifizierung nicht<br />
zum Abschluß gekommen war, setzt sich nun wie auf <strong>de</strong>m Kaulbachschen Gemäl<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Hunnenschlacht in einer höheren Region fort.<br />
16
4 Die bei<strong>de</strong>n Triebarten<br />
Wir sagten bereits, wenn unsere Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s seelischen Wesens in ein Es, ein Ich<br />
und ein Über-Ich einen Fortschritt in unserer Einsicht be<strong>de</strong>utet, so muß sie sich auch als<br />
Mittel zum tieferen Verständnis und zur besseren Beschreibung <strong>de</strong>r dynamischen Beziehungen<br />
im Seelenleben erweisen. Wir haben uns auch bereits klar gemacht, daß das<br />
Ich unter <strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>ren Einfluß <strong>de</strong>r Wahrnehmung steht und daß man im Rohen sagen<br />
kann, die Wahrnehmungen haben für das Ich dieselbe Be<strong>de</strong>utung wie die Triebe für<br />
das Es. Dabei unterliegt aber auch das Ich <strong>de</strong>r Einwirkung <strong>de</strong>r Triebe wie das Es, von<br />
<strong>de</strong>m es ja nur ein beson<strong>de</strong>rs modifizierter Anteil ist.<br />
Über die Triebe habe ich kürzlich (JENSEITS DES LUSTPRINZIPS) eine Anschauung entwickelt,<br />
die ich hier festhalten und <strong>de</strong>n weiteren Erörterungen zugrun<strong>de</strong> legen wer<strong>de</strong>.<br />
Daß man zwei Triebarten zu unterschei<strong>de</strong>n hat, von <strong>de</strong>nen die eine, Sexualtriebe o<strong>de</strong>r<br />
Eros, die bei weitem auffälligere und <strong>de</strong>r Kenntnis zugänglichere ist. Sie umfaßt nicht<br />
nur <strong>de</strong>n eigentlichen ungehemmten Sexualtrieb und die von ihm abgeleiteten zielgehemmten<br />
und sublimierten Triebregungen, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n Selbsterhaltungstrieb, <strong>de</strong>n<br />
wir <strong>de</strong>m Ich zuschreiben müssen und <strong>de</strong>n wir zu Anfang <strong>de</strong>r analytischen Arbeit mit<br />
guten Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n sexuellen Objekttrieben gegenübergestellt hatten. Die zweite Triebart<br />
aufzuzeigen bereitete uns Schwierigkeiten; endlich kamen wir darauf, <strong>de</strong>n Sadismus<br />
als Repräsentanten <strong>de</strong>rselben anzusehen. Auf Grund theoretischer, durch die Biologie<br />
gestützter Überlegungen supponierten wir einen To<strong>de</strong>strieb, <strong>de</strong>m die Aufgabe gestellt<br />
ist, das organische Leben<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n leblosen Zustand zurückzuführen, während <strong>de</strong>r Eros<br />
das Ziel verfolgt, das Leben durch immer weitergreifen<strong>de</strong> Zusammenfassung <strong>de</strong>r in<br />
Partikel zersprengten leben<strong>de</strong>n Substanz zu komplizieren, natürlich es dabei zu erhalten.<br />
Bei<strong>de</strong> Triebe benehmen sich dabei im strengsten Sinne konservativ, in<strong>de</strong>m sie die Wie<strong>de</strong>rherstellung<br />
eines durch die Entstehung <strong>de</strong>s Lebens gestörten Zustan<strong>de</strong>s anstreben.<br />
Die Entstehung <strong>de</strong>s Lebens wäre also die Ursache <strong>de</strong>s Weiterlebens und gleichzeitig<br />
auch <strong>de</strong>s Strebens nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>, das Leben selbst ein Kampf und Kompromiß zwischen<br />
diesen bei<strong>de</strong>n Strebungen. Die Frage nach <strong>de</strong>r Herkunft <strong>de</strong>s Lebens bliebe eine<br />
kosmologische, die nach Zweck und Absicht <strong>de</strong>s Lebens wäre dualistisch beantwortet.<br />
Je<strong>de</strong>r dieser bei<strong>de</strong>n Triebarten wäre ein beson<strong>de</strong>rer physiologischer Prozeß (Aufbau und<br />
Zerfall) zugeordnet, in je<strong>de</strong>m Stück leben<strong>de</strong>r Substanz wären bei<strong>de</strong>rlei Triebe tätig, aber<br />
doch in ungleicher Mischung, so daß eine Substanz die Hauptvertretung <strong>de</strong>s Eros übernehmen<br />
könnte.<br />
In welcher Weise sich Triebe <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Arten miteinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n, vermischen, legieren,<br />
wäre noch ganz unvorstellbar; daß dies aber regelmäßig und in großem Ausmaß<br />
geschieht, ist eine in unserem Zusammenhang unabweisbare Annahme. Infolge <strong>de</strong>r<br />
Verbindung <strong>de</strong>r einzelligen Elementarorganismen zu mehrzelligen Lebewesen wäre es<br />
gelungen, <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>strieb <strong>de</strong>r Einzelzelle zu neutralisieren und die <strong>de</strong>struktiven Regungen<br />
durch Vermittlung eines beson<strong>de</strong>ren Organs auf die Außenwelt abzuleiten. Dies<br />
Organ wäre die Muskulatur und <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>strieb wür<strong>de</strong> sich nun – wahrscheinlich doch<br />
nur teilweise – als Destruktionstrieb gegen die Außenwelt und an<strong>de</strong>re Lebewesen äußern.<br />
Haben wir einmal die Vorstellung von einer Mischung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Triebarten angenommen,<br />
so drängt sich uns auch die Möglichkeit einer – mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r vollständigen –<br />
Entmischung <strong>de</strong>rselben auf. In <strong>de</strong>r sadistischen Komponente <strong>de</strong>s Sexualtriebes hätten<br />
wir ein klassisches Beispiel einer zweckdienlichen Triebmischung vor uns, im selbständig<br />
gewor<strong>de</strong>nen Sadismus als Perversion das Vorbild einer, allerdings nicht bis zum äußersten<br />
getriebenen Entmischung. Es eröffnet sich uns dann ein Einblick in ein großes<br />
Gebiet von Tatsachen, welches noch nicht in diesem Licht betrachtet wor<strong>de</strong>n ist. Wir<br />
erkennen, daß <strong>de</strong>r Destruktionstrieb regelmäßig zu Zwecken <strong>de</strong>r Abfuhr in <strong>de</strong>n Dienst<br />
<strong>de</strong>s Eros gestellt ist, ahnen, daß <strong>de</strong>r epileptische Anfall Produkt und Anzeichen einer<br />
Triebentmischung ist, und lernen verstehen, daß unter <strong>de</strong>n Erfolgen mancher schweren<br />
Neurosen, zum Beispiel <strong>de</strong>r Zwangsneurosen, die Triebentmischung und das Hervor-<br />
17
treten <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>striebes eine beson<strong>de</strong>re Würdigung verdient. In rascher Verallgemeinerung<br />
möchten wir vermuten, daß das Wesen einer Libidoregression, zum Beispiel von<br />
<strong>de</strong>r genitalen zur sadistisch-analen Phase, auf einer Triebentmischung beruht, wie umgekehrt<br />
<strong>de</strong>r Fortschritt von <strong>de</strong>r früheren zur <strong>de</strong>finitiven Genitalphase einen Zuschuß von<br />
erotischen Komponenten zur Bedingung hat. Es erhebt sich auch die Frage, ob nicht die<br />
reguläre Ambivalenz, die wir in <strong>de</strong>r konstitutionellen Anlage zur Neurose so oft verstärkt<br />
fin<strong>de</strong>n, als Ergebnis einer Entmischung aufgefaßt wer<strong>de</strong>n darf; allein diese ist so<br />
ursprünglich, daß sie vielmehr als nicht vollzogene Triebmischung gelten muß.<br />
Unser Interesse wird sich natürlich <strong>de</strong>n Fragen zuwen<strong>de</strong>n, ob sich nicht aufschlußreiche<br />
Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n angenommenen Bildungen <strong>de</strong>s Ichs, Über-Ichs und <strong>de</strong>s Es<br />
einerseits, <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Triebarten an<strong>de</strong>rseits auffin<strong>de</strong>n lassen, ferner, ob wir <strong>de</strong>m die<br />
seelischen Vorgänge beherrschen<strong>de</strong>n Lustprinzip eine feste Stellung zu <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />
Triebarten und <strong>de</strong>n seelischen Differenzierungen zuweisen können. Ehe wir aber in diese<br />
Diskussion eintreten, haben wir einen Zweifel zu erledigen, <strong>de</strong>r sich gegen die Problemstellung<br />
selbst richtet. Am Lustprinzip ist zwar kein Zweifel, die Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s<br />
Ichs ruht auf klinischer Rechtfertigung, aber die Unterscheidung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Triebarten<br />
scheint nicht genug gesichert, und möglicherweise heben Tatsachen <strong>de</strong>r klinischen<br />
Analyse ihren Anspruch auf.<br />
Eine solche Tatsache scheint es zu geben. Für <strong>de</strong>n Gegensatz <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Triebarten dürfen<br />
wir die Polarität von Liebe und Haß einsetzen. Um eine Repräsentanz <strong>de</strong>s Eros sind<br />
wir ja nicht verlegen, dagegen sehr zufrie<strong>de</strong>n, daß wir für <strong>de</strong>n schwer zu fassen<strong>de</strong>n To<strong>de</strong>strieb<br />
im Destruktionstrieb, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Haß <strong>de</strong>n Weg zeigt, einen Vertreter aufzeigen<br />
können. Nun lehrt uns die klinische Beobachtung, daß <strong>de</strong>r Haß nicht nur <strong>de</strong>r unerwartet<br />
regelmäßige Begleiter <strong>de</strong>r Liebe ist (Ambivalenz), nicht nur häufig ihr Vorläufer in<br />
menschlichen Beziehungen, son<strong>de</strong>rn auch, daß Haß sich unter mancherlei Verhältnissen<br />
in Liebe und Liebe in Haß verwan<strong>de</strong>lt. Wenn diese Verwandlung mehr ist als bloß zeitliche<br />
Sukzession, also Ablösung, dann ist offenbar einer so grundlegen<strong>de</strong>n Unterscheidung<br />
wie zwischen erotischen und To<strong>de</strong>strieben, die entgegengesetzt laufen<strong>de</strong> physiologische<br />
Vorgänge voraussetzt, <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n entzogen.<br />
Nun <strong>de</strong>r Fall, daß man dieselbe Person zuerst liebt und dann haßt, o<strong>de</strong>r umgekehrt,<br />
wenn sie einem die Anlässe dazu gegeben hat, gehört offenbar nicht zu unserem Problem.<br />
Auch nicht <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, daß eine noch nicht manifeste Verliebtheit sich zuerst<br />
durch Feindseligkeit und Aggressionsneigung äußert, <strong>de</strong>nn die <strong>de</strong>struktive Komponente<br />
könnte da bei <strong>de</strong>r Objektbesetzung vorangeeilt sein, bis die erotische sich zu ihr gesellt.<br />
Aber wir kennen mehrere Fälle aus <strong>de</strong>r Psychologie <strong>de</strong>r Neurosen, in <strong>de</strong>nen die Annahme<br />
einer Verwandlung näher liegt. Bei <strong>de</strong>r Paranoia persecutoria erwehrt sich <strong>de</strong>r Kranke<br />
einer überstarken homosexuellen Bindung an eine bestimmte Person auf eine gewisse<br />
Weise, und das Ergebnis ist, daß diese geliebteste Person zum Verfolger wird, gegen<br />
<strong>de</strong>n sich die oft gefährliche Aggression <strong>de</strong>s Kranken richtet. Wir haben das Recht, einzuschalten,<br />
daß eine Phase vorher die Liebe in Haß umgewan<strong>de</strong>lt hatte. Bei <strong>de</strong>r Entstehung<br />
<strong>de</strong>r Homosexualität, aber auch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>sexualisierten sozialen Gefühle, lehrte uns<br />
die analytische Untersuchung erst neuerdings die Existenz von heftigen, zu Aggressionsneigung<br />
führen<strong>de</strong>n Gefühlen <strong>de</strong>r Rivalität kennen, nach <strong>de</strong>ren Überwindung erst das<br />
früher gehaßte Objekt zum geliebten o<strong>de</strong>r zum Gegenstand einer I<strong>de</strong>ntifizierung wird.<br />
Die Frage erhebt sich, ob für diese Fälle eine direkte Umsetzung von Haß in Liebe anzunehmen<br />
ist. Hier han<strong>de</strong>lt es sich ja um rein innerliche Än<strong>de</strong>rungen, an <strong>de</strong>nen ein geän<strong>de</strong>rtes<br />
Benehmen <strong>de</strong>s Objekts keinen Anteil hat.<br />
Die analytische Untersuchung <strong>de</strong>s Vorganges bei <strong>de</strong>r paranoischen Umwandlung macht<br />
uns aber mit <strong>de</strong>r Möglichkeit eines an<strong>de</strong>ren Mechanismus vertraut. Es ist von Anfang an<br />
eine ambivalente Einstellung vorhan<strong>de</strong>n und die Verwandlung geschieht durch eine reaktive<br />
Besetzungsverschiebung, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r erotischen Regung Energie entzogen und <strong>de</strong>r<br />
feindseligen Energie zugeführt wird.<br />
18
Nicht das nämliche, aber ähnliches geschieht bei <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>r feindseligen Rivalität,<br />
die zur Homosexualität führt. Die feindselige Einstellung hat keine Aussicht auf<br />
Befriedigung, daher – aus ökonomischen Motiven also – wird sie von <strong>de</strong>r Liebeseinstellung<br />
abgelöst, welche mehr Aussicht auf Befriedigung, das ist Abfuhrmöglichkeit,<br />
bietet. Somit brauchen wir für keinen dieser Fälle eine direkte Verwandlung von Haß in<br />
Liebe, die mit <strong>de</strong>r qualitativen Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Triebarten unverträglich wäre,<br />
anzunehmen.<br />
Wir bemerken aber, daß wir bei <strong>de</strong>r Inanspruchnahme dieses an<strong>de</strong>ren Mechanismus <strong>de</strong>r<br />
Umwandlung von Liebe in Haß stillschweigend eine an<strong>de</strong>re Annahme gemacht haben,<br />
die laut zu wer<strong>de</strong>n verdient. Wir haben so geschaltet, als gäbe es im Seelenleben – unentschie<strong>de</strong>n,<br />
ob im Ich o<strong>de</strong>r im Es – eine verschiebbare Energie, die, an sich indifferent,<br />
zu einer qualitativ differenzierten erotischen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>struktiven Regung hinzutreten und<br />
<strong>de</strong>ren Gesamtbesetzung erhöhen kann. Ohne die Annahme einer solchen verschiebbaren<br />
Energie kommen wir überhaupt nicht aus. Es fragt sich nur, woher sie stammt, wem sie<br />
zugehört und was sie be<strong>de</strong>utet.<br />
Das Problem <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>r Triebregungen und <strong>de</strong>ren Erhaltung bei <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />
Triebschicksalen ist noch sehr dunkel und <strong>de</strong>rzeit kaum in Angriff genommen. An <strong>de</strong>n<br />
sexuellen Partialtrieben, die <strong>de</strong>r Beobachtung beson<strong>de</strong>rs gut zugänglich sind, kann man<br />
einige Vorgänge, die in <strong>de</strong>nselben Rahmen gehören, feststellen, zum Beispiel daß die<br />
Partialtriebe gewissermaßen miteinan<strong>de</strong>r kommunizieren, daß ein Trieb aus einer beson<strong>de</strong>ren<br />
erogenen Quelle seine Intensität zur Verstärkung eines Partialtriebes aus an<strong>de</strong>rer<br />
Quelle abgeben kann, daß die Befriedigung <strong>de</strong>s einen Triebes einem an<strong>de</strong>ren die Befriedigung<br />
ersetzt und <strong>de</strong>rgleichen mehr, was einem Mut machen muß, Annahmen gewisser<br />
Art zu wagen.<br />
Ich habe auch in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Diskussion nur eine Annahme, nicht einen Beweis zu<br />
bieten. Es erscheint plausibel, daß diese wohl im Ich und im Es tätige, verschiebbare<br />
und indifferente Energie <strong>de</strong>m narzißtischen Libidovorrat entstammt, also <strong>de</strong>sexualisierter<br />
Eros ist. Die erotischen Triebe erscheinen uns ja überhaupt plastischer, ablenkbarer<br />
und verschiebbarer als die Destruktionstriebe. Dann kann man ohne Zwang fortsetzen,<br />
daß diese verschiebbare Libido im Dienst <strong>de</strong>s Lustprinzips arbeitet, um Stauungen zu<br />
vermei<strong>de</strong>n und Abfuhren zu erleichtern. Dabei ist eine gewisse Gleichgültigkeit, auf<br />
welchem Wege die Abfuhr geschieht, wenn sie nur überhaupt geschieht, unverkennbar.<br />
Wir kennen diesen Zug als charakteristisch für die Besetzungsvorgänge im Es. Er fin<strong>de</strong>t<br />
sich bei <strong>de</strong>n erotischen Besetzungen, wobei eine beson<strong>de</strong>re Gleichgültigkeit in Bezug<br />
auf das Objekt entwickelt wird, ganz beson<strong>de</strong>rs bei <strong>de</strong>n Übertragungen in <strong>de</strong>r Analyse,<br />
die vollzogen wer<strong>de</strong>n müssen, gleichgültig auf welche Personen. Rank hat kürzlich<br />
schöne Beispiele dafür gebracht, daß neurotische Racheaktionen gegen die unrichtigen<br />
Personen gerichtet wer<strong>de</strong>n. Man muß bei diesem Verhalten <strong>de</strong>s Unbewußten an die komisch<br />
verwertete Anekdote <strong>de</strong>nken, daß einer <strong>de</strong>r drei Dorfschnei<strong>de</strong>r gehängt wer<strong>de</strong>n<br />
soll, weil <strong>de</strong>r einzige Dorfschmied ein todwürdiges Verbrechen begangen hat. Strafe<br />
muß eben sein, auch wenn sie nicht <strong>de</strong>n Schuldigen trifft. Die nämliche Lockerheit haben<br />
wir zuerst an <strong>de</strong>n Verschiebungen <strong>de</strong>s Primärvorganges in <strong>de</strong>r Traumarbeit bemerkt.<br />
Wie hier die Objekte, so wären es in <strong>de</strong>m uns beschäftigen<strong>de</strong>n Falle die Wege<br />
<strong>de</strong>r Abfuhraktion, die erst in zweiter Linie in Betracht kommen. Dem Ich wür<strong>de</strong> es ähnlich<br />
sehen, auf größerer Exaktheit in <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>s Objekts, wie <strong>de</strong>s Weges <strong>de</strong>r Abfuhr<br />
zu bestehen.<br />
Wenn diese Verschiebungsenergie <strong>de</strong>sexualisierte Libido ist, so darf sie auch sublimiert<br />
heißen, <strong>de</strong>nn sie wür<strong>de</strong> noch immer an <strong>de</strong>r Hauptabsicht <strong>de</strong>s Eros, zu vereinigen und zu<br />
bin<strong>de</strong>n, festhalten, in<strong>de</strong>m sie zur Herstellung jener Einheitlichkeit dient, durch die –<br />
o<strong>de</strong>r durch das Streben nach welcher – das Ich sich auszeichnet. Schließen wir die<br />
Denkvorgänge im weiteren Sinne unter diese Verschiebungen ein, so wird eben auch<br />
die Denkarbeit durch Sublimierung erotischer Triebkraft bestritten.<br />
19
Hier stehen wir wie<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>r früher berührten Möglichkeit, daß die Sublimierung regelmäßig<br />
durch die Vermittlung <strong>de</strong>s Ichs vor sich geht. Wir erinnern <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Fall,<br />
daß dies Ich die ersten und gewiß auch spätere Objektbesetzungen <strong>de</strong>s Es dadurch erledigt,<br />
daß es <strong>de</strong>ren Libido ins Ich aufnimmt und an die durch I<strong>de</strong>ntifizierung hergestellte<br />
Ichverän<strong>de</strong>rung bin<strong>de</strong>t. Mit dieser Umsetzung in Ichlibido ist natürlich ein Aufgeben<br />
<strong>de</strong>r Sexualziele, eine Desexualisierung, verbun<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>nfalls erhalten wir so Einsicht<br />
in eine wichtige Leistung <strong>de</strong>s Ichs in seinem Verhältnis zum Eros. In<strong>de</strong>m es sich in solcher<br />
Weise <strong>de</strong>r Libido <strong>de</strong>r Objektbesetzungen bemächtigt, sich zum alleinigen Liebesobjekt<br />
aufwirft, die Libido <strong>de</strong>s Es <strong>de</strong>sexualisiert o<strong>de</strong>r sublimiert, arbeitet es <strong>de</strong>n Absichten<br />
<strong>de</strong>s Eros entgegen, stellt sich in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r gegnerischen Triebregungen. Einen<br />
an<strong>de</strong>ren Anteil <strong>de</strong>r Es-Objektbesetzungen muß es sich gefallen lassen, sozusagen<br />
mitmachen. Auf eine an<strong>de</strong>re mögliche Folge dieser Ichtätigkeit wer<strong>de</strong>n wir später zu<br />
sprechen kommen.<br />
An <strong>de</strong>r Lehre vom Narzißmus wäre nun eine wichtige Ausgestaltung vorzunehmen. Zu<br />
Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in <strong>de</strong>r Bildung begriffen<br />
o<strong>de</strong>r schwächlich ist. Das Es sen<strong>de</strong>t einen Teil dieser Libido auf erotische Objektbesetzungen<br />
aus, worauf das erstarkte Ich sich dieser Objektlibido zu bemächtigen und<br />
sich <strong>de</strong>m Es als Liebesobjekt aufzudrängen sucht. Der Narzißmus <strong>de</strong>s Ichs ist so ein sekundärer,<br />
<strong>de</strong>n Objekten entzogener.<br />
Immer wie<strong>de</strong>r machen wir die Erfahrung, daß die Triebregungen, die wir verfolgen<br />
können, sich als Abkömmlinge <strong>de</strong>s Eros enthüllen. Wären nicht die in JENSEITS DES<br />
LUSTPRINZIPS angestellten Erwägungen und endlich die sadistischen Beiträge zum Eros,<br />
so hätten wir es schwer, an <strong>de</strong>r dualistischen Grundanschauung festzuhalten. Da wir<br />
aber dazu genötigt sind, müssen wir <strong>de</strong>n Eindruck gewinnen, daß die To<strong>de</strong>striebe im<br />
wesentlichen stumm sind und <strong>de</strong>r Lärm <strong>de</strong>s Lebens meist vom Eros ausgeht. 18<br />
Und vom Kampf gegen <strong>de</strong>n Eros! Es ist die Anschauung nicht abzuweisen, daß das<br />
Lustprinzip <strong>de</strong>m Es als ein Kompaß im Kampf gegen die Libido dient, die Störungen in<br />
<strong>de</strong>n Lebensablauf einführt. Wenn das Konstanz-Prinzip im Sinne Fechners das Leben<br />
beherrscht, welches also dann ein Gleiten in <strong>de</strong>n Tod sein sollte, so sind es die Ansprüche<br />
<strong>de</strong>s Eros, <strong>de</strong>r Sexualtriebe, welche als Triebbedürfnisse das Herabsinken <strong>de</strong>s Niveaus<br />
aufhalten und neue Spannungen einführen. Das Es erwehrt sich ihrer, vom<br />
Lustprinzip, das heißt <strong>de</strong>r Unlustwahrnehmung geleitet, auf verschie<strong>de</strong>nen Wegen. Zunächst<br />
durch möglichst beschleunigte Nachgiebigkeit gegen die For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r nicht<br />
<strong>de</strong>sexualisiexten Libido, also durch Ringen nach Befriedigung <strong>de</strong>r direkt sexuellen<br />
Strebungen. In weit ausgiebigerer Weise, in<strong>de</strong>m es sich bei einer dieser Befriedigungen,<br />
in <strong>de</strong>r alle Teilansprüche zusammentreffen, <strong>de</strong>r sexuellen Substanzen entledigt, welche<br />
sozusagen gesättigte Träger <strong>de</strong>r erotischen Spannungen sind. Die Abstoßung <strong>de</strong>r Sexualstoffe<br />
im Sexualakt entspricht gewissermaßen <strong>de</strong>r Trennung von Soma und Keimplasma.<br />
Daher die Ähnlichkeit <strong>de</strong>s Zustan<strong>de</strong>s nach <strong>de</strong>r vollen Sexualbefriedigung mit<br />
<strong>de</strong>m Sterben, bei nie<strong>de</strong>ren Tieren das Zusammenfallen <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>m Zeugungsakt.<br />
Diese Wesen sterben an <strong>de</strong>r Fortpflanzung, insoferne nach <strong>de</strong>r Ausschaltung <strong>de</strong>s Eros<br />
durch die Befriedigung <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>strieb freie Hand bekommt, seine Absichten durchzusetzen.<br />
Endlich erleichtert, wie wir gehört haben, das Ich <strong>de</strong>m Es die Bewältigungsarbeit,<br />
in<strong>de</strong>m es Anteile <strong>de</strong>r Libido für sich und seine Zwecke sublimiert.<br />
20
5 Die Abhängigkeiten <strong>de</strong>s Ichs<br />
Die Verschlungenheit <strong>de</strong>s Stoffes mag entschuldigen, daß sich keine <strong>de</strong>r Überschriften<br />
ganz mit <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>r Kapitel <strong>de</strong>ckt, und daß wir immer wie<strong>de</strong>r auf bereits Erledigtes<br />
zurückgreifen, wenn wir neue Beziehungen studieren wollen.<br />
So haben wir wie<strong>de</strong>rholt gesagt, daß das Ich sich zum guten Teil aus I<strong>de</strong>ntifizierungen<br />
bil<strong>de</strong>t, welche aufgelassene Besetzungen <strong>de</strong>s Es ablösen, daß die ersten dieser I<strong>de</strong>ntifizierungen<br />
sich regelmäßig als beson<strong>de</strong>re Instanz im Ich gebär<strong>de</strong>n, sich als Über-Ich <strong>de</strong>m<br />
Ich entgegenstellen, während das erstarkte Ich sich späterhin gegen solche I<strong>de</strong>ntifizierungseinflüsse<br />
resistenter verhalten mag. Das Über-Ich verdankt seine beson<strong>de</strong>re Stellung<br />
im Ich o<strong>de</strong>r zum Ich einem Moment, das von zwei Seiten her eingeschätzt wer<strong>de</strong>n<br />
soll, erstens, daß es die erste I<strong>de</strong>ntifizierung ist, die vorfiel, solange das Ich noch<br />
schwach war, und zweitens, daß es <strong>de</strong>r Erbe <strong>de</strong>s Ödipuskomplexes ist, also die großartigsten<br />
Objekte ins Ich einführte. Es verhält sich gewissermaßen zu <strong>de</strong>n späteren Ichverän<strong>de</strong>rungen<br />
wie die primäre Sexualphase <strong>de</strong>r Kindheit zum späteren Sexualleben nach<br />
<strong>de</strong>r Pubertät. Obwohl allen späteren Einflüssen zugänglich, behält es doch zeitlebens<br />
<strong>de</strong>n Charakter, <strong>de</strong>r ihm durch seinen Ursprung aus <strong>de</strong>m Vaterkomplex verliehen ist,<br />
nämlich die Fähigkeit, sich <strong>de</strong>m Ich entgegenzustellen und es zu meistern. Es ist das<br />
Denkmal <strong>de</strong>r einstigen Schwäche und Abhängigkeit <strong>de</strong>s Ichs und setzt seine Herrschaft<br />
auch über das reife Ich fort. Wie das Kind unter <strong>de</strong>m Zwange stand, seinen Eltern zu<br />
gehorchen, so unterwirft sich das Ich <strong>de</strong>m kategorischen Imperativ seines Über-Ichs.<br />
Die Abkunft von <strong>de</strong>n ersten Objektbesetzungen <strong>de</strong>s Es, also vom Ödipuskomplex, be<strong>de</strong>utet<br />
aber für das Über-Ich noch mehr. Sie bringt es, wie wir bereits ausgeführt haben,<br />
in Beziehung zu <strong>de</strong>n phylogenetischen Erwerbungen <strong>de</strong>s Es und macht es zur Reinkarnation<br />
früherer Ichbildungen, die ihre Nie<strong>de</strong>rschläge im Es hinterlassen haben. Somit<br />
steht das Über-Ich <strong>de</strong>m Es dauernd nahe und kann <strong>de</strong>m Ich gegenüber <strong>de</strong>ssen Vertretung<br />
führen. Es taucht tief ins Es ein, ist dafür entfernter vom Bewußtsein als das Ich. 19<br />
Diese Beziehungen würdigen wir am besten, wenn wir uns gewissen klinischen Tatsachen<br />
zuwen<strong>de</strong>n, die längst keine Neuheit sind, aber ihrer theoretischen Verarbeitung<br />
noch warten.<br />
Es gibt Personen, die sich in <strong>de</strong>r analytischen Arbeit ganz son<strong>de</strong>rbar benehmen. Wenn<br />
man ihnen Hoffnung gibt und ihnen Zufrie<strong>de</strong>nheit mit <strong>de</strong>m Stand <strong>de</strong>r Behandlung zeigt,<br />
scheinen sie unbefriedigt und verschlechtern regelmäßig ihr Befin<strong>de</strong>n. Man hält das anfangs<br />
für Trotz und Bemühen, <strong>de</strong>m Arzt ihre Überlegenheit zu bezeugen. Später kommt<br />
man zu einer tieferen und gerechteren Auffassung. Man überzeugt sich nicht nur, daß<br />
diese Personen kein Lob und keine Anerkennung vertragen, son<strong>de</strong>rn, daß sie auf die<br />
Fortschritte <strong>de</strong>r Kur in verkehrter Weise reagieren. Je<strong>de</strong> Partiallösung, die eine Besserung<br />
o<strong>de</strong>r zeitweiliges Aussetzen <strong>de</strong>r Symptome zur Folge haben sollte und bei an<strong>de</strong>ren<br />
auch hat, ruft bei ihnen eine momentane Verstärkung ihres Lei<strong>de</strong>ns hervor, sie verschlimmern<br />
sich während <strong>de</strong>r Behandlung, anstatt sich zu bessern. Sie zeigen die sogenannte<br />
negative therapeutische Reaktion.<br />
Kein Zweifel, daß sich bei ihnen etwas <strong>de</strong>r Genesung wi<strong>de</strong>rsetzt, daß <strong>de</strong>ren Annäherung<br />
wie eine Gefahr gefürchtet wird. Man sagt, bei diesen Personen hat nicht <strong>de</strong>r Genesungswille,<br />
son<strong>de</strong>rn das Krankheitsbedürfnis die Oberhand. Analysiert man diesen Wi<strong>de</strong>rstand<br />
in gewohnter Weise, zieht die Trotzeinstellung gegen <strong>de</strong>n Arzt, die Fixierung<br />
an die Formen <strong>de</strong>s Krankheitsgewinnes von ihm ab, so bleibt doch das meiste noch bestehen,<br />
und dies erweist sich als das stärkste Hin<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rherstellung, stärker<br />
als die uns bereits bekannten <strong>de</strong>r narzißtischen Unzugänglichkeit, <strong>de</strong>r negativen Einstellung<br />
gegen <strong>de</strong>n Arzt und <strong>de</strong>s Haftens am Krankheitsgewinne.<br />
Man kommt endlich zur Einsicht, daß es sich um einen sozusagen »moralischen« Faktor<br />
han<strong>de</strong>lt, um ein Schuldgefühl, welches im Kranksein seine Befriedigung fin<strong>de</strong>t und auf<br />
die Strafe <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns nicht verzichten will. An dieser wenig tröstlichen Aufklärung<br />
darf man endgültig festhalten. Aber dies Schuldgefühl ist für <strong>de</strong>n Kranken stumm, es<br />
21
sagt ihm nicht, daß er schuldig ist, er fühlt sich nicht schuldig, son<strong>de</strong>rn krank. Dies<br />
Schuldgefähl äußert sich nur als schwer reduzierbarer Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Herstellung.<br />
Es ist auch beson<strong>de</strong>rs schwierig, <strong>de</strong>n Kranken von diesem Motiv seines Krankbleibens<br />
zu überzeugen, er wird sich an die näher liegen<strong>de</strong> Erklärung halten, daß die<br />
analytische Kur nicht das richtige Mittel ist, ihm zu helfen. 20<br />
Was hier beschrieben wur<strong>de</strong>, entspricht <strong>de</strong>n extremsten Vorkommnissen, dürfte aber in<br />
geringerem Ausmaß für sehr viele, vielleicht für alle schwereren Fälle von Neurose in<br />
Betracht kommen. Ja, noch mehr, vielleicht ist es gera<strong>de</strong> dieser Faktor, das Verhalten<br />
<strong>de</strong>s Ichi<strong>de</strong>als, <strong>de</strong>r die Schwere einer neurotischen Erkrankung maßgebend bestimmt.<br />
Wir wollen darum einigen weiteren Bemerkungen über die Äußerung <strong>de</strong>s Schuldgefühls<br />
unter verschie<strong>de</strong>nen Bedingungen nicht aus <strong>de</strong>m Wege gehen.<br />
Das normale, bewußte Schuldgefühl (Gewissen) bietet <strong>de</strong>r Deutung keine Schwierigkeiten,<br />
es beruht auf <strong>de</strong>r Spannung zwischen <strong>de</strong>m Ich und <strong>de</strong>m Ichi<strong>de</strong>al, ist <strong>de</strong>r Ausdruck<br />
einer Verurteilung <strong>de</strong>s Ichs durch seine kritische Instanz. Die bekannten Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühle<br />
<strong>de</strong>r Neurotiker dürften nicht weit davon abliegen. In zwei uns wohlvertrauten<br />
Affektionen ist das Schuldgefühl überstark bewußt; das Ichi<strong>de</strong>al zeigt dann<br />
eine beson<strong>de</strong>re Strenge und wütet gegen das Ich oft in grausamer Weise. Neben dieser<br />
Übereinstimmung ergeben sich bei <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n, Zwangsneurose und Melancholie,<br />
Verschie<strong>de</strong>nheiten im Verhalten <strong>de</strong>s Ichi<strong>de</strong>als, die nicht min<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utungsvoll<br />
sind.<br />
Bei <strong>de</strong>r Zwangsneurose (gewissen Formen <strong>de</strong>rselben) ist das Schuldgefühl überlaut,<br />
kann sich aber vor <strong>de</strong>m Ich nicht rechtfertigen. Das Ich <strong>de</strong>s Kranken sträubt sich daher<br />
gegen die Zumutung, schuldig zu sein, und verlangt vom Arzt, in seiner Ablehnung dieser<br />
Schuldgefühle bestärkt zu wer<strong>de</strong>n. Es wäre töricht, ihm nachzugeben, <strong>de</strong>nn es bliebe<br />
erfolglos. Die Analyse zeigt dann, daß das Über-Ich durch Vorgänge beeinflußt wird,<br />
welche <strong>de</strong>m Ich unbekannt geblieben sind. Es lassen sich wirklich die verdrängten Impulse<br />
auffin<strong>de</strong>n, welche das Schuldgefühl begrün<strong>de</strong>n. Das Über-Ich hat hier mehr vom<br />
unbewußten Es gewußt als das Ich.<br />
Noch stärker ist <strong>de</strong>r Eindruck, daß das Über-Ich das Bewußtsein an sich gerissen hat,<br />
bei <strong>de</strong>r Melancholie. Aber hier wagt das Ich keinen Einspruch, es bekennt sich schuldig<br />
und unterwirft sich <strong>de</strong>n Strafen. Wir verstehen diesen Unterschied. Bei <strong>de</strong>r Zwangsneurose<br />
han<strong>de</strong>lte es sich um anstößige Regungen, die außerhalb <strong>de</strong>s Ichs geblieben sind; bei<br />
<strong>de</strong>r Melancholie aber ist das Objekt, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Zorn <strong>de</strong>s Über-Ichs gilt, durch I<strong>de</strong>ntifizierung<br />
ins Ich aufgenommen wor<strong>de</strong>n.<br />
Es ist gewiß nicht selbstverständlich, daß bei diesen bei<strong>de</strong>n neurotischen Affektionen<br />
das Schuldgefühl eine so außeror<strong>de</strong>ntliche Stärke erreicht, aber das Hauptproblem <strong>de</strong>r<br />
Situation liegt doch an an<strong>de</strong>rer Stelle. Wir schieben seine Erörterung auf, bis wir die an<strong>de</strong>ren<br />
Fälle behan<strong>de</strong>lt haben, in <strong>de</strong>nen das Schuldgefühl unbewußt bleibt.<br />
Dies ist doch wesentlich bei Hysterie und Zustän<strong>de</strong>n vom hysterischen Typus zu fin<strong>de</strong>n.<br />
Der Mechanismus <strong>de</strong>s Unbewußtbleibens ist hier leicht zu erraten. Das hysterische Ich<br />
erwehrt sich <strong>de</strong>r peinlichen Wahrnehmung, die ihm von Seiten <strong>de</strong>r Kritik seines Über-<br />
Ichs droht, in <strong>de</strong>rselben Weise, wie es sich sonst einer unerträglichen Objektbesetzung<br />
zu erwehren pflegt, durch einen Akt <strong>de</strong>r Verdrängung. Es liegt also am Ich, wenn das<br />
Schuldgefühl unbewußt bleibt. Wir wissen, daß sonst das Ich die Verdrängungen im<br />
Dienst und Auftrag seines Über-Ichs vornimmt; hier ist aber ein Fall, wo es sich <strong>de</strong>rselben<br />
Waffe gegen seinen gestrengen Herrn bedient. Bei <strong>de</strong>r Zwangsneurose überwiegen<br />
bekanntlich die Phänomene <strong>de</strong>r Reaktionsbildung; hier gelingt <strong>de</strong>m Ich nur die Fernhaltung<br />
<strong>de</strong>s Materials, auf welches sich das Schuldgefühl bezieht.<br />
Man kann weitergehen und die Voraussetzung wagen, daß ein großes Stück <strong>de</strong>s Schuldgefühls<br />
normalerweise unbewußt sein müsse, weil die Entstehung <strong>de</strong>s Gewissens innig<br />
an <strong>de</strong>n Ödipuskomplex geknüpft ist, welcher <strong>de</strong>m Unbewußten angehört. Wür<strong>de</strong> jemand<br />
<strong>de</strong>n paradoxen Satz vertreten wollen, daß <strong>de</strong>r normale Mensch nicht nur viel unmorali-<br />
22
scher ist, als er glaubt, son<strong>de</strong>rn auch viel moralischer, als er weiß, so hätte die Psychoanalyse,<br />
auf <strong>de</strong>ren Befun<strong>de</strong>n die erste Hälfte <strong>de</strong>r Behauptung ruht, auch gegen die<br />
zweite Hälfte nichts einzuwen<strong>de</strong>n. 21<br />
Es war eine Uberraschung, zu fin<strong>de</strong>n, daß eine Steigerung dieses ubw Schuldgefühls<br />
<strong>de</strong>n Menschen zum Verbrecher machen kann. Aber es ist unzweifelhaft so. Es läßt sich<br />
bei vielen, beson<strong>de</strong>rs jugendlichen Verbrechern, ein mächtiges Schuldgefühl nachweisen,<br />
welches vor <strong>de</strong>r Tat bestand, also nicht <strong>de</strong>ren Folge, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>ren Motiv ist, als ob<br />
es als Erleichterung empfun<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>, dies unbewußte Schuldgefühl an etwas Reales<br />
und Aktuelles knüpfen zu können.<br />
In all diesen Verhältnissen erweist das Über-Ich seine Unabhängigkeit vom bewußten<br />
Ich und seine innigen Beziehungen zum unbewußten Es. Nun erhebt sich mit Rücksicht<br />
auf die Be<strong>de</strong>utung, die wir <strong>de</strong>n vorbewußten Wortresten im Ich zugeschrieben haben,<br />
die Frage, ob das Über-Ich, wenn es ubw ist, nicht aus solchen Wortvorstellungen, o<strong>de</strong>r<br />
aus was sonst es besteht. Die beschei<strong>de</strong>ne Antwort wird lauten, daß das Über-Ich auch<br />
seine Herkunft aus Gehörtem unmöglich verleugnen kann, es ist ja ein Teil <strong>de</strong>s Ichs und<br />
bleibt von diesen Wortvorstellungen (Begriffen, Abstraktionen) her <strong>de</strong>m Bewußtsein<br />
zugänglich, aber die Besetzungsenergie wird diesen Inhalten <strong>de</strong>s Über-Ichs nicht von<br />
<strong>de</strong>r Hörwahrnehmung, <strong>de</strong>m Unterricht, <strong>de</strong>r Lektüre, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>n Quellen im Es zugeführt.<br />
Die Frage, <strong>de</strong>ren Beantwortung wir zurückgestellt hatten, lautet: wie geht es zu, daß das<br />
Über-Ich sich wesentlich als Schuldgefühl (besser: als Kritik; Schuldgefühl ist die dieser<br />
Kritik entsprechen<strong>de</strong> Wahrnehmung im Ich) äußert und dabei eine so außeror<strong>de</strong>ntliche<br />
Härte und Strenge gegen das Ich entfaltet?<br />
Wen<strong>de</strong>n wir uns zunächst zur Melancholie, so fin<strong>de</strong>n wir, daß das überstarke Über-Ich,<br />
welches das Bewußtsein an sich gerissen hat, gegen das Ich mit schonungsloser Heftigkeit<br />
wütet, als ob es sich <strong>de</strong>s ganzen im Individuum verfügbaren Sadismus bemächtigt<br />
hätte. Nach unserer Auffassung <strong>de</strong>s Sadismus wür<strong>de</strong>n wir sagen, die <strong>de</strong>struktive Komponente<br />
habe sich im Über-Ich abgelagert und gegen das Ich gewen<strong>de</strong>t. Was nun im<br />
Über-Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>striebes, und wirklich gelingt es diesem<br />
oft genug, das Ich in <strong>de</strong>n Tod zu treiben, wenn das Ich sich nicht vorher durch <strong>de</strong>n<br />
Umschlag in Manie seines Tyrannen erwehrt.<br />
Ähnlich peinlich und quälerisch sind die Gewissensvorwürfe bei bestimmten Formen<br />
<strong>de</strong>r Zwangsneurose, aber die Situation ist hier weniger durchsichtig. Es ist im Gegensatz<br />
zur Melancholie bemerkenswert, daß <strong>de</strong>r Zwangskranke eigentlich niemals <strong>de</strong>n Schritt<br />
<strong>de</strong>r Selbsttötung macht, er ist wie immun gegen die Selbstmordgefahr, weit besser dagegen<br />
geschützt als <strong>de</strong>r Hysteriker. Wir verstehen, es ist die Erhaltung <strong>de</strong>s Objekts, die<br />
die Sicherheit <strong>de</strong>s Ichs verbürgt. Bei <strong>de</strong>r Zwangsneurose ist es durch eine Regression<br />
zur prägenitalen Organisation möglich gewor<strong>de</strong>n, daß die Liebesimpulse sich in Aggressionsimpulse<br />
gegen das Objekt umsetzen. Wie<strong>de</strong>rum ist <strong>de</strong>r Destruktionstrieb frei<br />
gewor<strong>de</strong>n und will das Objekt vernichten, o<strong>de</strong>r es hat wenigstens <strong>de</strong>n Anschein, als bestün<strong>de</strong><br />
solche Absicht. Das Ich hat diese Ten<strong>de</strong>nzen nicht aufgenommen, es sträubt sich<br />
gegen sie mit Reaktionsbildungen und Vorsichtsmaßregeln; sie verbleiben im Es. Das<br />
Über-Ich aber benimmt sich, als wäre das Ich für sie verantwortlich, und zeigt uns<br />
gleichzeitig durch <strong>de</strong>n Ernst, mit <strong>de</strong>m es diese Vernichtungsabsichten verfolgt, daß es<br />
sich nicht um einen durch die Regression hervorgerufenen Anschein, son<strong>de</strong>rn um wirklichen<br />
Ersatz von Liebe durch Haß han<strong>de</strong>lt. Nach bei<strong>de</strong>n Seiten hilflos, wehrt sich das<br />
Ich vergeblich gegen die Zumutungen <strong>de</strong>s mör<strong>de</strong>rischen Es wie gegen die Vorwürfe <strong>de</strong>s<br />
strafen<strong>de</strong>n Gewissens. Es gelingt ihm, gera<strong>de</strong> die gröbsten Aktionen bei<strong>de</strong>r zu hemmen,<br />
das Ergebnis ist zunächst eine endlose Selbstqual und in <strong>de</strong>r weiteren Entwicklung eine<br />
systematische Quälerei <strong>de</strong>s Objekts, wo dies zugänglich ist.<br />
Die gefährlichen To<strong>de</strong>striebe wer<strong>de</strong>n im Individuum auf verschie<strong>de</strong>ne Weise behan<strong>de</strong>lt,<br />
teils durch Mischung mit erotischen Komponenten unschädlich gemacht, teils als Aggression<br />
nach außen abgelenkt, zum großen Teil setzen sie gewiß unbehin<strong>de</strong>rt ihre inne-<br />
23
e Arbeit fort. Wie kommt es nun, daß bei <strong>de</strong>r Melancholie das Über-Ich zu einer Art<br />
Sammelstätte <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>striebe wer<strong>de</strong>n kann?<br />
Vom Standpunkt <strong>de</strong>r Triebeinschränkung, <strong>de</strong>r Moralität, kann man sagen: Das Es ist<br />
ganz amoralisch, das Ich ist bemüht, moralisch zu sein, das Über-Ich kann hypermoralisch<br />
und dann so grausam wer<strong>de</strong>n wie nur das Es. Es ist merkwürdig, daß <strong>de</strong>r Mensch,<br />
je mehr er seine Aggression nach außen einschränkt, <strong>de</strong>sto strenger, also aggressiver in<br />
seinem Ichi<strong>de</strong>al wird. Der gewöhnlichen Betrachtung erscheint dies umgekehrt, sie sieht<br />
in <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Ichi<strong>de</strong>als das Motiv für die Unterdrückung <strong>de</strong>r Aggression. Die<br />
Tatsache bleibt aber, wie wir sie ausgesprochen haben: Je mehr ein Mensch seine Aggression<br />
meistert, <strong>de</strong>sto mehr steigert sich die Aggressionsneigung seines I<strong>de</strong>als gegen<br />
sein Ich. Es ist wie eine Verschiebung, eine Wendung gegen das eigene Ich. Schon die<br />
gemeine, normale Moral hat <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s hart Einschränken<strong>de</strong>n, grausam Verbieten<strong>de</strong>n.<br />
Daher stammt ja die Konzeption <strong>de</strong>s unerbittlich strafen<strong>de</strong>n höheren Wesens.<br />
Ich kann nun diese Verhältnisse nicht weiter erläutern, ohne eine neue Annahme einzuführen.<br />
Das Über-Ich ist ja durch eine I<strong>de</strong>ntifizierung mit <strong>de</strong>m Vatervorbild entstan<strong>de</strong>n.<br />
Je<strong>de</strong> solche I<strong>de</strong>ntifizierung hat <strong>de</strong>n Charakter einer Desexualisierung o<strong>de</strong>r selbst Sublimierung.<br />
Es scheint nun, daß bei einer solchen Umsetzung auch eine Triebentmischung<br />
stattfin<strong>de</strong>t. Die erotische Komponente hat nach <strong>de</strong>r Sublimierung nicht mehr die Kraft,<br />
die ganze hinzugesetzte Destruktion zu bin<strong>de</strong>n, und diese wird als Aggressions- und<br />
Destruktionsneigung frei. Aus dieser Entmischung wür<strong>de</strong> das I<strong>de</strong>al überhaupt <strong>de</strong>n harten,<br />
grausamen Zug <strong>de</strong>s gebieterischen Sollens beziehen.<br />
Noch ein kurzes Verweilen bei <strong>de</strong>r Zwangsneurose. Hier liegen die Verhältnisse an<strong>de</strong>rs.<br />
Die Entmischung <strong>de</strong>r Liebe zur Aggression ist nicht durch eine Leistung <strong>de</strong>s Ichs zustan<strong>de</strong><br />
gekommen, son<strong>de</strong>rn die Folge einer Regression, die sich im Es vollzogen hat.<br />
Aber dieser Vorgang hat vom Es auf das Über-Ich übergegriffen, welches nun seine<br />
Strenge gegen das unschuldige Ich verschärft. In bei<strong>de</strong>n Fällen wür<strong>de</strong> aber das Ich, welches<br />
die Libido durch I<strong>de</strong>ntifizierung bewältigt hat, dafür die Strafe durch die <strong>de</strong>r Libido<br />
beigemengte Aggression vom Über-Ich her erlei<strong>de</strong>n.<br />
Unsere Vorstellungen vom Ich beginnen sich zu klären, seine verschie<strong>de</strong>nen Beziehungen<br />
an Deutlichkeit zu gewinnen. Wir sehen das Ich jetzt in seiner Stärke und in seinen<br />
Schwächen. Es ist mit wichtigen Funktionen betraut, kraft seiner Beziehung zum Wahrnehmungssystem<br />
stellt es die zeitliche Anordnung <strong>de</strong>r seelischen Vorgänge her und unterzieht<br />
dieselben <strong>de</strong>r Realitätsprüfung. Durch die Einschaltung <strong>de</strong>r Denkvorgänge erzielt<br />
es einen Aufschub <strong>de</strong>r motorischen Entladungen und beherrscht die Zugänge zur<br />
Motilität. Letztere Herrschaft ist allerdings mehr formal als faktisch, das Ich hat in <strong>de</strong>r<br />
Beziehung zur Handlung etwa die Stellung eines konstitutionellen Monarchen, ohne<br />
<strong>de</strong>ssen Sanktion nichts Gesetz wer<strong>de</strong>n kann, <strong>de</strong>r es sich aber sehr überlegt, ehe er gegen<br />
einen Vorschlag <strong>de</strong>s Parlaments sein Veto einlegt. Das Ich bereichert sich bei allen Lebenserfahrungen<br />
von außen; das Es aber ist seine an<strong>de</strong>re Außenwelt, die es sich zu unterwerfen<br />
strebt. Es entzieht <strong>de</strong>m Es Libido, bil<strong>de</strong>t die Objektbesetzungen <strong>de</strong>s Es zu<br />
Ichgestaltungen um. Mit Hilfe <strong>de</strong>s Über-Ichs schöpft es in einer für uns noch dunklen<br />
Weise aus <strong>de</strong>n im Es angehäuften Erfahrungen <strong>de</strong>r Vorzeit.<br />
Es gibt zwei Wege, auf <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s Es ins Ich eindringen kann. Der eine ist <strong>de</strong>r<br />
direkte, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re führt über das Ichi<strong>de</strong>al, und es mag für manche seelische Tätigkeiten<br />
entschei<strong>de</strong>nd sein, auf welchem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Wege sie erfolgen. Das Ich entwickelt sich<br />
von <strong>de</strong>r Triebwahrnehmung zur Triebbeherrschung, vom Triebgehorsam zur Triebhemmung.<br />
An dieser Leistung hat das Ichi<strong>de</strong>al, das ja zum Teil eine Reaktionsbildung<br />
gegen die Triebvorgänge <strong>de</strong>s Es ist, seinen starken Anteil. Die Psychoanalyse ist ein<br />
Werkzeug, welches <strong>de</strong>m Ich die fortschreiten<strong>de</strong> Eroberung <strong>de</strong>s Es ermöglichen soll.<br />
Aber an<strong>de</strong>rseits sehen wir dasselbe Ich als armes Ding, welches unter dreierlei Dienstbarkeiten<br />
steht und <strong>de</strong>mzufolge unter <strong>de</strong>n Drohungen von dreierlei Gefahren lei<strong>de</strong>t, von<br />
<strong>de</strong>r Außenwelt her, von <strong>de</strong>r Libido <strong>de</strong>s Es und von <strong>de</strong>r Strenge <strong>de</strong>s Über-Ichs. Dreierlei<br />
Arten von Angst entsprechen diesen drei Gefahren, <strong>de</strong>nn Angst ist <strong>de</strong>r Ausdruck eines<br />
24
Rückzuges vor <strong>de</strong>r Gefahr. Als Grenzwesen will das Ich zwischen <strong>de</strong>r Welt und <strong>de</strong>m Es<br />
vermitteln, das Es <strong>de</strong>r Welt gefügig machen und die Welt mittels seiner Muskelaktionen<br />
<strong>de</strong>m Es-Wunsch gerecht machen. Es benimmt sich eigentlich wie <strong>de</strong>r Arzt in einer analytischen<br />
Kur, in<strong>de</strong>m es sich selbst mit seiner Rücksichtnahme auf die reale Welt <strong>de</strong>m<br />
Es als Libidoobjekt empfiehlt und <strong>de</strong>ssen Libido auf sich lenken will. Es ist nicht nur<br />
<strong>de</strong>r Helfer <strong>de</strong>s Es, auch sein unterwürfiger Knecht, <strong>de</strong>r um die Liebe seines Herrn wirbt.<br />
Es sucht, wo möglich, im Einvernehmen mit <strong>de</strong>m Es zu bleiben, überzieht <strong>de</strong>ssen ubw<br />
Gebote mit seinen vbw Rationalisierungen, spiegelt <strong>de</strong>n Gehorsam <strong>de</strong>s Es gegen die<br />
Mahnungen <strong>de</strong>r Realität vor, auch wo das Es starr und unnachgiebig geblieben ist, vertuscht<br />
die Konflikte <strong>de</strong>s Es mit <strong>de</strong>r Realität und wo möglich auch die mit <strong>de</strong>m Über-Ich.<br />
In seiner Mittelstellung zwischen Es und Realität unterliegt es nur zu oft <strong>de</strong>r Versuchung,<br />
liebedienerisch, opportunistisch und lügnerisch zu wer<strong>de</strong>n, etwa wie ein Staatsmann,<br />
<strong>de</strong>r bei guter Einsicht sich doch in <strong>de</strong>r Gunst <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung behaupten<br />
will.<br />
Zwischen bei<strong>de</strong>n Triebarten hält es sich nicht unparteiisch. Durch seine I<strong>de</strong>ntifizierungs-<br />
und Sublimierungsarbeit leistet es <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>strieben im Es Beistand zur Bewältigung<br />
<strong>de</strong>r Libido, gerät aber dabei in Gefahr, zum Objekt <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>striebe zu wer<strong>de</strong>n und<br />
selbst umzukommen. Es hat sich zu Zwecken <strong>de</strong>r Hilfeleistung selbst mit Libido erfüllen<br />
müssen, wird dadurch selbst Vertreter <strong>de</strong>s Eros und will nun leben und geliebt wer<strong>de</strong>n.<br />
Da aber seine Sublimierungsarbeit eine Triebentmischung und Freiwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Aggressionstriebe<br />
im Über-Ich zur Folge hat, liefert es sich durch seinen Kampf gegen die Libido<br />
<strong>de</strong>r Gefahr <strong>de</strong>r Mißhandlung und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s aus. Wenn das Ich unter <strong>de</strong>r Aggression<br />
<strong>de</strong>s Über-Ichs lei<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r selbst erliegt, so ist sein Schicksal ein Gegenstück zu <strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>r Protisten, die an <strong>de</strong>n Zersetzungsprodukten zugrun<strong>de</strong> gehen, die sie selbst geschaffen<br />
haben. Als solches Zersetzungsprodukt im ökonomischen Sinne erscheint uns die im<br />
Über-Ich wirken<strong>de</strong> Moral.<br />
Unter <strong>de</strong>n Abhängigkeiten <strong>de</strong>s Ichs ist wohl die vom Über-Ich die interessanteste.<br />
Das Ich ist ja die eigentliche Angststätte. Von <strong>de</strong>n dreierlei Gefahren bedroht, entwikkelt<br />
das Ich <strong>de</strong>n Fluchtreflex, in<strong>de</strong>m es seine eigene Besetzung von <strong>de</strong>r bedrohlichen<br />
Wahrnehmung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m ebenso eingeschätzten Vorgang im Es zurückzieht und als<br />
Angst ausgibt. Diese primitive Reaktion wird später durch Aufführung von Schutzbesetzungen<br />
abgelöst (Mechanismus <strong>de</strong>r Phobien). Was das Ich von <strong>de</strong>r äußeren und von<br />
<strong>de</strong>r Libidogefahr im Es befürchtet, läßt sich nicht angeben; wir wissen, es ist Überwältigung<br />
o<strong>de</strong>r Vernichtung, aber es ist analytisch nicht zu fassen. Das Ich folgt einfach <strong>de</strong>r<br />
Warnung <strong>de</strong>s Lustprinzips. Hingegen läßt sich sagen, was sich hinter <strong>de</strong>r Angst <strong>de</strong>s Ichs<br />
vor <strong>de</strong>m Über-Ich, <strong>de</strong>r Gewissensangst, verbirgt. Vom höheren Wesen, welches zum<br />
Ichi<strong>de</strong>al wur<strong>de</strong>, drohte einst die Kastration und diese Kastrationsangst ist wahrscheinlich<br />
<strong>de</strong>r Kern, um <strong>de</strong>n sich die spätere Gewissensangst ablagert, sie ist es, die sich als<br />
Gewissensangst fortsetzt.<br />
Der volltönen<strong>de</strong> Satz: je<strong>de</strong> Angst sei eigentlich To<strong>de</strong>sangst, schließt kaum einen Sinn<br />
ein, ist je<strong>de</strong>nfalls nicht zu rechtfertigen. Es scheint mir vielmehr durchaus richtig, die<br />
To<strong>de</strong>sangst von <strong>de</strong>r Objekt-(Real-)Angst und von <strong>de</strong>r neurotischen Libidoangst zu son<strong>de</strong>rn.<br />
Sie gibt <strong>de</strong>r Psychoanalyse ein schweres Problem auf, <strong>de</strong>nn Tod ist ein abstrakter<br />
Begriff von negativem Inhalt, für <strong>de</strong>n eine unbewußte Entsprechung nicht zu fin<strong>de</strong>n ist.<br />
Der Mechanismus <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sangst könnte nur sein, daß das Ich seine narzißtische Libidobesetzung<br />
in reichlichem Ausmaß entläßt, also sich selbst aufgibt, wie sonst im<br />
Angstfalle ein an<strong>de</strong>res Objekt. Ich meine, daß die To<strong>de</strong>sangst sich zwischen Ich und<br />
Über-Ich abspielt.<br />
Wir kennen das Auftreten von To<strong>de</strong>sangst unter zwei Bedingungen, die übrigens <strong>de</strong>nen<br />
<strong>de</strong>r sonstigen Angstentwicklung durchaus analog sind, als Reaktion auf eine äußere Gefahr<br />
und als inneren Vorgang, zum Beispiel bei Melancholie. Der neurotische Fall mag<br />
uns wie<strong>de</strong>r einmal zum Verständnis <strong>de</strong>s realen verhelfen.<br />
25
Die To<strong>de</strong>sangst <strong>de</strong>r Melancholie läßt nur die eine Erklärung zu, daß das Ich sich aufgibt,<br />
weil es sich vom Über-Ich gehaßt und verfolgt anstatt geliebt fühlt. Leben ist also für<br />
das Ich gleichbe<strong>de</strong>utend mit Geliebtwer<strong>de</strong>n, vom Über-Ich geliebt wer<strong>de</strong>n, das auch<br />
hier als Vertreter <strong>de</strong>s Es auftritt. Das Über-Ich vertritt dieselbe schützen<strong>de</strong> und retten<strong>de</strong><br />
Funktion wie früher <strong>de</strong>r Vater, später die Vorsehung o<strong>de</strong>r das Schicksal. Denselben<br />
Schluß muß das Ich aber auch ziehen, wenn es sich in einer übergroßen realen Gefahr<br />
befin<strong>de</strong>t, die es aus eigenen Kräften nicht glaubt überwin<strong>de</strong>n zu können. Es sieht sich<br />
von allen schützen<strong>de</strong>n Mächten verlassen und läßt sich sterben. Es ist übrigens immer<br />
noch dieselbe Situation, die <strong>de</strong>m ersten großen Angstzustand <strong>de</strong>r Geburt und <strong>de</strong>r infantilen<br />
Sehnsucht-Angst zugrun<strong>de</strong> lag, die <strong>de</strong>r Trennung von <strong>de</strong>r schützen<strong>de</strong>n Mutter.<br />
Auf Grund dieser Darlegungen kann also die To<strong>de</strong>sangst wie die Gewissensangst als<br />
Verarbeitung <strong>de</strong>r Kastrationsangst aufgefaßt wer<strong>de</strong>n. Bei <strong>de</strong>r großen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
Schuldgefühls für die Neurosen ist es auch nicht von <strong>de</strong>r Hand zu weisen, daß die gemeine<br />
neurotische Angst in schweren Fällen eine Verstärkung durch die Angstentwicklung<br />
zwischen Ich und Über-Ich (Kastrations-, Gewissens-, To<strong>de</strong>sangst) erfährt.<br />
Das Es, zu <strong>de</strong>m wir am En<strong>de</strong> zurückführen, hat keine Mittel, <strong>de</strong>m Ich Liebe o<strong>de</strong>r Haß zu<br />
bezeugen. Es kann nicht sagen, was es will; es hat keinen einheitlichen Willen zustan<strong>de</strong><br />
gebracht. Eros und To<strong>de</strong>strieb kämpfen in ihm; wir haben gehört, mit welchen Mitteln<br />
sich die einen Triebe gegen die an<strong>de</strong>ren zur Wehre setzen. Wir könnten es so darstellen,<br />
als ob das Es unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r stummen, aber mächtigen To<strong>de</strong>striebe stün<strong>de</strong>, die<br />
Ruhe haben und <strong>de</strong>n Störenfried Eros nach <strong>de</strong>n Winken <strong>de</strong>s Lustprinzips zur Ruhe bringen<br />
wollen, aber wir besorgen, doch dabei die Rolle <strong>de</strong>s Eros zu unterschätzen.<br />
26
Anmerkungen<br />
01 Ges. Werke, Bd. 13<br />
02 Soweit vgl.: BEMERKUNGEN ÜBER DEN BEGRIFF DES UNBEWUßTEN. (Ges. Werke, Bd. 8)<br />
Eine neuerliche Wendung in <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>s Unbewußten verdient an dieser Stelle gewürdigt<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Manche Forscher, die sich <strong>de</strong>r Anerkennung <strong>de</strong>r psychoanalytischen Tatsachen<br />
nicht verschließen, das Unbewußte aber nicht annehmen wollen, schaffen sich eine<br />
Auskunft mit Hilfe <strong>de</strong>r unbestrittenen Tatsache, daß auch das Bewußtsein – als Phänomen<br />
– eine große Reihe von Abstufungen <strong>de</strong>r Intensität o<strong>de</strong>r Deutlichkeit erkennen<br />
läßt. So wie es Vorgänge gibt, die sehr lebhaft, grell, greifbar bewußt sind, so erleben wir<br />
auch an<strong>de</strong>re, die nur schwach, kaum eben merklich bewußt sind, und die am schwächsten<br />
bewußten seien eben die, für welche die Psychoanalyse das unpassen<strong>de</strong> Wort unbewußt<br />
gebrauchen wolle. Sie seien aber doch auch bewußt o<strong>de</strong>r »im Bewußtsein« und lassen<br />
sich voll und stark bewußt machen, wenn man ihnen genug Aufmerksamkeit schenkte.<br />
Soweit die Entscheidung in einer solchen entwe<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Konvention o<strong>de</strong>r von Gefühlsmomenten<br />
abhängigen Frage durch Argumente beeinflußt wer<strong>de</strong>n kann, läßt sich<br />
hiezu folgen<strong>de</strong>s bemerken: Der Hinweis auf eine Deutlichkeitsskala <strong>de</strong>r Bewußtheit hat<br />
nichts Verbindliches und nicht mehr Beweiskraft als etwa die analogen Sätze: es gibt so<br />
viel Abstufungen <strong>de</strong>r Beleuchtung vom grellsten, blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Licht bis zum matten Lichtschimmer,<br />
folglich gibt es überhaupt keine Dunkelheit. O<strong>de</strong>r: es gibt verschie<strong>de</strong>ne Gra<strong>de</strong><br />
von Vitalität, folglich gibt es keinen Tod. Diese Sätze mögen ja in einer gewissen Weise<br />
sinnreich sein, aber sie sind praktisch verwerflich, wie sich herausstellt, wenn man bestimmte<br />
Folgerungen von ihnen ableiten will, zum Beispiel: also braucht man kein Licht<br />
anzustecken, o<strong>de</strong>r: also sind alle Organismen unsterblich. Ferner erreicht man durch die<br />
Subsumierung <strong>de</strong>s Unmerklichen unter das Bewußte nichts an<strong>de</strong>res, als daß man sich die<br />
einzige unmittelbare Sicherheit verdirbt, die es im Psychischen überhaupt gibt. Ein Bewußtsein,<br />
von <strong>de</strong>m man nichts weiß, scheint mir doch um vieles absur<strong>de</strong>r als ein unbewußtes<br />
Seelisches. Endlich ist solche Angleichung <strong>de</strong>s Unbemerkten an das Unbewußte<br />
offenbar ohne Rücksicht auf die dynamischen Verhältnisse versucht wor<strong>de</strong>n, welche für<br />
die psychoanalytische Auffassung maßgebend waren. Denn zwei Tatsachen wer<strong>de</strong>n dabei<br />
vernachlässigt; erstens, daß es sehr schwierig ist, großer Anstrengung bedarf, um einem<br />
solchen Unbemerkten genug Aufmerksamkeit zuzuführen, und zweitens, daß, wenn dies<br />
gelungen ist, das vor<strong>de</strong>m Unbemerkte jetzt nicht vom Bewußtsein erkannt wird, son<strong>de</strong>rn<br />
oft genug ihm völlig fremd, gegensätzlich erscheint und von ihm schroff abgelehnt wird.<br />
Der Rekurs vom Unbewußten auf das wenig Bemerkte und nicht Bemerkte ist also doch<br />
nur ein Abkömmling <strong>de</strong>s Vorurteils, <strong>de</strong>m die I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s Psychischen mit <strong>de</strong>m Bewußten<br />
ein für allemal feststeht.<br />
03 Vgl. JENSEITS DES LUSTPRINZIPS.<br />
04 S. JENSEITS DES LUSTPRINZIPS.<br />
05 DAS UNBEWUSSTE. Internat. Zschr. f. PsA., III. 1915. [Ges. Werke, Bd. 10]<br />
06 G. Grod<strong>de</strong>ck, DAS BUCH VOM ES. Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1925.<br />
07 Grod<strong>de</strong>ck selbst ist wohl <strong>de</strong>m Beispiel Nietzsches gefolgt, bei <strong>de</strong>m dieser<br />
grammatikalische Ausdruck für das Unpersönliche und sozusagen Naturnotwendige<br />
in unserem Wesen durchaus gebräuchlich ist.<br />
08 Ein solcher Fall ist mir erst kürzlich, und zwar als Einwand gegen meine Beschreibung<br />
<strong>de</strong>r »Traumarbeit«, mitgeteilt wor<strong>de</strong>n.<br />
09 ZUR EINFÜHRUNG DES NARZISSMUS, MASSENPSYCHOLOGIE UND ICH-ANALYSE.<br />
10 Nur daß ich die Funktion <strong>de</strong>r Realitätsprüfung diesem Über-Ich zugewiesen habe,<br />
erscheint irrig und <strong>de</strong>r Korrektur bedürftig. Es wür<strong>de</strong> durchaus <strong>de</strong>n Beziehungen <strong>de</strong>s Ichs<br />
zur Wahrnehmungswelt entsprechen, wenn die Realitätsprüfung seine eigene Aufgabe<br />
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liebe. – Auch frühere, ziemlich unbestimmt gehaltene Äußerungen über einen Kern <strong>de</strong>s<br />
Ichs sollen jetzt dahin richtiggestellt wer<strong>de</strong>n, daß nur das System W-Bw als Kern <strong>de</strong>s Ichs<br />
anzuerkennen ist.<br />
11 TRAUER UND MELANCHOLIE.<br />
12 Eine interessante Parallele zur Ersetzung <strong>de</strong>r Objektwahl durch I<strong>de</strong>ntifizierung enthält <strong>de</strong>r<br />
Glaube <strong>de</strong>r Primitiven, daß die Eigenschaften <strong>de</strong>s als Nahrung einverleibten Tieres <strong>de</strong>m,<br />
<strong>de</strong>r es ißt, als Charakter verbleiben wer<strong>de</strong>n, und die darauf gegrün<strong>de</strong>ten Verbote. Dieser<br />
Glaube geht bekanntlich auch in die Begründung <strong>de</strong>s Kannibalismus ein und wirkt in <strong>de</strong>r<br />
Reihe <strong>de</strong>r Gebräuche <strong>de</strong>r Totemmahlzeit bis zur heiligen Kommunion fort. Die Folgen,<br />
die hier <strong>de</strong>r oralen Objektbemächtigung zugeschrieben wer<strong>de</strong>n, treffen für die spätere<br />
sexuelle Objektwahl wirklich zu.<br />
13 Als das große Reservoir <strong>de</strong>r Libido, im Sinne <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s Narzißmus, müssen wir<br />
jetzt nach <strong>de</strong>r Scheidung von Ich und Es das Es anerkennen. Die Libido, welche <strong>de</strong>m Ich<br />
durch die beschriebenen I<strong>de</strong>ntifizierungen zufließt, stellt <strong>de</strong>ssen »sekundären Narzißmus«<br />
her.<br />
14 Vielleicht wäre es vorsichtiger zu sagen, mit <strong>de</strong>n Eltern, <strong>de</strong>nn Vater und Mutter wer<strong>de</strong>n<br />
vor <strong>de</strong>r sicheren Kenntnis <strong>de</strong>s Geschlechtsunterschie<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>s Penismangels, nicht<br />
verschie<strong>de</strong>n gewertet. In <strong>de</strong>r Geschichte einer jungen Frau hatte ich kürzlich Gelegenheit,<br />
zu erfahren, daß sie, seit<strong>de</strong>m sie ihren eigenen Penismangel bemerkt, <strong>de</strong>n Besitz dieses<br />
Organs nicht allen Frauen, son<strong>de</strong>rn bloß <strong>de</strong>n für min<strong>de</strong>rwertig gehaltenen aberkannt hatte.<br />
Die Mutter hatte ihn in ihrer Meinung behalten. Der einfacheren Darstellung wegen<br />
wer<strong>de</strong> ich nur die I<strong>de</strong>ntifizierung mit <strong>de</strong>m Vater behan<strong>de</strong>ln.<br />
15 Vgl. MASSENPSYCHOLOGIE UND ICH-ANALYSE, VII.<br />
16 Wissenschaft und Kunst sind hier bei Seite gelassen.<br />
17 Vgl. MASSENPSYCHOLOGIE UND ICH-ANALYSE [Ges. Werke, Bd. 13] und<br />
ÜBER EINIGE NEUROTISCHE MECHANISMEN BEI EIFERSUCHT, PARANOIA<br />
UND HOMOSEXUALITÄT [Ges. Werke, Bd. 13).<br />
18 Nach unserer Auffassung sind ja die nach außen gerichteten Destruktionstriebe durch<br />
Vermittlung <strong>de</strong>s Eros vom eigenen Selbst abgelenkt wor<strong>de</strong>n.<br />
19 Man kann sagen: Auch das psychoanalytische o<strong>de</strong>r metapsychologische Ich steht auf <strong>de</strong>m<br />
Kopf wie das anatomische, das Gehirnmännchen.<br />
20 Der Kampf gegen das Hin<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>s unbewußten Schuldgefühls wird <strong>de</strong>m Analytiker<br />
nicht leicht gemacht. Man kann direkt nichts dagegen tun, indirekt nichts an<strong>de</strong>res, als daß<br />
man langsam seine unbewußt verdrängten Begründungen auf<strong>de</strong>ckt, wobei es sich allmählich<br />
in bewußtes Schuldgefühl verwan<strong>de</strong>lt. Eine beson<strong>de</strong>re Chance <strong>de</strong>r Beeinflussung<br />
gewinnt man, wenn dies ubw Schuldgefühl ein entlehntes ist, das heißt das Ergebnis <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>ntifizierung mit einer an<strong>de</strong>ren Person, die einmal Objekt einer erotischen Besetzung<br />
war. Eine solche Übernahme <strong>de</strong>s Schuldgefühls ist oft <strong>de</strong>r einzige, schwer kenntliche<br />
Rest <strong>de</strong>r aufgegebenen Liebesbeziehung. Die Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>m Vorgang bei Melancholie<br />
ist dabei unverkennbar. Kann man diese einstige Objektbesetzung hinter <strong>de</strong>m ubw<br />
Schuldgefühl auf<strong>de</strong>cken, so ist die therapeutische Aufgabe oft glänzend gelöst, sonst ist<br />
<strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>r therapeutischen Bemühung keineswegs gesichert. Er hängt in erster<br />
Linie von <strong>de</strong>r Intensität <strong>de</strong>s Schuldgefühls ab, welcher die Therapie oft keine Gegenkraft<br />
von gleicher Größenordnung entgegenstellen kann. Vielleicht auch davon, ob die Person<br />
<strong>de</strong>s Analytikers es zuläßt, daß sie vom Kranken an die Stelle seines Ichi<strong>de</strong>als gesetzt<br />
wer<strong>de</strong>, womit die Versuchung verbun<strong>de</strong>n ist, gegen <strong>de</strong>n Kranken die Rolle <strong>de</strong>s Propheten,<br />
Seelenretters, Heilands zu spielen. Da die Regeln <strong>de</strong>r Analyse einer solchen Verwendung<br />
<strong>de</strong>r ärztlichen Persönlichkeit entschie<strong>de</strong>n wi<strong>de</strong>rstreben, ist ehrlich zuzugeben, daß hier<br />
eine neue Schranke für die Wirkung <strong>de</strong>r Analyse gegeben ist, die ja die krankhaften<br />
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Reaktionen nicht unmöglich machen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Ich <strong>de</strong>s Kranken die Freiheit schaffen<br />
soll, sich so o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs zu entschei<strong>de</strong>n.<br />
21 Dieser Satz ist nur scheinbar ein Paradoxon; er besagt einfach, daß die Natur <strong>de</strong>s<br />
Menschen im Guten wie im Bösen weit über das hinausgeht, was er von sich glaubt,<br />
das heißt was seinem Ich durch Bewußtseinswahrnehmung bekannt ist.<br />
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