Vortrag von Frau Prof. Dr. Hildegard Wustmans zur - Katholische ...
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<strong>Hildegard</strong> <strong>Wustmans</strong><br />
Wir sind nicht der Nabel der Welt.<br />
Chancen und Zumutungen <strong>von</strong> Netzwerken<br />
<strong>Katholische</strong> Kirche in Stuttgart, 7. Oktober 2011, Haus der <strong>Katholische</strong>n Kirche in Stuttgart<br />
Dass wir heute Abend hier versammelt sind und Sie das Projekt „Aufbrechen“ starten, liegt wohl auch<br />
daran, dass wir ahnen, dass es so nicht weitergehen kann. Es ist an unterschiedlichen Orten zu<br />
erfahren, dass die Kirche als Institution zunehmend an Grenzen kommt. Diese Anmerkung ist keine<br />
Rede gegen die Kirche als Institution, diese ist geboten und hat auch viele Vorteile, wie z. B. gelingende<br />
Kommunikation und die Organisation komplexer Bereiche. Allerdings muss man die Gefahr der<br />
Verselbstständigung im Blick haben. Wenn sich die Institution für selbstverständlich hält, dann ist es<br />
folglich so, dass sie Veränderungen nicht als Herausforderung versteht, sondern als Angriff auf die<br />
eigene Existenz. Kirche und Evangelium stehen in einem engen und unmittelbaren Zusammenhang,<br />
aber sie sind nicht identisch! Und so ist m. E. die Frage zu stellen, ob die Arbeit in Netzwerken der<br />
Kirche hilft, besser ihrer Aufgabe nachzukommen – das Evangelium in der Welt <strong>von</strong> heute zu<br />
verkünden. 1<br />
Die nachfolgenden Ausführungen stehen unter dieser Perspektive.<br />
Dass es so nicht weitergehen kann, ist keine kirchliche Erfahrung neueren Datums. Diese Erkenntnis<br />
hat in besonderer Weise auch das II. Vatikanische Konzil durchzogen. 2<br />
In GS 4 heißt es, dass „die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte [steht], in der<br />
tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen.“ Das<br />
provoziert den Wandel. Gegenwärtig wird dieser aber vor allem auch durch den demografischen<br />
Wandel und nicht zuletzt durch innerkirchliche Probleme, hier sind nur die Stichworte<br />
Missbrauchsskandal oder die Debatten rund um das Memorandum zu nennen. Die Situation der<br />
katholischen Kirche in Deutschland ist prekär. Sie steht innen wie außen unter <strong>Dr</strong>uck. Die Zeichen und<br />
Bilder ihrer Macht sind auch heute noch eindrucksvoll, das haben wir beim Papstbesuch vor zwei<br />
Wochen gesehen, aber sie verblassen schnell. 3 Diese Entwicklungen machen deutlich, dass sich die<br />
Zeiten für die Kirche geändert haben und sie legen den Schluss nahe, dass die Instrumente, mit denen<br />
1 Vgl. Bucher, Rainer: Die Provokation der Krise. Zwölf Fragen und Antworten <strong>zur</strong> Lage der Kirche, Würzburg<br />
2004, 30-44, 3.<br />
2 Vgl. Ebertz, Michael: Gesellschaftlicher Wandel der Kirche, in: ThGl 100(2010)3, 319-343, 319.<br />
3 Ein Beispiel für die Macht der Bilder und ihr schnelles Verblassen war das öffentliche Leiden und Sterben <strong>von</strong><br />
Papst Johannes Paul II. Die mediale Präsenz der Religionsgemeinschaft war außerordentlich, geradezu<br />
bildbestimmend. Inzwischen sind die Bilder verschwunden, über Johannes Paul II wird kaum mehr geredet und<br />
das Interesse am neuen Papst Benedikt XVI blitzt inzwischen nur noch punktuell auf.<br />
1
Kirche ihre Religion strukturiert hat, heute vielfach nicht mehr greifen. Die Macht der<br />
Religionsgemeinschaft verblasst und sie muss erkennen, dass sie diesen Prozessen nicht ausweichen<br />
kann. Und sie stellen die Kirche vor die Aufgabe, sich neu zu vergewissern. Es sind im Rahmen der<br />
pastoralen Überlegungen neue Fragen zu stellen. D. h. nicht mehr danach fragen „Wie lebendig sind<br />
wir?“, sondern „Wen schließen wir aus?“. Nicht danach fragen „Wer kommt alles nicht zu uns?“,<br />
sondern „Wo gehen wir hin, wen suchen wir auf?“. Nicht fragen „Wie halten wir unsere Sozialform<br />
Kirchengemeinde am funktionieren?“, sondern „Wofür gibt es die Gemeinde und wie müssen wir uns<br />
vielleicht verändern, um unsere Aufgabe heute erfüllen zu können?“ „Was bedeutet das Evangelium<br />
hier und heute und was bedeutet das Hier und Heute für das Evangelium?“„Welche Formen brauchen<br />
wir, um diese Aufgaben zu erfüllen? 4<br />
Diese Fragen spitzen noch einmal die Situation der Kirche und ihrer Pastoral zu. Allerdings fällt die<br />
Beantwortung nicht eindeutig aus. Im Folgenden möchte ich vier Kirchenkursoptionen vorstellen, wie sie<br />
<strong>von</strong> Michael Ebertz herausgearbeitet wurden. Diese Kirchenkursoptionen lassen sich in<br />
unterschiedlicher Weise in den Handlungsmustern <strong>von</strong> Diözesen und in theologischen Diskursen<br />
ausmachen. Dabei handelt es sich um: 5<br />
• die Option der institutionellen Stabilisierung<br />
• die Option der pragmatischen Selbstregulierung<br />
• die Option der elitären Minorisierung<br />
• die Option des Umlernens.<br />
Die Option der institutionellen Stabilisierung steht für das Prinzip, dass die alten Lösungen schon<br />
immer die richtigen waren. 6 Alles bleibt beim Alten. Probleme und Schwierigkeiten sitzt man aus, weil<br />
man sie für etwas Vorübergehendes hält. Diese Option setzt „auf die eigene institutionelle<br />
Überlegenheit und – in Deutschland – auf das rechtlich abgesicherte Verhältnis zum Staat. Der<br />
Selbsterhaltung ordnet diese Option letztlich alles unter.“ 7<br />
Die Option der pragmatischen Selbstregulierung steht für spontane Entscheidungen. 8 Man nimmt<br />
die Veränderungen als gegeben hin und versucht sich auf diese irgendwie einzustellen. Zudem ist man<br />
in dem Glauben, dass den immer geringer werdenden Gemeinschaftserwartungen <strong>von</strong> Katholik/-innen,<br />
4 Vgl. Bucher, Rainer: Jenseits der Idylle, in: ders. (Hg.): Die Provokation der Krise. Zwölf Fragen und<br />
Antworten <strong>zur</strong> Lage der Kirche, Würzburg 2004, 124-128, 126f.<br />
5 Ebertz, Michael: Gesellschaftlicher Wandel der Kirche, in: ThGl 100(2010)3, 319-343, 332-336<br />
6 Vgl. ders. ebd., 332f.<br />
7 Ders. ebd., 332.<br />
8 Vgl. ders. ebd. 333f.<br />
2
die geringer werdenden Anfragen nach Taufe, Trauung, Firmung auch mit weniger hauptamtlichen<br />
Personal und somit auch mit weniger Geld zu bewerkstelligen sind. 9<br />
Die Option der elitären Minorisierung setzt auf „das Wesentliche“. 10 Das Handlungsprinzip dieser<br />
Option ist <strong>von</strong> ‚inhaltlicher Aufrüstung’ und ‚struktureller Abrüstung’ (z. B. Abbau kirchenbürokratischer<br />
Strukturen) gekennzeichnet. 11 Der Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Strömungen steht man<br />
kritisch gegenüber. Selbstrelativierung ist ein Fremdwort. Man versteht sich als nicht „<strong>von</strong> dieser<br />
Welt“. 12 Diese Kirche fühlt sich erwählt und aus den Haltungen glaubensfester Mitglieder schöpft sie<br />
ihre Hoffnung, „missionarisch attraktiv für eine gottentleerte Welt und für andere Konfessionen und<br />
Religionsgemeinschaften zu werden.“ 13<br />
„Die Option des Aufbruchs oder die Haltung des Lernens“ 14 ist <strong>von</strong> einer grundsätzlichen<br />
Aufgeschlossenheit für die Umwelt und die in ihr <strong>von</strong>statten gehenden Veränderungen geprägt.<br />
„Kontextveränderungen werden [dann] nicht nur als Zwang zum Nachziehen oder Rückzug<br />
hingenommen, sondern als Lern- und Veränderungschance begriffen.“ 15 Und so würde ich jetzt schon<br />
sagen, dass das Projekt „Aufbrechen“ ganz eindeutig in diese Option einzuordnen ist. Es steht nicht nur<br />
für die Notwendigkeit der Veränderung, sondern auch für die Chancen, die in Veränderungsprozessen<br />
stecken können. Denn es geht darum, die Botschaft des Christentums in neue soziale Gestalten zu<br />
formatieren, die den Menschen hier und heute etwas sagen und bedeuten können.<br />
Die verschiedenen Optionen setzen auf jeweils andere Kapitalien. 16 Kapital ist dabei mehr als nur Geld.<br />
Auch soziale Netzwerke, Bildungsabschlüsse, kulturelles Wissen ergeben Kapitalien, und auch Religion<br />
ist eine Form <strong>von</strong> Kapital. Diese Kapitalien verhelfen Menschen oder einer Institution zu<br />
Aufstiegschancen und stellen zugleich Bewältigungsstrategien für Herausforderungen bereit. Mit den<br />
Kapitalien verbindet sich immer auch ein bestimmter Habitus, der über die Position im sozialen Feld<br />
entscheidet. Dieser <strong>von</strong> Pierre Bourdieu entwickelte Kapitalbegriff ist dynamisch und ist in einer sozialen<br />
Praxis zu erfahren und umzusetzen. Der Einsatz <strong>von</strong> Kapital wird somit zu einer objektiven und<br />
öffentlichen Größe. Aber wie mit jeder Kapitalsorte ist es auch hier erforderlich, sie einzusetzen, sonst<br />
hat man nichts da<strong>von</strong>. Die Investition zeigt sich z. B. darin, ob man bereit ist, Risiken einzugehen,<br />
9 Vgl. ders. ebd. 333.<br />
10 Ders. ebd. 334.<br />
11 Vgl. ders. ebd. 334.<br />
12 Ders. ebd. 334.<br />
13 Ders. ebd. 334.<br />
14 Ders. ebd. 335f.<br />
15 Ders. ebd. 335.<br />
16 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1982.<br />
3
indem man Kapitalsorten kombiniert, den Habitus intensiviert, indem man sich nach oben orientiert.<br />
Geschieht dies nicht, so verliert man auch das Wenige, was man noch hat.<br />
Über einen solchen Einsatz <strong>von</strong> Kapital weiß auch Jesus Bescheid, wie wir in der Parabel vom<br />
anvertrauten Geld nachlesen können (Mt 25,14-30). Diese Parabel erzählt <strong>von</strong> einem Mann, der eine<br />
Reise zu machen hat und zuvor seinen Dienern Geld anvertraut und ihnen aufträgt, damit Geschäfte zu<br />
machen. Nach seiner Rückkehr ruft er die Diener zu sich, weil er wissen will, was sie erwirtschaftet<br />
haben. Bis auf einen Diener haben alle mit dem anvertrauten Geld gewirtschaftet und das Guthaben<br />
vergrößert. Dieser eine aber sagte (Mt 25,24-26):<br />
„24 Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst,<br />
wo du nicht ausgestreut hast; 25 weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Hier<br />
hast du es wieder. 26 Sein Herr antwortete ihm: Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast doch<br />
gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe.“<br />
Zwei Aspekte sind in diesem Gleichnis bedeutsam:<br />
1. Wer sich <strong>von</strong> Angst leiten lässt, wie einer der Knechte, wer also nichts riskiert und kein Wagnis<br />
eingeht, der verliert alles. 17<br />
2. Wer so frei und souverän ist wie der Herr, hebt ab, wo er nicht eingezahlt hat, erntet, wo er<br />
nicht gesät hat. So jemand hat keine Angst und gewinnt alles.<br />
Auch für die Kirche ist ihr religiöses Kapital entscheidend. Dieses ist die soziale Praxis, die ihrer<br />
Botschaft entspricht: zu heilen, zu befreien, zu stärken, zu ermutigen, zu lieben und Hoffnung zu geben.<br />
Der Blick auf das Gleichnis bietet eine Perspektive, den Verweis auf eine besondere religiöse<br />
Kapitalsorte – auf die Botschaft des Reiches Gottes. Diese Botschaft lautet: schaut auf das Reich<br />
Gottes – es wird größer! In der religiösen Kapitalsorte des Reiches Gottes steckt Hoffnung und ein<br />
neuer Habitus wird sichtbar. Nicht mehr Mangel und Angst herrschen vor, sondern Zuversicht und Fülle.<br />
Wer seine Hoffnung auf das Reich Gottes setzt und an ihm arbeitet, der kann gelassen bleiben. Gegen<br />
den Habitus des Mangels, stellt sich der Habitus der Hoffnung ein.<br />
Die Hoffnungsperspektive des Reiches Gottes ist für die Kirche eine wichtige Ressource. Wenn die<br />
Kirche dem Reich Gottes dient, dann kann sie souverän bleiben. Dazu ist es allerdings erforderlich,<br />
dass sie sich auf das religiöse Kapital besinnt, bereit ist, Risiken einzugehen und ihr Kapital an<br />
unterschiedlichen Orten zu investieren. Dies bedeutet in der Konsequenz, sich nicht mehr<br />
17 Vgl. Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus, Evangelisch-<strong>Katholische</strong>r Kommentar zum Neuen<br />
Testament, 1/3, Zürich 1997, 492-514, 503, 505.<br />
4
sozialformorientiert, sondern pastoralorientiert zu entwickeln und dabei sozialformkreativ zu werden, wie<br />
es der Grazer Kollege Rainer Bucher formuliert. 18<br />
Es bedeutet in Orte zu investieren, sie zu stärken, <strong>von</strong> ihnen zu lernen und einen Perspektiven- und<br />
Paradigmenwechsel zu vollziehen: Statt der Fixierung auf alles was fehlt, wird der Blick darauf gelenkt,<br />
was der Kirche an neuen Orten und <strong>von</strong> bislang unerhörten Minderheiten an Talenten zugeführt wird.<br />
Wer auf diese Talente setzt, in sie investiert, wird belohnt werden und beweist Gottvertrauen. Ich bin der<br />
Überzeugung, dass eine solche Pastoral, die etwas riskiert, nicht ohne die Arbeit im Netzwerk<br />
auskommt. Deswegen nun zum Abschluss einige Überlegungen <strong>zur</strong> Pastoral in Netzwerken.<br />
Von einer Pastoral in Netzwerken<br />
Zu Beginn muss deutlich gesagt werden, dass die Arbeit in Netzwerken den Akteuren einiges<br />
abverlangt, vor allem die „Überwindung eingefahrener Mentalitätsmuster.“ 19 Die Beziehungen der<br />
kirchlichen Orte untereinander und zu gesellschaftlichen Orten sind neu zu formatieren. Gegenseitige<br />
Relativierungen sind zu akzeptieren und nicht als Bedrohungen zu verstehen. Im Netzwerk gibt es dann<br />
größere, kleinere und temporäre Gruppen <strong>von</strong> und für Menschen mit unterschiedlichem Habitus,<br />
sozialer Lage und Bedürfnissen. Dies bedeutet auch, dass die kirchlichen Anstrengungen im Netzwerk<br />
nicht mehr sozialformorientiert, sondern pastoralorientiert entwickelt werden. 20 Kirche als Netzwerk<br />
pastoraler Orte macht Ernst mit der Konfrontation <strong>von</strong> Evangelium und Leben. Gemeinden sind „in<br />
diesem Netz die niedrigschwellige, kontaktfreudige und leicht identifizierbare Basisstruktur.“ 21 Und<br />
zugleich wird klar, dass Netzwerke nur im Kontext größerer Zusammenschlüsse möglich sind, weil sie<br />
gerade <strong>von</strong> der Vielfalt im Raum profitieren. Damit sind solche Versuche der Gestaltung der Pastoral,<br />
eine Widerlegung der allgemeinen Prämisse, dass Großräume für belebende pastorale Erfahrungen<br />
nicht geeignet sind. Der starke Verweis auf Nähe betont eine Form des Christseins, das sich<br />
soziologisch gesprochen als Gruppe definiert. Gruppen sind in diesem Sinn auf den Nahraum<br />
fokussiert. Sie leben <strong>von</strong> der wechselseitigen Bekanntschaft. Sie betonen ihre Außengrenzen und<br />
verfolgen Ziele und Zwecke, die auf den Nahraum bezogen sind. 22<br />
Doch inzwischen ist den meisten klar, dass gerade diese Form einer gruppenmäßig orientierten<br />
Pastoral unter <strong>Dr</strong>uck geraten ist und dies m. E. nicht nur, weil es den Priestermangel gibt. Es hat auch<br />
18 Vgl. Bucher, Rainer: Die Neuerfindung der Gemeinde und des Pfarrgemeinderates, in: Lebendige Seelsorge<br />
55(2004)1, 18-22, 22.<br />
19 Ders., ebd. 21.<br />
20 Vgl. ders. ebd., 20.<br />
21 Ders. ebd., 20.<br />
22 Vgl. Sellmann, Matthias: Von der „Gruppe“ zum „Netzwerk“. Große pastorale Räume als Chance für eine<br />
durchbrechende Vielfalt kirchlicher Sozialformen, in: Anzeiger für die Seelsorge 119(2010)3, 19-23, 20.<br />
5
und gerade etwas mit den veränderten Lebensformen und Lebensstilen der Menschen zu tun, die ihre<br />
sozialen Bezüge längst nicht mehr nur an dem Ort haben, an dem sie amtlich gemeldet sind. Durch die<br />
zunehmende Flexibilisierung, gerade auch in Bezug auf Wohn- und Arbeitsplatzwechsel, sind mehr und<br />
mehr Menschen gezwungen, sich immer wieder neu an ganz unterschiedlichen Orten sozial zu<br />
vernetzen. Was in anderen Kontexten gelingt, fällt in kirchlichen Zusammenhängen paradoxerweise<br />
schwer. Insofern ist die gegenwärtige Gemeindekrise, „eigentlich vor allem in Form einer bestimmten<br />
Stilkrise, nämlich einer Gruppenkrise [erkennbar]. Tatsächlich wird es für Gruppen in einem bestimmten<br />
Sinn schwerer, sich identitär in einem flächig wie bürokratisch vergrößerten Raum zu behaupten.“ 23<br />
Damit die Arbeit im Netzwerk wirklich funktionieren kann, bedarf es allerdings einer fundamentalen<br />
Veränderung: es geht nicht mehr um die Gemeinde als vertraute Größe und Gruppe, sondern um die<br />
Vielfalt und die gegenseitige Relativierung, die für kreative Neuansätze genutzt werden können und<br />
sollen. Aufgabe der Kirche ist es, Gott in der Welt <strong>von</strong> heute sichtbar werden zu lassen. Es geht darum,<br />
„das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden“ 24 und dabei ist es einleuchtend, dass die Qualität<br />
dieser Verkündigung nicht an eine bestimmte Sozialform gebunden sein kann. Denn so würde Kirche<br />
sich sogleich <strong>von</strong> vielen Orten und Begegnungen dispensieren und sich selber die Chance nehmen, in<br />
der Begegnung mit anderen auch immer wieder neu das Evangelium zu entdecken. 25<br />
Netzwerke setzen verschiedene Sozialformen in Beziehung. In der Analyse des Raumes gewinnt man<br />
einen Eindruck da<strong>von</strong>, wo es Bindungen gibt und wo nicht. 26 Es wird erkennbar, wer im Raum schon in<br />
Kontakt ist und wie diese Kontakte gestaltet sind. Etwas kann jedoch nicht deutlich genug betont<br />
werden: dass man im Netzwerk den Anspruch aufgibt, „ein Zentrum errichten zu wollen. Netzwerke<br />
agieren dezentral; ihre Vitalität entsteht aus den Zellen, die sich selbst organisieren, dann aber auf das<br />
Ganze des Netzes beziehen. […] Die Leitung eines pastoralen Großraums wird <strong>zur</strong> Netzwerkleitung, die<br />
Selbststeuerung fördert und die die selbst gesteuerten Einheiten gleichzeitig auf eine gemeinsame<br />
symbolische Identität des ganzen Netzwerkes ausrichtet.“ 27<br />
Netzwerke fördern die Wahrnehmung des Raums als ein Netzwerk pluraler kirchlicher Erfahrungsorte<br />
mit ihren wechselseitigen Relativierungen und Bereicherungen, mit ihrer gegenseitigen Kritik und<br />
23 Sellmann, Matthias: Von der „Gruppe“ zum „Netzwerk“. Große pastorale Räume als Chance für eine<br />
durchbrechende Vielfalt kirchlicher Sozialformen, in: Anzeiger für die Seelsorge 119(2010)3, 19-23, 20.<br />
24 Bucher, Rainer: Die pastorale Konstitution der Kirche. Was soll Kirche eigentlich?, in: ders.: Die Provokation<br />
der Krise. Zwölf Fragen und Antworten <strong>zur</strong> Lage der Kirche, Würzburg 2004, 30-44, 31.<br />
25 Für diese Erfahrung seien exemplarisch die Arbeiterpriester genannt. Sie haben unter den Arbeitern das<br />
Evangelium neu entdeckt und erkannt, dass Mission keine Einbahnstraße ist. „Nicht sie bekehrten die Arbeiter<br />
<strong>zur</strong> Kirche, sondern diese bekehrten sie zum Evangelium.“ Bauer, Christian: Gott im Milieu, in: Diakonia<br />
39(2008)2, 123-129, 124.<br />
26 Vgl. Sellmann, Matthias: Von der „Gruppe“ zum „Netzwerk“. Große pastorale Räume als Chance für eine<br />
durchbrechende Vielfalt kirchlicher Sozialformen, in: Anzeiger für die Seelsorge 119(2010)3, 19-23, 22.<br />
27 Ders. ebd., 23.<br />
6
Ergänzung. 28 Sie ermöglichen es, Dominanzen und Singularitäten zu überwinden. Auf einmal kommt<br />
Vielfalt in den Blick, die Kreativität freisetzen kann. Netzwerke stellen die Verknüpfung sich<br />
selbstorganisierender Orte dar, die sich auf das Netz als Ganzes beziehen. 29 Im Netzwerk herrscht ein<br />
Habitus des gegenseitigen Interesses und der Neugierde und man erkennt die Kompetenz der anderen<br />
an und gewinnt sie auch für sich.<br />
Um Handlungsfähigkeit im Netzwerk herzustellen, ist es erforderlich, zu argumentieren, zu verhandeln<br />
und für die eigenen Positionen und Ideen zu werben. Das Gelingen der Arbeit im Netzwerk hängt also<br />
<strong>von</strong> den Zustimmungen der Akteure im Netz ab. 30 Die Arbeit in Netzwerken verlangt <strong>von</strong> allen<br />
Beteiligten und besonders <strong>von</strong> den hauptamtlich Tätigen, die Auseinandersetzung mit der neuen Rolle.<br />
Man hat sich selber als Teil in einem lebendigen Ganzen zu verstehen. Damit dieses Ganze sich kreativ<br />
belebt, ist es wichtig, Kontakte und Austausch permanent zu pflegen. Es geht dabei auch darum, sich<br />
immer wieder neu zu fragen, welche Brücken zu schlagen sind oder welche intensiviert werden sollen<br />
und wie das geschehen kann. Damit solche Funktionen ausgeübt werden können, bedarf es auch der<br />
Auseinandersetzung mit der neuen Rolle und des Habitus, den eine Netzwerkerin, ein Netzwerker<br />
braucht.<br />
Im Denken des bereits erwähnten Soziologen Pierre Bourdieu spielt neben den Kapitalien auch die<br />
Auseinandersetzung mit Habitus eine wichtige Rolle. „Die ursprüngliche Bedeutung meint: (erworbene)<br />
Haltung, Habe, Gehabe. Der Habitus ist sozusagen laut Bourdieu ‚Leib gewordene Geschichte’. Dieses<br />
Erlernen <strong>von</strong> Praxis erfolgt auf einer vorbewussten Ebene, nicht auf der des Unterrichts. Dies ist auch<br />
der Grund dafür, dass im Elternhaus erworbene Schemata tiefer verankert sind und ,natürlicher’<br />
scheinen (überdies auch gesellschaftlich ein höheres Ansehen genießen) als solche, die ein Akteur<br />
etwa in der Schule vermittelt bekommen hat. Der Habitus braucht ein soziales Feld.“ 31 Veränderungen<br />
in der Gesellschaft können dazu führen, dass der Habitus nicht mehr trägt. Dann ist es erforderlich und<br />
auch möglich, den Habitus zu verändern.<br />
Im Kontext der Kirche ist unschwer erkennbar, dass sich das soziale Feld verschoben, verändert hat.<br />
Will Kirche nun ihre Anschlüsse nicht verlieren, dann hat sie im Sinne <strong>von</strong> Bourdieu an ihrem Habitus zu<br />
arbeiten. Will man den Anschluss nicht verlieren, dann muss der Habitus verändert werden. Insofern<br />
entscheidet die Wahl des Habitus auch über die Position, die in der Gesellschaft eingenommen werden<br />
soll, z. B. die einer elitären Minderheit, einer pragmatischen, aber zunehmend an Bedeutungsverlust<br />
leidenden Gruppe oder eines anerkannten Players im sozialen Raum. Dieser zeichnet sich durch die<br />
28 Vgl. Bauer, Christian: Von der Pfarrei zum Netzwerk? Eine pastoralsoziologische Probebohrung, in: Diakonia<br />
40(2009)2, 119-126.<br />
29 Vgl. Ebertz, Michael: Gesellschaftlicher Wandel der Kirche, in: ThGl 100(2010)3, 319-343, 342.<br />
30 Vgl. ders. ebd., 343.<br />
31 http://www.bathyskaph.de/franzos.html, [6. September 2010].<br />
7
Haltung aus, dass man an anderen interessiert ist und sich selbstbewusst ins Spiel bringt, wobei<br />
Überheblichkeit allerdings keinen Platz hat. Man weiß, dass man nicht der Nabel der Welt ist. Man weiß,<br />
dass es auf die vielfältigen Kontakte im sozialen Raum ankommt. Vor diesem Hintergrund lassen sich<br />
nun sechs Einstellungen formulieren, die für eine kreative und produktive Netzwerkarbeit unerlässlich<br />
sind.<br />
1. Sich in den sozialen Raum hineinbewegen, selber aktiv werden. 32<br />
Diese Einstellung scheint banal, aber das ist sie nicht. Wer sich in den sozialen Raum hineinbegibt,<br />
muss sich aktiv ein Bild <strong>von</strong> ihm machen. Die Akteure müssen in Erfahrung bringen, was an<br />
welchen Orten, zu welchem Zweck geschieht. An dieser Stelle ist an eine Unterscheidung des II.<br />
Vatikanums anzuknüpfen, in der <strong>von</strong> „Gemeinschaft und Dienstleistung“ (LG 4) gesprochen wird.<br />
„Kirche verwirklicht sich […] nicht nur communial, sondern auch in Dienstleistungsstrukturen. […]<br />
Die derzeit kursierenden kirchlichen Leitbilder sind noch deutlich ‚communiolastig’, sprechen zwar<br />
<strong>von</strong> ‚Dienst’, haben sich aber noch kaum zum Ausdruck der ‚Dienstleistung’ durchgerungen […]“, 33<br />
um mit Michael Ebertz zu sprechen.<br />
Wer auch aus der Dienstleistungsperspektive die Dinge betrachtet, fragt auch danach, was man<br />
anderen anzubieten hat. Und damit geschieht zugleich zweierlei: Zielorientierung setzt automatisch<br />
ein und man wird versuchen, dass, was man hat, im positiven Sinn zu vermarkten.<br />
2. Die Stärken der anderen sehen 34<br />
In der Netzwerkarbeit ist kein Platz für Abneigung und Ressentiment. Diese werden dadurch<br />
genährt, dass man sich, auch wenn man es besser wissen müsste, noch immer für stark hält und<br />
sich zugleich stereotyper Wahrnehmungen <strong>von</strong> anderen hingibt. Im Grunde wird nur einer Logik<br />
gefolgt, den anderen mit seinen Schwächen, aber ohne seine Stärken zu sehen und umgekehrt, die<br />
eigenen Schwächen zu ignorieren. Wer sich allerdings an den Schwächen der anderen orientiert<br />
und nicht an ihren Stärken, für den ist im Netzwerk kein Platz. 35 Die Lösung besteht nicht darin,<br />
nach den Schwächen der anderen zu bohren, sondern genau im umgekehrten Schritt, sich an ihren<br />
Stärken zu messen und selber über die eigenen Schwächen hinaus daran zu wachsen.<br />
32 Vgl. Hauslanden, Anni / Laufenberg, Gerda: Die Kunst des Klüngelns, Reinbek bei Hamburg 2000, 64-218.<br />
33 Ebertz, Michael: Gesellschaftlicher Wandel der Kirche, in: ThGl 100(2010)3, 319-343, 342.<br />
34 Vgl. Hauslanden, Anni / Laufenberg, Gerda: Die Kunst des Klüngelns, Reinbek bei Hamburg 2000, 64-218.<br />
35 Die entsprechende biblische Stelle lautet Lk 18,9-14.<br />
8
3. Neugierig sein 36<br />
Wer im Netzwerk arbeitet, ist an den anderen im Netzwerk und an immer neuen Netzwerkpartner/-<br />
innen interessiert. Man will und muss wissen, worin ihre Stärken liegen, wie sie ihre Aufgaben<br />
definieren und über was sie verfügen, was man selber nicht hat.<br />
4. Mitteilsam sein 37<br />
Wer sich im Netzwerk bewegt, muss über sich selber auskunfts- und sprachfähig sein. Man muss<br />
deutlich machen, wofür man selber steht und zu erkennen geben, was die anderen im Netzwerk<br />
<strong>von</strong> der Kooperation haben könnten. „Es gibt damit mehr als genug Anlässe, kirchlicherseits<br />
wirksame Kommunikationsstrategien zu fahren.“ 38<br />
5. Geben und Nehmen 39<br />
Die Arbeit im Netzwerk besteht aus dem Prozess des Gebens und Nehmens. Man muss zulassen<br />
können, zu einem gewissen Grad und in bestimmten Zusammenhängen ein Nehmender zu sein.<br />
Worauf es aber ankommt, ist <strong>zur</strong> rechten Zeit sich dann wieder mit dem ins Spiel zu bringen, was<br />
man zu geben hat. Wer sich auf diese Form des Gebens und Nehmens einlässt, weiß um die<br />
eigenen Abhängigkeiten und hat einen Begriff <strong>von</strong> Demut. Man kann eben nicht alles und muss es<br />
auch nicht.<br />
6. Kontakte knüpfen 40<br />
Ein Netzwerk ist so gut wie die Kontakte, die es in ihm gibt. Vor diesem Hintergrund gilt es in einem<br />
fortdauernden Prozess nach Kontakten zu suchen, in bestehende zu investieren und neue zu<br />
initiieren. Nur so wird es dem Netzwerk und seinen Akteuren gelingen, sich immer wieder neu den<br />
Herausforderungen der Zeichen der Zeit zu stellen und taugliche Antworten zu finden.<br />
Arbeit im Netzwerk bedeutet, die Pfarrgemeinde nicht absolut zu setzen und die unterschiedlichen Orte<br />
der Pastoral nicht gegeneinander auszuspielen. Der Schlüssel liegt in einem neuen Verhältnis<br />
36 Vgl. Hauslanden, Anni / Laufenberg, Gerda: Die Kunst des Klüngelns, Reinbek bei Hamburg 2000, 64-218.<br />
37 Vgl. dies. ebd., 64-218.<br />
38 Sellmann, Matthias: Kirchen- und Glaubensmarketing, oder: Paulus reloaded<br />
http://www.sinnstiftermag.de/ausgabe_09/titelstory.htm, [16. September 2010].<br />
39 Vgl. Hauslanden, Anni / Laufenberg, Gerda: Die Kunst des Klüngelns, Reinbek bei Hamburg 2000, 64-218.<br />
40 Vgl. dies. ebd., 64-218.<br />
9
zueinander – in wechselseitiger Ergänzung und arbeitsteiliger Kooperation. „Es käme darauf an, dass<br />
die kirchlichen Orte und ihr Personal in freier Selbstverpflichtung miteinander kooperieren, sich als Teil<br />
eines pastoralen Verbundes innerhalb eines sozialen Nah- und Regionalraums (aber auch darüber<br />
hinaus) verstehen und immer weiter entwickeln. Eine solche Kooperation beginnt bereits mit einer<br />
Verbesserung der regelmäßigen und wechselseitigen Information, des konkurrenzlosen Über-sichhinaus<br />
und Auf-einander-Verweisens und des regelmäßigen Sich-Abstimmens. Diese Kooperation kann<br />
gesteigert werden durch gewählte (und in der Regel zeitlich begrenzte) gemeinsame Projekte, wenn es<br />
sinnvoll ist, Kräfte zu bündeln, und durch Arbeitsteilung unter den Pfarrgemeinden, zwischen ihnen und<br />
anderen kirchlichen Orten; denn nicht jeder muss allen alles werden. Arbeitsteilung und Vernetzung<br />
sind – neben Zielorientierung – wichtige Kooperationsprinzipien: Was A macht, muss nicht B machen<br />
und was B und A machen, muss nicht C verdoppeln usw.“ 41<br />
Wer sich auf diesen Arbeitsstil einlassen kann, erhält die Chance, charismen- und ortsspezifische<br />
Schwerpunkte zu setzen und damit sichtbar <strong>Prof</strong>il zu gewinnen. Durch Fokussierungen, durch<br />
Zielorientierung, kann auch das Gestalt gewinnen, was vielerorts als Chance und Auftrag postuliert wird<br />
– missionarische Pastoral. Diese Orte bieten „Anknüpfungsmöglichkeiten für Gläubige und<br />
Glaubenwollende“ 42 , die „Kommunikation der frohen Botschaft [wird] vervielfältigt und erhöht, etwa für<br />
solche Milieus, die bislang […] in den Pfarreien nicht erreicht werden. […] Mit der Zeit wird dann<br />
möglicherweise der zentrale Bezugspunkt der Pastoral nicht mehr vorzugsweise die einzelne<br />
Pfarrgemeinde sein, an der nur noch Minderheiten unter den Kirchenmitgliedern hängen, sondern ein<br />
neues charismatisches Netzwerk-Wir mit einem breit gefächerten Panorama <strong>von</strong> Gemeinschaften,<br />
Initiativen und Angeboten, die jeweils über sich hinaus – und gegenseitig aufeinander verweisen und –<br />
was in aller Vielstimmigkeit wichtig ist – konzentriert sind. […] Arbeitsteilige Kooperation im Netzwerk<br />
heißt Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil (auch <strong>zur</strong> Entlastung), <strong>zur</strong> Erhöhung der<br />
Differenzierung und der Qualität des gemeinsamen Wirkens.“ 43<br />
Wer sich für eine Pastoral in Netzwerken entscheidet, kann sich darauf verlassen, dass sie/er in der<br />
Tradition des Reiches Gottes steht, das gerade auch durch den vielfältigen Einsatz an Talenten wächst.<br />
Vielfalt ist keine Bedrohung oder die Verwischung <strong>von</strong> Konturen, sondern Ausdruck eines aktualisierten<br />
Glaubens, der Ausstrahlungskraft besitzt und Menschen in der Welt <strong>von</strong> heute Orte der Begegnung mit<br />
dieser Botschaft anbietet.<br />
41 Ders. ebd., 341.<br />
42 Ders. ebd., 341.<br />
43 Ders. ebd., 341.<br />
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