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Titel - Justament

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Inhalt<br />

<strong>Titel</strong>thema<br />

Katharina Mohr 6<br />

Verteidiger im „Bremer Bunker-Mord“<br />

Ein junger Hamburger Strafverteidiger und sein erster<br />

großer Prozess.<br />

Andrea Frank 8<br />

Pflicht- und Strafverteidigung aus Leidenschaft<br />

Rechtsanwältin Seyran Ates aus Berlin übt ihren Beruf<br />

aus Überzeugung aus.<br />

Christian Frenzel 10<br />

Standgerichte im Rechtsstaat?<br />

Das umstrittene beschleunigte Verfahren<br />

nach §§ 417 ff StPO.<br />

Thomas Claer 12<br />

25 Jahre deutscher Herbst und der moderne Terror<br />

Der moderne Terror als ständiger Begleiter<br />

der Menschheit.<br />

Jürgen Jaskolla 14<br />

Ein Restrisiko bleibt<br />

Der Maßregelvollzug in der Kritik.<br />

Georg Prasser 18<br />

Sexualstraftäter – besteht Handlungsbedarf?<br />

Strafverschärfung dient nicht dem Opferschutz.<br />

Interview<br />

Die Banalität des Bösen beschreiben 16<br />

Ein Gespräch mit der „Spiegel“ - Gerichtsreporterin<br />

Gisela Friedrichsen.<br />

Ausbildung<br />

Lutz Niemann 20<br />

Deutsche Botschaft Pretoria, Südafrika<br />

Wie die Wahlstation zu einem Erlebnis wird.<br />

Kanzleireport<br />

Patrick Knäble 22<br />

Just married – eine neue Kraft für Europa<br />

Zu Besuch bei Taylor Wessing in Berlin.<br />

Literatur<br />

Oliver Tolmein, 23<br />

Vom Deutschen Herbst zum 11. September<br />

Michael Hardt/Antonio Negri,<br />

Empire, Die neue Weltordnung 24<br />

Raymond Geuss, Privatheit, Eine Genealogie 25<br />

Monika Anders/Burkhard Gehle,<br />

Das Assessorexamen im Zivilrecht 26<br />

Foto-Love<br />

Just-a-moment in Love<br />

Frauke, die fiese Ex 28<br />

Service<br />

Editorial 4<br />

Foto-Love-Casting 2003 26<br />

Jana Seeliger 27<br />

Referendare on tour – Die Referendarstudienfahrt<br />

Impressum 30<br />

justament dezember 2002<br />

3


Editorial<br />

Königsdisziplin Strafverteidigung<br />

ach soviel Universität ist die Praxis der Juri-<br />

während der Referendarszeit wie ein<br />

Nsterei<br />

römisches Dampfbad. Die einen fühlen sich nun<br />

pudelwohl, und für die anderen ist es unerträglich.<br />

Schuld an der Polarisierung ist der Zauber<br />

des Anfangs, der auch die spröde Juristerei in ein<br />

besonderes Licht taucht. Ein Licht, durch das<br />

Macht aufscheint und dessen Faszination eine<br />

Unheimlichkeit besitzt, die wir bis dahin nicht<br />

kannten. Ein unangenehmes Gefühl und besonders<br />

deutlich wird es, wenn Du zum ersten<br />

Mal die schwarze Robe übergestreift hast und im<br />

staatsanwaltlichen Sitzungsdienst das Schlussplädoyer<br />

hältst. Du stehst aufgeregt, die Hände<br />

locker vor dem Körper und machst am Ende der<br />

Verhandlung Ausführungen zum Strafmaß. In<br />

der Stille, die entsteht, wenn du eine kleine Pause<br />

machst, kann man den Blick des Angeklagten<br />

spüren. Das Leben des jungen Mannes soll sich<br />

ändern und Du wirst dazu einen Anstoß geben;<br />

kleiner Referendar ganz groß.<br />

Dann ist es vorbei. Der Kaffee in der Kantine<br />

schmeckt und beim Gespräch mit dem Vertreter<br />

der Jugendgerichtshilfe stellt sich heraus, dass<br />

zum Beispiel im Monat November von den verhandelten<br />

Angeklagten über 70 % (!!!) Wiederholungstäter<br />

waren. Das sei nun doch außergewöhnlich<br />

hoch, es zeigt aber, dass sich im Leben<br />

des Heranwachsenden über den eben verhandelt<br />

wurde, wahrscheinlich doch nicht so viel ändern<br />

wird. Und wenn sich etwas ändert, dann ist das<br />

sicher nicht den gut gemeinten staatsanwaltlichen<br />

Anträgen des Referendars zu danken,<br />

zumal sich der Richter in seinem Urteilsspruch<br />

ohnehin nicht daran gehalten hat.<br />

Kommt etwas Routine ins Spiel, merkt man<br />

sehr schnell, dass Gerechtigkeit gerade im Strafrecht<br />

etwas mit Arbeit zu tun hat und dass dem<br />

Machtgefühl, dass einem eben noch Kopfzerbrechen<br />

bereitet hat, wohl jedes tatsächliche Fundament<br />

fehlt. Die Lösung eines Falles liegt - und<br />

das sollte man nicht müde werden sich bewusst<br />

zu machen - nicht im „Gerechtigkeitsgefühl“ des<br />

so oder so gelaunten Juristen, sondern allein im<br />

Gesetz.<br />

Natürlich darf man das Quäntchen Verantwortung,<br />

dass man als Referendar oder als Referendarin<br />

übertragen bekommen hat, nicht vorschnell<br />

einem Formalismus opfern und wie eine<br />

Subsumptionsmaschine, die Gerechtigkeit an der<br />

dritten Nachkommastelle eines BAK-Wertes festmachen.<br />

Diese Verantwortung ist wichtig, denn<br />

sie ist der Motor für den Willen, dem Guten in<br />

4 justament dezember 2002<br />

der Welt doch irgendwie auf die Sprünge zu helfen.<br />

Im Strafrecht gibt es eine andere Dimension<br />

von Gerechtigkeit als im Zivilrecht, im dem es im<br />

Prinzip „nur“ um die gerechte Verteilung des<br />

schnöden Mammons geht. Pi mal Daumen bedeutet<br />

das: „Jedem das seine“ und „Allen gleich“.<br />

Im Strafrecht dagegen hat man das Gefühl, das<br />

der hinter dem Gesetz stehende Wertekanon viel<br />

moralischer und komplexer ist, weil die Faustregel<br />

nun „Gut gegen Böse“ heißt. Und das heißt<br />

eben nicht nur schwarz/weis sehen zu können,<br />

sondern auch einzelne Grautöne unterscheiden<br />

zu müssen.<br />

Die Leute auf der Straße haben eine klare<br />

Vorstellung von Strafverteidigern. In der öffentlichen<br />

Meinung sind sie entweder die am Leben<br />

gescheiterten Pflichtverteidiger, die alle Scheine<br />

viel zu knapp geschlagen haben und die, ob ihrer<br />

Unfähigkeit, eigentlich schon Teil der noch zu<br />

verhängenden Sanktion sind. Oder sie sind Komplizen<br />

des Bösen: Die Männer, die im Nadelstreifenanzug<br />

skrupellos Kinderschänder „rausboxen“,<br />

nur, um damit richtig Geld zu machen. Ein<br />

guter Strafverteidiger müsse sich nicht besonders<br />

gut im Strafgesetz auskennen, sondern vielmehr<br />

in der StPO. Mit geschickten Anträgen zu rechten<br />

Zeit, strategischen Tricks und Gesetzeslücken<br />

stünde er einer „gerechten“ Strafzuführung nur<br />

im Wege.<br />

Was es wirklich bedeutet, Strafverteidiger zu<br />

sein, was es bedeutet, sich mit dahinterliegenden<br />

Werten auseinander zu setzen und was es in der<br />

Praxis heißt, Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen,<br />

haben wir in versucht in diesem Heft zu zeigen.<br />

In der Strafverteidigung gibt es wohl die schillerndsten<br />

Figuren unter den Anwälten. Sie alle<br />

zeichnet aus, dass sie den Kampf um Gerechtigkeit<br />

oder das „Gute im<br />

Menschen“ entschlossen<br />

führen. Immer noch beseelt<br />

von dem Zauber<br />

,etwas bewirken zu können.<br />

Auch wenn der Alltag<br />

uns glauben machen<br />

will, dieser Zauber sei<br />

nur eine Illusion. Es<br />

kommt darauf an ihm<br />

festzuhalten.<br />

Jörg-Ulrich Weidhas<br />

Leitender Redakteur


„Der Praxiskommentar schlechthin.“<br />

Dr. jur. Eveline Teufert-Schwind, in: Archiv für Kriminologie 07-08-2001, zur Vorauflage<br />

Tröndle / Fischer<br />

Strafgesetzbuch<br />

und Nebengesetze<br />

Erläutert von Prof. Dr. Herbert Tröndle, Präsident des LG a. D. (38. bis 49. Auflage).<br />

Fortgeführt von Prof. Dr. Thomas Fischer, Richter am BGH. 51. Auflage des von Otto Schwarz<br />

begründeten und in der 23. bis 37. Auflage von Eduard Dreher bearbeiteten Werkes<br />

51., neu bearbeitete Auflage. 2003<br />

LIII, 2415 Seiten. In Leinen € 66,–<br />

ISBN 3-406-49387-4<br />

Erscheinungstermin: Ende November 2002<br />

Jedem Strafjuristen bietet der „Tröndle/Fischer“ alles, was an aktuellem Wissen nötig ist.<br />

Wer den Kommentar besitzt, kann sicher sein, eine komplette Übersicht über jede Gesetzesänderung<br />

und über jede wichtige Gerichtsentscheidung zu haben.<br />

Die 51. Auflage<br />

informiert Sie über alle relevanten Entwicklungen des deutschen Strafrechts in den letzten<br />

Monaten - präzise, zuverlässig und vollständig.<br />

13 Änderungsgesetze, 28 geänderte Vorschriften:<br />

Die Neuauflage verarbeitet u.a.:<br />

● das Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde vom 12.4.2001 mit Einfügung des § 143<br />

● das Untersuchungsausschussgesetz vom 19. 6. 2001 mit Anfügung von § 153 II<br />

● das Prostitutionsgesetz vom 20. 12. 2001 mit Neufassung der §§ 180a, 181a<br />

● das einschlägige Gesetz zur Einführung des Euro<br />

● das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz vom 19. 12. 2001 mit Änderung von § 261<br />

● das Gesetz zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches vom 26.6.2002 mit Aufhebung der<br />

§§ 6 Nr. 1 und 220a sowie Änderung der §§ 78 II, 79 II, 126 I Nr. 2, 129a I Nr. 1, 130 III,<br />

138 I Nr. 6, 139 III Nr. 2<br />

● die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.3.2002, durch welche § 43a (Verhängung<br />

der Vermögensstrafe) für verfassungswidrig und nichtig erklärt wurde, und von<br />

der weitere Vorschriften betroffen sind<br />

● das Zuwanderungsgesetz mit Änderung der §§ 261, 276a<br />

● das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz mit Änderung des § 266a<br />

● das Gesetz zur Ausführung des Zweiten Protokolls mit Änderung der §§ 14, 75, 149, 299<br />

● das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung mit Einführung des § 66a<br />

● das 34. StÄG mit Einführungen des § 129b.<br />

Neubearbeitungen<br />

● im Allgemeinen Teil betreffen u.a.: die Regelungen über die Schuldfähigkeit, die Vorschriften<br />

über die Freiheits- und die Geldstrafe, das Fahrverbot, den Täter-Opfer-Ausgleich, die Verhängung<br />

kurzer Freiheitsstrafen und die Anrechnung, die Strafaussetzung, den Verfall<br />

● im Besonderen Teil betreffen u.a.: Abgeordnetenbestechung, die Straftaten gegen die<br />

öffentliche Ordnung, den ganzen Abschnitt über Betrug und Untreue, die Vorschriften über<br />

den Geheimnisverrat und über die Sachbeschädigung<br />

Neue Erläuterungen<br />

zu aktuellen Fragen verarbeiten u.a. Entscheidungen des BGH<br />

● zum Begriff der Bande ● zur Strafvereitelung durch Verteidigerhandeln ● zur Geldwäsche<br />

durch Annahme von Verteidigerhonorar ● zur Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen<br />

● zum Begriff des gefährlichen Werkzeugs ● zum Tatort und zur tatbestandlichen<br />

Handlung bei Äußerungs- und Verbreitungsdelikten im Internet ● zur Untreue.<br />

FAX-COUPON<br />

Ja, ich bestelle<br />

Expl. 3-406-49387-4<br />

Tröndle/Fischer · Strafgesetzbuch und Nebengesetze<br />

51. Auflage. 2003. In Leinen e 66,– inkl. MwSt., zzgl. Vertriebskosten<br />

Name/Firma<br />

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Tröndle/Fischer<br />

Strafgesetzbuch<br />

und Nebengesetze<br />

51. Auflage<br />

Eingearbeitet.<br />

14 StPO-Novellen<br />

· Zustellungsreformgesetz · Einführung der §§ 100g, 100h, 100i<br />

· Neuregelung des Zeugnisverweigerungsrechts der<br />

Medienmitarbeiter · Einführung des Völkerstrafgesetzbuches<br />

· 34.Strafrechtsänderungs-Gesetz · und vieles mehr<br />

"Keiner kann ihn ersetzen."<br />

RAMichael Rosenthal in NJW 10/2002, zur Vorauflage<br />

„ ... zu Recht wohl am meisten benutzte(r)<br />

und deshalb wichtigste(r) Kommentar zum<br />

StGB ... Der Benutzer freut sich über eine<br />

nochmals verbesserte Handhabbarkeit ...“<br />

VRiLG Dr. jur. Thomas Wolf, in: Der Deutsche Rechtspfleger 11/2001<br />

Datum/Unterschrift B/126424<br />

Sie haben das Recht, die Ware innerhalb von 2 Wochen nach Lieferung ohne<br />

Begründung an Ihren Buchhändler oder an den Verlag C.H.Beck , c/o Nördlinger<br />

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<strong>Titel</strong><br />

Verteidiger im<br />

„Bremer Bunker-Mord“<br />

Die Brutalität der Tat ist erschreckend. Dennoch gilt: Jeder Täter hat Anspruch auf eine<br />

gute Verteidigung. Ein junger Strafverteidiger in Hamburg und sein erster großer Prozess.<br />

Gibt es eigentlich einen spannenderen<br />

Beruf, als Strafverteidiger zu sein? Für<br />

Philipp Götze, seit einem Jahr Rechtsanwalt<br />

in Hamburg, lautet die Antwort:<br />

„Nein! Strafverteidiger ist das Interessanteste,<br />

was ich mir vorstellen kann.“<br />

Kein Wunder; bereits nach einem Jahr<br />

ist Götze Verteidiger in dem unter dem<br />

Namen „Bremer Bunker-Mord“ bekannt<br />

gewordenen Prozess, der seit dem 14. Oktober<br />

am Bremer Landgericht neu aufgerollt<br />

wird. Die wegen Totschlags an zwei<br />

Kurden zu 13 bis 15 Jahren Haft verurteilten<br />

Angeklagten müssen sich erneut verantworten.<br />

Die Staatsanwaltschaft hatte<br />

Revision eingelegt, weil sie die Tat als<br />

Mord bewertet. Dies sah der Bundesgerichtshof<br />

ähnlich und verwies das Verfahren<br />

zurück an eine andere Strafkammer<br />

des Bremer Landgerichts (BGH, Urteil vom<br />

20.2.2002 – 5 StR 538/01).<br />

Als Verteidiger fungieren in Bremen<br />

solche prominenten Anwälte wie Rolf<br />

Bossi und Dr. Josef Gräßle-Münscher. Über<br />

letzteren ist auch Götze zu dem Prozess<br />

gekommen. Bereits in seinem Referendariat<br />

verbrachte er eine Station in der Kanzlei<br />

von Gräßle-Münscher in Hamburg. Schon<br />

da wurde er in großen Fällen mit einbezogen<br />

und kurz nach dem 2. Staatsexamen<br />

unterstützte er Gräßle-Münscher in einem<br />

großen Betäubungsmittelprozess; allerdings<br />

nur im Hintergrund. Jetzt bat Gräßle-Münscher<br />

ihn, als zweiter Strafverteidiger<br />

in dem neu aufgerollten Prozess in<br />

Bremen aufzutreten. 26 Verhandlungstage<br />

Philipp Götze (31)<br />

ist seit 2001<br />

Rechtsanwalt in der<br />

Kanzlei Götze Rechtsanwälte,<br />

Hamburg.<br />

Katharina Mohr<br />

sind angesetzt, Ende Februar 2003 soll die<br />

Entscheidung ergehen.<br />

Bunker-Mord<br />

Der Tatablauf steht bei diesem Prozess<br />

fest, neu muss aber über die Frage des<br />

Motivs und der Schuldfähigkeit, sowie insgesamt<br />

über das Strafmaß entschieden<br />

werden. Opfer der Tat waren das kurdische<br />

Paar A und D, das gegen den Willen des<br />

Vaters der D zusammen war und schließlich<br />

auch nach islamischem Recht geheiratet<br />

hatte. Der Vater der D fühlte sich in seiner<br />

Ehre verletzt, denn der querschnittsgelähmte<br />

und auch in Deutschland von<br />

PKK-Sympathisanten als Kriegsheld verehrte<br />

A war ihm<br />

nicht gut genug<br />

für seine Tochter.<br />

Um seine Ehre<br />

wieder herzustellen, hatte er den Gebietsverantwortlichen<br />

der PKK für die Stadt<br />

Bremen aufgefordert, etwas gegen die Beziehung<br />

zu unternehmen. Letzterer gab<br />

schließlich den Tötungsauftrag an die drei<br />

Angeklagten T, To und M.<br />

Im Urteil heißt es weiter: „In den Morgenstunden<br />

des 24. August 1999 befahl er<br />

zunächst den Angeklagten To und M und<br />

kurz darauf auch dem Angeklagten T, den<br />

A und die D zu töten. Die Angeklagten<br />

waren zwar ,konsterniert über den ihnen<br />

gegebenen Tötungsbefehl’ . Sie versuchten<br />

den Tötungsbefehl abzuwenden, unterwarfen<br />

sich diesem aber schließlich. Die<br />

Angeklagten fuhren unter einem Vorwand<br />

mit den beiden Opfern zu einer einsam gelegenen<br />

Stelle am Außendeich der Weser.<br />

Nachdem alle Personen aus dem Fahrzeug<br />

ausgestiegen waren, begannen die Angeklagten<br />

mit der Tötung der beiden Opfer,<br />

ohne auf deren Flehen zu reagieren. Zunächst<br />

packten die Angeklagten T und To<br />

die D an den Armen und zogen sie über<br />

die Deichkrone etwa 75 Meter weit in<br />

Richtung des Weserufers. Sodann wurde<br />

ihr Kopf mehrere Minuten in den Schlick<br />

gedrückt, bis sie erstickte. Um ihren Tod<br />

sicherzustellen, wurde auf ihren Kopf noch<br />

Schlick aufgehäuft. Die Angeklagten T<br />

und To wendeten sich nun dem A zu, der<br />

Die Brutalität der Tat ist unbestritten. Aber<br />

dieser Mandant braucht seine Verteidiger.<br />

sich in der Nähe des Autos befand. Einer<br />

der beiden Angeklagten schlug mit einem<br />

Radmutterschlüssel elfmal mit Wucht auf<br />

dessen Kopf ein. Außerdem wurde weitere<br />

Gewalt gegen ihn angewendet, so dass er<br />

unter anderem mehrere Schädelbrüche erlitt.<br />

Zusätzlich fuhr der Angeklagte M mit<br />

dem Fahrzeug zweimal gegen das auf dem<br />

Boden liegende Opfer und schleifte es mit.<br />

Nach etwa 15 bis 30 Minuten verstarb A.“<br />

Eine Heerschar von Juristen<br />

Der Prozess beschäftigt Götze nicht nur an<br />

den Tagen in Bremen, sondern eigentlich<br />

rund um die Uhr, einmal, weil es so viel zu<br />

tun gibt. Aber auch wegen der Brutalität<br />

der Tat. Man<br />

denke viel darüber<br />

nach, was in<br />

diesen Männern<br />

während der Tat vorgegangen ist, sagt<br />

Götze. Sein Mandant ist ein 36-jähriger<br />

Familienvater, der als Kind und Jugendlicher<br />

in der Türkei Schafe hütete und die<br />

Schule über fünf Jahre nur sporadisch besuchte.<br />

Götze hat die 25 Leitz-Ordner Ermittlungsakten<br />

gesichtet und auch Fotos<br />

der Opfer gesehen.<br />

In seiner Urteilsbegründung ging der<br />

5. Strafsenat auch auf die Besonderheiten<br />

der kurdischen Gemeinschaft und der Andersartigkeit<br />

der Kultur ein. Er wies auf die<br />

Verstrickung der Angeklagten in PKK-<br />

Strukturen hin und berücksichtigte auch<br />

soziale Hintergründe, etwa die Einbindung<br />

der Täter in Traditionen und Ehrbegriffe<br />

ihrer Heimat, nach denen die Liebesbeziehung<br />

als unschicklich galt.<br />

All dies ist kein Entschuldigungsgrund.<br />

Und doch, alle am Verfahren Beteiligten<br />

müssen sich mit dem besonderen Umfeld<br />

von Tätern und Opfern vertraut machen.<br />

Informationen<br />

Der Fall ist Gegenstand verschiedener Beiträge<br />

gewesen, so zum Beispiel in JA 2002, 749<br />

zum Mordmerkmal „niedrige Beweggründe“,<br />

NStZ 2002, 360. Das Urteil des BGH kann<br />

man nachlesen auf www.bundesgerichtshof.de<br />

6<br />

justament dezember 2002


<strong>Titel</strong><br />

„Man muss sich von der westlichen Denkweise<br />

lösen und sich die politischen und<br />

kulturellen Zusammenhänge erarbeiten.<br />

Man taucht in eine völlig fremde Welt<br />

ein“, sagt Götze, der gemeinsam mit Gräßle-Münscher<br />

der einzige Ansprechpartner<br />

für die Angehörigen ihres Mandanten ist.<br />

Die Verteidiger fahren regelmäßig nach<br />

Bremen, nicht nur zu den Verhandlungstagen,<br />

sondern auch um ihren Mandanten in<br />

der JVA zu besuchen und mit ihm das Verfahren<br />

sowie das weitere Vorgehen zu besprechen.<br />

Alles per Dolmetscher, denn ihr<br />

Mandant spricht selber kein Deutsch, versteht<br />

nur wenige Worte. Er leidet außerdem<br />

an einer schweren Form von Diabetes<br />

und Götze kümmert sich um die Frage, inwieweit<br />

die Krankheit Einfluss auf die<br />

Schuldfähigkeit gehabt haben könnte. Die<br />

Verhandlung muss regelmäßig unterbrochen<br />

werden, damit der Mandant sich das<br />

lebensrettende Insulin spritzen kann.<br />

Götze sitzt also selber an jedem Verhandlungstag<br />

mit im Gerichtssaal, wenn<br />

unter Beisein einer Heerschar von Juristen,<br />

Dolmetschern und Gutachtern die Verhandlung<br />

läuft. Verhandelt wird vor dem<br />

Schwurgericht, bestehend aus drei Richtern<br />

und zwei Schöffen. Jeder der drei Angeklagten<br />

hat zwei Verteidiger und einen<br />

Dolmetscher, ein unabhängiger Dolmetscher<br />

ist dabei, um im Zweifel für die richtige<br />

Übersetzung zu garantieren; außerdem<br />

sind ständig Gutachter anwesend, die<br />

die Schuldfähigkeit der Angeklagten beurteilen<br />

sollen.<br />

Ganz oder gar nicht<br />

Philipp Götze sieht es für sich als jungen<br />

Rechtsanwalt als eine riesige Chance, an so<br />

einem Prozess beteiligt sein zu können. In<br />

den Verhandlungspausen sprechen die<br />

Verteidiger untereinander nicht nur über<br />

das laufende sondern auch über alte Verfahren.<br />

Man lernt enorm viel und wird<br />

auch als junger Verteidiger von den anderen<br />

mit einbezogen.<br />

Und wie schafft man es, bei all der<br />

Brutalität nicht zu verzweifeln? „Es ist erstaunlich,<br />

wie sachlich man an die Sache<br />

herangeht. Die Brutalität der Tat ist unbestritten.<br />

Aber dieser Mandant braucht<br />

seine Verteidiger und wenn man das Mandat<br />

übernommen hat, dann tut man alles<br />

dafür, damit seine Rechte gewahrt werden.<br />

Das ist schließlich die Aufgabe des Strafverteidigers:<br />

zu gewährleisten, dass der<br />

Mandant ein rechtsstaatliches und faires<br />

Verfahren bekommt.“ Für Götze gilt<br />

außerdem „Ganz oder gar nicht“: „Ich<br />

muss als Strafverteidiger in der Lage sein,<br />

jeden Mandanten zu verteidigen. So etwas<br />

wie: ,Mörder verteidige ich nicht. ’ kommt<br />

für mich nicht in Frage.“<br />

justament dezember 2002<br />

7


<strong>Titel</strong><br />

Pflicht- und Strafverteidigung<br />

aus Leidenschaft<br />

Es gibt Anwälte, die ihren Beruf nur aus Verlegenheit ausüben. Das trifft auf Rechtsanwältin<br />

Seyran Ateş jedoch ganz bestimmt nicht zu.<br />

Andrea Frank<br />

Seyran Ateş, seit fast acht Jahren Strafverteidigerin<br />

in Berlin, übt ihren Beruf<br />

aus Überzeugung aus. Nicht umsonst bedeutet<br />

ihr türkischer Name Ateş übersetzt<br />

„Feuer“. Selbst dem, der nicht in diesem<br />

Sinne abergläubig sein möchte, sei versichert:<br />

Hier ist „nomen“ tatsächlich<br />

„omen“. Bereits die Art, mit der Rechtsanwältin<br />

Ateş auf die ihr gestellten Fragen<br />

antwortete, ließ ahnen, mit welch´ feurigen<br />

Einsatz sie sich sonst auch für<br />

ihre Mandanten und Mandantinnen ins<br />

Zeug legt.<br />

Die prägende Kindheit<br />

Im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern<br />

und zwei Geschwistern aus der Türkei<br />

nach Berlin gekommen war, hat sie sich<br />

bereits in der Schule nicht „die Butter vom<br />

Brot nehmen lassen“.<br />

Sie setzte<br />

sich von Anfang<br />

an für die Rechte<br />

der anderen ein:<br />

Lange Zeit war sie Schulsprecherin. Darüber<br />

hinaus war sie in der Familie zuständig<br />

für Übersetzungen der Behördenschreiben,<br />

mit denen Eltern und Verwandte konfrontiert<br />

wurden. Da sich ihre Fähigkeiten im<br />

Umgang mit dem oft unverständlichen Beamtendeutsch<br />

wie ein Lauffeuer herumsprachen,<br />

wurde sie bei ihren türkischen<br />

Landsleuten eine vielfrequentierte Instanz<br />

bei der Abwicklung von Korrespondenz<br />

mit Ausländerämtern und Behörden. Seyran<br />

Ateş Feuer für die Juristerei wurde vor<br />

allem dadurch entfacht, als sie bemerkte,<br />

dass die Leute sich oft einfach beugten,<br />

weil sie sich rechtlos fühlten. Diesen Zustand<br />

konnte sie nicht akzeptieren. Kein<br />

Wunder also, dass für Seyran Ateş schon<br />

mit fünfzehn feststand, dass sie Rechtsanwältin<br />

werden würde. Für Frau Ateş gibt es<br />

bis heute nichts Schlimmeres als Rechte zu<br />

haben und diese nicht zu kennen. Denn zu<br />

oft musste sie erleben, wie Frauen wegen<br />

dieser Unkenntnis litten.<br />

Traumberuf Strafverteidigerin<br />

1997 war es dann soweit. Das Zeugnis des<br />

zweiten Examens in der Tasche beantragte<br />

sie sofort ihre Zulassung als Anwältin und<br />

machte sich ohne große Umschweife auf<br />

die Suche nach geeigneten Räumen. „Ich<br />

fuhr nicht erst in Urlaub sondern fing<br />

gleich an. Schliesslich warteten unzählige<br />

Leute seit Jahren darauf, dass ich sie als<br />

Anwältin endlich vertreten durfte.“<br />

Bereits während des gesamten Referendariats<br />

arbeitete sie zwei Jahre bei einem<br />

Freund in der Kanzlei und verdiente sich<br />

hierdurch schon einen guten Ruf. Durch<br />

ihre tägliche intensive Arbeit in der Kanzlei<br />

lernte sie schnell kennen, was praktische<br />

anwaltliche Tätigkeit bedeutet. Diesen<br />

Pluspunkt kann sie heute gar nicht hoch<br />

genug einschätzen. Darüber hinaus war sie<br />

im Referendariat und auch schon während<br />

des Studiums gefragte Beraterin in Frauenberatungsstellen<br />

und machte daneben<br />

Übersetzungen für türkische Frauen. Hierdurch<br />

wurde sie<br />

„Ich fuhr nicht erst in Urlaub, sondern fing<br />

gleich an. Schließlich warteten unzählige<br />

Leute seit Jahren darauf, dass ich sie als Anwältin<br />

endlich vertreten durfte.“<br />

frühzeitig mit<br />

den spezifischen<br />

Problemen der<br />

Frauenrechte<br />

vertraut gemacht. Seyran Ateş war also<br />

durchaus keine Unbekannte mehr, als sie<br />

dann in Berlin ihre eigene Kanzlei eröffnete.<br />

Frau Ates, wie sind Sie als Frau dazu<br />

gekommen, Strafverteidigerin zu werden?<br />

Immerhin ist dies ein Bereich, der nach<br />

wie vor männerdominiert ist .<br />

Seyran Ates: „Ja, das stimmt, es gibt<br />

wenige Frauen, die sich auf das glatte Eis<br />

des Strafrechts wagen. Ich bin allerdings<br />

zum Strafrecht gekommen wie die Jungfrau<br />

zum Kinde. Ursprünglich habe ich<br />

mich mit Zivilrecht beschäftigt. Auch während<br />

meiner Ausbildung war dies mein<br />

Schwerpunkt. Ich habe sogar bei einer<br />

Mietergemeinschaft<br />

gearbeitet.<br />

Während<br />

des Referendariats<br />

war mein<br />

Wahlfach dann Wettbewerbs- und Kartellrecht.<br />

Nach einer Weile des Alleinwirkens<br />

beschloss ich dann aber, eine Kollegin für<br />

den Bereich Strafrecht mit in die Kanzlei<br />

zu nehmen. Ich begann also - noch bevor<br />

diese Kollegin bei mir anfing - Mandanten<br />

zu akquirieren. Im Zuge dessen bekam ich<br />

einige Akten zu Gesicht und merkte bald,<br />

dass ich es mit einer äusserst spannenden<br />

Materie zu tun hatte. Innerhalb relativ<br />

kurzer Zeit arbeitete ich mich in das Strafrecht<br />

ein. Ich würde sagen, das Strafrecht<br />

hat mich `angesprungen`.“<br />

Frau Ateş erklärt, was ihr besonders an<br />

der Tätigkeit als Strafverteidigerin gefällt:<br />

„Es ist vor allem auch die Abwechslung.<br />

Jeden Tag nur Akten hinter´m Schreibtisch<br />

zu wälzen ist auf die Dauer nicht so spannend.<br />

Mir gefällt es, unterwegs zu sein,<br />

auch die häufigen Besuche im Gefängnis.<br />

Insgesamt ist der Ablauf abwechslungsreicher<br />

als bei „normalen“ Zivilrechtsfällen.<br />

Hinter so gut wie jedem strafrechtlichen<br />

Fall versteckt sich eine interessante Lebensgeschichte.<br />

Das reizt mich besonders.“<br />

Umgekehrt gibt Frau Ateş aber auch<br />

zu, dass die Mandanten im Strafprozess<br />

oft schwieriger sind als ihre Pendants im<br />

Zivilprozess. Dies sei aber auch gut nachvollziehen.<br />

Denn angesichts der Lebensabgründe<br />

in die diese manchmal blicken<br />

müssten, könne eben nicht immer nur<br />

Harmonisches und Gutes zum Vorschein<br />

kommen. Doch die Rechtsanwältin lässt<br />

sich davon nicht abgeschrecken, sondern<br />

empfindet es als Herausforderung, neben<br />

ihren juristischen auch ihre psychologischen<br />

Fähigkeiten einzusetzen zu können<br />

und diese noch weiter zu entwickeln. Insgesamt<br />

fühlt sie sich von der Abwechslung<br />

und Tiefe, die ihr ihre Rolle als Strafverteidigerin<br />

bietet, für diese zusätzlichen<br />

Mühen entschädigt.<br />

Gibt es Fälle, die Sie auf keinen Fall annehmen<br />

würden?<br />

Klar und bestimmt antwortet sie auf<br />

diese Frage: „Ja. keine Vergewaltigung,<br />

„Ein guter Strafverteidiger sollte ruhig selbst<br />

eine gesunde Portion Neurose mitbringen und<br />

ein bisschen verrückt sein.“<br />

keine Gewalt<br />

gegen Frauen und<br />

keinen Missbrauch<br />

an Frauen und vor<br />

allem Kindern.“<br />

Hier könne sie nicht die nötige Distanz<br />

aufbauen. Ausserdem könne sie ein entsprechendes<br />

Mandat auf gar keinen Fall<br />

mit ihrem eigenen Weltbild vereinbaren.<br />

Grundsätzlich sei es Frau Ateş aber<br />

noch nie passiert, dass sie einen Fall von<br />

vornherein abgelehnt hätte. Nur einmal<br />

8<br />

justament dezember 2002


<strong>Titel</strong><br />

habe sie ein Mandat gekündigt, als sie dahinter<br />

kam, dass ihr Mandant sie nach<br />

Strich und Faden belogen hatte. Das Wichtigste<br />

im ersten Gespräch mit einem Mandanten,<br />

der von ihr verteidigt werden<br />

möchte, sei, dass dieser „die Hosen runterlässt“.<br />

Sie müsse wissen, „ob die Geschichte<br />

o.k. ist“.<br />

Die Strafverteidigerin Ateş betont aber,<br />

sie sei sich darüber absolut im Klaren , dass<br />

es gerade im Strafprozess dazugehöre,<br />

dass der Mandant andere Gerechtigkeits –<br />

und Moralvorstellungen habe als sie selbst.<br />

Strafprozess und Anwaltstätigkeit hätten<br />

eben selten etwas mit Gerechtigkeit und<br />

noch seltener mit Moral zu tun. Zudem ist<br />

sie der Ansicht, dass ein Jurist, der sich zur<br />

Strafverteidigung berufen fühle, immer<br />

auch ein bisschen eigene kriminelle Anlagen<br />

besitzen müsse. Sie lächelt und fügt<br />

hinzu: „Aber eben nur in der Fantasie, dass<br />

möchte ich betonen“.<br />

Die Verteidigerin fügt gleich hinzu,<br />

dass ein guter Strafverteidiger auch ruhig<br />

selbst eine gesunde Portion Neurose mitbringen<br />

und irgendwie ein bisschen verrückt<br />

sein dürfe, wenn nicht sogar solle.<br />

Frau Ates lächelt, betont jedoch nochmals,<br />

dass ihre These durchaus ernst zu nehmen<br />

sei. Vor allen Dingen sei es sehr wichtig,<br />

dass die „Chemie“ mit dem Mandanten<br />

stimme, dass also Mandantin oder Mandant<br />

spürten, vom Anwalt auf irgendeine<br />

Weise verstanden zu werden, diesem nahe<br />

zu stehen. Aber<br />

das Grundgefühl<br />

zwischen Verteidiger<br />

und Mandant<br />

sollte einfach<br />

stimmen. Aus dieser Überlegung erklärt<br />

sich Seyran Ateş auch die Tatsache,<br />

dass die Strafverteidiger sich gegenüber<br />

ihren Kollegen und Kolleginnen aus dem<br />

Zivilrecht immer exotisch herausheben.<br />

Der Kampf um Gerechtigkeit<br />

Schlüsselerlebnis im Lebenslauf der Strafverteidigerin<br />

war auch das eigene erfahrene<br />

Unrecht. Denn mit 21 Jahren - sie war<br />

bereits Jurastudentin - wurde sie selbst bei<br />

einem Anschlag auf einen „Frauenladen“<br />

angeschossen und schwebte lange Zeit in<br />

Lebensgefahr. Die neben ihr Frau wurde<br />

erschossen. Der Täter wurde freigesprochen.<br />

In dubio pro reo. Seyran Ateş musste<br />

damals am eigenen Leibe erfahren, wie<br />

sich Fehler von Ermittlungsbehörden auswirken<br />

und musste im Laufe eines sehr<br />

lange währenden Prozesses die daraus resulierenden<br />

Beweisverwertungsverbote akzeptieren.<br />

Dinge, die Studenten und Referendare<br />

zumeist nur aus der Prüfungsvorbereitung<br />

und Theorie kennen. Natürlich<br />

könnte man sich auch wundern, dass es<br />

Frau Ateş dennoch gerade in die Strafverteidigung<br />

verschlagen hat. Bei der Verarbeitung<br />

des Erlebten half ihr dabei auch<br />

das Schreiben eines Buches, welches gerade<br />

erschienen ist. Hierbei konnte sie noch<br />

einmal alle damaligen Geschehnisse und<br />

Zusammenhänge aufarbeiten und ist deshalb<br />

schon seit einiger Zeit völlig mit sich<br />

ausgesöhnt.<br />

Seyran Ateş bezeichnet das Strafrecht<br />

gerne als „Krone der Härte“. Denn sie hat<br />

durchaus den Eindruck, dass<br />

Frauen als Strafverteidigerin<br />

nicht so ernst genommen<br />

werden und in ihrer Rolle<br />

sehr viel Engagement und<br />

Härte an den Tag legen müssen,<br />

um doch vor ihren<br />

männlichen Kollegen zu bestehen.<br />

Anerkennung bekommt<br />

Frau auf diesem Gebiet<br />

jedenfalls in den seltensten<br />

Fällen geschenkt. Dies<br />

heisse im Umkehrschluss aber<br />

noch lange nicht, dass die<br />

Kolleginnen Verteidigerinnnen<br />

untereinander in jedem<br />

Falle solidarisch seien: „Sicher, es gibt<br />

nette Kolleginnen, tendenziell ist es aber<br />

schon so, dass die Frauen, die es zu einer<br />

respektierten Verteidigerin geschafft<br />

haben, auch gegenüber ihren weiblichen<br />

Kolleginnen besonders hart sind. Natürlich<br />

schafft man mit Freundlichkeit ein nettes<br />

Klima schafft. In<br />

der Regel leidet<br />

bei einer betonten<br />

Freundlichkeit<br />

aber die<br />

Durchsetzungsfähigkeit, die gerade im<br />

Strafprozess von entscheidender Bedeutung<br />

ist.“ Der Strafverteidigerin Ateş selbst<br />

ist es aber durchaus wichtig, eine gewisse<br />

Frauensolidarität zu zeigen. Deshalb behandelt<br />

sie ihre Kolleginnen zumeist auch<br />

anders als ihre Kollegen, denen sie - jeden-<br />

Manchmal ist das Strafrecht schon so etwas<br />

wie „Die Krone der Härte“.<br />

falls tendenziell - härter gegenübertritt:<br />

„Frauen müssen solidarisch sein. Und<br />

wenn ich von meinen Kolleginnen entsprechend<br />

behandelt werde, freue ich mich,<br />

denn dann ist das Verhältnis ganz anders,<br />

viel besser.“<br />

Im Übrigen denkt Frau Ates, dass es<br />

durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede<br />

beim Bearbeiten von Fällen gibt.<br />

So seien Frauen zumeist gründlicher beim<br />

Arbeiten als Männer . Sie gesteht insoweit<br />

ein, dass dies hin und wieder zu Zeitproblemen<br />

führen kann und dass es<br />

während der Verhandlungen gerade im<br />

Strafrecht oft auf blitzschnelle Reaktionen<br />

ankomme. Insofern solle sich dann eine<br />

jede Juristin überlegen, ob sie diesen Anforderungen<br />

gewachsen sei und eine gewisse<br />

Lern- und Umdenkbereitschaft mitbringen.<br />

Mandat und Pflichtverteidigung<br />

Zu ihr in die Kanzlei kommen vor allem<br />

Männer, um sich von ihr verteidigen zu<br />

lassen. Auch wenn Männer männliche Verteidiger<br />

manchmal ernster nähmen, zeige<br />

ihr die große Zahl ihrer männlichen Mandanten,<br />

dass auch sie als Frau wisse, mit<br />

ihren Mandanten umzugehen.<br />

Seyran Ateş, geboren am<br />

20. April 1963 in Instanbul,<br />

zog im Alter von 6 Jahren nach<br />

Berlin, studierte von 1983 bis<br />

1984 Rechtswissenschaften<br />

an der FU Berlin. 1984 mußte<br />

sie ihr Studium wegen der<br />

Folgen einer Schussverletzung<br />

unterbrechen. 1990 nahm sie<br />

ihr Studium wieder auf. Von<br />

1995 bis 1997 war sie Rechtsreferendarin.<br />

Seit 1997 ist sie<br />

zugelassene Anwältin.<br />

Allgemein nach den spezifisch für den<br />

Verteidigerberuf erforderlichen Eigenschaften<br />

und Fähigkeiten befragt, nennt<br />

Frau Ateş neben Einfühlungsvermögen<br />

und Geduld vor allem Schnelligkeit und<br />

Flexibilität im Denken und Handeln. Unentbehrlich<br />

sei es, dass man unter extremem<br />

Druck den ständig wechselnden Situation<br />

im Strafprozess eine angemessene<br />

Reaktion entgegenzusetzen wisse. Am<br />

wichtigsten sei aber, diese Belastung nicht<br />

als Belastung anzusehen, sondern bereit<br />

zu sein, diese als zum Strafprozess dazugehörig<br />

zu akzeptieren. Ausserdem solle<br />

man/frau auch genug vom leben verstehen,<br />

um zu wissen, dass es immer Gut und<br />

Böse geben wird und sich nicht so sehr<br />

von der Härte so mancher Schicksale beeindrucken<br />

lassen.<br />

Mittlerweile ist Seyran Ateş auch<br />

Pflichtverteidigerin. Ihr Weg dorthin ist<br />

allerdings nicht der Übliche. Sie wurde von<br />

einer türkischen Mandantin angesprochen<br />

und ist dann per Mundpropaganda zunächst<br />

durch Mandanten und später auch<br />

von Richtern immer wieder angerufen<br />

worden, um Pflichtverteidigungen zu<br />

übernehmen. Wer diese Glück nicht hat,<br />

kann sich mit dem Wunsch nach der Übernahmen<br />

von Pflichtverteidigungen bei<br />

Richtern vorstellen und einfach sein An-<br />

Information<br />

Kanzlei Seyran Ateş,<br />

Dircksenstraße 47, 10178 Berlin-Mitte.<br />

justament dezember 2002<br />

9


<strong>Titel</strong><br />

liegen vortragen und seine Visitenkarte<br />

hinterlassen . Dieses Vorgehen kennt Seyran<br />

Ateş von vielen Kollegen und kann es<br />

auch weiterempfehlen.<br />

Juristischer Nachwuchs in der<br />

Hauptstadt<br />

Jurastudenten und vor allem Referendaren,<br />

die den Berufswunsch Strafverteidiger/In<br />

haben, möchte sie mit auf den Weg geben,<br />

dass es unablässlich sei, sich rechtzeitig in<br />

der Praxis umzusehen. Sie empfiehlt, die<br />

oft als „Abtauchstation“ benutzte Anwaltsstation<br />

intensiv zu nutzen, um sich ein Bild<br />

über die Realität des Anwaltsdaseins zu<br />

verschaffen. Oft wüssten die Referendare<br />

gar nicht, was hinter dem Berufsbild des<br />

Anwalts steckt. Dies läge wohl vor allem<br />

auch daran, dass die klassische Juristenausbildung<br />

trotz aller Diskussionen immer<br />

noch stark auf den Richterberuf und den<br />

des Staatsanwalts zugeschnitten sei.<br />

Auch sie selbst bildet regelmässig Referendarinnen<br />

aus. Sicher, wenn es denn ausdrücklich<br />

gewünscht sei, lasse sie ihre Referandare<br />

auch mal „abtauchen“. Lieber sieht<br />

sie aber ReferendarInnen, die zu ihr kommen,<br />

um etwas zu lernen. Diese nehme sie<br />

dann auch zu jedem einzelnen Gespräch,<br />

jedem Gefängnisbesuch und zu jeder Strafverhandlung<br />

mit und stehe bereitwillig und<br />

geduldig Rede und Antwort zu allen Fragen,<br />

die ihr gestellt würden. Sie wisse, dass<br />

es im Moment um die wirtschaftliche Lage<br />

der Anwaltschaft nicht so gut bestellt sei.<br />

Trotzdem würde sie denen, dessen Herz für<br />

die Hauptstadt schlägt, niemals davon abraten,<br />

sich als Anwalt zu betätigen. Eine<br />

Festlegung auf ein oder zwei bestimmte<br />

Schwerpunkte während der Ausbildung<br />

empfehle sie nicht, denn den Vorteil bei<br />

der breitgefächerten Juristischen Ausbildung<br />

sehe sie ganz klar in der damit erworbenen<br />

Fähigkeit, sich ganz schnell und systematisch<br />

in jeden neuen Sachverhalt einzudenken.<br />

Dies sei ihr gerade bei<br />

Verteidigertätigkeit zu gute gekommen.<br />

Die Angst vieler Berufsanfänger vor der<br />

Selbständigkeit kann sie zwar verstehen,<br />

allerdings kommt für Seyran Ateş nicht in<br />

Frage, angestellt zu sein und damit vor<br />

allem abhängig zu arbeiten - allem zusätzlichen<br />

„Stress“, den die eigene Kanzlei so<br />

mit sich bringt zum Trotz. Auch in Anbetracht<br />

des mal mehr, mal weniger präsenten<br />

Existenzkampfes fühlt Seyran Ateş sich<br />

durch die Tatsache, „Herrin im eigenen<br />

Hause“ zu sein, hinreichend entschädigt.<br />

Und so kann sie auch nach fast acht Jahren<br />

selbstständigen Anwaltsdasein mit Schwerpunkt<br />

Strafverteidigung immer noch von<br />

sich behaupten: „Ich habe meinen Traumberuf,<br />

meine Berufung gefunden“.<br />

Standgerichte<br />

im Rechtsstaat?<br />

Das „Beschleunigte Verfahren“ nach §§ 417 ff StPO wird immer<br />

häufiger angewendet – allen rechtsstaatlichen Bedenken zum Trotz<br />

Christian Frenzel<br />

Der Staat hat kein Geld. Das ist eine Binsenweisheit.<br />

Und mit der Erkenntnis,<br />

dass es der Justiz finanziell nicht besonders<br />

gut geht, lockt man auch niemanden<br />

hinter dem Ofen vor. Welche Instrumente<br />

sich die Politik einfallen lässt, um<br />

dem mit der Finanznot einhergehenden<br />

Stillstand in der Rechtsprechung zu begegnen,<br />

ist dagegen manchmal durchaus<br />

brisant. Man schreckt nämlich nicht davor<br />

zurück, grundlegende rechtsstaatliche<br />

Prinzipien zu gefährden. Das klingt vielleicht<br />

nach bloßer Panikmache. Professor<br />

Uwe Scheffler von der Universität Viadrina<br />

in Frankfurt an der Oder jedenfalls steht zu<br />

dieser Sichtweise und wird dafür aus weiten<br />

Kreisen der brandenburgischen Justiz<br />

heftig angefeindet. Wie konnte es soweit<br />

kommen?<br />

Das beschleunigte Verfahren<br />

Im Jahre 1994 wurde im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes<br />

das beschleunigte<br />

Verfahren in seiner jetzigen<br />

Form in die StPO aufgenommen. Dieses<br />

verfolgt den Zweck, Erwachsene im Bereich<br />

der leichten bis mittleren Kriminalität<br />

einer schnellen Bestrafung zuzuführen,<br />

und zwar, im Gegensatz zum Strafbefehlsverfahren,<br />

im Rahmen einer mündlichen<br />

Verhandlung. Nach § 417 StPO kommt das<br />

beschleunigte Verfahren in Betracht, wenn<br />

die Sache nach Ansicht der Staatsanwaltschaft<br />

auf Grund des einfachen Sachverhalts<br />

oder der klaren Beweislage dafür geeignet<br />

erscheint. Die Formulierung dieses<br />

Paragrafen ist so miserabel, dass ein großer<br />

Teil der Literatur und der Rechtsprechung<br />

das „oder“ kurzerhand als „und“ liest.<br />

Denn nach dem Wortlaut kommen für das<br />

beschleunigte Verfahren Sachen in Betracht,<br />

denen zwar ein einfacher Sachverhalt<br />

zugrunde liegt, die aber äußerst<br />

schwer zu beweisen sind – und umgekehrt.<br />

Die Beschleunigung im beschleunigten<br />

Verfahren resultiert aus zwei wesentlichen<br />

Änderungen gegenüber dem Normalverfahren:<br />

Auf der einen Seite entfällt das<br />

Zwischenverfahren. Durch die Staatsanwaltschaft<br />

wird keine Klageschrift mehr<br />

eingereicht; die Anklage wird stattdessen<br />

bei Sitzungsbeginn mündlich erhoben. Es<br />

kommt somit auch nicht mehr zu einem<br />

gesonderten Entschluss über die Einleitung<br />

des Hauptverfahrens. Durch diese<br />

Vorgehensweise steht der Angeklagte<br />

schon wenige Tage nach Abschluss der polizeilichen<br />

Ermittlungen vor Gericht.<br />

Des Weiteren gelten die strengen Regeln<br />

des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in<br />

dieser Verfahrensart nicht uneingeschränkt.<br />

So ist es beispielsweise möglich,<br />

auf die persönliche Vernehmung eines<br />

Zeugen während der Hauptverhandlung<br />

zu verzichten und stattdessen das Protokoll<br />

einer früheren Aussage zu verlesen.<br />

Durch diese Regelung soll Beweisschwierigkeit<br />

vorgebeugt und der Ablauf der<br />

Hauptverhandlung beschleunigt und werden.<br />

Erforderlich ist hierfür allerdings das<br />

Einverständnis des Angeklagten. Die<br />

Durchführung des beschleunigten Verfahrens<br />

selbst kann er jedoch nicht verhindern,<br />

wenn es auch für den gewieften<br />

Strafverteidiger Mittel und Wege gibt, dieses<br />

abzuwenden.<br />

Die verhängte Strafe darf ein Jahr nicht<br />

überschreiten, Maßregeln der Besserung<br />

und Sicherung sind nicht möglich. Allerdings<br />

kann die Fahrerlaubnis entzogen<br />

werden – theoretisch auch lebenslänglich.<br />

Ab einem halben Jahr Freiheitsstrafe muss<br />

dem Angeklagten ein Verteidiger zur Seite<br />

gestellt werden.<br />

Der Staatsanwalt als „Pappnase“<br />

In Nordrhein-Westfalen und in Brandenburg<br />

gibt es inzwischen Bestrebungen, die<br />

erzielte Beschleunigung nochmals zu erhöhen.<br />

Erreicht werden soll dies jeweils<br />

durch eine Beschränkung staatsanwaltlicher<br />

Kompetenzen zugunsten der Polizei,<br />

die selbst prüfen soll, ob ein beschleunigtes<br />

Verfahren in Frage kommt. In Eisenhüttenstadt<br />

führt dies so weit, dass die Polizei<br />

die Akte direkt an das Gericht schickt.<br />

Dieses bestimmt, ob das beschleunigte<br />

Verfahren angewendet wird und informiert<br />

per Fax den zuständigen Staatsanwalt, der<br />

10<br />

justament dezember 2002


<strong>Titel</strong><br />

Grafik: David Fuchs<br />

das Verfahren dann eigentlich nur noch<br />

abnicken kann. Der Staatsanwalt wird, so<br />

Professor Gerhard Wolf von der Universität<br />

Viadrina, zur „Pappnase“.<br />

Die Verkürzung der Kompetenzen der<br />

Staatsanwaltschaft ist denn auch ein<br />

Hauptkritikpunkt von Professor Scheffler.<br />

Daneben geht es jedoch vor allem um die<br />

Rechte und Möglichkeiten des Angeklagten,<br />

die beschnitten werden. Das Hauptproblem<br />

hierbei ist die kurze Zeitspanne<br />

zwischen Festnahme und Verfahren. Im<br />

Extremfall des „nochmals beschleunigten“<br />

beschleunigten Verfahrens in NRW und<br />

Brandenburg kann der Angeklagte schon<br />

wenige Stunden nach seiner Verhaftung<br />

vor Gericht stehen. Ausdrücklich soll dies<br />

laut Dienstanweisung in NRW auch für Betrunkene<br />

gelten,<br />

solange<br />

sie nur bei der<br />

Hauptverhandlung<br />

verhandlungsfähig<br />

sind. Man fragt sich, wie<br />

ein Betrunkener, während er seinen Rausch<br />

ausschläft, eine sinnvolle Verteidigungsstrategie<br />

entwerfen soll…<br />

Das Horrorszenario<br />

Genau das jedoch – der Entwurf einer<br />

sinnvollen Verteidigungsstrategie – ist das<br />

Recht, das dem Angeklagten ganz offensichtlich<br />

genommen werden soll. Dies lässt<br />

sich auch vereinzelten Aussagen aus Kreisen<br />

der Befürworter des beschleunigten<br />

Verfahrens entnehmen. Es ist aber auch ärgerlich,<br />

wenn man einen Angeklagten vorgeführt<br />

bekommt, der sich gegen eine Verurteilung<br />

wehrt!<br />

Was zynisch klingt, hat einen durchaus<br />

realen und auch verständlichen Hintergrund:<br />

Natürlich ist der Richter frustriert,<br />

der sich den ganzen Tag mit Tricksereien –<br />

und, seien wir ehrlich, nichts anderes ist<br />

eine „sinnvolle Verteidigungsstrategie“ oft<br />

– herumschlagen muss. Das gilt aber nicht<br />

für alle Angeklagten. Von Zeit zu Zeit wird<br />

es vorkommen, dass ein Angeklagter ein<br />

gutes Argument oder ein Beweisangebot<br />

nicht einbringt, weil er sich überrumpelt<br />

fühlt. Diese Überrumpelung wird nicht selten<br />

auch dazu führen, dass der Angeklagte<br />

auf die Möglichkeit des Widerspruchs<br />

gegen die bloße Verlesung des Protokolls<br />

einer Zeugenvernehmung verzichtet. Dass<br />

das nicht mit rechtsstaatlichen Prinzipien<br />

korreliert, fällt schon dem Laien auf. Wenn<br />

dem Angeklagten dann noch, was häufig<br />

vorkommt, ein Rechtsmittelverzicht aus<br />

dem Kreuz geleiert wird, ist das Horrorszenario<br />

Realität.<br />

Es kann mit absoluter Sicherheit davon<br />

Der Entwurf einer sinnvollen Verteidigungsstrategie<br />

- ist das Recht, das dem Angeklagten<br />

ganz offensichtlich genommen werden soll.<br />

ausgegangen werden,<br />

dass der<br />

Großteil der Richterschaft<br />

das beschleunigte<br />

Verfahren<br />

nicht missbraucht. Trotzdem wäre<br />

es Aufgabe der Politik, dem verständlichen<br />

Abnutzungseffekt auf Richterseite entgegenzutreten<br />

durch Regelungen, die den<br />

Angeklagten schützen.<br />

Wozu das Ganze?<br />

Von dieser Seite ist aber leider keine Einschränkung<br />

des beschleunigten Verfahrens<br />

zu erwarten. Im Gegenteil. Das Land Brandenburg,<br />

das leider wahrlich nicht mit<br />

Spitzenplätzen im Bundesvergleich gesegnet<br />

ist, verweist Jahr für Jahr stolz auf die<br />

Statistik, die besagt, dass es bei der Anwendung<br />

des beschleunigten Verfahrens<br />

führt. Besonders gern wird hier auf den<br />

Kampf gegen Grenzkriminalität und gegen<br />

ausländerfeindliche Vergehen hingewiesen,<br />

den es zu fördern gelte. Dies sind natürlich<br />

zwei populistisch besonders leicht<br />

auszuschlachtende Jusitzfelder, und die<br />

Politik lässt nie eine Gelegenheit aus, sich<br />

beim juristisch unbewanderten Wähler<br />

einzuschmeicheln. Das Argument, dass<br />

eine Demokratie gerade dann Souveränität<br />

zeigen muss, wenn es gegen Personen und<br />

Taten geht, die von der überwältigenden<br />

Mehrheit als verabscheuungswürdig eingestuft<br />

werden, wie eben im Falle ausländerfeindlicher<br />

Kriminalität, stößt kaum auf<br />

offene Ohren.<br />

Stattdessen wird immer wieder das Kostenargument<br />

angebracht: Das beschleunigte<br />

Verfahren sei schlicht billiger. Unberücksichtigt<br />

bleibt in dieser Rechnung<br />

allerdings der immense Verwaltungsaufwand,<br />

der zur Erzeugung einer Infrastruktur<br />

notwendig ist, in welcher das beschleunigte<br />

Verfahren funktionieren kann.<br />

So muss etwa ein staatsanwaltlicher und<br />

gerichtlicher Eildienst eingerichtet werden,<br />

damit beispielsweise immer ein Verhandlungssaal<br />

und ein Protokollbeamter zur<br />

Verfügung steht.<br />

Was nun?<br />

Fraglich ist, wie es nun weitergehen soll<br />

mit dem beschleunigten Verfahren. Aus<br />

rechtsstaatlicher Sicht kommt wohl nur die<br />

völlige Abschaffung in Frage. Professor<br />

Scheffler schlägt zur Güte vor, diese Verfahrensart<br />

nur noch auf freiwilliger Basis<br />

zu ermöglichen. Es erscheint aber unwahrscheinlich,<br />

dass dann noch ein wesentlicher<br />

Teil der Verfahren beschleunigt<br />

durchgeführt werden kann, weshalb auch<br />

dieser Kompromiss kaum Chancen hat, realisiert<br />

zu werden. Angesichts der knappen<br />

Kassen ist die Justiz ganz einfach auf das<br />

beschleunigte Verfahren angewiesen.<br />

Bleibt nur zu hoffen, dass sich der einzelne<br />

Richter der immensen Verantwortung,<br />

die ihm durch dieses Instrumentarium gegeben<br />

wird, bewusst ist, und dass er der<br />

Versuchung des Missbrauchs widersteht.<br />

justament dezember 2002<br />

11


<strong>Titel</strong><br />

25 Jahre deutscher Herbst<br />

und der moderne Terror<br />

Seit dem 11. September 2001 ist der in Deutschland fast schon vergessene Terrorismus<br />

wieder in das öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt. So gewinnt die Erinnerung an die<br />

Terrorakte der RAF von vor 25 Jahren eine bedrohliche Aktualität. Der moderne Terror,<br />

dessen Wiege vor ca. 130 Jahren in Russland stand, ist zum ständigen Begleiter der<br />

Menschheit geworden.<br />

Thomas Claer<br />

Mit der jüngsten blutigen Geiselnahme<br />

tschetschenischer Rebellen in einem<br />

Moskauer Theater kehrte der Terrorismus<br />

als modernes Phänomen gleichsam an den<br />

Ort seiner Entstehung, die Metropolen<br />

Russlands, zurück. Mag es in den weiter<br />

zurückliegenden Epochen der Menschheitsgeschichte<br />

ähnlich geartete Akte des<br />

politischen Kampfes gegeben haben (die<br />

Cineasten werden sich an die Aktionen der<br />

„Judäischen Volksfront“<br />

– oder war es<br />

die „Volksfront von<br />

Judäa“? – im „Leben<br />

des Brian“ erinnern),<br />

blieb es doch dem Sozialrevolutionär<br />

Sergej Netschajew (1847-<br />

1882) vorbehalten, in seinem „Katechismus“,<br />

der Bibel des Terrors, die Lenin<br />

wie Horst Mahler beeinflusst haben soll,<br />

das Credo der terroristischen Moderne zu<br />

verkünden: Alles – bis hin zum Mord an<br />

Unschuldigen – sei erlaubt, um „Leid und<br />

Elend des Volkes zu steigern, damit es<br />

schließlich zu einem allgemeinen Aufstand<br />

getrieben wird“. Was später Generationen<br />

von Dissidenten der kommunistischen Bewegung<br />

„Bauchschmerzen“ bereiten sollte,<br />

die Diskrepanz zwischen „humaner“ Zielsetzung<br />

und den meist brachialen Mitteln<br />

des politischen Kampfes, wurde hier bereits<br />

abschließend als moralisches Problem<br />

eliminiert – zugunsten einer uneingeschränkten<br />

Bejahung der Gewalt als vermeintlicher<br />

Triebfeder des Fortschritts.<br />

Ideale oder Machtrausch?<br />

Diese „dialektische Schraube“, so ungeheuerlich<br />

sie für uns klingen mag, bedeutet<br />

per se noch keinen Bruch mit den Ideen<br />

der Aufklärung, so wie auch ein konsequent<br />

durchgesetztes staatliches Gewaltmonopol<br />

(das im äußersten Falle „über<br />

Leichen geht“) nicht zuletzt dazu dient,<br />

die Freiheit des Einzelnen und – als deren<br />

physische Voraussetzung – die „innere Sicherheit“<br />

möglichst lückenlos zu gewährleisten<br />

(Da keine menschliche Gesellschaft<br />

jemals ohne Gewalt ausgekommen ist,<br />

geht es in allen politischen Kämpfen auch<br />

vorrangig darum, wer mit welcher Legitimation<br />

über ihren Einsatz bestimmen<br />

kann.). Doch wurde schon<br />

im Roman „Die Dämonen“ (oder wie ihn<br />

die neue Übersetzung nennt: „Böse Geister“)<br />

von Fjodor Dostojewski (1871/72),<br />

in welchem der damals noch lebende<br />

Netschajew als<br />

die Figur Pjotr<br />

Stepanowitsch<br />

Werchowenski<br />

auftauchte,<br />

der begründete<br />

Verdacht ausgesprochen, es gehe den<br />

maßgeblichen Protagonisten am Ende weniger<br />

um ihre Ideale als vielmehr um<br />

das Berauschtsein an der eigenen Machtausübung.<br />

Welchem Diktator, aber auch<br />

demokratischen Innenminister, ist genau<br />

Geht es den maßgeblichen Protagonisten<br />

am Ende weniger um ihre Ideale als vielmehr<br />

um das Berauschtsein an der eigenen<br />

Machtausübung?<br />

dies nicht auch schon einmal (mehr<br />

oder weniger begründet) vorgeworfen<br />

worden?<br />

Terrorismus in Deutschland<br />

Seit seinen frühen Anfängen in Russland<br />

breitete sich der Terrorismus als Methode<br />

des politischen Kampfes unaufhaltsam in<br />

alle Welt aus. In manchen Gegenden der<br />

Erde ist er zum Dauerzustand geworden.<br />

Deutschland hielt er knapp ein Jahrzehnt<br />

in Atem, geriet dann trotz gelegentlichen<br />

Aufflackerns nahezu in Vergessenheit – bis<br />

zu jenem Tag, der ein neues Zeitalter einleiten<br />

sollte, an dem, vorbereitet in drei<br />

Hamburger Studentenbuden, der einzigen<br />

globalen Supermacht der Krieg erklärt<br />

wurde. Nicht zuletzt diesem Wendepunkt<br />

und seinen von vielen als Parallelen zu damals<br />

empfundenen sicherheits- und<br />

rechtspolitischen Konsequenzen dürfte das<br />

gegenwärtig wieder aufkeimende Interesse<br />

Hochglanz-Bösewichte, die Darsteller von Gudrun Enslin und Andreas Baader<br />

aus dem gleichnamigen Film<br />

12<br />

justament dezember 2002


<strong>Titel</strong><br />

am Geschehen des „Deutschen Herbstes“<br />

geschuldet sein.<br />

Die später so bezeichneten Ereignisse<br />

im September und Oktober 1977, die Entführung<br />

der Lufthansa-Maschine „Landshut“,<br />

die Entführung und Ermordung des<br />

Arbeitgeberpräsidenten Schleyer und die<br />

Selbstmorde der<br />

RAF-Terroristen<br />

Bader, Ensslin<br />

und Raspe (die<br />

damit dem Vorbild<br />

der ein Jahr zuvor aus dem Leben geschiedenen<br />

Ulrike Meinhof folgten) in<br />

Stammheim bildeten den dramaturgischen<br />

Höhepunkt jener „bleiernen Zeit“, die ihre<br />

sichtbarsten Spuren im gegenwärtigen Revolutions-chic<br />

in der Mode und in der<br />

Kunst hinterlassen hat.<br />

Die Juristen des Deutschen<br />

Herbstes<br />

Von der ideologischen Aufgeladenheit<br />

jener Epoche aber, die immerhin breite<br />

Schichten der damals jungen westdeutschen<br />

Bevölkerung mit den Zielen (wenn<br />

auch nicht mit den Mitteln) sympathisieren<br />

ließ, dem Fortschritts-Optimismus und<br />

dem Unter-Faschismus-Verdacht-Stellen<br />

demokratischer Institutionen und Politiker,<br />

ist heute kaum etwas geblieben. Auffällig<br />

ist die weit verbreitete Abgeklärtheit im<br />

Umgang mit dem radikalen Erbe, auch<br />

unter den damals in die Geschehnisse involvierten<br />

Juristen. Eine besondere, eigenartige<br />

Rolle kommt dabei drei damaligen<br />

Bewegungs- und Kampfgefährten zu, die<br />

heute nur noch die extreme Entgegengesetztheit<br />

ihrer inzwischen eingenommenen<br />

politischen Positionen zueinander verbindet<br />

– wobei jeder für sich einen charakteristischen<br />

Typus, eine bereits in den Anfängen<br />

angelegte mögliche Entwicklungslinie<br />

der damaligen radikalen Linken verkörpert.<br />

Am wenigsten geändert oder von seinen<br />

damaligen Idealen entfernt hat sich<br />

fraglos Christian Ströbele, 1968 gemeinsam<br />

mit Horst Mahler und Klaus Eschen<br />

Gründer des ersten „sozialistischen Anwaltskollektivs“<br />

und einige Jahre später<br />

Verteidiger etlicher RAF-Terroristen. Noch<br />

vor wenigen Jahren als altlinkes Fossil und<br />

politisches Auslaufmodell belächelt, erwarb<br />

der Linksaußen der Grünen neuen<br />

Respekt in allen<br />

Die heutigen Terrorismen definieren sich zunehmend<br />

durch ihren Kampf für oder gegen<br />

bestimmte Ethnien.<br />

politischen Lagern<br />

durch sein<br />

unnachgiebiges,<br />

aufklärendes Engagement<br />

in den Parteispenden-Affären<br />

und holte bei den Bundestagswahlen in<br />

diesem Jahr als erster Vertreter seiner Partei<br />

ein Direktmandat.<br />

Hingegen wandelte sich Otto Schily,<br />

einst ebenfalls RAF-Terroristen-Verteidiger<br />

und 1979 Mitunterzeichner des Gründungsaufrufs<br />

zum Republikanischen Anwaltsverein<br />

(RAV), welcher den Einsatz kritischer<br />

Juristen für Minderheiten, Asylrecht<br />

und Menschenrechte organisierte, als<br />

heutiger Bundesinnenminister und Schöpfer<br />

umfangreicher Anti-Terror-Gesetze<br />

zum ausgesprochenen „Law-and-Order-<br />

Mann“.<br />

Am abenteuerlichsten – und bedrükkendsten<br />

– verlief<br />

aber die Karriere<br />

und Wandlung<br />

Horst<br />

Mahlers vom<br />

Terroristen-Verteidiger,<br />

später<br />

aktiven RAF-Terroristen und langjährigen<br />

politischen Gefangenen zum heutigen<br />

NPD-Aktivisten und zur intellektuellen<br />

Speerspitze des Rechtsradikalismus. Sogar<br />

beruft sich Mahler ausdrücklich auf seine<br />

RAF-Vergangenheit und sieht seine Hinwendung<br />

zur nationalen Anti-Globalisierungsbewegung,<br />

gegen Liberalismus und<br />

Amerikanismus, als konsequente Weiterentwicklung<br />

seiner politischen Haltung an.<br />

Allen heute Herrschenden, so Mahler kürzlich<br />

in einem Interview, werde es im Falle<br />

einer nationalen Machtübernahme an den<br />

Kragen gehen. Nur seinem alten Freund<br />

(und früheren Verteidiger) Otto Schily<br />

werde er das Leben schenken …<br />

Ethno-Terrorismus<br />

Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich<br />

die heutigen Terrorismen zunehmend<br />

durch ihren Kampf für oder gegen bestimmte<br />

Ethnien definieren. Der Universalismus<br />

in Gestalt eines menschheitsbeglückenden<br />

Internationalismus, der noch<br />

das ideologische Fundament der RAF (bis<br />

zu ihrer offiziellen Selbstauflösung 1998)<br />

gewesen ist, vermag heute kaum noch Terrorkräfte<br />

zu mobilisieren. Auch dort, wo im<br />

Namen bestimmter Religionsinterpretationen<br />

gebombt, gesprengt und gemordet<br />

wird, soll vorrangig die eigene Kulturlandschaft<br />

gestärkt und die als Satan ausgemachte<br />

Supermacht samt ihrem kleineren<br />

Verbündeten gedemütigt und letztlich besiegt<br />

werden.<br />

Insofern verbindet die damaligen mit<br />

den heutigen Terroristen, namentlich die<br />

RAF mit der Al-Qaida, inhaltlich nicht viel<br />

(vgl. dazu die Rezension auf S. 23).<br />

Ein Grund für den Ethno-Trend im<br />

Von der ideologischen Aufgeladenheit des<br />

Deutschen Herbstes, die immerhin breite<br />

Schichten der damals jungen westdeutschen<br />

Bevölkerung mit den Zielen der Terroristen<br />

(wenn auch nicht mit deren Mitteln) sympathisieren<br />

lies, ist heute kaum etwas geblieben.<br />

Terrorismus dürfte<br />

darin liegen, dass<br />

sich mit völkischen<br />

Ressentiments<br />

(zumal<br />

heute) leichter<br />

Anhänger rekrutieren<br />

und Menschenmassen begeistern<br />

lassen als mit Weltrevolutions-Träumen.<br />

Denn entgegen Netschajews Annahme ließen<br />

sich durch die Steigerung von Leid<br />

und Elend nur selten Aufstände provozieren<br />

(es wurde im Gegenteil meist nach dem<br />

starken Staat gerufen). Sobald aber gegen<br />

den ethnisch (und religiös und politisch)<br />

andersartigen Feind gezündelt wird, erheben<br />

sich die Massen schon viel bereitwilliger.<br />

Die (bedrohliche) Zukunft liegt im<br />

Ethno-Terrorismus!<br />

justament dezember 2002<br />

13


<strong>Titel</strong><br />

Ein Restrisiko bleibt<br />

Spektakuläre Klinikausbrüche und Rückfallstraftaten haben schwere Mängel beim<br />

Umgang mit Sexualstraftätern offenbart und dem Maßregelvollzug scharfe Kritik eingebracht.<br />

Tatsächlich wird er seinen Zielen häufig nicht gerecht. Dabei spielt der<br />

Personalmangel sicherlich eine Rolle.<br />

Jürgen Jaskolla<br />

Maßregelvollzugsanstalt Brandenburg /<br />

Havel im November 2002. Hier sitzt<br />

der wegen Mordes und versuchten Totschlags<br />

angeklagte Frank Schmökel ein,<br />

vor gut zwei Jahren Deutschlands meistgesuchter<br />

Schwerverbrecher. In seinem<br />

Einzelzimmer werden Rasierklingen gefunden,<br />

versteckt in der Gardine. Er habe<br />

die Klingen nur zum Basteln verwenden<br />

wollen, erklärt er dazu.<br />

Diese Panne der Justizbehörden ist nur<br />

eine von vielen im Fall des Straftäters<br />

Frank Schmökel. Die Geschichte seiner<br />

Fluchten ist ein Offenbarungseid für den<br />

Maßregelvollzug, sein Lebenslauf macht es<br />

schwer, an eine Besserung von Sexualstraftätern<br />

zu glauben.<br />

Vier Ausbrüche in drei Jahren<br />

Als Kind wird er immer wieder von seiner<br />

Mutter geschlagen, wohl auch sexuell<br />

missbraucht. Seine<br />

eigene Sexualität ist<br />

von Anfang an abnorm,<br />

als Jugendlicher<br />

vergeht sich<br />

der gelernte Rinderzuchtarbeiter an Tieren,<br />

lebendigen oder toten. 1988 wird er zum<br />

ersten Mal wegen versuchter Vergewaltigung<br />

an einer 14-Jährigen verurteilt, ein<br />

Jahr später vorzeitig entlassen. 1993 erhält<br />

er wegen Vergewaltigung und sexuellen<br />

Missbrauchs eines Kindes mit Todesfolge<br />

eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und<br />

sechs Monaten. Er wird in eine Klinik eingewiesen,<br />

bekommt im darauffolgenden<br />

Jahr Osterurlaub, aus dem er nicht zurück<br />

kommt. Statt dessen missbraucht er ein<br />

elfjähriges Mädchen und würgt es fast zu<br />

Tode. Er wird gefasst, die Strafe auf 14<br />

Jahre erhöht, wieder Unterbringung in<br />

einer psychiatrischen Klinik. Zwischen<br />

1995 und 1997 flieht er viermal aus dem<br />

Maßregelvollzug, 1998 taucht er ganz<br />

unter, begeht mehr als 70 Straftaten,<br />

davon 15 Raubüberfälle. Die Opfer sind<br />

vorwiegend alte Frauen, einige vergewaltigt<br />

er, zwei 90-jährige Opfer sterben.<br />

Nach erneuter Festnahme und Unterbringung<br />

in der Psychiatrie darf er im Oktober<br />

2000 seine Mutter in Strausberg besuchen,<br />

begleitet von zwei Pflegern und<br />

einem Pädagogen. Schmökel sticht einen<br />

der Pfleger mit einem Küchenmesser nieder<br />

und flieht. Auf seiner Flucht versteckt<br />

er sich in einer Bungalowanlage, wird dort<br />

von einem Rentner überrascht, den er mit<br />

einem Spaten erschlägt. Schließlich gelingt<br />

der Polizei am 7. November 2000 nach<br />

einem Schuss in den Bauch seine Festnahme.<br />

Jetzt hat der Prozess gegen Frank<br />

Schmökel vor dem Landgericht Frankfurt<br />

an der Oder begonnen, das aus Sicherheitsgründen<br />

in Neuruppin tagt. In dem<br />

Verfahren wird es auch um Schmökels<br />

Schuldfähigkeit gehen. Und darum, ob er<br />

wieder in der Psychiatrie untergebracht<br />

wird oder seine Strafe in einer Haftanstalt<br />

absitzen muss. Das Urteil wird noch im Dezember<br />

erwartet.<br />

In ihrer Einschätzung über den seelischen<br />

Zustand der Straftäter liegen die Gutachter<br />

allerdings recht häufig daneben.<br />

Besserung und Sicherung<br />

Nach § 63<br />

StGB ordnet<br />

das Gericht bei<br />

schuldunfähigen<br />

oder nur<br />

vermindert schuldfähigen Tätern die<br />

Unterbringung in einem psychiatrischen<br />

Krankenhaus an, wenn von dem Täter infolge<br />

seines Zustands erhebliche rechtswidrige<br />

Taten zu erwarten sind und er deshalb<br />

für die Allgemeinheit gefährlich ist.<br />

Diese Unterbringung – eine der in § 61<br />

StGB genannten sechs Möglichkeiten der<br />

„Maßregeln der Besserung und Sicherung“<br />

– kann neben der Haftstrafe angeordnet<br />

werden, aber auch zusätzlich zu ihr. Sie<br />

dient zwei Zielen: Sicherheit für die Öffentlichkeit<br />

und Besserung beziehungsweise<br />

Therapie des Einsitzenden. Diese<br />

beiden Ziele miteinander zu verbinden, ist<br />

eine Gratwanderung, denn echte oder vermeintliche<br />

Therapieerfolge führen zur<br />

Lockerung der Zwangsunterbringung und<br />

damit zumindest zur potenziellen Gefahrenerhöhung<br />

für die Öffentlichkeit.<br />

Zur Beurteilung der Schuldunfähigkeit<br />

begutachten sachverständige Psychologen<br />

und Psychiater den Angeklagten. Die Entscheidung<br />

treffen letztendlich die Richter,<br />

die an das Gutachten nicht gebunden<br />

sind. Der schuldunfähige oder nur vermindert<br />

schuldfähige gefährliche Täter kommt<br />

so lange in den Maßregelvollzug, bis von<br />

ihm keine weiteren Straftaten zu erwarten<br />

sind. Wann das ist, entscheidet ein Gericht<br />

auf der Grundlage eines Prognosegutachtens,<br />

wiederum erstellt von Psychotherapeuten.<br />

In ihrer Einschätzung über den seelischen<br />

Zustand der Straftäter liegen die<br />

Gutachter allerdings recht häufig daneben.<br />

Die Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden<br />

hat ermittelt, dass jeder fünfte Kinderschänder<br />

erneut ein Kind angreift,<br />

wenn er die Chance dazu bekommt. Zu<br />

ähnlichen Ergebnissen kamen Wissenschaftler<br />

von der Freien Universität Berlin.<br />

Die Therapeuten, nach Rückfällen ihrer<br />

Patienten oft im Zentrum der Kritik, stekken<br />

in einem Dilemma. Schon von Berufs<br />

wegen müssen sie bei jedem Patienten erst<br />

einmal an die Möglichkeit seiner Heilung<br />

glauben und zugleich zum Schutz der Öffentlichkeit<br />

misstrauisch bleiben. Ein Konflikt,<br />

den nicht jeder aushält: Vor einigen<br />

Jahren beging ein 45-jähriger Psychiatrie-<br />

Chefarzt in Berlin Selbstmord, weil er den<br />

Rückfall eines ehemaligen Patienten als<br />

persönlich empfundenes Versagen wertete.<br />

Doch woran liegt es, dass so viele Täter<br />

rückfällig werden? Ein Grund ist der Mangel<br />

an genügend qualifizierten sexualmedizinisch<br />

ausgebildeten Therapeuten: Den<br />

etwa 4.500 Sexualstraftätern in Deutschland<br />

stehen höchstens 50 Sachverständige<br />

gegenüber. Weil die Schulung bis zum Experten<br />

bis zu fünf Jahre dauert, behilft<br />

man sich in der Zwischenzeit etwa in<br />

Mecklenburg-Vorpommern schon mal mit<br />

einem Augenarzt, der auch eine psychotherapeutische<br />

Ausbildung hat. Auch werden<br />

Gutachter häufig erst am Haft-Ende<br />

eingeschaltet, und nicht schon im Prozess.<br />

Viele gefährliche Täter bleiben so zumindest<br />

beim ersten Mal unerkannt.<br />

Straftäter als Meister<br />

der Manipulation<br />

Kriminellen gelingt es zudem immer wieder,<br />

die Therapeuten zu täuschen. Thomas<br />

Kurbjuhn, der wegen Mordes an seinem<br />

Vater im Maßregelvollzug einsaß, und dessen<br />

Gutachter ihm eine krankhafte Cha-<br />

14<br />

justament dezember 2002


<strong>Titel</strong><br />

Maßregelvollzugsanstalt Brandenburg/Havel. Hier befindet sich Frank Schmökel zur Zeit.<br />

rakterneurose bescheinigte, empfand sich<br />

als völlig normal und machte das auch seinem<br />

Therapeuten klar. Das wurde ihm jedoch<br />

nur als Blockadehaltung ausgelegt.<br />

Erst als Mitpatienten ihm zu verstehen<br />

gaben, dass eine „Kooperation“ seinen Klinikaufenthalt<br />

stark<br />

verkürzen könnte,<br />

begann er zu tricksen<br />

und erzählte von erfundenen<br />

Träumen,<br />

wie er sich in eine<br />

Katze verwandelt<br />

habe und dergestalt übers Meer gerudert<br />

sei. „Die wollten doch belogen werden“<br />

sagt er, der seine Erfahrungen in einem<br />

Internet-Buch veröffentlicht hat („Wie Kriminelle<br />

ihre Therapeuten austricksen“).<br />

Der Lohn der Zusammenarbeit: Kurbjuhn<br />

wurde vorzeitig aus dem Maßregelvollzug<br />

entlassen.<br />

Auch Schmökel hat jetzt im Prozess<br />

eingestanden, seine Gutachter getäuscht<br />

zu haben. Nach jahrelangem Psychiatrieaufenthalt<br />

geübt im Umgang mit Therapeuten,<br />

gab er an, manche Sachen nicht<br />

erzählt oder Angaben nach vermeintlichen<br />

Wünschen der Ärzte ausgerichtet zu<br />

haben. Zugleich beklagte er aber, wegen<br />

anhaltender Gewaltfantasien vom Maßregelvollzug<br />

enttäuscht zu sein.<br />

Nicht alle sind therapierbar<br />

Sollten die Gutachter dem Straftäter<br />

Schmökel eine seine Schuld ausschließende<br />

seelische Störung bescheinigen, stellt<br />

sich die Frage, ob der Maßregelvollzug ihn<br />

tatsächlich noch bessern kann. Sind Sexualstraftäter<br />

überhaupt heilbar? Nicht alle!<br />

Unter den durchschnittlich vier bis sechs<br />

Jahre im Maßregelvollzug einsitzenden<br />

Tätern gibt es etliche, die nicht zu therapieren<br />

sind. Die ermittelten Zahlen<br />

schwanken stark, Experten sprechen von<br />

30 bis 60%.<br />

Schmökel hat seine achtjährige Klinikzeit<br />

nicht geholfen. Weder ist er geheilt<br />

noch konnte seine Unterbringung die öffentliche<br />

Sicherheit garantieren. Fast alle<br />

seine Gutachter sind inzwischen davon<br />

überzeugt, dass er nicht therapierbar ist.<br />

Nur sein ehemaliger Therapeut Michael<br />

Brand ist anderer Ansicht. „Ich stehe für<br />

eine Therapie weiterhin zur Verfügung“,<br />

sagte er kürzlich vor Gericht. Tatsächlich<br />

hatte Brand wohl eine herausgehobene<br />

Die Therapeuten, nach Rückfällen ihrer<br />

Patienten oft im Zentrum der Kritik, stecken<br />

in einem Dilemma. Schon von Berufs wegen<br />

müssen sie bei jedem Patienten erst einmal<br />

an die Möglichkeit seiner Heilung glauben.<br />

Stellung<br />

unter<br />

Schmökels<br />

Therapeuten.<br />

Ihm beichtete<br />

er telefonisch<br />

noch<br />

während seiner Flucht im Herbst 2000 die<br />

Ermordung des Rentners. Nicht ausgeschlossen<br />

aber auch, dass Brand sich<br />

täuscht – im Gerichtssaal würdigte Schmökel<br />

seinen Ex-Therapeuten kürzlich keines<br />

Blickes. Und auch früher schon war sein<br />

Einfluss auf den Kriminellen begrenzt. Erfolglos<br />

versuchte er Schmökel damals dessen<br />

geplanten Besuch bei seiner Mutter<br />

auszureden, weil diesen eine „überaus brisante,<br />

nach wie vor ambivalente und ungelöste<br />

Mutter-Beziehung“ plage. Zudem<br />

beging er noch den verhängnisvollen Fehler,<br />

der Klinikleitung nichts von seinen Erkenntnissen<br />

zu erzählen. Es könnte sein,<br />

dass Brand dem unter Therapeuten vorkommenden<br />

Glauben erlegen ist, nur er sei<br />

in der Lage, Zugang zum Patienten zu finden<br />

und ihn zu heilen.<br />

Untherapierbare gehören nicht in den<br />

Maßregelvollzug, meinen inzwischen viele<br />

Gutachter. Doch<br />

wohin mit denen,<br />

für die weder das<br />

Gefängnis noch<br />

das Krankenhaus<br />

der richtige Platz<br />

ist? Ein Wegsperren<br />

für immer widerspricht dem Resozialisierungsgedanken<br />

und damit wohl dem<br />

Grundgesetz. Verfassungsrechtlichen Bedenken<br />

begegnet auch das von einigen<br />

Experten in Extremfällen befürwortete<br />

Mittel der Zwangskastration. Ähnliches gilt<br />

für „objektive“ schematische Tests, wie sie<br />

ein Wissenschaftlerteam aus Kanada entwickelt<br />

hat. Die Einschätzung über die<br />

Therapierbarkeit beruht hier allein auf statistischen<br />

Erkenntnissen; wer eine bestimmte<br />

Risikopunktzahl überschreitet, gilt<br />

als dissozial und damit nicht heilbar.<br />

Die Therapie danach<br />

Ein praktikables und zugleich erfolgversprechendes<br />

Mittel gegen Rückfälle ist die<br />

psychologische oder psychiatrische Betreuung<br />

über den Tag der Entlassung aus dem<br />

Maßregelvollzug hinaus. Zwar wird den<br />

Patienten auch bisher schon für das Leben<br />

in Freiheit Unterstützung angeboten, eine<br />

obligatorische ambulante Weiterbehandlung<br />

gibt es aber derzeit nur in Hessen.<br />

Mit beachtlichen Erfolgen, die Rückfallquoten<br />

sanken dort deutlich. Für manche<br />

Patienten müsse die Möglichkeit bestehen,<br />

sie lebenslang begleiten zu können, fordern<br />

Ärzte deshalb. Das diene dem Schutz<br />

der Öffentlichkeit und sei auch noch billiger<br />

als eine stationäre Behandlung.<br />

Der öffentlichen Sicherheit dienlich<br />

wären auch schärfere Kontrollen in den<br />

psychiatrischen Kliniken. Allein in Bayern<br />

konnten in einem Zeitraum von anderthalb<br />

Jahren 96 Patienten aus geschlossenen<br />

Abteilungen der Bezirkskliniken entweichen,<br />

etliche davon begingen wieder<br />

Straftaten.<br />

Bringt ein härteres Sexualstrafrecht,<br />

wie es von Bundesregierung und Opposition<br />

gerade diskutiert wird, eine Besserung<br />

der Situation? Wenn, wie im Fall Schmökel,<br />

Patienten allein<br />

deshalb Ausgang<br />

erhalten,<br />

damit die Pfleger<br />

entlastet werden,<br />

spricht das eher<br />

für eine Aufstockung<br />

des Personals als für härtere<br />

Strafen. Auch in Gardinen versteckte Rasierklingen<br />

gehören dann vielleicht der<br />

Vergangenheit an.<br />

Doch auch die besten Maßnahmen<br />

werden nicht alle Rückfallstraftaten verhindern<br />

können, da sind sich Therapeuten<br />

wie Politiker einig. Ein Restrisiko bleibt<br />

immer.<br />

Für manche Patienten müsse die Möglichkeit<br />

bestehen, sie lebenslang begleiten zu können,<br />

fordern Ärzte deshalb. Das diene dem Schutz<br />

der Öffentlichkeit und sei auch noch billiger<br />

als eine stationäre Behandlung.<br />

justament dezember 2002<br />

15


Interview<br />

Die Banalität des Bösen beschreiben<br />

Vor Gericht behalten am ehesten die Reporter den Überblick. Als erfahrene Beobachter<br />

sehen sie oft mehr als die Beteiligten selbst. Ein Gespräch mit der Gerichtsberichterstatterin<br />

Gisela Friedrichsen.<br />

Man könnte fast sagen: „Dem Verbrechen<br />

sei Dank!“ - Denn die Ge-<br />

einer Verhandlung gegen Frank Schmökel.<br />

Frau Friedrichsen, Sie kommen gerade aus<br />

16 justament dezember 2002 richtsreportage hat fast immer Konjunktur.<br />

Nur im Sommer, wenn die<br />

Menschen glücklicher sind und weniger<br />

Kann die gewaltige Medienpräsenz bei spektakulären<br />

Strafverfahren Einfluss auf den<br />

Ausgang eines Verfahrens nehmen?<br />

gewalttätig, kann es auch in dieser<br />

Branche kriseln. Von dieser Beständigkeit<br />

profitieren nicht nur Strafverteidiger.<br />

Nein, ganz gewiss nicht. Da halte ich die<br />

Unabhängigkeit der Richter für viel zu<br />

Auch die Medien sind seit jeher ausgeprägt. Es interessiert überhaupt<br />

dankbare Abnehmer, denn der Stoff aus<br />

den Gerichtssälen ist kostenlos und<br />

stammt aus der edelsten Feder überhaupt:<br />

der der Wirklichkeit. Zu einem<br />

Zeitpunkt, in dem sich der Niedergang<br />

der TV-Gerichtsshow bereits erahnen<br />

lässt, erwacht in den Feuilletons der<br />

großen Tageszeitungen das Genre der<br />

Gerichtsreportage zu neuem Leben. Der<br />

Trend führt weg vom Blick in die Abgründe<br />

einer konstruierten Realität, hin<br />

zum Boden der Tatsachen, denn auch<br />

dort geht es erschreckend zu.<br />

Die Arbeit des Gerichtsreporters besteht<br />

hauptsächlich in der genauen Beobachtung<br />

eines Ortes, an dem professionell<br />

nach der Wahrheit gesucht wird.<br />

nicht, welche Medienvertreter anwesend<br />

sind. Auf der anderen Seite darf man natürlich<br />

nicht vergessen,<br />

dass die Medien<br />

eine wichtige Vermittlerfunktion<br />

zwischen<br />

Gerichtssaal und Öffentlichkeit<br />

wahrnehmen.<br />

Wenn beispielsweise der Leiter der<br />

unabhängigen Kommission zur Überprüfung<br />

des Maßregelvollzugs in Brandenburg,<br />

Herbert Schnoor, als Zeuge aussagt<br />

und auf diese Weise der Inhalt seines Berichts<br />

noch einmal thematisiert wird, ist es<br />

gut, dass die Medien dabei sind. Dadurch<br />

werden für viele Medienkonsumenten die<br />

Probleme des Maßregelvollzugs sichtbarer.<br />

Die Geschichten sind faszinierend und<br />

schauderhaft zugleich, weil sie einerseits<br />

Was meinen Sie damit?<br />

vom Bösen, dem Verbrechen, und<br />

andererseits von den banalen Wegen<br />

dorthin berichten. So stellt sich oft<br />

genug heraus, dass ein Mensch, von<br />

dem man annimmt, er sei ein veritables<br />

Monster, lediglich ein Opfer der Verhältnisse<br />

oder seines schlichten Verstandes<br />

ist. Gerichtsreporter operieren<br />

dabei oft in einem Spannungsfeld zwischen<br />

dem notwendigen Blick Richtung<br />

Auflage und dem Wunsch, die journalistische<br />

Aufgabe einer objektiven Berichterstattung<br />

erfüllen zu wollen. Das<br />

Ergebnis fällt dann auch – nicht selten<br />

abhängig vom Auftraggeber – mal<br />

mehr, mal weniger sensibel aus. Als eine<br />

derjenigen, die diesen Spagat als versierte<br />

und genaue Beobachterin souverän<br />

beherrscht, gilt Gisela Friedrichsen,<br />

die für das Nachrichtenmagazin „Der<br />

Spiegel“ fast alle spektakulären Prozesse<br />

der letzten Jahrzehnte verfolgt hat.<br />

Wir sprachen mit ihr in Neuruppin am<br />

Rande des Verfahrens gegen den Gewaltverbrecher<br />

Frank Schmökel.<br />

Die Problematik ist sehr vielschichtig. Bei<br />

den Insassen des Maßregelvollzugs handelt<br />

es sich einerseits um Patienten, also kranke<br />

Menschen, andererseits aber gleichzeitig<br />

um hochgefährliche Straftäter. Viele der<br />

Therapeuten sehen in den Insassen jedoch<br />

oft nur die Patienten. Daraus resultiert<br />

dann häufig eine Einstellung nach dem<br />

Motto: „Wir haben so lange miteinander<br />

gearbeitet, wir haben so viel erreicht, das<br />

muss doch was genützt haben!“. Man will<br />

diesen Menschen die Möglichkeit geben,<br />

in die Freiheit zu gehen und sich gut zu<br />

bewähren. Oftmals wird dabei die Seite der<br />

notwendigen Sicherung zu wenig beachtet.<br />

Dieses Spannungsverhältnis besteht im<br />

normalen Strafvollzug nicht. Dort stellt<br />

sich die Frage nach der Entlassung erst<br />

ganz zum Schluss, wenn die Strafe verbüßt<br />

ist. Im Maßregelvollzug dagegen steht die<br />

Therapie im Vordergrund, und zur Therapie<br />

gehört immer auch ein Ziel. Und dieses<br />

Ziel – die Heilung des Straftäters – soll<br />

damit erreicht werden, dass ihm die Entlassung<br />

in Aussicht gestellt wird.<br />

Frank Schmökel selbst hat seine Behandlung<br />

im Maßregelvollzug als völlig unzureichend<br />

kritisiert. Stellt diese scheinbar flexible Vollzugsform<br />

nicht doch eine unterschätzte Gefahr<br />

dar?<br />

Hier sollte man vorsichtig sein. Herr<br />

Schmökel sieht sich, wie viele Insassen, als<br />

Opfer des Maßregelvollzugs. Das halte ich<br />

aber für eine billige Masche. Denn man<br />

weiß ja, dass die Rückfallquote der aus<br />

Schmökel kam in einer bedenklichen Situation<br />

in den Maßregelvollzug, nämlich zu<br />

einer Zeit, als dieser in Brandenburg im<br />

totalen Umbruch war.<br />

dem Maßregelvollzug<br />

Entlassenen<br />

sehr viel geringer<br />

ist als<br />

die derjenigen,<br />

die im Strafvollzug gesessen haben.<br />

Schmökel kam allerdings in einer bedenklichen<br />

Situation in den Maßregelvollzug,<br />

nämlich zu einer Zeit, als dieser in Brandenburg<br />

im totalen Umbruch war: Es gab<br />

in der ehemaligen DDR seit 1968 so etwas<br />

nicht mehr, der Straftäter kam eben in den<br />

Strafvollzug. Nur wer wirklich krank war,<br />

wer beispielsweise einen Gehirntumor<br />

hatte und gleichzeitig Straftäter war, kam<br />

in die Psychiatrie. Aber diese Mischung aus<br />

Patient und zu sicherndem Täter war unbekannt.<br />

Nach der Wende gab es also die<br />

Situation, dass die Psychiatrien, die gar<br />

nicht zur Sicherung ausgelegt waren, mit<br />

hochgefährlichen Straftätern belegt waren.<br />

Es existierten hierfür weder die baulichen,<br />

noch die personellen Voraussetzungen. Es<br />

herrschte schlicht ein großes Tohuwabohu.<br />

Und das war natürlich für jemanden wie<br />

Schmökel, der nur an Flucht dachte, eine<br />

Situation, die er hervorragend ausnutzen<br />

konnte.<br />

Schmökel sitzt weiterhin im Maßregelvollzug,<br />

obwohl seine Therapierbarkeit inzwischen<br />

bezweifelt wird.<br />

Die Vorsitzende hat dem Sachverständigen<br />

die Überprüfung der Frage aufgegeben, ob<br />

Schmökel überhaupt therapierbar ist und<br />

vorgeschlagen, anderenfalls die Vollstrekkungsreihenfolge<br />

zu ändern, so dass<br />

Schmökel zunächst in den normalen Strafvollzug<br />

kommt. Das OLG Brandenburg hat<br />

sich allerdings dagegen erklärt und gesagt,<br />

dass ein Täter, der einmal im Maßregel-

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