1 Wolfgang Stegemann Die Erfindung der Religion durch das ...
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1<br />
<strong>Wolfgang</strong> <strong>Stegemann</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Erfindung</strong> <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> <strong>durch</strong> <strong>das</strong> Christentum<br />
„Sind sie religiös? Nein, ich bin normal“.<br />
Meine Großmutter war katholisch. Sie war, was wir eine fromme Frau nennen, ohne bigott zu<br />
sein. Zu ihrem Leben gehörte es, zu bestimmten Zeiten zu beten, auch den Rosenkranz, die<br />
Messe zu besuchen, so lange sie konnte. Über ihrem Bett war ein Weihwasserschälchen, ihre<br />
Lektüre waren Andachtsbücher, <strong>das</strong> Gesangbuch und die Bibel. Der Priester war für sie ein<br />
Ratgeber in wichtigen Fragen des Lebens, er spendete auch Trost. Meine Großmutter wäre<br />
überrascht gewesen, wenn ich sie o<strong>der</strong> ihre Praxis als religiös bezeichnet hätte. O<strong>der</strong> den<br />
Priester als religiösen Virtuosen o<strong>der</strong> <strong>Religion</strong>sexperten. Auch die Bibel war für sie keine<br />
religiöse Schrift. Sie las darin, um etwas für ihr Leben zu erfahren. An einem Diskurs über<br />
<strong>Religion</strong> hat meine Großmutter nicht teilgenommen.<br />
Kurz: Für meine Großmutter waren die Erfahrungen, Überzeugungen und Praktiken, die wir<br />
religiös nennen, nichts Beson<strong>der</strong>es, kein aparter Bereich ihres Lebens, keine distinkte Größe.<br />
<strong>Religion</strong> gehörte zu ihrem Leben. Ich könnte auch sagen: Das Wort <strong>Religion</strong> hatte für meine<br />
Großmutter keine persönliche Bedeutung. Und wenn ich es auf ihr Leben anwende, so muss<br />
ich zu einer Art Hilfsformulierung greifen, die etwa so lautet: „Das, was wir <strong>Religion</strong> nennen,<br />
war für meine Großmutter kein eigener Erfahrungsbereich.“<br />
Meine Großmutter hat den größten Teil ihrs Lebens in <strong>der</strong> ersten Hälfte des vergangenen<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts verbracht. Sie lebte also in einer Zeit, in <strong>der</strong> es längst üblich war, über <strong>Religion</strong><br />
als einen eigenen Bereich menschlichen Lebens zu sprechen. Das war noch im 16.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t grundsätzlich an<strong>der</strong>s. Ich will dies verdeutlichen an einem Zitat von Lucien<br />
Febvre, dem bekannten französischen Mentalitätenhistoriker. In seinem erst kürzlich auch ins<br />
Deutsche übersetzten Werk Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>das</strong> den<br />
Untertitel trägt: <strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> des Rabelais (Stuttgart 2002), schreibt Febvre:<br />
„Heutzutage ist <strong>das</strong> Christentum eine Glaubensgemeinschaft unter an<strong>der</strong>en: nach <strong>der</strong> Ansicht von uns<br />
Abendlän<strong>der</strong>n die wichtigste – aber nur nach unserer Ansicht. Wir definieren es gern als Gefüge fest umrissener<br />
Dogmen und Glaubenssätze im Verein mit althergebrachten Andachtsübungen und Riten, was jedoch nicht ganz<br />
zutrifft. Denn ob wir es nun wahrhaben wollen o<strong>der</strong> nicht, in unseren abendländischen Gesellschaften herrscht<br />
noch immer ein von Grund auf christliches Klima. Das gilt in noch weit stärkerem Maß für <strong>das</strong> 16. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Das Christentum kam damals in dem von uns heute als Europa bezeichneten Raum, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong> Christenheit<br />
deckte, <strong>der</strong> Luft gleich, die man atmete; es war die Atmosphäre, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch sein Leben, sein ganzes<br />
Leben, zubrachte – nicht nur sein geistiges Leben, son<strong>der</strong>n auch sein Privatleben mit all seinen vielfältigen<br />
Aktivitäten, sein öffentliches Leben mit seinen verschiedenen Funktionen und sein Berufsleben, ganz gleich, in<br />
welchem Rahmen es sich abspielte. Und <strong>das</strong> alles gewissermaßen automatisch, zwangsläufig, ohne den<br />
ausdrücklichen Willen, gläubig zu sein, Katholik zu sein, seinen Glauben zu bejahen o<strong>der</strong> zu praktizieren...<br />
Denn im Gegensatz zur heutigen Zeit, in <strong>der</strong> man wählen, sich für o<strong>der</strong> gegen <strong>das</strong> Christentum entscheiden kann,<br />
gab es im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t keine Wahl. Man war faktisch Christ. Mochte man auch in Gedanken von Christus<br />
abschweifen, so hatten <strong>der</strong>lei Gedankenspiele doch keinen lebendigen Rückhalt in <strong>der</strong> Realität. Man konnte sich<br />
noch nicht einmal <strong>der</strong> Teilnahme am kirchlichen Leben entziehen. Ob man es wollte o<strong>der</strong> nicht, ob man es sich<br />
klarmachte o<strong>der</strong> nicht, man war von Geburt an ins Christentum eingetaucht wie in ein Bad, aus dem man nicht<br />
einmal beim Tod entkam: Denn auch dieser Tod war, gesellschaftlich gesehen, <strong>durch</strong> die Riten, denen sich<br />
keiner entziehen konnte, zwangsläufig christlich – selbst wenn man sich in seinem Angesicht aufgelehnt, selbst<br />
wenn man in den letzten Augenblicken gespottet und Witze gerissen hatte.“. 1<br />
1 L. Febvre, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> des Rabelais, Stuttgart 2002, 296.
2<br />
Febvre schil<strong>der</strong>t dann im Detail diese Lebenswelt, in <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Wiege bis zur Bahre, vom<br />
Tisch bis zum Bett, im Privatleben wie im öffentlichen Leben, <strong>das</strong> Christentum, die Kirche,<br />
Mittelpunkt des menschlichen Lebens ist. Er schil<strong>der</strong>t ein „System, <strong>das</strong> seit Jahrhun<strong>der</strong>ten <strong>das</strong><br />
gesamte moralische, emotionale, ästhetische, politische und soziale Leben <strong>der</strong> Christenheit,<br />
wie man sie aus guten historischen Gründen nennt, beherrscht“ (Febvre 2002, 310).<br />
Wir würden dieses System religiös nennen. O<strong>der</strong>, um noch einmal die Paraphrase von vorhin<br />
zu verwenden: Das, was wir <strong>Religion</strong> nennen und als einen separaten Bereich menschlicher<br />
Erfahrung verstehen, war <strong>der</strong> Welterfahrung des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts umfassend eingeprägt, und<br />
zwar in einer sozusagen ausschließlichen Form, nämlich <strong>der</strong> des Christentums.<br />
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Indem ich in diesem Zusammenhang von <strong>Religion</strong><br />
spreche, also davon, <strong>das</strong>s die christliche <strong>Religion</strong> <strong>das</strong> gesamte Leben <strong>der</strong> Menschen<br />
beherrschte und prägte, nehme ich schon eine mo<strong>der</strong>ne Perspektive ein, die den Zeitgenossen<br />
Rabelais’ gar nicht möglich war. Ich bringe <strong>das</strong> System, <strong>das</strong> ihr ganzes Leben, die ganze<br />
Gesellschaft bestimmt hat, auf einen Begriff, <strong>der</strong> es ermöglicht, sich zu dieser <strong>das</strong> ganze<br />
Leben bestimmenden Erfahrung und Macht distanziert zu verhalten. Und ich unterstelle<br />
damit, <strong>das</strong>s es irgendeine Möglichkeit gab zu wählen, sich für dieses System zu entscheiden<br />
o<strong>der</strong> dagegen.<br />
<strong>Religion</strong>, so ist jetzt, wie ich hoffe, deutlicher geworden, ist eine Kategorie, die Differenz<br />
herstellt, die selbst dort, wo sie versucht, die Totalität von Lebensverhältnissen auf den<br />
Begriff zu bringen, sie immer schon einordnet, kategorisiert, sie mithin begrenzt, von einer –<br />
wenn auch nur imaginären – an<strong>der</strong>en Möglichkeit und an<strong>der</strong>en Kategorien unterscheidet.<br />
Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Religion</strong>, wie wir ihn gebrauchen, impliziert Differenz, Unterscheidung von<br />
an<strong>der</strong>en Bereichen.<br />
<strong>Religion</strong> als eigener Bereich menschlicher Erfahrung<br />
Das Wort <strong>Religion</strong> ist relativ alt und hat eine (lange) Geschichte. 2 Als Signifikant genommen<br />
geht <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> auf <strong>das</strong> lateinische Wort religio zurück. Von hierher ist <strong>das</strong><br />
Wort dann in viele europäische Sprachen übernommen worden. Friedrich H. Tenbruck 3 hat<br />
darauf hingewiesen, <strong>das</strong>s<br />
„<strong>der</strong> Begriff ‚<strong>Religion</strong>’ <strong>der</strong> ausschließliche Besitz <strong>der</strong> europäischen Zivilisation gewesen ist und weitgehend<br />
noch heute ist. Wohl haben alle Völker ihre eigenen Vorstellungen von den Göttern und Mächten besessen, in<br />
den Hochkulturen darüber auch intensiv nachgedacht. Doch we<strong>der</strong> die Griechen noch an<strong>der</strong>e antike Kulturen<br />
besaßen ein Wort für ‚<strong>Religion</strong>’, noch haben sonst außereuropäische Kulturen einen solchen Begriff gekannt,<br />
den sie erst jüngst von Europa übernommen haben. Hingegen findet sich <strong>das</strong> Wort in leichter Variation in Schrift<br />
und Lautung heute in allen europäischen Sprachen und wird, auch wenn man die Sprache nicht versteht, überall<br />
leicht wie<strong>der</strong>erkannt: religion (englisch), religion (französisch), religione (italienisch), religión (spanisch),<br />
religiao (portugiesisch), <strong>Religion</strong> (deutsch), religie (nie<strong>der</strong>ländisch), religja (polnisch) usw. Vergeblich jedoch<br />
sucht man in nicht-europäischen Sprachen nach einem Begriff für ’<strong>Religion</strong>’, wie schon die christlichen<br />
Missionare zu ihrer völligen Überraschung und bitteren Verlegenheit immer wie<strong>der</strong> feststellen mussten. Im<br />
sprachlichen Unterschied des Begriffsbestandes aber kündigt sich ... eine tiefe Kulturdifferenz im Verständnis<br />
von, und in <strong>der</strong> Einstellung zu dem, was wir summarisch ‚<strong>Religion</strong>’ nennen.“<br />
2 <strong>Die</strong>s haben viele Untersuchungen, nicht zuletzt die ausführlichen Studien von Ernst Feil gezeigt. Ich erwähne<br />
hier nur den ersten Band: E. Feil, Religio. <strong>Die</strong> Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom<br />
Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986.<br />
3 Friedrich H. Tenbruck, <strong>Die</strong> <strong>Religion</strong> im Maelstroem <strong>der</strong> Reflexion, in: Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thoms<br />
Luckmann, <strong>Religion</strong> und Kultur. Son<strong>der</strong>heft <strong>der</strong> Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,<br />
Opladen 1993, 31-67, 37.
3<br />
Doch die Geschichte des sprachlichen Zeichens, des Signifikanten, ist eines. Davon muss<br />
unterschieden werden, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Diskurs über <strong>Religion</strong>, an dem zum Beispiel meine<br />
Großmutter nicht teilgenommen hat und den die Welt Rabelais’ noch nicht führen konnte,<br />
sich im 17./18. Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelte und sich dann im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t deutlicher<br />
ausdifferenzierte.<br />
Zu diesem (mo<strong>der</strong>nen <strong>Religion</strong>s-) Diskurs gehört fundamental, <strong>das</strong>s <strong>Religion</strong> als ein<br />
beson<strong>der</strong>er Bereich menschlicher Erfahrung (bzw. als beson<strong>der</strong>er Bereich von Kultur o<strong>der</strong><br />
Gesellschaft) verstanden wird. <strong>Religion</strong> wird jetzt grundsätzlich unterschieden von an<strong>der</strong>en<br />
Sektoren - zum Beispiel von Ökonomie, Politik o<strong>der</strong> Kunst. Weiter: Der mo<strong>der</strong>ne<br />
<strong>Religion</strong>sdiskurs versteht einzelne <strong>Religion</strong>sgemeinschaften (wie Christentum, Judentum,<br />
Islam usw.) als kulturell und historisch bedingte Ausdrucksformen von <strong>Religion</strong>. <strong>Die</strong><br />
<strong>Religion</strong>sgemeinschaften unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Überzeugungssysteme<br />
(Glaubenssysteme/beliefsystems) und mehr o<strong>der</strong> weniger verbindlicher Regeln für die<br />
(richtige) Lebensführung (moralische Anweisungen), schließlich auch <strong>durch</strong> persönliche bzw.<br />
gemeinschaftliche Praktiken (Riten).<br />
Dass dieser Diskurs mit dem Wort <strong>Religion</strong> verbunden wurde, ist im Übrigen eher zufällig,<br />
wie Heinrich von Stietencron 4 dargelegt hat. Er macht darauf aufmerksam, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Siegeszug<br />
des Begriffs religio/<strong>Religion</strong>, <strong>das</strong> statt Wörtern wie fides, lex, doctrina o<strong>der</strong> secta die Rolle<br />
eines „Oberbegriffs für unterschiedliche Glaubenssysteme“ übernommen hat, als zufällig zu<br />
beurteilen ist. Im deutschen Sprachraum wurden bis zum 16. Jahrhun<strong>der</strong>t „die damals<br />
bekannten <strong>Religion</strong>en ... oft als leges bezeichnet – denken wir an lex christiana, lex judaica,<br />
lex mahometana. Dass <strong>der</strong> Begriff <strong>Religion</strong> schließlich <strong>das</strong> Rennen machte war, wenn man so<br />
will, historischer Zufall; er war in den Jahrhun<strong>der</strong>ten zuvor am seltensten gebraucht worden<br />
und daher inhaltlich am wenigstens festgelegt“.<br />
Ich verstehe <strong>Religion</strong> als einen Diskursbegriff.<br />
Mit Diskurs meine ich in Aufnahme <strong>der</strong> von M. Foucault begründeten Diskurstheorie eine<br />
beson<strong>der</strong>e Weise des Redens über etwas, hier über <strong>Religion</strong>. Diskurse stellen eine<br />
„Sprechweise zur Verfügung, um über etwas zu sprechen – z.B. eine Art von Repräsentation-,<br />
eine beson<strong>der</strong>e Art von Wissen über einen Gegenstand. Wenn innerhalb eines beson<strong>der</strong>en<br />
Diskurses Aussagen über ein Thema getroffen werden, ermöglicht es <strong>der</strong> Diskurs, <strong>das</strong> Thema<br />
in einer bestimmten Weise zu konstruieren. Er begrenzt ebenfalls die an<strong>der</strong>en Weisen, wie <strong>das</strong><br />
Thema konstruiert werden kann.“ 5<br />
Das hier vorgeschlagene Konzept von <strong>Religion</strong> als Diskurs zu sprechen, rechnet damit, <strong>das</strong>s<br />
in Verbindung mit dem Wort zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Diskurse geführt<br />
worden sind – einer von ihnen ist <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne <strong>Religion</strong>sdiskurs. Um ein an<strong>der</strong>es Beispiel zu<br />
nennen: Der Diskurs, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> antiken Welt mit <strong>der</strong> römischen religio verbunden war,<br />
unterscheidet sich fundamental von unserem gegenwärtigen <strong>Religion</strong>sdiskurs. Etwa schon<br />
da<strong>durch</strong>, <strong>das</strong>s religio kein Allgemeinbegriff ist, <strong>der</strong> einen beson<strong>der</strong>en, von an<strong>der</strong>en<br />
abgegrenzten Bereich <strong>der</strong> Kultur (o<strong>der</strong> Gesellschaft) bezeichnet. Im römischen religio-<br />
Diskurs ging es um an<strong>der</strong>e Fragen, etwa um die <strong>der</strong> angemessenen Performanz kultischer<br />
Praktiken, also allenfalls um einen Teilbereich unseres <strong>Religion</strong>sdiskurses. Auch die<br />
europäische Antike kennt ebenso wie <strong>das</strong> Mittelalter keinen abstrakten <strong>Religion</strong>sbegriff.<br />
4 Heinrich von Stietencron, Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> in <strong>der</strong> <strong>Religion</strong>swissenschaft, in: Walter Kerber (Hg.), Der<br />
Begriff <strong>der</strong> <strong>Religion</strong>, München 1992, 111ff; Zitat: 121f.<br />
5 Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Berlin 2. Aufl. 2000, 150.
4<br />
Bedingungen für die Entstehung des mo<strong>der</strong>nen <strong>Religion</strong>sdiskurses<br />
<strong>Die</strong> Perspektive, die ich hier einnehmen möchte, geht davon aus, <strong>das</strong>s unsere Möglichkeit,<br />
über <strong>Religion</strong> zu sprechen, sich einer beson<strong>der</strong>en historisch-kulturellen Formation verdankt.<br />
Ich kann nur ein paar Bedingungen <strong>der</strong> Diskursformation benennen. Ich zitiere dazu einige<br />
grundsätzlichen Ausagen von Arie L. Molendijk, die <strong>das</strong> Diskursfeld grosso modo abgrenzen:<br />
„The perception of religion as a distinct sphere of human culture is related to major developments in the mo<strong>der</strong>n<br />
Western world. The creation of the mo<strong>der</strong>n nation of equal and free citizens was only possible when religious<br />
difference no longer played a dominant role in the public sphere. From this point of view the disappearance of<br />
the old status quo, in which religion and political authority were intimately connected with each other, led in<br />
time to some sort of autonomization of religion, which consequently could be studied in its own right. One could<br />
argue that the creation of the mo<strong>der</strong>n nation state brought about – at lest to some extent – a transformation of<br />
religion from the visible social and hierarchical or<strong>der</strong> to the ‘inner selves of the members of the moral<br />
community of the nation.’ Friedrich Schleiermacher’s concept of religion as an overwhelming inner experience<br />
of dependence upon the whole universe must be seen against this background.” 6<br />
Der Diskurs über <strong>Religion</strong> als einer distinkten Sphäre <strong>der</strong> Kultur des Menschen ist also auf<br />
dem Hintergrund komplexer Entwicklungen in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen westlichen Welt entstanden.<br />
Hierbei spielen insbeson<strong>der</strong>e die Entstehung von säkularen Staaten (a), <strong>der</strong> Siegeszug des<br />
„okzidentalen Rationalismus“ bzw. <strong>der</strong> Wissenschaft (b), die Entdeckung neuer Kultur-<br />
Welten außerhalb Europas (c) und die Entstehung einer neuen Episteme (d), die ich mit dem<br />
Begriff Subjektivierung umschreiben möchte, eine wichtige Rolle.<br />
Ich kann hier nur kurz auf die genannten vier Bedingungen erläutern:<br />
a) <strong>Die</strong> <strong>Religion</strong>skriege und die Revolutionen des späten 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts führten am Ende zur<br />
Trennung von Kirche und Staat in den meisten westlichen Län<strong>der</strong>n. <strong>Die</strong> Schaffung säkularer<br />
Staaten von gleichen und freien Bürgern war freilich nur möglich, wenn die religiösen<br />
Differenzen keine dominante Rolle mehr in <strong>der</strong> öffentlichen Sphäre spielten. So gesehen kann<br />
man mit (Talal Asad 7 ) davon sprechen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Konzept von <strong>Religion</strong> nicht möglich war<br />
ohne <strong>das</strong> Konzept <strong>der</strong> Säkularisierung.<br />
Der mo<strong>der</strong>ne <strong>Religion</strong>sdiskurs setzt eine Neuformung des Christentums als generischer<br />
<strong>Religion</strong> voraus, 8 getrennt von und unwesentlich für den rationalen, säkularen Staat. Durch<br />
die Schaffung einer essentiell religiösen Sphäre und eines absolut säkularen Raumes<br />
(Rationalität, Politik, Wissenschaft) kann sich <strong>Religion</strong> als eigene Dimension des<br />
menschlichen Lebens <strong>durch</strong>setzen, o<strong>der</strong>, wenn Sie so wollen, emanzipieren.<br />
b) Im 17. Jh. tritt <strong>Religion</strong> als ein natürliches Objekt, als Gegenstand wissenschaftlicher<br />
Betrachtung hervor (<strong>der</strong> Deismus entdeckt <strong>Religion</strong> als ein natürliches Phänomen/religio<br />
naturalis, woraus dann konsequenter Weise geschlossen wird, <strong>das</strong>s <strong>Religion</strong> auch studiert<br />
werden kann mit natürlichen Mitteln. <strong>Die</strong> Aufklärung stellt <strong>Religion</strong> und Natur bzw. Vernunft<br />
gegenüber (David Hume). Natur und Vernunft werden als primäre, universale und homogene<br />
Systeme verstanden, die nicht dem Zufall o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geschichte unterworfen sind. <strong>Religion</strong> ist<br />
dagegen sekundär, partikular und Teil <strong>der</strong> menschlichen Konventionen, nicht <strong>der</strong><br />
6 Arie L. Molendijk , Introduction, in: Arie L. Molendijk/Peter Pels (Hg.), <strong>Religion</strong> in the Making. The<br />
Emergence of the Sciences of <strong>Religion</strong>, Leiden 1998, 7.<br />
7 Talal Asad, Genealogies of <strong>Religion</strong>. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam,<br />
Baltimore/London 1993.<br />
8 Robert J. Baird, How <strong>Religion</strong> Became Scientific, in: Arie L. Molendijk/Peter Pels (Hg.), <strong>Religion</strong> in the<br />
Making. The Emergence of the Sciences of <strong>Religion</strong>, Leiden 1998, 205ff: 207.
5<br />
menschlichen Natur. Man hat in diesem Zusammenhang von einem „Paradigmenwechsel“<br />
gesprochen. 9<br />
<strong>Die</strong> Aufklärer stellen die Vernunft über die Offenbarungen als Norm auch für religiöse<br />
Wahrheit. <strong>Religion</strong> erreicht somit den Raum des Intelligiblen, aber auch von Geschichte und<br />
Kultur.<br />
c) <strong>Die</strong> Entdeckung frem<strong>der</strong> Welten und Kulturen und damit verbunden <strong>der</strong> so genannten<br />
„primitiven“ <strong>Religion</strong>en führte dazu, <strong>das</strong>s sich <strong>das</strong> Konzept von <strong>Religion</strong> vom Christentum<br />
trennt und zu einem Gattungsbegriff wird. Allerdings wird <strong>das</strong> Christentum nicht nur zu einer<br />
Weltreligion unter an<strong>der</strong>en, son<strong>der</strong>n zum Beispiel, zum exemplarischen Fall von <strong>Religion</strong>,<br />
zum „Prototyp“ (F. Stolz).<br />
d) An <strong>der</strong> Wende vom 18. zum 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entsteht eine neue Episteme, <strong>der</strong>en<br />
Kennzeichen die Ausbildung des Subjekts im Gegenüber zu Gesellschaft und Kirche wird.<br />
Der Mensch ist Objekt, aber auch Subjekt von Wissenssystemen. Im Zuge <strong>der</strong><br />
Ausdifferenzierung dieser neuen Episteme treten neue, autonome Wissensgebiete in den<br />
Vor<strong>der</strong>grund, die auch über den Menschen neue Wissenssysteme produzieren (Foucaults<br />
wichtigstes Beispiel: Sexualität (s. kleiner Exkurs). <strong>Die</strong> <strong>der</strong> sichtbaren sozialen und<br />
hierarchischen Ordnung <strong>der</strong> Gesellschaften eingestiftete „<strong>Religion</strong>“ wird zu einem inneren<br />
Selbst <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> moralischen Gemeinschaft. Molendijk (s. o.) sagt mit gutem Grund,<br />
<strong>das</strong>s Schleiermachers Konzept <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> als (innerer) Erfahrung schlechthinniger<br />
Abhängigkeit auf dem Hintergrund <strong>der</strong> Subjektivierung neu verstanden werden muss.<br />
Kleiner Exkurs:<br />
Jeremy Carrette vergleicht die Entstehung und Entdeckung des eigenständigen Bereichs <strong>der</strong> <strong>Religion</strong> mit <strong>der</strong><br />
Entstehung und Entdeckung von Sexualität als einem eigenen Bereich menschlicher Identität bzw. einem<br />
eigenen Wissensbereich. 10 Es ist freilich noch deutlicher herauszuarbeiten, in welchem Sinne dieser Vergleich<br />
hilfreich ist. Ich kann dazu hier nur ein paar Sätze beisteuern.<br />
Erst seit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t, so kann man von Michel Foucaults Studien zu Sexualität und Wahrheit lernen,<br />
sind wir dazu fähig, einen Diskurs über Sexualität zu führen (als eigenständigen Bereich menschlicher Existenz).<br />
In <strong>der</strong> klassischen Antike dagegen war dieser Diskurs eingebettet in an<strong>der</strong>e Diskurse, die wir heutzutage als<br />
politisch, ökonomisch o<strong>der</strong> sozial bezeichnen würden. 11 Status, Macht, Ansehen, Ehre usf. prägten den antikmediterranen<br />
Begehrens-Diskurs und dessen Werte, die etwa und zumal entlang <strong>der</strong> binären Opposition von<br />
aktiv und passiv verliefen, <strong>durch</strong> die sich auch die Differenzierung <strong>der</strong> Geschlechter unterhielt. Demgegenüber<br />
scheint den mo<strong>der</strong>nen Sexualitätsdiskurs die Differenzierung in bestimmte sexuelle Praktiken (zumal<br />
heterosexuell und homosexuell) zu dominieren. Zugleich mit dem Sexualitäts-Diskurs entsteht auch dessen<br />
„Disziplinierung“, also die Ausbildung wissenschaftlicher Disziplinen, für die Sexualität zu einem Gegenstand<br />
<strong>der</strong> Untersuchung wird. Ebenso entsteht in diesem Diskurs die Frage nach Sexualität und Wahrheit. Foucault<br />
führt den mo<strong>der</strong>nen Sexualitätsdiskurs auf die Technologie <strong>der</strong> Beichte zurück, in <strong>der</strong> wir geheimste Wahrheiten<br />
über uns selbst und über unser Begehren in Form eines Geständnisses äußern. Freilich – ich kann dies hier nicht<br />
weiter ausführen – führt Foucault die Geständnispraktiken nicht eindimensional auf <strong>das</strong> Christentum zurück,<br />
entdeckt vielmehr die Selbstsorge <strong>der</strong> griechischen Antike, die epimeleia heautou als eine noch weiter<br />
zurückführende Struktur dessen, was er dann die Sorge um sich genannt hat.<br />
M.E. lässt sich in vergleichbarer Weise behaupten, <strong>das</strong>s es auch einen <strong>Religion</strong>s-Diskurs (als einen separaten,<br />
autonomen Bereich menschlicher Erfahrung) erst seit dem 17./18. Jahrhun<strong>der</strong>t gibt und <strong>das</strong>s sich seitdem die<br />
Möglichkeit, „<strong>Religion</strong>“ als eigenen Gegenstandsbereich von Wissenschaft zu objektivieren, entwickelt hat. D.h.<br />
9 Baird, a.a.O., 210f.<br />
10 Jeremy R. Carrette, Foucault and <strong>Religion</strong>. Spiritual Corporality and Political Spirituality, London/New York<br />
2000, 142f.<br />
11 Vgl. dazu auch W. <strong>Stegemann</strong>, Homosexualität – ein mo<strong>der</strong>nes Konzept, ZNT 1 (1998) 61ff.
6<br />
grundsätzlich: im Zuge <strong>der</strong> Objektivierbarkeit von <strong>Religion</strong> entstehen auch wissenschaftliche Disziplinen, die<br />
sich diesem „Gegenstande“ widmen. Eben jetzt entstehen aber auch Fragen wie die nach dem Wesen, <strong>der</strong><br />
Wahrheit, <strong>der</strong> Geschichte von <strong>Religion</strong>(en).<br />
Wie genau auch immer wir die Entstehungsbedingungen des mo<strong>der</strong>nen <strong>Religion</strong>sdiskurses<br />
betrachten – deutlich ist in jedem Fall, <strong>das</strong>s dieser Diskurs sich kulturellen und<br />
gesellschaftlichen Bedingungen des christlich geprägten Westens verdankt. Statt christlich<br />
geprägter Westen könnte man auch von Christentum als Zivilisation sprechen. Was freilich<br />
wie<strong>der</strong>um so seine eigenen Tücken hat, wie ich an folgendem aktuellen Beispiel illustrieren<br />
möchte.<br />
Bernard Lewis, <strong>der</strong> Nestor <strong>der</strong> amerikanischen Orientalistik, hat in <strong>der</strong> Mai-Ausgabe des<br />
Magazins The Atlantic Monthly (2003) in einem Artikel („I’m Right, You’re Wrong, Go To<br />
Hell“) folgende interessante Unterscheidung eingeführt:<br />
„Es hat eine Anzahl von unterschiedlichen Zivilisationen in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Menschheit gegeben … doch nur<br />
zwei Zivilisationen sind <strong>durch</strong> <strong>Religion</strong> definiert worden… Christentum und Islam …<br />
Im Englischen wie in den meisten an<strong>der</strong>en Sprachen <strong>der</strong> christlichen Welt gibt es zwei Wörter: Christianity und<br />
Christendom. Christianity ist eine <strong>Religion</strong>, ein Glaubenssystem und ein Kult (worship) mit bestimmten<br />
kirchlichen Institutionen. Christendom ist eine Zivilisation, die Elemente enthält, die nicht-christlich o<strong>der</strong> gar<br />
anti-christlich sind. Wenn wir vom Islam reden, dann verwenden wir <strong>das</strong>selbe Wort sowohl für die <strong>Religion</strong> als<br />
auch für die Zivilisation, was zu Missverständnissen führen kann … (Im Türkischen kann man allerdings<br />
zwischen ‚Islam’ als Zivilisation und ‚Islamyiet’ als spezielles Wort für die <strong>Religion</strong> unterscheiden)…Judentum<br />
ist keine Zivilisation – es ist eine <strong>Religion</strong> und eine Kultur.“<br />
<strong>Die</strong> Differenzierung von <strong>Religion</strong> und Zivilisation wie auch die Behauptung, <strong>das</strong>s<br />
Christentum und Islam qua <strong>Religion</strong>en jeweils ganze Zivilisationen hervorgebracht und<br />
nachhaltig geprägt haben, leuchten zunächst ein und scheinen hilfreich zu sein. Doch<br />
offenbaren die Formulierungen von Lewis noch einmal unser Problem mit dem<br />
<strong>Religion</strong>sbegriff, insofern sie ja <strong>Religion</strong> von Zivilisation (bzw. Kultur) unterscheiden. Ja,<br />
Lewis behandelt beide offensichtlich wie zwei homogene und von einan<strong>der</strong> unabhängige<br />
Entitäten, die je für sich allein existieren, aber auch aufeinan<strong>der</strong> Einfluss nehmen und sich<br />
vermischen können.<br />
Nach meinem Verständnis zeigt sich in den Formulierungen von Lewis deutlich jene eben<br />
dargelegte mo<strong>der</strong>ne westliche Perspektive, also <strong>das</strong> Ergebnis einer historischen Entwicklung,<br />
in <strong>der</strong> die Säkularisierung <strong>der</strong> Gesellschaft zugleich ihr an<strong>der</strong>es, die eigenständige <strong>Religion</strong><br />
hervorgebracht hat. Und mir will scheinen, <strong>das</strong>s sein Verweis auf die türkische Sprache, die<br />
offenkundig zwischen Islam als Zivilisation und Islam als <strong>Religion</strong> unterscheiden kann, genau<br />
diese Analyse bestätigt. Denn bekanntlich hat sich ja die Türkei seit Kemal Atatürk<br />
entschieden, die westliche Trennung von <strong>Religion</strong> und Gesellschaft bzw. Staat zu<br />
übernehmen. Indem Lewis die islamische Welt aus <strong>der</strong> westlichen Perspektive betrachtet,<br />
deutet er sie mithilfe <strong>der</strong> westlich-christlichen Trennung von <strong>Religion</strong> und Kultur, <strong>Religion</strong><br />
und säkularem Staat. Er wendet schließlich auf den Islam <strong>das</strong> christlich-westliche<br />
<strong>Religion</strong>smodell an.<br />
Das hier zutage tretende Dilemma bringt Klaus Hock in seiner Einführung in die<br />
<strong>Religion</strong>swissenschaft auf den Begriff. Er spricht davon, <strong>das</strong>s wir seit <strong>der</strong> Aufklärung vor dem<br />
Problem stehen, „<strong>das</strong>s <strong>der</strong> <strong>Religion</strong>sbegriff als Begriff <strong>der</strong> abendländischen Geistesgeschichte<br />
einerseits seine Herkunft und seine inhaltlichen Bestimmungen dem spezifischen historischkulturellen<br />
Kontext Europas verdankt, <strong>das</strong>s er aber an<strong>der</strong>erseits als Allgemeinbegriff den
7<br />
Anspruch erhebt, auch in an<strong>der</strong>en historisch-kulturellen Zusammenhängen etwas zu<br />
benennen, <strong>das</strong> dem entspricht, was er im (‚christlichen’) Abendland bezeichnet.“ 12<br />
Noch einen Grad selbstkritischer spricht <strong>der</strong> Erlanger <strong>Religion</strong>ssoziologe Matthes in diesem<br />
Zusammenhang von einem „zentristischen Forschungsparadigma“. Es<br />
„rückt einen historisch-kulturell bestimmten Sachverhalt in den Mittelpunkt <strong>der</strong> Aufmerksamkeit, übersetzt die<br />
ihm innewohnende gesellschaftliche Normativität in eine Art von logischer Geltung und setzt auf solcher<br />
Plattform zur Forschung an. Zentrismen dieser Art begegnen uns immer wie<strong>der</strong> in den Kultur- und<br />
Sozialwissenschaften. Ihre ‚Markierung’ braucht Häufig sind Zentrismen >vielmehr als ‚unausgesprochene<br />
Vorannahmen’ wirksamzu strategischen<br />
Entscheidungen und Akten <strong>der</strong> Klassifikation, welche die Resultate (<strong>der</strong> Forschungsarbeit, J.M.) vorprägen, noch<br />
ehe <strong>das</strong> Forschen überhaupt begonnen hat (Hans Medick 1992, S. 167).“ 13<br />
Dabei geht es darum, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Konzept „<strong>Religion</strong>“ selbst zentristisch ist, <strong>das</strong>s also die mit<br />
diesem Begriff verbundenen vorwissenschaftlichen Vorstellungen und wissenschaftlichen<br />
Einstellungen sich <strong>der</strong> partikularen westlichen Geschichte und Kultur verdanken, mithin<br />
keineswegs universal sind. Es geht damit auch um eine für selbstverständlich und universal<br />
geltend gehaltene „Epistemologie“, die freilich in Wahrheit auf partikularen, historischkulturell<br />
beson<strong>der</strong>en Voraussetzungen aufsetzt.<br />
Auf diesem Hintergrund wird man insbeson<strong>der</strong>e auch die westliche Konstruktion des<br />
Judentums qua <strong>Religion</strong> beleuchten müssen. Interessant ist ja, <strong>das</strong>s Bernard Lewis in seinem<br />
erwähnten Artikel davon spricht, <strong>das</strong> Judentum sei keine Zivilisation, son<strong>der</strong>n eine <strong>Religion</strong><br />
und eine Kultur. Interessanter Weise erwägt er gar nicht erst, Judentum als Ethnie bzw. als<br />
Nation zu denken. Auch hierin offenbart sich noch einmal seine westliche, <strong>durch</strong> die<br />
christliche Zivilisation geprägte Perspektive, sowohl in <strong>der</strong> Benennung von bestimmten<br />
Merkmalen – <strong>Religion</strong> und Kultur - als auch in <strong>der</strong> Nichtbenennung von an<strong>der</strong>en – Ethnie und<br />
Nation.<br />
Das frühe Christentum als „<strong>Religion</strong>“ avant la lettre<br />
<strong>Die</strong> historische und kulturelle Formation, die den Diskurs über <strong>Religion</strong> aus sich entließ, trägt<br />
eine christliche Signatur. <strong>Die</strong>se christliche Signatur – so meine letzte These – kommt nicht<br />
von Ungefähr. Denn so wie ich es deute, enthalten schon die Anfänge des Christseins<br />
Tendenzen zur Verselbständigung eines <strong>Religion</strong>sdiskurses. Ich will <strong>das</strong> kurz erläutern.<br />
Viele Altertumswissenschaftler gehen davon aus, <strong>das</strong>s die Anwendung des mo<strong>der</strong>nen<br />
<strong>Religion</strong>sbegriffs auf die antiken Kulturen unangemessen ist. Der Kirchengeschichtler Rowan<br />
Williams benennt in aller Kürze den Unterschied: 14<br />
„If we are not permitted to speak of “essences”, how shall we define a religion at all? Perhaps we should begin<br />
by noting that the question itself is an odd one in many contexts. The ‘religion’ of classical Greece or Rome … is<br />
12 Klaus Hock, Einführung in die <strong>Religion</strong>swissenschaft, Darmstadt 2002, 12.<br />
13 Joachim Matthes, Was ist an<strong>der</strong>s an an<strong>der</strong>en <strong>Religion</strong>en?, in: Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann<br />
(Hg.), <strong>Religion</strong> und Kultur. Son<strong>der</strong>heft <strong>der</strong> Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen<br />
1993, 16-30: 17. Matthes zitiert Hans Medick, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikrohistorie im<br />
Blickpunkt <strong>der</strong> Kulturanthropologie, in: Joachim Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen. Son<strong>der</strong>band 8 <strong>der</strong><br />
Sozialen Welt, Göttingen 1992, 167-178.<br />
14 Rowan Williams, Does it Make Sense to Speak of Pre-Nicene Orthodoxy?, in: R. Williams (Hg.), The Making<br />
of Orthodoxy. Essays in Honour of Henry Chadwick, Cambridge 1989, 5. Original:
8<br />
simply the totality of cultic practices, mythology and speculation about the gods current among the people of a<br />
specific area or ethnic-linguistic unit or network of such units. Religious definition is inseparable from definition<br />
as a people or a city or whatever; the defacto context in which a person lives is assumed to be the source for<br />
‘meaning’, the provi<strong>der</strong> of a comprehensive pattern or map of the cosmos.“<br />
Elemente dessen, was wir <strong>Religion</strong> nennen, waren also in <strong>der</strong> Antike Teil eines Ethnizitäts-<br />
Diskurses. Sie gehörten zur ethnischen Selbstdefinition <strong>der</strong> antiken Menschen. Paul Cartledge,<br />
ein britischer Altertumswissenschaftler, verweist dafür insbeson<strong>der</strong>e auf einen Text von<br />
Herodot (Historien 8, 144), <strong>der</strong> <strong>das</strong> Griechentum (to hellenikon) <strong>durch</strong> folgende Aussagen<br />
umschreibt: gemeinsames „Blut“ und Sprache; gemeinsame Einrichtungen und Opfer für die<br />
Götter; gemeinsame Lebensweise. Sprechend ist ein Beispiel aus dem Johannesevangelium.<br />
Im Verhör Jesu <strong>durch</strong> den römischen Präfekten Pilatus findet sich folgende Episode:<br />
Joh 18,33-35<br />
Pilatus ging nun wie<strong>der</strong> hinein in <strong>das</strong> Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du <strong>der</strong><br />
König <strong>der</strong> Juden? 34 Jesus antwortete: Sagst du dies von dir selbst aus, o<strong>der</strong> haben dir an<strong>der</strong>e<br />
von mir gesagt? 35 Pilatus antwortete: Bin ich etwa ein Judäer (Ioudaios)? Dein Volk<br />
(ethnos) und die Hohenpriester haben dich mir überliefert. Was hast du getan?<br />
Pilatus stellt kaum, so vermute ich jedenfalls, die rhetorische Frage, ob er ein Jude sei, also<br />
Mitlied einer ganz bestimmten <strong>Religion</strong>sgemeinschaft. Vielmehr meint <strong>das</strong> griechische Wort<br />
Ioudaios hier (wie auch sonst im Neuen Testament) zunächst einmal die Zugehörigkeit zu<br />
einem bestimmten Volk, nämlich einem Volk <strong>das</strong> nach einem bestimmten Territorium (Judäa)<br />
benannt wird: dem Volk <strong>der</strong> Judäer. Eben dies bestätigt dann <strong>der</strong> zweite Satz, in dem die<br />
ethnische Dimension explizit benannt wird. Der Hinweis auf die Hohenpriester än<strong>der</strong>t an<br />
diesem Bild nichts, denn sie repräsentieren die Führung des Volkes und sind hier nicht als<br />
eine Art „Kirchenleitung“ o<strong>der</strong> Klerus zu verstehen. Der spezifische Kult eines Volkes, <strong>der</strong><br />
Teil dessen ist, was wir „<strong>Religion</strong>“ nennen, war also Kennzeichen einer bestimmten Ethnie.<br />
Und was eben den Angehörigen des einen Ethnos gemeinsam war, unterschied sie von den<br />
Angehörigen eines an<strong>der</strong>en. Judäer unterschieden sich gerade darin von an<strong>der</strong>en antiken<br />
Völkern, <strong>das</strong>s sie eine spezifische Art <strong>der</strong> Verehrung ihres Gottes besaßen (nur ein zentrales<br />
Heiligtum, keine Opfer außerhalb des Jerusalemer Tempels, eine bestimmte, zumal <strong>durch</strong> die<br />
Tora formulierte kulturelle Praxis usw.). Daneben waren religiöse Elemente „eingebettet“ in<br />
die antike Familie, gehörten also zu den familiären Praktiken. „Religiöse“ Praktiken hatten<br />
auch in freiwilligen Vereinen ihren Platz. Grundsätzlich kann man also davon sprechen, <strong>das</strong>s<br />
religiöse Praktiken in <strong>der</strong> Antike in soziale Institutionen eingebettet waren, die ihrerseits nicht<br />
als religiöse Institutionen bezeichnet werden könnten.<br />
Es ist auf diesem Hintergrund nicht zufällig, <strong>das</strong>s die christlichen Gruppen – ungeachtet<br />
dessen, <strong>das</strong>s sie bei ihren Zeitgenossen einen ambivalenten Eindruck hinterließen und für sich<br />
selbst auch multiple Identifikationsmöglichkeiten kannten – sich vor allem auch als ein Volk,<br />
eine Ethnie verstanden. Adolf von Harnack hat eine Anzahl von Begriffen zusammengestellt,<br />
mit denen sich die frühen Christen selbst bezeichnet haben. Auch seine Liste zeigt die<br />
Dominanz des ethnischen Vokabulars: 15<br />
„<strong>Die</strong> Christen selbst nannten sich ‚Volk Gottes’, ‚Israel nach dem Geiste’, ‚Samen Abrahams’, ‚Auserwähltes<br />
Volk’, ‚Heiliges Volk’, ‚Zwölf Stämme’, ‚Erwählte’, ‚Gläubige’, ‚Heilige’, ‚Brü<strong>der</strong>’, ‚Kirche Gottes’, ‚Knechte<br />
Gottes’.“<br />
15 Adolf von Harnack, <strong>Die</strong> Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten die Jahrhun<strong>der</strong>ten,<br />
Nachdruck <strong>der</strong> 4. Auflage von 1924, Leipzig 1965, 413-415.
9<br />
Der ethnischen Selbst-Identifzierung entspricht im Übrigen auch <strong>der</strong> im Neuen Testament<br />
herausragende Begriff <strong>der</strong> ekklesia, <strong>der</strong> die Versammlung <strong>der</strong> Bürger einer Polis bezeichnet<br />
und eben auch die Versammlung <strong>der</strong> Christinnen und Christen. Einen zweiten Schwerpunkt<br />
bildet im Neuen Testament Familien-Vokabular, d.h. die christlichen Gemeinschaften<br />
verstehen sich wie die Angehörigen eines oikos, <strong>das</strong> heißt als Mitglie<strong>der</strong> einer Großfamilie;<br />
sie reden sich demgemäß auch als Brü<strong>der</strong> und Schwestern an.<br />
Von außen können die Christen als beson<strong>der</strong>e, messianische Gruppe innerhalb des jüdischen<br />
Volkes wahrgenommen. Sie werden aber auch als Philosophenschule verstanden<br />
(hairesis/secta) bzw. als Verein, collegium. Von offizieller römischer Seite werden sie als<br />
illegale Parteiung (factio illicita) o<strong>der</strong> auch als superstitio, d.h. als Gruppe eingeschätzt, die<br />
fremde, nicht akzeptable kultische Bräuche praktiziert, die im Gegensatz zum römischen<br />
Selbstverständnis stehen.<br />
Auffällig ist, <strong>das</strong>s jene Elemente, die wir heute „religiös“ nennen würden, gleichsam die<br />
Schnittmenge <strong>der</strong> unterschiedlichen Diskurse darstellt. Und zumal wenn wir auf die<br />
Selbstzeugnisse <strong>der</strong> frühen Christenheit achten, zeigt sich, <strong>das</strong>s sich diese Schnittmenge<br />
verselbständigt hat, namentlich im Neuen Testament. Viele seiner Schriften und Texte<br />
belegen einen inner-christlichen Diskurs, in dem sich diese Schnittmenge nahezu schon zu<br />
einem Glaubenssystem <strong>der</strong> Christenheit ausdifferenzierte und dann auch zum Gegenstand<br />
beständiger Kontroversen werden konnte.<br />
Um es zum Abschluss in einer vorsichtigen These auszudrücken: Ich meine, <strong>das</strong>s es kein<br />
Zufall ist, <strong>das</strong>s sich <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Diskurs über <strong>Religion</strong> als ein eigenständiger Bereich von<br />
Kultur und Gesellschaft auf dem Boden des abendländischen Christentums entwickeln<br />
konnte. Dafür war <strong>der</strong> Boden längst bereitet. Das frühe Christentum ist „<strong>Religion</strong>“ avant la<br />
lettre.