Titel - Justament
Titel - Justament
Titel - Justament
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Inhalt<br />
<strong>Titel</strong>thema<br />
Katharina Mohr 6<br />
Verteidiger im „Bremer Bunker-Mord“<br />
Ein junger Hamburger Strafverteidiger und sein erster<br />
großer Prozess.<br />
Andrea Frank 8<br />
Pflicht- und Strafverteidigung aus Leidenschaft<br />
Rechtsanwältin Seyran Ates aus Berlin übt ihren Beruf<br />
aus Überzeugung aus.<br />
Christian Frenzel 10<br />
Standgerichte im Rechtsstaat?<br />
Das umstrittene beschleunigte Verfahren<br />
nach §§ 417 ff StPO.<br />
Thomas Claer 12<br />
25 Jahre deutscher Herbst und der moderne Terror<br />
Der moderne Terror als ständiger Begleiter<br />
der Menschheit.<br />
Jürgen Jaskolla 14<br />
Ein Restrisiko bleibt<br />
Der Maßregelvollzug in der Kritik.<br />
Georg Prasser 18<br />
Sexualstraftäter – besteht Handlungsbedarf?<br />
Strafverschärfung dient nicht dem Opferschutz.<br />
Interview<br />
Die Banalität des Bösen beschreiben 16<br />
Ein Gespräch mit der „Spiegel“ - Gerichtsreporterin<br />
Gisela Friedrichsen.<br />
Ausbildung<br />
Lutz Niemann 20<br />
Deutsche Botschaft Pretoria, Südafrika<br />
Wie die Wahlstation zu einem Erlebnis wird.<br />
Kanzleireport<br />
Patrick Knäble 22<br />
Just married – eine neue Kraft für Europa<br />
Zu Besuch bei Taylor Wessing in Berlin.<br />
Literatur<br />
Oliver Tolmein, 23<br />
Vom Deutschen Herbst zum 11. September<br />
Michael Hardt/Antonio Negri,<br />
Empire, Die neue Weltordnung 24<br />
Raymond Geuss, Privatheit, Eine Genealogie 25<br />
Monika Anders/Burkhard Gehle,<br />
Das Assessorexamen im Zivilrecht 26<br />
Foto-Love<br />
Just-a-moment in Love<br />
Frauke, die fiese Ex 28<br />
Service<br />
Editorial 4<br />
Foto-Love-Casting 2003 26<br />
Jana Seeliger 27<br />
Referendare on tour – Die Referendarstudienfahrt<br />
Impressum 30<br />
justament dezember 2002<br />
3
Editorial<br />
Königsdisziplin Strafverteidigung<br />
ach soviel Universität ist die Praxis der Juri-<br />
während der Referendarszeit wie ein<br />
Nsterei<br />
römisches Dampfbad. Die einen fühlen sich nun<br />
pudelwohl, und für die anderen ist es unerträglich.<br />
Schuld an der Polarisierung ist der Zauber<br />
des Anfangs, der auch die spröde Juristerei in ein<br />
besonderes Licht taucht. Ein Licht, durch das<br />
Macht aufscheint und dessen Faszination eine<br />
Unheimlichkeit besitzt, die wir bis dahin nicht<br />
kannten. Ein unangenehmes Gefühl und besonders<br />
deutlich wird es, wenn Du zum ersten<br />
Mal die schwarze Robe übergestreift hast und im<br />
staatsanwaltlichen Sitzungsdienst das Schlussplädoyer<br />
hältst. Du stehst aufgeregt, die Hände<br />
locker vor dem Körper und machst am Ende der<br />
Verhandlung Ausführungen zum Strafmaß. In<br />
der Stille, die entsteht, wenn du eine kleine Pause<br />
machst, kann man den Blick des Angeklagten<br />
spüren. Das Leben des jungen Mannes soll sich<br />
ändern und Du wirst dazu einen Anstoß geben;<br />
kleiner Referendar ganz groß.<br />
Dann ist es vorbei. Der Kaffee in der Kantine<br />
schmeckt und beim Gespräch mit dem Vertreter<br />
der Jugendgerichtshilfe stellt sich heraus, dass<br />
zum Beispiel im Monat November von den verhandelten<br />
Angeklagten über 70 % (!!!) Wiederholungstäter<br />
waren. Das sei nun doch außergewöhnlich<br />
hoch, es zeigt aber, dass sich im Leben<br />
des Heranwachsenden über den eben verhandelt<br />
wurde, wahrscheinlich doch nicht so viel ändern<br />
wird. Und wenn sich etwas ändert, dann ist das<br />
sicher nicht den gut gemeinten staatsanwaltlichen<br />
Anträgen des Referendars zu danken,<br />
zumal sich der Richter in seinem Urteilsspruch<br />
ohnehin nicht daran gehalten hat.<br />
Kommt etwas Routine ins Spiel, merkt man<br />
sehr schnell, dass Gerechtigkeit gerade im Strafrecht<br />
etwas mit Arbeit zu tun hat und dass dem<br />
Machtgefühl, dass einem eben noch Kopfzerbrechen<br />
bereitet hat, wohl jedes tatsächliche Fundament<br />
fehlt. Die Lösung eines Falles liegt - und<br />
das sollte man nicht müde werden sich bewusst<br />
zu machen - nicht im „Gerechtigkeitsgefühl“ des<br />
so oder so gelaunten Juristen, sondern allein im<br />
Gesetz.<br />
Natürlich darf man das Quäntchen Verantwortung,<br />
dass man als Referendar oder als Referendarin<br />
übertragen bekommen hat, nicht vorschnell<br />
einem Formalismus opfern und wie eine<br />
Subsumptionsmaschine, die Gerechtigkeit an der<br />
dritten Nachkommastelle eines BAK-Wertes festmachen.<br />
Diese Verantwortung ist wichtig, denn<br />
sie ist der Motor für den Willen, dem Guten in<br />
4 justament dezember 2002<br />
der Welt doch irgendwie auf die Sprünge zu helfen.<br />
Im Strafrecht gibt es eine andere Dimension<br />
von Gerechtigkeit als im Zivilrecht, im dem es im<br />
Prinzip „nur“ um die gerechte Verteilung des<br />
schnöden Mammons geht. Pi mal Daumen bedeutet<br />
das: „Jedem das seine“ und „Allen gleich“.<br />
Im Strafrecht dagegen hat man das Gefühl, das<br />
der hinter dem Gesetz stehende Wertekanon viel<br />
moralischer und komplexer ist, weil die Faustregel<br />
nun „Gut gegen Böse“ heißt. Und das heißt<br />
eben nicht nur schwarz/weis sehen zu können,<br />
sondern auch einzelne Grautöne unterscheiden<br />
zu müssen.<br />
Die Leute auf der Straße haben eine klare<br />
Vorstellung von Strafverteidigern. In der öffentlichen<br />
Meinung sind sie entweder die am Leben<br />
gescheiterten Pflichtverteidiger, die alle Scheine<br />
viel zu knapp geschlagen haben und die, ob ihrer<br />
Unfähigkeit, eigentlich schon Teil der noch zu<br />
verhängenden Sanktion sind. Oder sie sind Komplizen<br />
des Bösen: Die Männer, die im Nadelstreifenanzug<br />
skrupellos Kinderschänder „rausboxen“,<br />
nur, um damit richtig Geld zu machen. Ein<br />
guter Strafverteidiger müsse sich nicht besonders<br />
gut im Strafgesetz auskennen, sondern vielmehr<br />
in der StPO. Mit geschickten Anträgen zu rechten<br />
Zeit, strategischen Tricks und Gesetzeslücken<br />
stünde er einer „gerechten“ Strafzuführung nur<br />
im Wege.<br />
Was es wirklich bedeutet, Strafverteidiger zu<br />
sein, was es bedeutet, sich mit dahinterliegenden<br />
Werten auseinander zu setzen und was es in der<br />
Praxis heißt, Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen,<br />
haben wir in versucht in diesem Heft zu zeigen.<br />
In der Strafverteidigung gibt es wohl die schillerndsten<br />
Figuren unter den Anwälten. Sie alle<br />
zeichnet aus, dass sie den Kampf um Gerechtigkeit<br />
oder das „Gute im<br />
Menschen“ entschlossen<br />
führen. Immer noch beseelt<br />
von dem Zauber<br />
,etwas bewirken zu können.<br />
Auch wenn der Alltag<br />
uns glauben machen<br />
will, dieser Zauber sei<br />
nur eine Illusion. Es<br />
kommt darauf an ihm<br />
festzuhalten.<br />
Jörg-Ulrich Weidhas<br />
Leitender Redakteur
„Der Praxiskommentar schlechthin.“<br />
Dr. jur. Eveline Teufert-Schwind, in: Archiv für Kriminologie 07-08-2001, zur Vorauflage<br />
Tröndle / Fischer<br />
Strafgesetzbuch<br />
und Nebengesetze<br />
Erläutert von Prof. Dr. Herbert Tröndle, Präsident des LG a. D. (38. bis 49. Auflage).<br />
Fortgeführt von Prof. Dr. Thomas Fischer, Richter am BGH. 51. Auflage des von Otto Schwarz<br />
begründeten und in der 23. bis 37. Auflage von Eduard Dreher bearbeiteten Werkes<br />
51., neu bearbeitete Auflage. 2003<br />
LIII, 2415 Seiten. In Leinen € 66,–<br />
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Erscheinungstermin: Ende November 2002<br />
Jedem Strafjuristen bietet der „Tröndle/Fischer“ alles, was an aktuellem Wissen nötig ist.<br />
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informiert Sie über alle relevanten Entwicklungen des deutschen Strafrechts in den letzten<br />
Monaten - präzise, zuverlässig und vollständig.<br />
13 Änderungsgesetze, 28 geänderte Vorschriften:<br />
Die Neuauflage verarbeitet u.a.:<br />
● das Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde vom 12.4.2001 mit Einfügung des § 143<br />
● das Untersuchungsausschussgesetz vom 19. 6. 2001 mit Anfügung von § 153 II<br />
● das Prostitutionsgesetz vom 20. 12. 2001 mit Neufassung der §§ 180a, 181a<br />
● das einschlägige Gesetz zur Einführung des Euro<br />
● das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz vom 19. 12. 2001 mit Änderung von § 261<br />
● das Gesetz zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches vom 26.6.2002 mit Aufhebung der<br />
§§ 6 Nr. 1 und 220a sowie Änderung der §§ 78 II, 79 II, 126 I Nr. 2, 129a I Nr. 1, 130 III,<br />
138 I Nr. 6, 139 III Nr. 2<br />
● die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.3.2002, durch welche § 43a (Verhängung<br />
der Vermögensstrafe) für verfassungswidrig und nichtig erklärt wurde, und von<br />
der weitere Vorschriften betroffen sind<br />
● das Zuwanderungsgesetz mit Änderung der §§ 261, 276a<br />
● das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz mit Änderung des § 266a<br />
● das Gesetz zur Ausführung des Zweiten Protokolls mit Änderung der §§ 14, 75, 149, 299<br />
● das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung mit Einführung des § 66a<br />
● das 34. StÄG mit Einführungen des § 129b.<br />
Neubearbeitungen<br />
● im Allgemeinen Teil betreffen u.a.: die Regelungen über die Schuldfähigkeit, die Vorschriften<br />
über die Freiheits- und die Geldstrafe, das Fahrverbot, den Täter-Opfer-Ausgleich, die Verhängung<br />
kurzer Freiheitsstrafen und die Anrechnung, die Strafaussetzung, den Verfall<br />
● im Besonderen Teil betreffen u.a.: Abgeordnetenbestechung, die Straftaten gegen die<br />
öffentliche Ordnung, den ganzen Abschnitt über Betrug und Untreue, die Vorschriften über<br />
den Geheimnisverrat und über die Sachbeschädigung<br />
Neue Erläuterungen<br />
zu aktuellen Fragen verarbeiten u.a. Entscheidungen des BGH<br />
● zum Begriff der Bande ● zur Strafvereitelung durch Verteidigerhandeln ● zur Geldwäsche<br />
durch Annahme von Verteidigerhonorar ● zur Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen<br />
● zum Begriff des gefährlichen Werkzeugs ● zum Tatort und zur tatbestandlichen<br />
Handlung bei Äußerungs- und Verbreitungsdelikten im Internet ● zur Untreue.<br />
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51. Auflage. 2003. In Leinen e 66,– inkl. MwSt., zzgl. Vertriebskosten<br />
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51. Auflage<br />
Eingearbeitet.<br />
14 StPO-Novellen<br />
· Zustellungsreformgesetz · Einführung der §§ 100g, 100h, 100i<br />
· Neuregelung des Zeugnisverweigerungsrechts der<br />
Medienmitarbeiter · Einführung des Völkerstrafgesetzbuches<br />
· 34.Strafrechtsänderungs-Gesetz · und vieles mehr<br />
"Keiner kann ihn ersetzen."<br />
RAMichael Rosenthal in NJW 10/2002, zur Vorauflage<br />
„ ... zu Recht wohl am meisten benutzte(r)<br />
und deshalb wichtigste(r) Kommentar zum<br />
StGB ... Der Benutzer freut sich über eine<br />
nochmals verbesserte Handhabbarkeit ...“<br />
VRiLG Dr. jur. Thomas Wolf, in: Der Deutsche Rechtspfleger 11/2001<br />
Datum/Unterschrift B/126424<br />
Sie haben das Recht, die Ware innerhalb von 2 Wochen nach Lieferung ohne<br />
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<strong>Titel</strong><br />
Verteidiger im<br />
„Bremer Bunker-Mord“<br />
Die Brutalität der Tat ist erschreckend. Dennoch gilt: Jeder Täter hat Anspruch auf eine<br />
gute Verteidigung. Ein junger Strafverteidiger in Hamburg und sein erster großer Prozess.<br />
Gibt es eigentlich einen spannenderen<br />
Beruf, als Strafverteidiger zu sein? Für<br />
Philipp Götze, seit einem Jahr Rechtsanwalt<br />
in Hamburg, lautet die Antwort:<br />
„Nein! Strafverteidiger ist das Interessanteste,<br />
was ich mir vorstellen kann.“<br />
Kein Wunder; bereits nach einem Jahr<br />
ist Götze Verteidiger in dem unter dem<br />
Namen „Bremer Bunker-Mord“ bekannt<br />
gewordenen Prozess, der seit dem 14. Oktober<br />
am Bremer Landgericht neu aufgerollt<br />
wird. Die wegen Totschlags an zwei<br />
Kurden zu 13 bis 15 Jahren Haft verurteilten<br />
Angeklagten müssen sich erneut verantworten.<br />
Die Staatsanwaltschaft hatte<br />
Revision eingelegt, weil sie die Tat als<br />
Mord bewertet. Dies sah der Bundesgerichtshof<br />
ähnlich und verwies das Verfahren<br />
zurück an eine andere Strafkammer<br />
des Bremer Landgerichts (BGH, Urteil vom<br />
20.2.2002 – 5 StR 538/01).<br />
Als Verteidiger fungieren in Bremen<br />
solche prominenten Anwälte wie Rolf<br />
Bossi und Dr. Josef Gräßle-Münscher. Über<br />
letzteren ist auch Götze zu dem Prozess<br />
gekommen. Bereits in seinem Referendariat<br />
verbrachte er eine Station in der Kanzlei<br />
von Gräßle-Münscher in Hamburg. Schon<br />
da wurde er in großen Fällen mit einbezogen<br />
und kurz nach dem 2. Staatsexamen<br />
unterstützte er Gräßle-Münscher in einem<br />
großen Betäubungsmittelprozess; allerdings<br />
nur im Hintergrund. Jetzt bat Gräßle-Münscher<br />
ihn, als zweiter Strafverteidiger<br />
in dem neu aufgerollten Prozess in<br />
Bremen aufzutreten. 26 Verhandlungstage<br />
Philipp Götze (31)<br />
ist seit 2001<br />
Rechtsanwalt in der<br />
Kanzlei Götze Rechtsanwälte,<br />
Hamburg.<br />
Katharina Mohr<br />
sind angesetzt, Ende Februar 2003 soll die<br />
Entscheidung ergehen.<br />
Bunker-Mord<br />
Der Tatablauf steht bei diesem Prozess<br />
fest, neu muss aber über die Frage des<br />
Motivs und der Schuldfähigkeit, sowie insgesamt<br />
über das Strafmaß entschieden<br />
werden. Opfer der Tat waren das kurdische<br />
Paar A und D, das gegen den Willen des<br />
Vaters der D zusammen war und schließlich<br />
auch nach islamischem Recht geheiratet<br />
hatte. Der Vater der D fühlte sich in seiner<br />
Ehre verletzt, denn der querschnittsgelähmte<br />
und auch in Deutschland von<br />
PKK-Sympathisanten als Kriegsheld verehrte<br />
A war ihm<br />
nicht gut genug<br />
für seine Tochter.<br />
Um seine Ehre<br />
wieder herzustellen, hatte er den Gebietsverantwortlichen<br />
der PKK für die Stadt<br />
Bremen aufgefordert, etwas gegen die Beziehung<br />
zu unternehmen. Letzterer gab<br />
schließlich den Tötungsauftrag an die drei<br />
Angeklagten T, To und M.<br />
Im Urteil heißt es weiter: „In den Morgenstunden<br />
des 24. August 1999 befahl er<br />
zunächst den Angeklagten To und M und<br />
kurz darauf auch dem Angeklagten T, den<br />
A und die D zu töten. Die Angeklagten<br />
waren zwar ,konsterniert über den ihnen<br />
gegebenen Tötungsbefehl’ . Sie versuchten<br />
den Tötungsbefehl abzuwenden, unterwarfen<br />
sich diesem aber schließlich. Die<br />
Angeklagten fuhren unter einem Vorwand<br />
mit den beiden Opfern zu einer einsam gelegenen<br />
Stelle am Außendeich der Weser.<br />
Nachdem alle Personen aus dem Fahrzeug<br />
ausgestiegen waren, begannen die Angeklagten<br />
mit der Tötung der beiden Opfer,<br />
ohne auf deren Flehen zu reagieren. Zunächst<br />
packten die Angeklagten T und To<br />
die D an den Armen und zogen sie über<br />
die Deichkrone etwa 75 Meter weit in<br />
Richtung des Weserufers. Sodann wurde<br />
ihr Kopf mehrere Minuten in den Schlick<br />
gedrückt, bis sie erstickte. Um ihren Tod<br />
sicherzustellen, wurde auf ihren Kopf noch<br />
Schlick aufgehäuft. Die Angeklagten T<br />
und To wendeten sich nun dem A zu, der<br />
Die Brutalität der Tat ist unbestritten. Aber<br />
dieser Mandant braucht seine Verteidiger.<br />
sich in der Nähe des Autos befand. Einer<br />
der beiden Angeklagten schlug mit einem<br />
Radmutterschlüssel elfmal mit Wucht auf<br />
dessen Kopf ein. Außerdem wurde weitere<br />
Gewalt gegen ihn angewendet, so dass er<br />
unter anderem mehrere Schädelbrüche erlitt.<br />
Zusätzlich fuhr der Angeklagte M mit<br />
dem Fahrzeug zweimal gegen das auf dem<br />
Boden liegende Opfer und schleifte es mit.<br />
Nach etwa 15 bis 30 Minuten verstarb A.“<br />
Eine Heerschar von Juristen<br />
Der Prozess beschäftigt Götze nicht nur an<br />
den Tagen in Bremen, sondern eigentlich<br />
rund um die Uhr, einmal, weil es so viel zu<br />
tun gibt. Aber auch wegen der Brutalität<br />
der Tat. Man<br />
denke viel darüber<br />
nach, was in<br />
diesen Männern<br />
während der Tat vorgegangen ist, sagt<br />
Götze. Sein Mandant ist ein 36-jähriger<br />
Familienvater, der als Kind und Jugendlicher<br />
in der Türkei Schafe hütete und die<br />
Schule über fünf Jahre nur sporadisch besuchte.<br />
Götze hat die 25 Leitz-Ordner Ermittlungsakten<br />
gesichtet und auch Fotos<br />
der Opfer gesehen.<br />
In seiner Urteilsbegründung ging der<br />
5. Strafsenat auch auf die Besonderheiten<br />
der kurdischen Gemeinschaft und der Andersartigkeit<br />
der Kultur ein. Er wies auf die<br />
Verstrickung der Angeklagten in PKK-<br />
Strukturen hin und berücksichtigte auch<br />
soziale Hintergründe, etwa die Einbindung<br />
der Täter in Traditionen und Ehrbegriffe<br />
ihrer Heimat, nach denen die Liebesbeziehung<br />
als unschicklich galt.<br />
All dies ist kein Entschuldigungsgrund.<br />
Und doch, alle am Verfahren Beteiligten<br />
müssen sich mit dem besonderen Umfeld<br />
von Tätern und Opfern vertraut machen.<br />
Informationen<br />
Der Fall ist Gegenstand verschiedener Beiträge<br />
gewesen, so zum Beispiel in JA 2002, 749<br />
zum Mordmerkmal „niedrige Beweggründe“,<br />
NStZ 2002, 360. Das Urteil des BGH kann<br />
man nachlesen auf www.bundesgerichtshof.de<br />
6<br />
justament dezember 2002
<strong>Titel</strong><br />
„Man muss sich von der westlichen Denkweise<br />
lösen und sich die politischen und<br />
kulturellen Zusammenhänge erarbeiten.<br />
Man taucht in eine völlig fremde Welt<br />
ein“, sagt Götze, der gemeinsam mit Gräßle-Münscher<br />
der einzige Ansprechpartner<br />
für die Angehörigen ihres Mandanten ist.<br />
Die Verteidiger fahren regelmäßig nach<br />
Bremen, nicht nur zu den Verhandlungstagen,<br />
sondern auch um ihren Mandanten in<br />
der JVA zu besuchen und mit ihm das Verfahren<br />
sowie das weitere Vorgehen zu besprechen.<br />
Alles per Dolmetscher, denn ihr<br />
Mandant spricht selber kein Deutsch, versteht<br />
nur wenige Worte. Er leidet außerdem<br />
an einer schweren Form von Diabetes<br />
und Götze kümmert sich um die Frage, inwieweit<br />
die Krankheit Einfluss auf die<br />
Schuldfähigkeit gehabt haben könnte. Die<br />
Verhandlung muss regelmäßig unterbrochen<br />
werden, damit der Mandant sich das<br />
lebensrettende Insulin spritzen kann.<br />
Götze sitzt also selber an jedem Verhandlungstag<br />
mit im Gerichtssaal, wenn<br />
unter Beisein einer Heerschar von Juristen,<br />
Dolmetschern und Gutachtern die Verhandlung<br />
läuft. Verhandelt wird vor dem<br />
Schwurgericht, bestehend aus drei Richtern<br />
und zwei Schöffen. Jeder der drei Angeklagten<br />
hat zwei Verteidiger und einen<br />
Dolmetscher, ein unabhängiger Dolmetscher<br />
ist dabei, um im Zweifel für die richtige<br />
Übersetzung zu garantieren; außerdem<br />
sind ständig Gutachter anwesend, die<br />
die Schuldfähigkeit der Angeklagten beurteilen<br />
sollen.<br />
Ganz oder gar nicht<br />
Philipp Götze sieht es für sich als jungen<br />
Rechtsanwalt als eine riesige Chance, an so<br />
einem Prozess beteiligt sein zu können. In<br />
den Verhandlungspausen sprechen die<br />
Verteidiger untereinander nicht nur über<br />
das laufende sondern auch über alte Verfahren.<br />
Man lernt enorm viel und wird<br />
auch als junger Verteidiger von den anderen<br />
mit einbezogen.<br />
Und wie schafft man es, bei all der<br />
Brutalität nicht zu verzweifeln? „Es ist erstaunlich,<br />
wie sachlich man an die Sache<br />
herangeht. Die Brutalität der Tat ist unbestritten.<br />
Aber dieser Mandant braucht<br />
seine Verteidiger und wenn man das Mandat<br />
übernommen hat, dann tut man alles<br />
dafür, damit seine Rechte gewahrt werden.<br />
Das ist schließlich die Aufgabe des Strafverteidigers:<br />
zu gewährleisten, dass der<br />
Mandant ein rechtsstaatliches und faires<br />
Verfahren bekommt.“ Für Götze gilt<br />
außerdem „Ganz oder gar nicht“: „Ich<br />
muss als Strafverteidiger in der Lage sein,<br />
jeden Mandanten zu verteidigen. So etwas<br />
wie: ,Mörder verteidige ich nicht. ’ kommt<br />
für mich nicht in Frage.“<br />
justament dezember 2002<br />
7
<strong>Titel</strong><br />
Pflicht- und Strafverteidigung<br />
aus Leidenschaft<br />
Es gibt Anwälte, die ihren Beruf nur aus Verlegenheit ausüben. Das trifft auf Rechtsanwältin<br />
Seyran Ateş jedoch ganz bestimmt nicht zu.<br />
Andrea Frank<br />
Seyran Ateş, seit fast acht Jahren Strafverteidigerin<br />
in Berlin, übt ihren Beruf<br />
aus Überzeugung aus. Nicht umsonst bedeutet<br />
ihr türkischer Name Ateş übersetzt<br />
„Feuer“. Selbst dem, der nicht in diesem<br />
Sinne abergläubig sein möchte, sei versichert:<br />
Hier ist „nomen“ tatsächlich<br />
„omen“. Bereits die Art, mit der Rechtsanwältin<br />
Ateş auf die ihr gestellten Fragen<br />
antwortete, ließ ahnen, mit welch´ feurigen<br />
Einsatz sie sich sonst auch für<br />
ihre Mandanten und Mandantinnen ins<br />
Zeug legt.<br />
Die prägende Kindheit<br />
Im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern<br />
und zwei Geschwistern aus der Türkei<br />
nach Berlin gekommen war, hat sie sich<br />
bereits in der Schule nicht „die Butter vom<br />
Brot nehmen lassen“.<br />
Sie setzte<br />
sich von Anfang<br />
an für die Rechte<br />
der anderen ein:<br />
Lange Zeit war sie Schulsprecherin. Darüber<br />
hinaus war sie in der Familie zuständig<br />
für Übersetzungen der Behördenschreiben,<br />
mit denen Eltern und Verwandte konfrontiert<br />
wurden. Da sich ihre Fähigkeiten im<br />
Umgang mit dem oft unverständlichen Beamtendeutsch<br />
wie ein Lauffeuer herumsprachen,<br />
wurde sie bei ihren türkischen<br />
Landsleuten eine vielfrequentierte Instanz<br />
bei der Abwicklung von Korrespondenz<br />
mit Ausländerämtern und Behörden. Seyran<br />
Ateş Feuer für die Juristerei wurde vor<br />
allem dadurch entfacht, als sie bemerkte,<br />
dass die Leute sich oft einfach beugten,<br />
weil sie sich rechtlos fühlten. Diesen Zustand<br />
konnte sie nicht akzeptieren. Kein<br />
Wunder also, dass für Seyran Ateş schon<br />
mit fünfzehn feststand, dass sie Rechtsanwältin<br />
werden würde. Für Frau Ateş gibt es<br />
bis heute nichts Schlimmeres als Rechte zu<br />
haben und diese nicht zu kennen. Denn zu<br />
oft musste sie erleben, wie Frauen wegen<br />
dieser Unkenntnis litten.<br />
Traumberuf Strafverteidigerin<br />
1997 war es dann soweit. Das Zeugnis des<br />
zweiten Examens in der Tasche beantragte<br />
sie sofort ihre Zulassung als Anwältin und<br />
machte sich ohne große Umschweife auf<br />
die Suche nach geeigneten Räumen. „Ich<br />
fuhr nicht erst in Urlaub sondern fing<br />
gleich an. Schliesslich warteten unzählige<br />
Leute seit Jahren darauf, dass ich sie als<br />
Anwältin endlich vertreten durfte.“<br />
Bereits während des gesamten Referendariats<br />
arbeitete sie zwei Jahre bei einem<br />
Freund in der Kanzlei und verdiente sich<br />
hierdurch schon einen guten Ruf. Durch<br />
ihre tägliche intensive Arbeit in der Kanzlei<br />
lernte sie schnell kennen, was praktische<br />
anwaltliche Tätigkeit bedeutet. Diesen<br />
Pluspunkt kann sie heute gar nicht hoch<br />
genug einschätzen. Darüber hinaus war sie<br />
im Referendariat und auch schon während<br />
des Studiums gefragte Beraterin in Frauenberatungsstellen<br />
und machte daneben<br />
Übersetzungen für türkische Frauen. Hierdurch<br />
wurde sie<br />
„Ich fuhr nicht erst in Urlaub, sondern fing<br />
gleich an. Schließlich warteten unzählige<br />
Leute seit Jahren darauf, dass ich sie als Anwältin<br />
endlich vertreten durfte.“<br />
frühzeitig mit<br />
den spezifischen<br />
Problemen der<br />
Frauenrechte<br />
vertraut gemacht. Seyran Ateş war also<br />
durchaus keine Unbekannte mehr, als sie<br />
dann in Berlin ihre eigene Kanzlei eröffnete.<br />
Frau Ates, wie sind Sie als Frau dazu<br />
gekommen, Strafverteidigerin zu werden?<br />
Immerhin ist dies ein Bereich, der nach<br />
wie vor männerdominiert ist .<br />
Seyran Ates: „Ja, das stimmt, es gibt<br />
wenige Frauen, die sich auf das glatte Eis<br />
des Strafrechts wagen. Ich bin allerdings<br />
zum Strafrecht gekommen wie die Jungfrau<br />
zum Kinde. Ursprünglich habe ich<br />
mich mit Zivilrecht beschäftigt. Auch während<br />
meiner Ausbildung war dies mein<br />
Schwerpunkt. Ich habe sogar bei einer<br />
Mietergemeinschaft<br />
gearbeitet.<br />
Während<br />
des Referendariats<br />
war mein<br />
Wahlfach dann Wettbewerbs- und Kartellrecht.<br />
Nach einer Weile des Alleinwirkens<br />
beschloss ich dann aber, eine Kollegin für<br />
den Bereich Strafrecht mit in die Kanzlei<br />
zu nehmen. Ich begann also - noch bevor<br />
diese Kollegin bei mir anfing - Mandanten<br />
zu akquirieren. Im Zuge dessen bekam ich<br />
einige Akten zu Gesicht und merkte bald,<br />
dass ich es mit einer äusserst spannenden<br />
Materie zu tun hatte. Innerhalb relativ<br />
kurzer Zeit arbeitete ich mich in das Strafrecht<br />
ein. Ich würde sagen, das Strafrecht<br />
hat mich `angesprungen`.“<br />
Frau Ateş erklärt, was ihr besonders an<br />
der Tätigkeit als Strafverteidigerin gefällt:<br />
„Es ist vor allem auch die Abwechslung.<br />
Jeden Tag nur Akten hinter´m Schreibtisch<br />
zu wälzen ist auf die Dauer nicht so spannend.<br />
Mir gefällt es, unterwegs zu sein,<br />
auch die häufigen Besuche im Gefängnis.<br />
Insgesamt ist der Ablauf abwechslungsreicher<br />
als bei „normalen“ Zivilrechtsfällen.<br />
Hinter so gut wie jedem strafrechtlichen<br />
Fall versteckt sich eine interessante Lebensgeschichte.<br />
Das reizt mich besonders.“<br />
Umgekehrt gibt Frau Ateş aber auch<br />
zu, dass die Mandanten im Strafprozess<br />
oft schwieriger sind als ihre Pendants im<br />
Zivilprozess. Dies sei aber auch gut nachvollziehen.<br />
Denn angesichts der Lebensabgründe<br />
in die diese manchmal blicken<br />
müssten, könne eben nicht immer nur<br />
Harmonisches und Gutes zum Vorschein<br />
kommen. Doch die Rechtsanwältin lässt<br />
sich davon nicht abgeschrecken, sondern<br />
empfindet es als Herausforderung, neben<br />
ihren juristischen auch ihre psychologischen<br />
Fähigkeiten einzusetzen zu können<br />
und diese noch weiter zu entwickeln. Insgesamt<br />
fühlt sie sich von der Abwechslung<br />
und Tiefe, die ihr ihre Rolle als Strafverteidigerin<br />
bietet, für diese zusätzlichen<br />
Mühen entschädigt.<br />
Gibt es Fälle, die Sie auf keinen Fall annehmen<br />
würden?<br />
Klar und bestimmt antwortet sie auf<br />
diese Frage: „Ja. keine Vergewaltigung,<br />
„Ein guter Strafverteidiger sollte ruhig selbst<br />
eine gesunde Portion Neurose mitbringen und<br />
ein bisschen verrückt sein.“<br />
keine Gewalt<br />
gegen Frauen und<br />
keinen Missbrauch<br />
an Frauen und vor<br />
allem Kindern.“<br />
Hier könne sie nicht die nötige Distanz<br />
aufbauen. Ausserdem könne sie ein entsprechendes<br />
Mandat auf gar keinen Fall<br />
mit ihrem eigenen Weltbild vereinbaren.<br />
Grundsätzlich sei es Frau Ateş aber<br />
noch nie passiert, dass sie einen Fall von<br />
vornherein abgelehnt hätte. Nur einmal<br />
8<br />
justament dezember 2002
<strong>Titel</strong><br />
habe sie ein Mandat gekündigt, als sie dahinter<br />
kam, dass ihr Mandant sie nach<br />
Strich und Faden belogen hatte. Das Wichtigste<br />
im ersten Gespräch mit einem Mandanten,<br />
der von ihr verteidigt werden<br />
möchte, sei, dass dieser „die Hosen runterlässt“.<br />
Sie müsse wissen, „ob die Geschichte<br />
o.k. ist“.<br />
Die Strafverteidigerin Ateş betont aber,<br />
sie sei sich darüber absolut im Klaren , dass<br />
es gerade im Strafprozess dazugehöre,<br />
dass der Mandant andere Gerechtigkeits –<br />
und Moralvorstellungen habe als sie selbst.<br />
Strafprozess und Anwaltstätigkeit hätten<br />
eben selten etwas mit Gerechtigkeit und<br />
noch seltener mit Moral zu tun. Zudem ist<br />
sie der Ansicht, dass ein Jurist, der sich zur<br />
Strafverteidigung berufen fühle, immer<br />
auch ein bisschen eigene kriminelle Anlagen<br />
besitzen müsse. Sie lächelt und fügt<br />
hinzu: „Aber eben nur in der Fantasie, dass<br />
möchte ich betonen“.<br />
Die Verteidigerin fügt gleich hinzu,<br />
dass ein guter Strafverteidiger auch ruhig<br />
selbst eine gesunde Portion Neurose mitbringen<br />
und irgendwie ein bisschen verrückt<br />
sein dürfe, wenn nicht sogar solle.<br />
Frau Ates lächelt, betont jedoch nochmals,<br />
dass ihre These durchaus ernst zu nehmen<br />
sei. Vor allen Dingen sei es sehr wichtig,<br />
dass die „Chemie“ mit dem Mandanten<br />
stimme, dass also Mandantin oder Mandant<br />
spürten, vom Anwalt auf irgendeine<br />
Weise verstanden zu werden, diesem nahe<br />
zu stehen. Aber<br />
das Grundgefühl<br />
zwischen Verteidiger<br />
und Mandant<br />
sollte einfach<br />
stimmen. Aus dieser Überlegung erklärt<br />
sich Seyran Ateş auch die Tatsache,<br />
dass die Strafverteidiger sich gegenüber<br />
ihren Kollegen und Kolleginnen aus dem<br />
Zivilrecht immer exotisch herausheben.<br />
Der Kampf um Gerechtigkeit<br />
Schlüsselerlebnis im Lebenslauf der Strafverteidigerin<br />
war auch das eigene erfahrene<br />
Unrecht. Denn mit 21 Jahren - sie war<br />
bereits Jurastudentin - wurde sie selbst bei<br />
einem Anschlag auf einen „Frauenladen“<br />
angeschossen und schwebte lange Zeit in<br />
Lebensgefahr. Die neben ihr Frau wurde<br />
erschossen. Der Täter wurde freigesprochen.<br />
In dubio pro reo. Seyran Ateş musste<br />
damals am eigenen Leibe erfahren, wie<br />
sich Fehler von Ermittlungsbehörden auswirken<br />
und musste im Laufe eines sehr<br />
lange währenden Prozesses die daraus resulierenden<br />
Beweisverwertungsverbote akzeptieren.<br />
Dinge, die Studenten und Referendare<br />
zumeist nur aus der Prüfungsvorbereitung<br />
und Theorie kennen. Natürlich<br />
könnte man sich auch wundern, dass es<br />
Frau Ateş dennoch gerade in die Strafverteidigung<br />
verschlagen hat. Bei der Verarbeitung<br />
des Erlebten half ihr dabei auch<br />
das Schreiben eines Buches, welches gerade<br />
erschienen ist. Hierbei konnte sie noch<br />
einmal alle damaligen Geschehnisse und<br />
Zusammenhänge aufarbeiten und ist deshalb<br />
schon seit einiger Zeit völlig mit sich<br />
ausgesöhnt.<br />
Seyran Ateş bezeichnet das Strafrecht<br />
gerne als „Krone der Härte“. Denn sie hat<br />
durchaus den Eindruck, dass<br />
Frauen als Strafverteidigerin<br />
nicht so ernst genommen<br />
werden und in ihrer Rolle<br />
sehr viel Engagement und<br />
Härte an den Tag legen müssen,<br />
um doch vor ihren<br />
männlichen Kollegen zu bestehen.<br />
Anerkennung bekommt<br />
Frau auf diesem Gebiet<br />
jedenfalls in den seltensten<br />
Fällen geschenkt. Dies<br />
heisse im Umkehrschluss aber<br />
noch lange nicht, dass die<br />
Kolleginnen Verteidigerinnnen<br />
untereinander in jedem<br />
Falle solidarisch seien: „Sicher, es gibt<br />
nette Kolleginnen, tendenziell ist es aber<br />
schon so, dass die Frauen, die es zu einer<br />
respektierten Verteidigerin geschafft<br />
haben, auch gegenüber ihren weiblichen<br />
Kolleginnen besonders hart sind. Natürlich<br />
schafft man mit Freundlichkeit ein nettes<br />
Klima schafft. In<br />
der Regel leidet<br />
bei einer betonten<br />
Freundlichkeit<br />
aber die<br />
Durchsetzungsfähigkeit, die gerade im<br />
Strafprozess von entscheidender Bedeutung<br />
ist.“ Der Strafverteidigerin Ateş selbst<br />
ist es aber durchaus wichtig, eine gewisse<br />
Frauensolidarität zu zeigen. Deshalb behandelt<br />
sie ihre Kolleginnen zumeist auch<br />
anders als ihre Kollegen, denen sie - jeden-<br />
Manchmal ist das Strafrecht schon so etwas<br />
wie „Die Krone der Härte“.<br />
falls tendenziell - härter gegenübertritt:<br />
„Frauen müssen solidarisch sein. Und<br />
wenn ich von meinen Kolleginnen entsprechend<br />
behandelt werde, freue ich mich,<br />
denn dann ist das Verhältnis ganz anders,<br />
viel besser.“<br />
Im Übrigen denkt Frau Ates, dass es<br />
durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede<br />
beim Bearbeiten von Fällen gibt.<br />
So seien Frauen zumeist gründlicher beim<br />
Arbeiten als Männer . Sie gesteht insoweit<br />
ein, dass dies hin und wieder zu Zeitproblemen<br />
führen kann und dass es<br />
während der Verhandlungen gerade im<br />
Strafrecht oft auf blitzschnelle Reaktionen<br />
ankomme. Insofern solle sich dann eine<br />
jede Juristin überlegen, ob sie diesen Anforderungen<br />
gewachsen sei und eine gewisse<br />
Lern- und Umdenkbereitschaft mitbringen.<br />
Mandat und Pflichtverteidigung<br />
Zu ihr in die Kanzlei kommen vor allem<br />
Männer, um sich von ihr verteidigen zu<br />
lassen. Auch wenn Männer männliche Verteidiger<br />
manchmal ernster nähmen, zeige<br />
ihr die große Zahl ihrer männlichen Mandanten,<br />
dass auch sie als Frau wisse, mit<br />
ihren Mandanten umzugehen.<br />
Seyran Ateş, geboren am<br />
20. April 1963 in Instanbul,<br />
zog im Alter von 6 Jahren nach<br />
Berlin, studierte von 1983 bis<br />
1984 Rechtswissenschaften<br />
an der FU Berlin. 1984 mußte<br />
sie ihr Studium wegen der<br />
Folgen einer Schussverletzung<br />
unterbrechen. 1990 nahm sie<br />
ihr Studium wieder auf. Von<br />
1995 bis 1997 war sie Rechtsreferendarin.<br />
Seit 1997 ist sie<br />
zugelassene Anwältin.<br />
Allgemein nach den spezifisch für den<br />
Verteidigerberuf erforderlichen Eigenschaften<br />
und Fähigkeiten befragt, nennt<br />
Frau Ateş neben Einfühlungsvermögen<br />
und Geduld vor allem Schnelligkeit und<br />
Flexibilität im Denken und Handeln. Unentbehrlich<br />
sei es, dass man unter extremem<br />
Druck den ständig wechselnden Situation<br />
im Strafprozess eine angemessene<br />
Reaktion entgegenzusetzen wisse. Am<br />
wichtigsten sei aber, diese Belastung nicht<br />
als Belastung anzusehen, sondern bereit<br />
zu sein, diese als zum Strafprozess dazugehörig<br />
zu akzeptieren. Ausserdem solle<br />
man/frau auch genug vom leben verstehen,<br />
um zu wissen, dass es immer Gut und<br />
Böse geben wird und sich nicht so sehr<br />
von der Härte so mancher Schicksale beeindrucken<br />
lassen.<br />
Mittlerweile ist Seyran Ateş auch<br />
Pflichtverteidigerin. Ihr Weg dorthin ist<br />
allerdings nicht der Übliche. Sie wurde von<br />
einer türkischen Mandantin angesprochen<br />
und ist dann per Mundpropaganda zunächst<br />
durch Mandanten und später auch<br />
von Richtern immer wieder angerufen<br />
worden, um Pflichtverteidigungen zu<br />
übernehmen. Wer diese Glück nicht hat,<br />
kann sich mit dem Wunsch nach der Übernahmen<br />
von Pflichtverteidigungen bei<br />
Richtern vorstellen und einfach sein An-<br />
Information<br />
Kanzlei Seyran Ateş,<br />
Dircksenstraße 47, 10178 Berlin-Mitte.<br />
justament dezember 2002<br />
9
<strong>Titel</strong><br />
liegen vortragen und seine Visitenkarte<br />
hinterlassen . Dieses Vorgehen kennt Seyran<br />
Ateş von vielen Kollegen und kann es<br />
auch weiterempfehlen.<br />
Juristischer Nachwuchs in der<br />
Hauptstadt<br />
Jurastudenten und vor allem Referendaren,<br />
die den Berufswunsch Strafverteidiger/In<br />
haben, möchte sie mit auf den Weg geben,<br />
dass es unablässlich sei, sich rechtzeitig in<br />
der Praxis umzusehen. Sie empfiehlt, die<br />
oft als „Abtauchstation“ benutzte Anwaltsstation<br />
intensiv zu nutzen, um sich ein Bild<br />
über die Realität des Anwaltsdaseins zu<br />
verschaffen. Oft wüssten die Referendare<br />
gar nicht, was hinter dem Berufsbild des<br />
Anwalts steckt. Dies läge wohl vor allem<br />
auch daran, dass die klassische Juristenausbildung<br />
trotz aller Diskussionen immer<br />
noch stark auf den Richterberuf und den<br />
des Staatsanwalts zugeschnitten sei.<br />
Auch sie selbst bildet regelmässig Referendarinnen<br />
aus. Sicher, wenn es denn ausdrücklich<br />
gewünscht sei, lasse sie ihre Referandare<br />
auch mal „abtauchen“. Lieber sieht<br />
sie aber ReferendarInnen, die zu ihr kommen,<br />
um etwas zu lernen. Diese nehme sie<br />
dann auch zu jedem einzelnen Gespräch,<br />
jedem Gefängnisbesuch und zu jeder Strafverhandlung<br />
mit und stehe bereitwillig und<br />
geduldig Rede und Antwort zu allen Fragen,<br />
die ihr gestellt würden. Sie wisse, dass<br />
es im Moment um die wirtschaftliche Lage<br />
der Anwaltschaft nicht so gut bestellt sei.<br />
Trotzdem würde sie denen, dessen Herz für<br />
die Hauptstadt schlägt, niemals davon abraten,<br />
sich als Anwalt zu betätigen. Eine<br />
Festlegung auf ein oder zwei bestimmte<br />
Schwerpunkte während der Ausbildung<br />
empfehle sie nicht, denn den Vorteil bei<br />
der breitgefächerten Juristischen Ausbildung<br />
sehe sie ganz klar in der damit erworbenen<br />
Fähigkeit, sich ganz schnell und systematisch<br />
in jeden neuen Sachverhalt einzudenken.<br />
Dies sei ihr gerade bei<br />
Verteidigertätigkeit zu gute gekommen.<br />
Die Angst vieler Berufsanfänger vor der<br />
Selbständigkeit kann sie zwar verstehen,<br />
allerdings kommt für Seyran Ateş nicht in<br />
Frage, angestellt zu sein und damit vor<br />
allem abhängig zu arbeiten - allem zusätzlichen<br />
„Stress“, den die eigene Kanzlei so<br />
mit sich bringt zum Trotz. Auch in Anbetracht<br />
des mal mehr, mal weniger präsenten<br />
Existenzkampfes fühlt Seyran Ateş sich<br />
durch die Tatsache, „Herrin im eigenen<br />
Hause“ zu sein, hinreichend entschädigt.<br />
Und so kann sie auch nach fast acht Jahren<br />
selbstständigen Anwaltsdasein mit Schwerpunkt<br />
Strafverteidigung immer noch von<br />
sich behaupten: „Ich habe meinen Traumberuf,<br />
meine Berufung gefunden“.<br />
Standgerichte<br />
im Rechtsstaat?<br />
Das „Beschleunigte Verfahren“ nach §§ 417 ff StPO wird immer<br />
häufiger angewendet – allen rechtsstaatlichen Bedenken zum Trotz<br />
Christian Frenzel<br />
Der Staat hat kein Geld. Das ist eine Binsenweisheit.<br />
Und mit der Erkenntnis,<br />
dass es der Justiz finanziell nicht besonders<br />
gut geht, lockt man auch niemanden<br />
hinter dem Ofen vor. Welche Instrumente<br />
sich die Politik einfallen lässt, um<br />
dem mit der Finanznot einhergehenden<br />
Stillstand in der Rechtsprechung zu begegnen,<br />
ist dagegen manchmal durchaus<br />
brisant. Man schreckt nämlich nicht davor<br />
zurück, grundlegende rechtsstaatliche<br />
Prinzipien zu gefährden. Das klingt vielleicht<br />
nach bloßer Panikmache. Professor<br />
Uwe Scheffler von der Universität Viadrina<br />
in Frankfurt an der Oder jedenfalls steht zu<br />
dieser Sichtweise und wird dafür aus weiten<br />
Kreisen der brandenburgischen Justiz<br />
heftig angefeindet. Wie konnte es soweit<br />
kommen?<br />
Das beschleunigte Verfahren<br />
Im Jahre 1994 wurde im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes<br />
das beschleunigte<br />
Verfahren in seiner jetzigen<br />
Form in die StPO aufgenommen. Dieses<br />
verfolgt den Zweck, Erwachsene im Bereich<br />
der leichten bis mittleren Kriminalität<br />
einer schnellen Bestrafung zuzuführen,<br />
und zwar, im Gegensatz zum Strafbefehlsverfahren,<br />
im Rahmen einer mündlichen<br />
Verhandlung. Nach § 417 StPO kommt das<br />
beschleunigte Verfahren in Betracht, wenn<br />
die Sache nach Ansicht der Staatsanwaltschaft<br />
auf Grund des einfachen Sachverhalts<br />
oder der klaren Beweislage dafür geeignet<br />
erscheint. Die Formulierung dieses<br />
Paragrafen ist so miserabel, dass ein großer<br />
Teil der Literatur und der Rechtsprechung<br />
das „oder“ kurzerhand als „und“ liest.<br />
Denn nach dem Wortlaut kommen für das<br />
beschleunigte Verfahren Sachen in Betracht,<br />
denen zwar ein einfacher Sachverhalt<br />
zugrunde liegt, die aber äußerst<br />
schwer zu beweisen sind – und umgekehrt.<br />
Die Beschleunigung im beschleunigten<br />
Verfahren resultiert aus zwei wesentlichen<br />
Änderungen gegenüber dem Normalverfahren:<br />
Auf der einen Seite entfällt das<br />
Zwischenverfahren. Durch die Staatsanwaltschaft<br />
wird keine Klageschrift mehr<br />
eingereicht; die Anklage wird stattdessen<br />
bei Sitzungsbeginn mündlich erhoben. Es<br />
kommt somit auch nicht mehr zu einem<br />
gesonderten Entschluss über die Einleitung<br />
des Hauptverfahrens. Durch diese<br />
Vorgehensweise steht der Angeklagte<br />
schon wenige Tage nach Abschluss der polizeilichen<br />
Ermittlungen vor Gericht.<br />
Des Weiteren gelten die strengen Regeln<br />
des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in<br />
dieser Verfahrensart nicht uneingeschränkt.<br />
So ist es beispielsweise möglich,<br />
auf die persönliche Vernehmung eines<br />
Zeugen während der Hauptverhandlung<br />
zu verzichten und stattdessen das Protokoll<br />
einer früheren Aussage zu verlesen.<br />
Durch diese Regelung soll Beweisschwierigkeit<br />
vorgebeugt und der Ablauf der<br />
Hauptverhandlung beschleunigt und werden.<br />
Erforderlich ist hierfür allerdings das<br />
Einverständnis des Angeklagten. Die<br />
Durchführung des beschleunigten Verfahrens<br />
selbst kann er jedoch nicht verhindern,<br />
wenn es auch für den gewieften<br />
Strafverteidiger Mittel und Wege gibt, dieses<br />
abzuwenden.<br />
Die verhängte Strafe darf ein Jahr nicht<br />
überschreiten, Maßregeln der Besserung<br />
und Sicherung sind nicht möglich. Allerdings<br />
kann die Fahrerlaubnis entzogen<br />
werden – theoretisch auch lebenslänglich.<br />
Ab einem halben Jahr Freiheitsstrafe muss<br />
dem Angeklagten ein Verteidiger zur Seite<br />
gestellt werden.<br />
Der Staatsanwalt als „Pappnase“<br />
In Nordrhein-Westfalen und in Brandenburg<br />
gibt es inzwischen Bestrebungen, die<br />
erzielte Beschleunigung nochmals zu erhöhen.<br />
Erreicht werden soll dies jeweils<br />
durch eine Beschränkung staatsanwaltlicher<br />
Kompetenzen zugunsten der Polizei,<br />
die selbst prüfen soll, ob ein beschleunigtes<br />
Verfahren in Frage kommt. In Eisenhüttenstadt<br />
führt dies so weit, dass die Polizei<br />
die Akte direkt an das Gericht schickt.<br />
Dieses bestimmt, ob das beschleunigte<br />
Verfahren angewendet wird und informiert<br />
per Fax den zuständigen Staatsanwalt, der<br />
10<br />
justament dezember 2002
<strong>Titel</strong><br />
Grafik: David Fuchs<br />
das Verfahren dann eigentlich nur noch<br />
abnicken kann. Der Staatsanwalt wird, so<br />
Professor Gerhard Wolf von der Universität<br />
Viadrina, zur „Pappnase“.<br />
Die Verkürzung der Kompetenzen der<br />
Staatsanwaltschaft ist denn auch ein<br />
Hauptkritikpunkt von Professor Scheffler.<br />
Daneben geht es jedoch vor allem um die<br />
Rechte und Möglichkeiten des Angeklagten,<br />
die beschnitten werden. Das Hauptproblem<br />
hierbei ist die kurze Zeitspanne<br />
zwischen Festnahme und Verfahren. Im<br />
Extremfall des „nochmals beschleunigten“<br />
beschleunigten Verfahrens in NRW und<br />
Brandenburg kann der Angeklagte schon<br />
wenige Stunden nach seiner Verhaftung<br />
vor Gericht stehen. Ausdrücklich soll dies<br />
laut Dienstanweisung in NRW auch für Betrunkene<br />
gelten,<br />
solange<br />
sie nur bei der<br />
Hauptverhandlung<br />
verhandlungsfähig<br />
sind. Man fragt sich, wie<br />
ein Betrunkener, während er seinen Rausch<br />
ausschläft, eine sinnvolle Verteidigungsstrategie<br />
entwerfen soll…<br />
Das Horrorszenario<br />
Genau das jedoch – der Entwurf einer<br />
sinnvollen Verteidigungsstrategie – ist das<br />
Recht, das dem Angeklagten ganz offensichtlich<br />
genommen werden soll. Dies lässt<br />
sich auch vereinzelten Aussagen aus Kreisen<br />
der Befürworter des beschleunigten<br />
Verfahrens entnehmen. Es ist aber auch ärgerlich,<br />
wenn man einen Angeklagten vorgeführt<br />
bekommt, der sich gegen eine Verurteilung<br />
wehrt!<br />
Was zynisch klingt, hat einen durchaus<br />
realen und auch verständlichen Hintergrund:<br />
Natürlich ist der Richter frustriert,<br />
der sich den ganzen Tag mit Tricksereien –<br />
und, seien wir ehrlich, nichts anderes ist<br />
eine „sinnvolle Verteidigungsstrategie“ oft<br />
– herumschlagen muss. Das gilt aber nicht<br />
für alle Angeklagten. Von Zeit zu Zeit wird<br />
es vorkommen, dass ein Angeklagter ein<br />
gutes Argument oder ein Beweisangebot<br />
nicht einbringt, weil er sich überrumpelt<br />
fühlt. Diese Überrumpelung wird nicht selten<br />
auch dazu führen, dass der Angeklagte<br />
auf die Möglichkeit des Widerspruchs<br />
gegen die bloße Verlesung des Protokolls<br />
einer Zeugenvernehmung verzichtet. Dass<br />
das nicht mit rechtsstaatlichen Prinzipien<br />
korreliert, fällt schon dem Laien auf. Wenn<br />
dem Angeklagten dann noch, was häufig<br />
vorkommt, ein Rechtsmittelverzicht aus<br />
dem Kreuz geleiert wird, ist das Horrorszenario<br />
Realität.<br />
Es kann mit absoluter Sicherheit davon<br />
Der Entwurf einer sinnvollen Verteidigungsstrategie<br />
- ist das Recht, das dem Angeklagten<br />
ganz offensichtlich genommen werden soll.<br />
ausgegangen werden,<br />
dass der<br />
Großteil der Richterschaft<br />
das beschleunigte<br />
Verfahren<br />
nicht missbraucht. Trotzdem wäre<br />
es Aufgabe der Politik, dem verständlichen<br />
Abnutzungseffekt auf Richterseite entgegenzutreten<br />
durch Regelungen, die den<br />
Angeklagten schützen.<br />
Wozu das Ganze?<br />
Von dieser Seite ist aber leider keine Einschränkung<br />
des beschleunigten Verfahrens<br />
zu erwarten. Im Gegenteil. Das Land Brandenburg,<br />
das leider wahrlich nicht mit<br />
Spitzenplätzen im Bundesvergleich gesegnet<br />
ist, verweist Jahr für Jahr stolz auf die<br />
Statistik, die besagt, dass es bei der Anwendung<br />
des beschleunigten Verfahrens<br />
führt. Besonders gern wird hier auf den<br />
Kampf gegen Grenzkriminalität und gegen<br />
ausländerfeindliche Vergehen hingewiesen,<br />
den es zu fördern gelte. Dies sind natürlich<br />
zwei populistisch besonders leicht<br />
auszuschlachtende Jusitzfelder, und die<br />
Politik lässt nie eine Gelegenheit aus, sich<br />
beim juristisch unbewanderten Wähler<br />
einzuschmeicheln. Das Argument, dass<br />
eine Demokratie gerade dann Souveränität<br />
zeigen muss, wenn es gegen Personen und<br />
Taten geht, die von der überwältigenden<br />
Mehrheit als verabscheuungswürdig eingestuft<br />
werden, wie eben im Falle ausländerfeindlicher<br />
Kriminalität, stößt kaum auf<br />
offene Ohren.<br />
Stattdessen wird immer wieder das Kostenargument<br />
angebracht: Das beschleunigte<br />
Verfahren sei schlicht billiger. Unberücksichtigt<br />
bleibt in dieser Rechnung<br />
allerdings der immense Verwaltungsaufwand,<br />
der zur Erzeugung einer Infrastruktur<br />
notwendig ist, in welcher das beschleunigte<br />
Verfahren funktionieren kann.<br />
So muss etwa ein staatsanwaltlicher und<br />
gerichtlicher Eildienst eingerichtet werden,<br />
damit beispielsweise immer ein Verhandlungssaal<br />
und ein Protokollbeamter zur<br />
Verfügung steht.<br />
Was nun?<br />
Fraglich ist, wie es nun weitergehen soll<br />
mit dem beschleunigten Verfahren. Aus<br />
rechtsstaatlicher Sicht kommt wohl nur die<br />
völlige Abschaffung in Frage. Professor<br />
Scheffler schlägt zur Güte vor, diese Verfahrensart<br />
nur noch auf freiwilliger Basis<br />
zu ermöglichen. Es erscheint aber unwahrscheinlich,<br />
dass dann noch ein wesentlicher<br />
Teil der Verfahren beschleunigt<br />
durchgeführt werden kann, weshalb auch<br />
dieser Kompromiss kaum Chancen hat, realisiert<br />
zu werden. Angesichts der knappen<br />
Kassen ist die Justiz ganz einfach auf das<br />
beschleunigte Verfahren angewiesen.<br />
Bleibt nur zu hoffen, dass sich der einzelne<br />
Richter der immensen Verantwortung,<br />
die ihm durch dieses Instrumentarium gegeben<br />
wird, bewusst ist, und dass er der<br />
Versuchung des Missbrauchs widersteht.<br />
justament dezember 2002<br />
11
<strong>Titel</strong><br />
25 Jahre deutscher Herbst<br />
und der moderne Terror<br />
Seit dem 11. September 2001 ist der in Deutschland fast schon vergessene Terrorismus<br />
wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt. So gewinnt die Erinnerung an die<br />
Terrorakte der RAF von vor 25 Jahren eine bedrohliche Aktualität. Der moderne Terror,<br />
dessen Wiege vor ca. 130 Jahren in Russland stand, ist zum ständigen Begleiter der<br />
Menschheit geworden.<br />
Thomas Claer<br />
Mit der jüngsten blutigen Geiselnahme<br />
tschetschenischer Rebellen in einem<br />
Moskauer Theater kehrte der Terrorismus<br />
als modernes Phänomen gleichsam an den<br />
Ort seiner Entstehung, die Metropolen<br />
Russlands, zurück. Mag es in den weiter<br />
zurückliegenden Epochen der Menschheitsgeschichte<br />
ähnlich geartete Akte des<br />
politischen Kampfes gegeben haben (die<br />
Cineasten werden sich an die Aktionen der<br />
„Judäischen Volksfront“<br />
– oder war es<br />
die „Volksfront von<br />
Judäa“? – im „Leben<br />
des Brian“ erinnern),<br />
blieb es doch dem Sozialrevolutionär<br />
Sergej Netschajew (1847-<br />
1882) vorbehalten, in seinem „Katechismus“,<br />
der Bibel des Terrors, die Lenin<br />
wie Horst Mahler beeinflusst haben soll,<br />
das Credo der terroristischen Moderne zu<br />
verkünden: Alles – bis hin zum Mord an<br />
Unschuldigen – sei erlaubt, um „Leid und<br />
Elend des Volkes zu steigern, damit es<br />
schließlich zu einem allgemeinen Aufstand<br />
getrieben wird“. Was später Generationen<br />
von Dissidenten der kommunistischen Bewegung<br />
„Bauchschmerzen“ bereiten sollte,<br />
die Diskrepanz zwischen „humaner“ Zielsetzung<br />
und den meist brachialen Mitteln<br />
des politischen Kampfes, wurde hier bereits<br />
abschließend als moralisches Problem<br />
eliminiert – zugunsten einer uneingeschränkten<br />
Bejahung der Gewalt als vermeintlicher<br />
Triebfeder des Fortschritts.<br />
Ideale oder Machtrausch?<br />
Diese „dialektische Schraube“, so ungeheuerlich<br />
sie für uns klingen mag, bedeutet<br />
per se noch keinen Bruch mit den Ideen<br />
der Aufklärung, so wie auch ein konsequent<br />
durchgesetztes staatliches Gewaltmonopol<br />
(das im äußersten Falle „über<br />
Leichen geht“) nicht zuletzt dazu dient,<br />
die Freiheit des Einzelnen und – als deren<br />
physische Voraussetzung – die „innere Sicherheit“<br />
möglichst lückenlos zu gewährleisten<br />
(Da keine menschliche Gesellschaft<br />
jemals ohne Gewalt ausgekommen ist,<br />
geht es in allen politischen Kämpfen auch<br />
vorrangig darum, wer mit welcher Legitimation<br />
über ihren Einsatz bestimmen<br />
kann.). Doch wurde schon<br />
im Roman „Die Dämonen“ (oder wie ihn<br />
die neue Übersetzung nennt: „Böse Geister“)<br />
von Fjodor Dostojewski (1871/72),<br />
in welchem der damals noch lebende<br />
Netschajew als<br />
die Figur Pjotr<br />
Stepanowitsch<br />
Werchowenski<br />
auftauchte,<br />
der begründete<br />
Verdacht ausgesprochen, es gehe den<br />
maßgeblichen Protagonisten am Ende weniger<br />
um ihre Ideale als vielmehr um<br />
das Berauschtsein an der eigenen Machtausübung.<br />
Welchem Diktator, aber auch<br />
demokratischen Innenminister, ist genau<br />
Geht es den maßgeblichen Protagonisten<br />
am Ende weniger um ihre Ideale als vielmehr<br />
um das Berauschtsein an der eigenen<br />
Machtausübung?<br />
dies nicht auch schon einmal (mehr<br />
oder weniger begründet) vorgeworfen<br />
worden?<br />
Terrorismus in Deutschland<br />
Seit seinen frühen Anfängen in Russland<br />
breitete sich der Terrorismus als Methode<br />
des politischen Kampfes unaufhaltsam in<br />
alle Welt aus. In manchen Gegenden der<br />
Erde ist er zum Dauerzustand geworden.<br />
Deutschland hielt er knapp ein Jahrzehnt<br />
in Atem, geriet dann trotz gelegentlichen<br />
Aufflackerns nahezu in Vergessenheit – bis<br />
zu jenem Tag, der ein neues Zeitalter einleiten<br />
sollte, an dem, vorbereitet in drei<br />
Hamburger Studentenbuden, der einzigen<br />
globalen Supermacht der Krieg erklärt<br />
wurde. Nicht zuletzt diesem Wendepunkt<br />
und seinen von vielen als Parallelen zu damals<br />
empfundenen sicherheits- und<br />
rechtspolitischen Konsequenzen dürfte das<br />
gegenwärtig wieder aufkeimende Interesse<br />
Hochglanz-Bösewichte, die Darsteller von Gudrun Enslin und Andreas Baader<br />
aus dem gleichnamigen Film<br />
12<br />
justament dezember 2002
<strong>Titel</strong><br />
am Geschehen des „Deutschen Herbstes“<br />
geschuldet sein.<br />
Die später so bezeichneten Ereignisse<br />
im September und Oktober 1977, die Entführung<br />
der Lufthansa-Maschine „Landshut“,<br />
die Entführung und Ermordung des<br />
Arbeitgeberpräsidenten Schleyer und die<br />
Selbstmorde der<br />
RAF-Terroristen<br />
Bader, Ensslin<br />
und Raspe (die<br />
damit dem Vorbild<br />
der ein Jahr zuvor aus dem Leben geschiedenen<br />
Ulrike Meinhof folgten) in<br />
Stammheim bildeten den dramaturgischen<br />
Höhepunkt jener „bleiernen Zeit“, die ihre<br />
sichtbarsten Spuren im gegenwärtigen Revolutions-chic<br />
in der Mode und in der<br />
Kunst hinterlassen hat.<br />
Die Juristen des Deutschen<br />
Herbstes<br />
Von der ideologischen Aufgeladenheit<br />
jener Epoche aber, die immerhin breite<br />
Schichten der damals jungen westdeutschen<br />
Bevölkerung mit den Zielen (wenn<br />
auch nicht mit den Mitteln) sympathisieren<br />
ließ, dem Fortschritts-Optimismus und<br />
dem Unter-Faschismus-Verdacht-Stellen<br />
demokratischer Institutionen und Politiker,<br />
ist heute kaum etwas geblieben. Auffällig<br />
ist die weit verbreitete Abgeklärtheit im<br />
Umgang mit dem radikalen Erbe, auch<br />
unter den damals in die Geschehnisse involvierten<br />
Juristen. Eine besondere, eigenartige<br />
Rolle kommt dabei drei damaligen<br />
Bewegungs- und Kampfgefährten zu, die<br />
heute nur noch die extreme Entgegengesetztheit<br />
ihrer inzwischen eingenommenen<br />
politischen Positionen zueinander verbindet<br />
– wobei jeder für sich einen charakteristischen<br />
Typus, eine bereits in den Anfängen<br />
angelegte mögliche Entwicklungslinie<br />
der damaligen radikalen Linken verkörpert.<br />
Am wenigsten geändert oder von seinen<br />
damaligen Idealen entfernt hat sich<br />
fraglos Christian Ströbele, 1968 gemeinsam<br />
mit Horst Mahler und Klaus Eschen<br />
Gründer des ersten „sozialistischen Anwaltskollektivs“<br />
und einige Jahre später<br />
Verteidiger etlicher RAF-Terroristen. Noch<br />
vor wenigen Jahren als altlinkes Fossil und<br />
politisches Auslaufmodell belächelt, erwarb<br />
der Linksaußen der Grünen neuen<br />
Respekt in allen<br />
Die heutigen Terrorismen definieren sich zunehmend<br />
durch ihren Kampf für oder gegen<br />
bestimmte Ethnien.<br />
politischen Lagern<br />
durch sein<br />
unnachgiebiges,<br />
aufklärendes Engagement<br />
in den Parteispenden-Affären<br />
und holte bei den Bundestagswahlen in<br />
diesem Jahr als erster Vertreter seiner Partei<br />
ein Direktmandat.<br />
Hingegen wandelte sich Otto Schily,<br />
einst ebenfalls RAF-Terroristen-Verteidiger<br />
und 1979 Mitunterzeichner des Gründungsaufrufs<br />
zum Republikanischen Anwaltsverein<br />
(RAV), welcher den Einsatz kritischer<br />
Juristen für Minderheiten, Asylrecht<br />
und Menschenrechte organisierte, als<br />
heutiger Bundesinnenminister und Schöpfer<br />
umfangreicher Anti-Terror-Gesetze<br />
zum ausgesprochenen „Law-and-Order-<br />
Mann“.<br />
Am abenteuerlichsten – und bedrükkendsten<br />
– verlief<br />
aber die Karriere<br />
und Wandlung<br />
Horst<br />
Mahlers vom<br />
Terroristen-Verteidiger,<br />
später<br />
aktiven RAF-Terroristen und langjährigen<br />
politischen Gefangenen zum heutigen<br />
NPD-Aktivisten und zur intellektuellen<br />
Speerspitze des Rechtsradikalismus. Sogar<br />
beruft sich Mahler ausdrücklich auf seine<br />
RAF-Vergangenheit und sieht seine Hinwendung<br />
zur nationalen Anti-Globalisierungsbewegung,<br />
gegen Liberalismus und<br />
Amerikanismus, als konsequente Weiterentwicklung<br />
seiner politischen Haltung an.<br />
Allen heute Herrschenden, so Mahler kürzlich<br />
in einem Interview, werde es im Falle<br />
einer nationalen Machtübernahme an den<br />
Kragen gehen. Nur seinem alten Freund<br />
(und früheren Verteidiger) Otto Schily<br />
werde er das Leben schenken …<br />
Ethno-Terrorismus<br />
Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich<br />
die heutigen Terrorismen zunehmend<br />
durch ihren Kampf für oder gegen bestimmte<br />
Ethnien definieren. Der Universalismus<br />
in Gestalt eines menschheitsbeglückenden<br />
Internationalismus, der noch<br />
das ideologische Fundament der RAF (bis<br />
zu ihrer offiziellen Selbstauflösung 1998)<br />
gewesen ist, vermag heute kaum noch Terrorkräfte<br />
zu mobilisieren. Auch dort, wo im<br />
Namen bestimmter Religionsinterpretationen<br />
gebombt, gesprengt und gemordet<br />
wird, soll vorrangig die eigene Kulturlandschaft<br />
gestärkt und die als Satan ausgemachte<br />
Supermacht samt ihrem kleineren<br />
Verbündeten gedemütigt und letztlich besiegt<br />
werden.<br />
Insofern verbindet die damaligen mit<br />
den heutigen Terroristen, namentlich die<br />
RAF mit der Al-Qaida, inhaltlich nicht viel<br />
(vgl. dazu die Rezension auf S. 23).<br />
Ein Grund für den Ethno-Trend im<br />
Von der ideologischen Aufgeladenheit des<br />
Deutschen Herbstes, die immerhin breite<br />
Schichten der damals jungen westdeutschen<br />
Bevölkerung mit den Zielen der Terroristen<br />
(wenn auch nicht mit deren Mitteln) sympathisieren<br />
lies, ist heute kaum etwas geblieben.<br />
Terrorismus dürfte<br />
darin liegen, dass<br />
sich mit völkischen<br />
Ressentiments<br />
(zumal<br />
heute) leichter<br />
Anhänger rekrutieren<br />
und Menschenmassen begeistern<br />
lassen als mit Weltrevolutions-Träumen.<br />
Denn entgegen Netschajews Annahme ließen<br />
sich durch die Steigerung von Leid<br />
und Elend nur selten Aufstände provozieren<br />
(es wurde im Gegenteil meist nach dem<br />
starken Staat gerufen). Sobald aber gegen<br />
den ethnisch (und religiös und politisch)<br />
andersartigen Feind gezündelt wird, erheben<br />
sich die Massen schon viel bereitwilliger.<br />
Die (bedrohliche) Zukunft liegt im<br />
Ethno-Terrorismus!<br />
justament dezember 2002<br />
13
<strong>Titel</strong><br />
Ein Restrisiko bleibt<br />
Spektakuläre Klinikausbrüche und Rückfallstraftaten haben schwere Mängel beim<br />
Umgang mit Sexualstraftätern offenbart und dem Maßregelvollzug scharfe Kritik eingebracht.<br />
Tatsächlich wird er seinen Zielen häufig nicht gerecht. Dabei spielt der<br />
Personalmangel sicherlich eine Rolle.<br />
Jürgen Jaskolla<br />
Maßregelvollzugsanstalt Brandenburg /<br />
Havel im November 2002. Hier sitzt<br />
der wegen Mordes und versuchten Totschlags<br />
angeklagte Frank Schmökel ein,<br />
vor gut zwei Jahren Deutschlands meistgesuchter<br />
Schwerverbrecher. In seinem<br />
Einzelzimmer werden Rasierklingen gefunden,<br />
versteckt in der Gardine. Er habe<br />
die Klingen nur zum Basteln verwenden<br />
wollen, erklärt er dazu.<br />
Diese Panne der Justizbehörden ist nur<br />
eine von vielen im Fall des Straftäters<br />
Frank Schmökel. Die Geschichte seiner<br />
Fluchten ist ein Offenbarungseid für den<br />
Maßregelvollzug, sein Lebenslauf macht es<br />
schwer, an eine Besserung von Sexualstraftätern<br />
zu glauben.<br />
Vier Ausbrüche in drei Jahren<br />
Als Kind wird er immer wieder von seiner<br />
Mutter geschlagen, wohl auch sexuell<br />
missbraucht. Seine<br />
eigene Sexualität ist<br />
von Anfang an abnorm,<br />
als Jugendlicher<br />
vergeht sich<br />
der gelernte Rinderzuchtarbeiter an Tieren,<br />
lebendigen oder toten. 1988 wird er zum<br />
ersten Mal wegen versuchter Vergewaltigung<br />
an einer 14-Jährigen verurteilt, ein<br />
Jahr später vorzeitig entlassen. 1993 erhält<br />
er wegen Vergewaltigung und sexuellen<br />
Missbrauchs eines Kindes mit Todesfolge<br />
eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und<br />
sechs Monaten. Er wird in eine Klinik eingewiesen,<br />
bekommt im darauffolgenden<br />
Jahr Osterurlaub, aus dem er nicht zurück<br />
kommt. Statt dessen missbraucht er ein<br />
elfjähriges Mädchen und würgt es fast zu<br />
Tode. Er wird gefasst, die Strafe auf 14<br />
Jahre erhöht, wieder Unterbringung in<br />
einer psychiatrischen Klinik. Zwischen<br />
1995 und 1997 flieht er viermal aus dem<br />
Maßregelvollzug, 1998 taucht er ganz<br />
unter, begeht mehr als 70 Straftaten,<br />
davon 15 Raubüberfälle. Die Opfer sind<br />
vorwiegend alte Frauen, einige vergewaltigt<br />
er, zwei 90-jährige Opfer sterben.<br />
Nach erneuter Festnahme und Unterbringung<br />
in der Psychiatrie darf er im Oktober<br />
2000 seine Mutter in Strausberg besuchen,<br />
begleitet von zwei Pflegern und<br />
einem Pädagogen. Schmökel sticht einen<br />
der Pfleger mit einem Küchenmesser nieder<br />
und flieht. Auf seiner Flucht versteckt<br />
er sich in einer Bungalowanlage, wird dort<br />
von einem Rentner überrascht, den er mit<br />
einem Spaten erschlägt. Schließlich gelingt<br />
der Polizei am 7. November 2000 nach<br />
einem Schuss in den Bauch seine Festnahme.<br />
Jetzt hat der Prozess gegen Frank<br />
Schmökel vor dem Landgericht Frankfurt<br />
an der Oder begonnen, das aus Sicherheitsgründen<br />
in Neuruppin tagt. In dem<br />
Verfahren wird es auch um Schmökels<br />
Schuldfähigkeit gehen. Und darum, ob er<br />
wieder in der Psychiatrie untergebracht<br />
wird oder seine Strafe in einer Haftanstalt<br />
absitzen muss. Das Urteil wird noch im Dezember<br />
erwartet.<br />
In ihrer Einschätzung über den seelischen<br />
Zustand der Straftäter liegen die Gutachter<br />
allerdings recht häufig daneben.<br />
Besserung und Sicherung<br />
Nach § 63<br />
StGB ordnet<br />
das Gericht bei<br />
schuldunfähigen<br />
oder nur<br />
vermindert schuldfähigen Tätern die<br />
Unterbringung in einem psychiatrischen<br />
Krankenhaus an, wenn von dem Täter infolge<br />
seines Zustands erhebliche rechtswidrige<br />
Taten zu erwarten sind und er deshalb<br />
für die Allgemeinheit gefährlich ist.<br />
Diese Unterbringung – eine der in § 61<br />
StGB genannten sechs Möglichkeiten der<br />
„Maßregeln der Besserung und Sicherung“<br />
– kann neben der Haftstrafe angeordnet<br />
werden, aber auch zusätzlich zu ihr. Sie<br />
dient zwei Zielen: Sicherheit für die Öffentlichkeit<br />
und Besserung beziehungsweise<br />
Therapie des Einsitzenden. Diese<br />
beiden Ziele miteinander zu verbinden, ist<br />
eine Gratwanderung, denn echte oder vermeintliche<br />
Therapieerfolge führen zur<br />
Lockerung der Zwangsunterbringung und<br />
damit zumindest zur potenziellen Gefahrenerhöhung<br />
für die Öffentlichkeit.<br />
Zur Beurteilung der Schuldunfähigkeit<br />
begutachten sachverständige Psychologen<br />
und Psychiater den Angeklagten. Die Entscheidung<br />
treffen letztendlich die Richter,<br />
die an das Gutachten nicht gebunden<br />
sind. Der schuldunfähige oder nur vermindert<br />
schuldfähige gefährliche Täter kommt<br />
so lange in den Maßregelvollzug, bis von<br />
ihm keine weiteren Straftaten zu erwarten<br />
sind. Wann das ist, entscheidet ein Gericht<br />
auf der Grundlage eines Prognosegutachtens,<br />
wiederum erstellt von Psychotherapeuten.<br />
In ihrer Einschätzung über den seelischen<br />
Zustand der Straftäter liegen die<br />
Gutachter allerdings recht häufig daneben.<br />
Die Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden<br />
hat ermittelt, dass jeder fünfte Kinderschänder<br />
erneut ein Kind angreift,<br />
wenn er die Chance dazu bekommt. Zu<br />
ähnlichen Ergebnissen kamen Wissenschaftler<br />
von der Freien Universität Berlin.<br />
Die Therapeuten, nach Rückfällen ihrer<br />
Patienten oft im Zentrum der Kritik, stekken<br />
in einem Dilemma. Schon von Berufs<br />
wegen müssen sie bei jedem Patienten erst<br />
einmal an die Möglichkeit seiner Heilung<br />
glauben und zugleich zum Schutz der Öffentlichkeit<br />
misstrauisch bleiben. Ein Konflikt,<br />
den nicht jeder aushält: Vor einigen<br />
Jahren beging ein 45-jähriger Psychiatrie-<br />
Chefarzt in Berlin Selbstmord, weil er den<br />
Rückfall eines ehemaligen Patienten als<br />
persönlich empfundenes Versagen wertete.<br />
Doch woran liegt es, dass so viele Täter<br />
rückfällig werden? Ein Grund ist der Mangel<br />
an genügend qualifizierten sexualmedizinisch<br />
ausgebildeten Therapeuten: Den<br />
etwa 4.500 Sexualstraftätern in Deutschland<br />
stehen höchstens 50 Sachverständige<br />
gegenüber. Weil die Schulung bis zum Experten<br />
bis zu fünf Jahre dauert, behilft<br />
man sich in der Zwischenzeit etwa in<br />
Mecklenburg-Vorpommern schon mal mit<br />
einem Augenarzt, der auch eine psychotherapeutische<br />
Ausbildung hat. Auch werden<br />
Gutachter häufig erst am Haft-Ende<br />
eingeschaltet, und nicht schon im Prozess.<br />
Viele gefährliche Täter bleiben so zumindest<br />
beim ersten Mal unerkannt.<br />
Straftäter als Meister<br />
der Manipulation<br />
Kriminellen gelingt es zudem immer wieder,<br />
die Therapeuten zu täuschen. Thomas<br />
Kurbjuhn, der wegen Mordes an seinem<br />
Vater im Maßregelvollzug einsaß, und dessen<br />
Gutachter ihm eine krankhafte Cha-<br />
14<br />
justament dezember 2002
<strong>Titel</strong><br />
Maßregelvollzugsanstalt Brandenburg/Havel. Hier befindet sich Frank Schmökel zur Zeit.<br />
rakterneurose bescheinigte, empfand sich<br />
als völlig normal und machte das auch seinem<br />
Therapeuten klar. Das wurde ihm jedoch<br />
nur als Blockadehaltung ausgelegt.<br />
Erst als Mitpatienten ihm zu verstehen<br />
gaben, dass eine „Kooperation“ seinen Klinikaufenthalt<br />
stark<br />
verkürzen könnte,<br />
begann er zu tricksen<br />
und erzählte von erfundenen<br />
Träumen,<br />
wie er sich in eine<br />
Katze verwandelt<br />
habe und dergestalt übers Meer gerudert<br />
sei. „Die wollten doch belogen werden“<br />
sagt er, der seine Erfahrungen in einem<br />
Internet-Buch veröffentlicht hat („Wie Kriminelle<br />
ihre Therapeuten austricksen“).<br />
Der Lohn der Zusammenarbeit: Kurbjuhn<br />
wurde vorzeitig aus dem Maßregelvollzug<br />
entlassen.<br />
Auch Schmökel hat jetzt im Prozess<br />
eingestanden, seine Gutachter getäuscht<br />
zu haben. Nach jahrelangem Psychiatrieaufenthalt<br />
geübt im Umgang mit Therapeuten,<br />
gab er an, manche Sachen nicht<br />
erzählt oder Angaben nach vermeintlichen<br />
Wünschen der Ärzte ausgerichtet zu<br />
haben. Zugleich beklagte er aber, wegen<br />
anhaltender Gewaltfantasien vom Maßregelvollzug<br />
enttäuscht zu sein.<br />
Nicht alle sind therapierbar<br />
Sollten die Gutachter dem Straftäter<br />
Schmökel eine seine Schuld ausschließende<br />
seelische Störung bescheinigen, stellt<br />
sich die Frage, ob der Maßregelvollzug ihn<br />
tatsächlich noch bessern kann. Sind Sexualstraftäter<br />
überhaupt heilbar? Nicht alle!<br />
Unter den durchschnittlich vier bis sechs<br />
Jahre im Maßregelvollzug einsitzenden<br />
Tätern gibt es etliche, die nicht zu therapieren<br />
sind. Die ermittelten Zahlen<br />
schwanken stark, Experten sprechen von<br />
30 bis 60%.<br />
Schmökel hat seine achtjährige Klinikzeit<br />
nicht geholfen. Weder ist er geheilt<br />
noch konnte seine Unterbringung die öffentliche<br />
Sicherheit garantieren. Fast alle<br />
seine Gutachter sind inzwischen davon<br />
überzeugt, dass er nicht therapierbar ist.<br />
Nur sein ehemaliger Therapeut Michael<br />
Brand ist anderer Ansicht. „Ich stehe für<br />
eine Therapie weiterhin zur Verfügung“,<br />
sagte er kürzlich vor Gericht. Tatsächlich<br />
hatte Brand wohl eine herausgehobene<br />
Die Therapeuten, nach Rückfällen ihrer<br />
Patienten oft im Zentrum der Kritik, stecken<br />
in einem Dilemma. Schon von Berufs wegen<br />
müssen sie bei jedem Patienten erst einmal<br />
an die Möglichkeit seiner Heilung glauben.<br />
Stellung<br />
unter<br />
Schmökels<br />
Therapeuten.<br />
Ihm beichtete<br />
er telefonisch<br />
noch<br />
während seiner Flucht im Herbst 2000 die<br />
Ermordung des Rentners. Nicht ausgeschlossen<br />
aber auch, dass Brand sich<br />
täuscht – im Gerichtssaal würdigte Schmökel<br />
seinen Ex-Therapeuten kürzlich keines<br />
Blickes. Und auch früher schon war sein<br />
Einfluss auf den Kriminellen begrenzt. Erfolglos<br />
versuchte er Schmökel damals dessen<br />
geplanten Besuch bei seiner Mutter<br />
auszureden, weil diesen eine „überaus brisante,<br />
nach wie vor ambivalente und ungelöste<br />
Mutter-Beziehung“ plage. Zudem<br />
beging er noch den verhängnisvollen Fehler,<br />
der Klinikleitung nichts von seinen Erkenntnissen<br />
zu erzählen. Es könnte sein,<br />
dass Brand dem unter Therapeuten vorkommenden<br />
Glauben erlegen ist, nur er sei<br />
in der Lage, Zugang zum Patienten zu finden<br />
und ihn zu heilen.<br />
Untherapierbare gehören nicht in den<br />
Maßregelvollzug, meinen inzwischen viele<br />
Gutachter. Doch<br />
wohin mit denen,<br />
für die weder das<br />
Gefängnis noch<br />
das Krankenhaus<br />
der richtige Platz<br />
ist? Ein Wegsperren<br />
für immer widerspricht dem Resozialisierungsgedanken<br />
und damit wohl dem<br />
Grundgesetz. Verfassungsrechtlichen Bedenken<br />
begegnet auch das von einigen<br />
Experten in Extremfällen befürwortete<br />
Mittel der Zwangskastration. Ähnliches gilt<br />
für „objektive“ schematische Tests, wie sie<br />
ein Wissenschaftlerteam aus Kanada entwickelt<br />
hat. Die Einschätzung über die<br />
Therapierbarkeit beruht hier allein auf statistischen<br />
Erkenntnissen; wer eine bestimmte<br />
Risikopunktzahl überschreitet, gilt<br />
als dissozial und damit nicht heilbar.<br />
Die Therapie danach<br />
Ein praktikables und zugleich erfolgversprechendes<br />
Mittel gegen Rückfälle ist die<br />
psychologische oder psychiatrische Betreuung<br />
über den Tag der Entlassung aus dem<br />
Maßregelvollzug hinaus. Zwar wird den<br />
Patienten auch bisher schon für das Leben<br />
in Freiheit Unterstützung angeboten, eine<br />
obligatorische ambulante Weiterbehandlung<br />
gibt es aber derzeit nur in Hessen.<br />
Mit beachtlichen Erfolgen, die Rückfallquoten<br />
sanken dort deutlich. Für manche<br />
Patienten müsse die Möglichkeit bestehen,<br />
sie lebenslang begleiten zu können, fordern<br />
Ärzte deshalb. Das diene dem Schutz<br />
der Öffentlichkeit und sei auch noch billiger<br />
als eine stationäre Behandlung.<br />
Der öffentlichen Sicherheit dienlich<br />
wären auch schärfere Kontrollen in den<br />
psychiatrischen Kliniken. Allein in Bayern<br />
konnten in einem Zeitraum von anderthalb<br />
Jahren 96 Patienten aus geschlossenen<br />
Abteilungen der Bezirkskliniken entweichen,<br />
etliche davon begingen wieder<br />
Straftaten.<br />
Bringt ein härteres Sexualstrafrecht,<br />
wie es von Bundesregierung und Opposition<br />
gerade diskutiert wird, eine Besserung<br />
der Situation? Wenn, wie im Fall Schmökel,<br />
Patienten allein<br />
deshalb Ausgang<br />
erhalten,<br />
damit die Pfleger<br />
entlastet werden,<br />
spricht das eher<br />
für eine Aufstockung<br />
des Personals als für härtere<br />
Strafen. Auch in Gardinen versteckte Rasierklingen<br />
gehören dann vielleicht der<br />
Vergangenheit an.<br />
Doch auch die besten Maßnahmen<br />
werden nicht alle Rückfallstraftaten verhindern<br />
können, da sind sich Therapeuten<br />
wie Politiker einig. Ein Restrisiko bleibt<br />
immer.<br />
Für manche Patienten müsse die Möglichkeit<br />
bestehen, sie lebenslang begleiten zu können,<br />
fordern Ärzte deshalb. Das diene dem Schutz<br />
der Öffentlichkeit und sei auch noch billiger<br />
als eine stationäre Behandlung.<br />
justament dezember 2002<br />
15
Interview<br />
Die Banalität des Bösen beschreiben<br />
Vor Gericht behalten am ehesten die Reporter den Überblick. Als erfahrene Beobachter<br />
sehen sie oft mehr als die Beteiligten selbst. Ein Gespräch mit der Gerichtsberichterstatterin<br />
Gisela Friedrichsen.<br />
Man könnte fast sagen: „Dem Verbrechen<br />
sei Dank!“ - Denn die Ge-<br />
einer Verhandlung gegen Frank Schmökel.<br />
Frau Friedrichsen, Sie kommen gerade aus<br />
16 justament dezember 2002 richtsreportage hat fast immer Konjunktur.<br />
Nur im Sommer, wenn die<br />
Menschen glücklicher sind und weniger<br />
Kann die gewaltige Medienpräsenz bei spektakulären<br />
Strafverfahren Einfluss auf den<br />
Ausgang eines Verfahrens nehmen?<br />
gewalttätig, kann es auch in dieser<br />
Branche kriseln. Von dieser Beständigkeit<br />
profitieren nicht nur Strafverteidiger.<br />
Nein, ganz gewiss nicht. Da halte ich die<br />
Unabhängigkeit der Richter für viel zu<br />
Auch die Medien sind seit jeher ausgeprägt. Es interessiert überhaupt<br />
dankbare Abnehmer, denn der Stoff aus<br />
den Gerichtssälen ist kostenlos und<br />
stammt aus der edelsten Feder überhaupt:<br />
der der Wirklichkeit. Zu einem<br />
Zeitpunkt, in dem sich der Niedergang<br />
der TV-Gerichtsshow bereits erahnen<br />
lässt, erwacht in den Feuilletons der<br />
großen Tageszeitungen das Genre der<br />
Gerichtsreportage zu neuem Leben. Der<br />
Trend führt weg vom Blick in die Abgründe<br />
einer konstruierten Realität, hin<br />
zum Boden der Tatsachen, denn auch<br />
dort geht es erschreckend zu.<br />
Die Arbeit des Gerichtsreporters besteht<br />
hauptsächlich in der genauen Beobachtung<br />
eines Ortes, an dem professionell<br />
nach der Wahrheit gesucht wird.<br />
nicht, welche Medienvertreter anwesend<br />
sind. Auf der anderen Seite darf man natürlich<br />
nicht vergessen,<br />
dass die Medien<br />
eine wichtige Vermittlerfunktion<br />
zwischen<br />
Gerichtssaal und Öffentlichkeit<br />
wahrnehmen.<br />
Wenn beispielsweise der Leiter der<br />
unabhängigen Kommission zur Überprüfung<br />
des Maßregelvollzugs in Brandenburg,<br />
Herbert Schnoor, als Zeuge aussagt<br />
und auf diese Weise der Inhalt seines Berichts<br />
noch einmal thematisiert wird, ist es<br />
gut, dass die Medien dabei sind. Dadurch<br />
werden für viele Medienkonsumenten die<br />
Probleme des Maßregelvollzugs sichtbarer.<br />
Die Geschichten sind faszinierend und<br />
schauderhaft zugleich, weil sie einerseits<br />
Was meinen Sie damit?<br />
vom Bösen, dem Verbrechen, und<br />
andererseits von den banalen Wegen<br />
dorthin berichten. So stellt sich oft<br />
genug heraus, dass ein Mensch, von<br />
dem man annimmt, er sei ein veritables<br />
Monster, lediglich ein Opfer der Verhältnisse<br />
oder seines schlichten Verstandes<br />
ist. Gerichtsreporter operieren<br />
dabei oft in einem Spannungsfeld zwischen<br />
dem notwendigen Blick Richtung<br />
Auflage und dem Wunsch, die journalistische<br />
Aufgabe einer objektiven Berichterstattung<br />
erfüllen zu wollen. Das<br />
Ergebnis fällt dann auch – nicht selten<br />
abhängig vom Auftraggeber – mal<br />
mehr, mal weniger sensibel aus. Als eine<br />
derjenigen, die diesen Spagat als versierte<br />
und genaue Beobachterin souverän<br />
beherrscht, gilt Gisela Friedrichsen,<br />
die für das Nachrichtenmagazin „Der<br />
Spiegel“ fast alle spektakulären Prozesse<br />
der letzten Jahrzehnte verfolgt hat.<br />
Wir sprachen mit ihr in Neuruppin am<br />
Rande des Verfahrens gegen den Gewaltverbrecher<br />
Frank Schmökel.<br />
Die Problematik ist sehr vielschichtig. Bei<br />
den Insassen des Maßregelvollzugs handelt<br />
es sich einerseits um Patienten, also kranke<br />
Menschen, andererseits aber gleichzeitig<br />
um hochgefährliche Straftäter. Viele der<br />
Therapeuten sehen in den Insassen jedoch<br />
oft nur die Patienten. Daraus resultiert<br />
dann häufig eine Einstellung nach dem<br />
Motto: „Wir haben so lange miteinander<br />
gearbeitet, wir haben so viel erreicht, das<br />
muss doch was genützt haben!“. Man will<br />
diesen Menschen die Möglichkeit geben,<br />
in die Freiheit zu gehen und sich gut zu<br />
bewähren. Oftmals wird dabei die Seite der<br />
notwendigen Sicherung zu wenig beachtet.<br />
Dieses Spannungsverhältnis besteht im<br />
normalen Strafvollzug nicht. Dort stellt<br />
sich die Frage nach der Entlassung erst<br />
ganz zum Schluss, wenn die Strafe verbüßt<br />
ist. Im Maßregelvollzug dagegen steht die<br />
Therapie im Vordergrund, und zur Therapie<br />
gehört immer auch ein Ziel. Und dieses<br />
Ziel – die Heilung des Straftäters – soll<br />
damit erreicht werden, dass ihm die Entlassung<br />
in Aussicht gestellt wird.<br />
Frank Schmökel selbst hat seine Behandlung<br />
im Maßregelvollzug als völlig unzureichend<br />
kritisiert. Stellt diese scheinbar flexible Vollzugsform<br />
nicht doch eine unterschätzte Gefahr<br />
dar?<br />
Hier sollte man vorsichtig sein. Herr<br />
Schmökel sieht sich, wie viele Insassen, als<br />
Opfer des Maßregelvollzugs. Das halte ich<br />
aber für eine billige Masche. Denn man<br />
weiß ja, dass die Rückfallquote der aus<br />
Schmökel kam in einer bedenklichen Situation<br />
in den Maßregelvollzug, nämlich zu<br />
einer Zeit, als dieser in Brandenburg im<br />
totalen Umbruch war.<br />
dem Maßregelvollzug<br />
Entlassenen<br />
sehr viel geringer<br />
ist als<br />
die derjenigen,<br />
die im Strafvollzug gesessen haben.<br />
Schmökel kam allerdings in einer bedenklichen<br />
Situation in den Maßregelvollzug,<br />
nämlich zu einer Zeit, als dieser in Brandenburg<br />
im totalen Umbruch war: Es gab<br />
in der ehemaligen DDR seit 1968 so etwas<br />
nicht mehr, der Straftäter kam eben in den<br />
Strafvollzug. Nur wer wirklich krank war,<br />
wer beispielsweise einen Gehirntumor<br />
hatte und gleichzeitig Straftäter war, kam<br />
in die Psychiatrie. Aber diese Mischung aus<br />
Patient und zu sicherndem Täter war unbekannt.<br />
Nach der Wende gab es also die<br />
Situation, dass die Psychiatrien, die gar<br />
nicht zur Sicherung ausgelegt waren, mit<br />
hochgefährlichen Straftätern belegt waren.<br />
Es existierten hierfür weder die baulichen,<br />
noch die personellen Voraussetzungen. Es<br />
herrschte schlicht ein großes Tohuwabohu.<br />
Und das war natürlich für jemanden wie<br />
Schmökel, der nur an Flucht dachte, eine<br />
Situation, die er hervorragend ausnutzen<br />
konnte.<br />
Schmökel sitzt weiterhin im Maßregelvollzug,<br />
obwohl seine Therapierbarkeit inzwischen<br />
bezweifelt wird.<br />
Die Vorsitzende hat dem Sachverständigen<br />
die Überprüfung der Frage aufgegeben, ob<br />
Schmökel überhaupt therapierbar ist und<br />
vorgeschlagen, anderenfalls die Vollstrekkungsreihenfolge<br />
zu ändern, so dass<br />
Schmökel zunächst in den normalen Strafvollzug<br />
kommt. Das OLG Brandenburg hat<br />
sich allerdings dagegen erklärt und gesagt,<br />
dass ein Täter, der einmal im Maßregel-