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(10) Philosophische Begründungstypen der Umweltethik 1 ...

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Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. <strong>10</strong>] 70<br />

(<strong>10</strong>) <strong>Philosophische</strong> Begründungstypen <strong>der</strong> <strong>Umweltethik</strong><br />

1. Fragebogen: „Entdecken Sie Ihre umweltethische Position!<br />

(siehe Anlage)<br />

2. Typen umweltethischer Begründung<br />

Ein Ausgangspunkt für die Suche nach fundamental neu ansetzenden Begründungsmodellen<br />

in <strong>der</strong> ökologischen Ethik war eine radikale Kritik am christlichen Naturverhältnis:<br />

Die im biblischen Schöpfungsbericht grundgelegte „anthropozentrische“ Vorstellung,<br />

dass <strong>der</strong> Mensch mit einem Herrschaftsauftrag über die Natur ausgestattet sei<br />

(Gen 1, 26-28), wird von Lynn White, Carl Amery u.a. als zentrale geistesgeschichtliche<br />

Ursache des neuzeitlich-instrumentellen Naturverhältnisses und damit <strong>der</strong><br />

abendländischen Umweltkrise gedeutet (Amery 1972). Als alternative Ausgangspunkte<br />

gewinnen die Vorstellungen „Vermeidung von Leid“, „Gleichberechtigung aller Leben“<br />

und „Rechtsgemeinschaft <strong>der</strong> Natur“ eine ethische Schlüsselbedeutung. In diesen Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

lassen sich folgende Begründungsmodelle unterscheiden:<br />

Anthropozentrischer Ansatz: Als zentraler ethischer Maßstab gilt hier die Würde des<br />

Menschen (griechisch: anthropos = Mensch). Ökologische For<strong>der</strong>ungen werden in Bezug<br />

die Bedürfnisse und Lebensbedingungen des Menschen begründet, wobei in neuerer<br />

Zeit insbeson<strong>der</strong>e globale Zusammenhänge sowie die künftigen Generationen ins Blickfeld<br />

gekommen sind. In seiner klassischen Ausformung bei Kant erkennt die anthropozentrische<br />

Ethik allein den Angehörigen <strong>der</strong> menschlichen Gattung den Anspruch zu,<br />

nie nur als Mittel, son<strong>der</strong>n stets auch als Zweck an sich selbst behandelt zu werden<br />

(Kant BA 66f). Darauf aufbauend geht die methodische Anthropozentrik davon aus,<br />

dass jede Begründung ethischer Sollensansprüche auf den Menschen Bezug nehmen<br />

muß, weil nur er sittliches Subjekt und damit möglicher Adressat moralischer Appelle<br />

ist (Irrgang 1992, 9-1<strong>10</strong>; Lochbühler 1996, 201-320). Die inhaltlich-materiale<br />

Anthropozentrik sieht darüber hinaus den Menschen als „Spitzengeschöpf“ an, in dem<br />

die Evolution ihren höchsten Sinn findet und <strong>der</strong> mit einem Gestaltungs- und<br />

Herrschaftsauftrag über die Natur ausgestattet ist.<br />

Pathozentrischer Ansatz: Als ethischer Maßstab gilt die Empfindungsfähigkeit (griechisch:<br />

pathein = leiden, empfinden). Ziel ist es, Leid zu vermeiden, wobei alle Lebewesen,<br />

die Freude und Schmerz empfinden können, als Träger eigener moralischer<br />

Rechte berücksichtigt werden. Der pathozentrische Ansatz entfaltet sein Anliegen vor<br />

allem im Bereich <strong>der</strong> Tierethik, in <strong>der</strong> bezogen auf die jeweilige Empfindungsfähigkeit<br />

Kriterien für artgerechte Tierhaltung definiert werden. Angesichts <strong>der</strong> Erfor<strong>der</strong>nisse des<br />

Pflanzenschutzes sowie <strong>der</strong> Berücksichtigung ökologischer Gesamtzusammenhänge<br />

hilft das Kriterium <strong>der</strong> Leidensfähigkeit jedoch kaum weiter.<br />

Biozentrischer Ansatz: Als ethischer Maßstab gilt <strong>der</strong> Wille zu leben (griechisch: bios =<br />

Leben). Jedes Lebewesen hat danach ein prinzipiell gleichrangiges Recht auf die Achtung<br />

seiner zum Überleben und zur Entfaltung notwendigen Grundbedürfnisse. Der biozentrische<br />

Ansatz geht wesentlich auf Albert Schweitzer zurück, <strong>der</strong> als allgemeines<br />

ethisches Leitprinzip formuliert: "Die Ehrfurcht vor dem Leben gibt mir das Grundprinzip<br />

des Sittlichen ein, dass das Gute in dem Erhalten, För<strong>der</strong>n und Steigern von Leben<br />

besteht und das Vernichten, Schädigen und Hemmen von Leben böse ist" (Schweitzer<br />

1990, 17). Der Gedanke, dass alle Lebewesen in einer einzigen Lebensgemeinschaft<br />

miteinan<strong>der</strong> verbunden sind, wird zunehmend auch von <strong>der</strong> Whiteheadschen Prozeßphilosophie<br />

her begründet. Der biozentrische Ansatz erkennt keinen grundsätzlichen<br />

Vorrang <strong>der</strong> menschlichen Interessen an. Um im Konfliktfall zwischen verschiedenen<br />

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Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. <strong>10</strong>] 71<br />

Lebewesen entscheiden zu können, werden teilweise Differenzierungen eingeführt, z.B.<br />

<strong>der</strong> Grad an Fähigkeit, nach selbstgesetzten Zielen zu streben, was ein wichtiges<br />

Merkmal von Leben ist (Ricken 1987).<br />

Physiozentrischer Ansatz (auch ökozentrisch o<strong>der</strong> holistisch genannt): Ethischer Maßstab<br />

ist hier die Zugehörigkeit zur Natur in ihrer Gesamtheit (griechisch: physis = Natur).<br />

Das physiozentrische Modell knüpft in seinem Naturverständnis an religiös-mythische<br />

und romantische Traditionen an und sucht auf dieser Basis nach einem „Frieden<br />

mit <strong>der</strong> Natur“ (Meyer-Abich 1986). Im Rahmen einer umfassenden „Rechtsgemeinschaft<br />

<strong>der</strong> Natur“ soll nicht nur den Menschen, son<strong>der</strong>n allen Lebewesen sowie Flüssen,<br />

Wäl<strong>der</strong>n und an<strong>der</strong>en Ökosystemen <strong>der</strong> Status von Rechtssubjekten mit eigenen, von<br />

Vertretern einklagbaren Rechten zugestanden werden. Das hat zur Konsequenz, dass<br />

eine radikale Reform des gesamten Rechtssystems gefor<strong>der</strong>t wird.<br />

3. Ökologische Aufklärung <strong>der</strong> Anthropozentrik<br />

Ohne die vielschichtigen Auseinan<strong>der</strong>setzungen um diese unterschiedlichen ethischen<br />

Ansätze hier im einzelnen zu entfalten, sollen im folgenden als eine Art Resümee für<br />

die Begründung des Nachhaltigkeitsprinzips einige wichtige Gesichtspunkte festgehalten<br />

werden:<br />

1. Die Natur hat einen Eigenwert. Sie hat den Menschen hervorgebracht und wird ihn<br />

überdauern; die Frage nach ihrem Nutzen betrifft von daher nur einen relativ eng<br />

umgrenzten Teilaspekt des menschlichen Naturverhältnisses. Die Wahrnehmung ihrer<br />

Schönheit, die Erhaltung ihrer Vielfältigkeit und die Achtung ihrer Entfaltungsbedingungen<br />

sind für den Menschen zugleich eine Frage <strong>der</strong> Übereinstimmung mit<br />

sich selbst, also seiner Identität und Selbstachtung.<br />

2. Die ästhetische, mystische o<strong>der</strong> ontologische Qualität, die für die Natur als solche<br />

reklamiert wird, ist nie aus ihrer Bezogenheit auf die kulturell vermittelten Wahrnehmungsformen<br />

des menschlichen Subjekts zu lösen (Höhn 1997, 271-274). Insofern<br />

ist die Feststellung des Eigenwertes <strong>der</strong> Natur strikt an ihren (erkenntnistheoretischen<br />

und ethischen) Bezug zum Menschen gebunden. Sie ist ein kulturspezifisches<br />

Phänomen.<br />

3. Nur <strong>der</strong> Mensch kann Subjekt sittlicher Verantwortung und damit Adressat moralischer<br />

Appelle sein. Ihm kommt eine unbedingte Würde zu, und zwar nicht aufgrund<br />

bestimmter natural faßbarer und auch an<strong>der</strong>en Lebewesen o<strong>der</strong> Naturdingen zuschreibbarer<br />

Eigenschaften, son<strong>der</strong>n als Person und damit als einem zu Freiheit und<br />

Verantwortung berufenem sittlichen Subjekt (Vogt 1997, 333-368). In dieser personal-transzendentalphilosophischen<br />

und methodischen Hinsicht ist die Anthropozentrik<br />

unhintergehbar: Jede Begründung ethischer Imperative muß zentral auf den<br />

Menschen als Person Bezug nehmen.<br />

4. Christliche Ethik kann <strong>der</strong> umweltethischen Kritik entgegenhalten, dass nicht die<br />

Anthropozentrik als solche, son<strong>der</strong>n vielmehr <strong>der</strong> Verlust ihrer theologischen Rückbindung<br />

im säkularen Anthropozentrismus <strong>der</strong> Neuzeit zu einem einseitig instrumentellen<br />

Naturverhältnis geführt hat (Irrgang 1992, 17). Dies wird durch eine differenzierte<br />

Kulturgeschichte bestätigt (Rappel 1996).<br />

5. Die Kantsche Auffassung, dass Tierquälerei nur deshalb ethisch verwerflich sei,<br />

weil <strong>der</strong> Mensch dadurch in seinem Einfühlungsvermögen auch gegenüber<br />

Menschen verrohe (Kant A <strong>10</strong>8f), ist unzureichend. Nicht als Bedürfniswesen,<br />

son<strong>der</strong>n als Verantwortungssubjekt steht <strong>der</strong> Mensch im Zentrum ethischer<br />

Argumentation. Dabei bleibt er strikt an eine Grundorientierung gebunden, die den<br />

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Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. <strong>10</strong>] 72<br />

Eigenwert seiner Mitgeschöpfe achtet und riskante Eingriffe in ökologische Systeme<br />

meidet. Personale Anthropozentrik ist also nicht zu verwechseln mit einer<br />

Begründung des Ethischen allein vom menschlichen Nutzen her.<br />

6. In Bezug auf inhaltliche Kriterien des Naturumgangs bedarf die Anthropozentrik<br />

einer „ökologischen Aufklärung“ (Höhn 1994, 16; Hasted 1991, 9-24.151-203.283-<br />

292): Für den Tierschutz gewinnt dabei das Kriterium <strong>der</strong> Empfindungsfähigkeit<br />

eine grundlegende Bedeutung; für den Umweltschutz das <strong>der</strong> Grundfunktionen<br />

übergreifen<strong>der</strong> ökologischer Zusammenhänge. Wenn man dies auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />

Kriterien und nicht auf <strong>der</strong> Ebenen <strong>der</strong> alternativen Letztbegründung einordnet,<br />

kann die <strong>Umweltethik</strong> in vieler Hinsicht konstruktiv an die Ethik Aufklärung anknüpfen.<br />

Die Intention einer (zweiten) Aufklärung entspricht <strong>der</strong> Grundausrichtung<br />

des Nachhaltigkeitsprinzips, das in seinen Ursprüngen von aufklärerischen Impulsen<br />

getragen war (Schanz 1996, 18-36).<br />

7. Das stärkste Argument für politische Initiativen zum Umweltschutz ist nicht <strong>der</strong><br />

Hinweis auf Eigenrechte <strong>der</strong> Natur, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Nachweis, dass Naturschutz heute<br />

Voraussetzung für existentielle Lebenschancen künftiger Generationen ist. So begründet<br />

<strong>der</strong> 1994 eingefügt Artikel 20a des deutschen Grundgesetzes die Verankerung<br />

des Umweltschutzes als Staatsziel mit dem zunächst auf den Menschen bezogenen<br />

Grundsatz intergenerationeller Gerechtigkeit. Auch die Dokumente von Rio<br />

führen das Nachhaltigkeitsprinzip von einem anthropozentrischen Bezug her ein:<br />

„Human beings are at the center of sustainable development“ lautet <strong>der</strong> Beginn des<br />

ersten Grundsatzes <strong>der</strong> Rio-Deklaration (BMU 1992, 45). Das Nachhaltigkeitskonzept<br />

ist seinem Ursprung nach ein Naturnutzungskonzept und schon von daher auf<br />

den Menschen bezogen.<br />

8. Die ökologischen Erfor<strong>der</strong>nisse werden im Rahmen des Nachhaltigkeitskonzeptes<br />

vor allem durch einen langfristigen und globalen Bewertungshorizont eingebracht,<br />

wobei es gerade systematisch auf die Zusammenhänge zwischen menschlichen und<br />

naturalen Interessen ankommt. Dieser integrative Ansatz wird von einer Ethik, die<br />

von <strong>der</strong> Kritik anthropozentrischer Letztbegründung ausgeht, verstellt.<br />

9. Das Nachhaltigkeitsprinzip relativiert nicht die ethische Unterscheidung zwischen<br />

personalem und naturalem Bereich. Seine For<strong>der</strong>ung nach einer umfassenden Berücksichtigung<br />

ökologischer Faktoren zielt vielmehr auf eine natur- und gesellschaftstheoretisch<br />

fundierte Analyse <strong>der</strong> kritischen Gefährdungsfaktoren zivilisatorischer<br />

Entwicklung. Durch diese Ausrichtung bleibt das Nachhaltigkeitsprinzip sowohl<br />

mit den normativen Grundlagen <strong>der</strong> Demokratie (die unbedingte Würde <strong>der</strong><br />

menschlichen Person als Angelpunkt des gesamten Rechtssystems) als auch mit den<br />

naturwissenschaftlich-nüchternen Zugangsweisen des technischen Umweltschutzes<br />

vermittelbar.<br />

4. Vernetzung als Schlüsselprinzip <strong>der</strong> <strong>Umweltethik</strong><br />

In <strong>der</strong> Ökologie geht es nicht nun um die Schonung einzelner knapp gewordener<br />

Naturressourcen, son<strong>der</strong>n grundlegen<strong>der</strong> um eine neue Denkweise: Gefor<strong>der</strong>t ist vernetztes<br />

Denken, und damit eine systematische Beachtung <strong>der</strong> vielschichtigen Beziehungszusammenhänge<br />

zwischen Mensch und Umwelt. Dies entspricht dem methodischsystemtheoretischen<br />

Verständnis von Ökologie als Beziehungswissenschaft, nämlich als<br />

Wissenschaft <strong>der</strong> Beziehungsgefüge zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt.<br />

Eine solche ökologische Betrachtungsweise for<strong>der</strong>t Denk- und Handlungsansätze, <strong>der</strong>en<br />

Grundmaxime sich als "Vernetzung" umschreiben lässt: Die Einbindung <strong>der</strong> Zivilisati-<br />

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Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. <strong>10</strong>] 73<br />

onssysteme in das sie tragende Netzwerk <strong>der</strong> Natur muss zur Leitmaxime des individuellen<br />

und gesellschaftlichen Handelns werden.<br />

Wegweisend, um das Ziel einer solchen Rückbindung zu erreichen, ist die kommunikative<br />

Vernetzung zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen. Dabei<br />

muss die Ausdifferenzierung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaft in relativ autonome Subsysteme<br />

beachtet werden (vgl. Luhmann 1990, 202-217; Luhmann 1994).<br />

Ökologische Imperative sind in die jeweilige Handlungslogik <strong>der</strong> unterschiedlichen<br />

Teilsysteme zu „übersetzen“. D.h. beispielsweise für das ökonomische System: Es kann<br />

ökologische Knappheiten nur dann „wahrnehmen“, wenn sie in Kosten beziffert und<br />

durch entsprechende wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschützt werden (Schramm<br />

1994, 132-147).<br />

Solche Übersetzungsleistungen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen<br />

Subsystemen geschehen bisher nur unzureichend: Wir leben in einer „segmentierten“<br />

Gesellschaft, in <strong>der</strong> Teilbereiche optimiert werden, in <strong>der</strong> das Gesamtwohl aber zunehmend<br />

aus dem Blick geraten zu sein scheint (An<strong>der</strong>s 1987). Die Sicherung des<br />

Gesamtwohls kann jedoch in einer offenen, demokratischen und pluralistischen Gesellschaft<br />

nicht durch eine zentrale Steuerungsinstanz geleistet werden, son<strong>der</strong>n nur<br />

durch eine dynamische und vielschichtige Vernetzung (Vogt 1996a, 174-179).<br />

Gemäß dem Leitgedanken <strong>der</strong> Vernetzung sind ökologische Themen deutlicher als<br />

Querschnittsthemen auszugestalten und in die Handlungslogik <strong>der</strong> unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Teilsysteme hineinzuvermitteln. „Vernetzung“ kann dabei sehr<br />

vielfältiges bedeuten. Zum Beispiel: Verknüpfung von ökonomischer Rationalität und<br />

ökologischem Wissen, von technischem Können und kulturellen Wertorientierungen,<br />

von religiösem Ethos und politischer Bildungsarbeit. Nur durch eine intensive<br />

Bündelung solcher unterschiedlicher Handlungsfel<strong>der</strong> und Kompetenzen können die<br />

Ziele nachhaltiger Entwicklung erreicht werden.<br />

Die Strategie dauerhaft-umweltgerechter Entwicklung durch eine Vernetzung unterschiedlicher<br />

Handlungsfel<strong>der</strong> zielt darauf, die Grenzen <strong>der</strong> Natur in Chancen zu wandeln,<br />

nämlich in Chancen für einen strukturellen Wandel, <strong>der</strong> sich auf Dauer auch in sozialer<br />

und ökonomischer Hinsicht als sinnvoll erweist. So eröffnen sich bisweilen durch<br />

Einschränkung im einen Bereich zugleich neue Entfaltungsmöglichkeiten in einem an<strong>der</strong>en<br />

(vgl. BUND/Misereor 1996, 153).<br />

Für das ethische Postulat einer „Gesamtvernetzung“ und Rückbindung <strong>der</strong> Zivilisationsentwicklung<br />

an die Entfaltungsbedingungen <strong>der</strong> Natur hat Wilhelm Korff – auf das<br />

lateinische rete, das Netz, zurückgreifend - den Begriff Retinität geprägt (Korff 1993,<br />

25). Der Sachverständigenrat für Umweltfragen bezeichnet ihn als Schlüsselprinzip <strong>der</strong><br />

<strong>Umweltethik</strong> (SRU 1994, 54; vgl. dazu Ausführungen oben zu den Strategiekernen von<br />

Nachhaltigkeit).<br />

Gemäß dem Retinitätsprinzip ist <strong>Umweltethik</strong> nicht als Bereichsethik zu konzipieren,<br />

son<strong>der</strong>n als ein umfassendes Integrationskonzept für die komplexen Entwicklungsprobleme<br />

neuzeitlicher Gesellschaft. Orientierungsmaßstab ist dabei nicht das Paradigma<br />

<strong>der</strong> Natur als absolut vorgegebener Wachstumsgrenze, son<strong>der</strong>n das Leitbild einer dynamischen<br />

Stabilisierung <strong>der</strong> komplexen Mensch-Umwelt-Zusammenhänge.<br />

Das erfor<strong>der</strong>t eine verstärkte Berücksichtigung systemtheoretischer Analysen über die<br />

Möglichkeiten und Grenzen <strong>der</strong> Steuerung vernetzter, also komplexer dynamischer Systeme<br />

für Politik und Ethik in mo<strong>der</strong>ner Gesellschaft. Es geht um einen grundlegenden<br />

Paradigmenwechsel, <strong>der</strong> sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften umfasst<br />

und <strong>der</strong> für die Sozialethik von hoher Relevanz ist.<br />

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Warum genügt nicht <strong>der</strong> deutsche Begriff „Vernetzung“?<br />

Der lateinische Begriff „Retinität“ ist zunächst fremd und ungewohnt. Insbeson<strong>der</strong>e im<br />

Hinblick auf die pädagogische Vermittlung ist dies ein großer Nachteil. Warum soll<br />

man nicht besser auf den deutschen Begriff „Vernetzung“, <strong>der</strong> sich hoher Beliebtheit<br />

erfreut, zurückgreifen? Gerade diese Beliebtheit ist jedoch für die Ethik ein Problem:<br />

Sie beruht auf einer schillernden Vieldeutigkeit, die den damit verbundenen Gehalt des<br />

ethisch Verbindlichen nicht hinreichend zu fassen vermag.<br />

Normative Aussagekraft gewinnt <strong>der</strong> Ansatz erst dann, wenn man ihn in ein ethisches<br />

Bezugssystem einordnet, von dem her man zwischen einer zielführenden Vernetzung<br />

und einer, die eher zu erhöhter Unübersichtlichkeit führt, unterscheiden kann.<br />

„Retinität“ unterscheidet sich von dem allgemeinen Begriff „Vernetzung“ durch die<br />

Einordnung in einen ethischen Begründungszusammenhang. Sie ist ein spezifisch<br />

ethischer Begriff und bezieht sich auf die Handlungsimperative einer Rückbindung <strong>der</strong><br />

Zivilisationsentwicklung an die langfristigen Erhaltungs- und Funktionsbedingungen<br />

<strong>der</strong> sie tragenden ökologischen Systeme.<br />

Die notwendige Vernetzung umfasst also weit mehr als durch systemtheoretische Optimierungen<br />

erreicht werden kann. Denn die wesentlichen „Knotenpunkte“ des Netzes<br />

sind Menschen, die humane Ziele und Werte in die unterschiedlichen Handlungssysteme<br />

einbringen. Demgemäß sind ökologische Themen mit grundlegenden ethischen<br />

Fragen <strong>der</strong> individuellen und gesellschaftlichen Lebensführung zu verknüpfen. Nur auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage einer Verbindung von systemtheoretischen und ethisch-personalen<br />

Reflexionen können Grundprinzipien und Entscheidungskriterien verantwortlichen<br />

Handelns angesichts komplexer Mensch-Umweltzusammenhänge gefunden werden.<br />

Genau auf eine solche Verknüpfung ist das Retinitätsprinzip angelegt.<br />

Retinität ist kein ethisches Letztprinzip. Sie ist begründungsbedürftig durch die Angabe<br />

des eigenen Standpunkts und <strong>der</strong> eigenen Perspektive. Diese sind beim Menschen<br />

gewöhnlich durch die eigenen Bedürfnisse und die jeweiligen kulturellen Deutungsmuster<br />

von Mensch, Natur und Gesellschaft geprägt. Dabei stellt sich für die <strong>Umweltethik</strong><br />

die grundlegende Frage, welcher Stellenwert <strong>der</strong> Natur im Verhältnis zu den menschlichen<br />

Zwecken zukommt. Darauf gibt es sehr unterschiedliche Antworten, die zu entsprechend<br />

unterschiedlichen Begründungsansätzen in <strong>der</strong> <strong>Umweltethik</strong> führen (dazu<br />

oben, letzte Vorlesung).<br />

Retinität als Leitprinzip für eine „ökologische Aufklärung“ <strong>der</strong> Anthropozentrik<br />

Der Sinn des Retinitätsprinzips ist es, die hier gefor<strong>der</strong>te ökologische Aufklärung <strong>der</strong><br />

Anthropozentrik genauer zu entfalten. In seiner Begründungslogik hält es am klassischen<br />

Ausgangspunkt <strong>der</strong> Kantischen Ethik fest und versteht die unverletzliche Würde<br />

des Menschen als Vorraussetzung und Ziel verantwortlichen Handelns. Es entfaltet die<br />

ökologischen Imperative nachhaltiger Entwicklung wesentlich von diesem Bezugspunkt<br />

her. Als Kriterien für den Naturumgang beachtet es jedoch auch Leidensfähigkeit,<br />

Lebenswillen und ökologische Systembedeutung.<br />

Die Zuordnung des Retinitätsprinzips zu einer ökologisch aufgeklärten Anthropozentrik<br />

ergibt sich schon aus seinem forstwirtschaftlichen Ursprung als Naturnutzungskonzept:<br />

Der Begriff des Nutzens ist hier auf die menschlichen Interessen bezogen und bringt die<br />

ökologischen Interessen durch die schlichte For<strong>der</strong>ung nach einem langfristigen<br />

Zeithorizont ein.<br />

Das Retinitätsprinzip relativiert nicht die strikte ethische Unterscheidung zwischen<br />

personalem und naturalem Bereich. Aufgrund <strong>der</strong> anthropozentrischen Rückbindung<br />

kann sich Retinität in seiner operationalen Entfaltung auf eher nüchterne Weise funktio-<br />

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Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. <strong>10</strong>] 75<br />

naler und systemtheoretischer Analysen über die komplexen Mensch-Umwelt-Zusammenhänge<br />

bedienen. Seine For<strong>der</strong>ung nach einer umfassenden Berücksichtigung<br />

ökologischer Faktoren zielt nicht auf ein mystisches Sich-Einfühlen in die Natur,<br />

son<strong>der</strong>n auf eine natur- und gesellschaftstheoretisch fundierte Analyse <strong>der</strong> kritischen<br />

Gefährdungsfaktoren. Ökologische Aufklärung ist das Ziel, nicht <strong>der</strong> Rückzug auf einen<br />

vormo<strong>der</strong>nen mystisch-religiösen Naturbegriff.<br />

Viele berechtigte Anliegen des Tierschutzes sind mit dem Retinitätsprinzip nicht<br />

hinreichend zu begründen. Sein Schwerpunkt liegt in einem an<strong>der</strong>en Bereich: Es<br />

formuliert die Anliegen des Umweltschutzes in einer konzeptionell erweiterten und<br />

zukunftsorientierten Perspektive. Dabei bleibt es bewusst sowohl mit den normativen<br />

Grundlagen <strong>der</strong> Demokratie (die unbedingte Würde <strong>der</strong> menschlichen Person als<br />

Angelpunkt des gesamten Rechtssystems) als auch mit den praktischen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

des technischen Umweltschutzes vermittelbar.<br />

Trotz <strong>der</strong> prinzipiellen Zuordnung zum anthropozentrischen Ansatz überschreitet das<br />

Retinitätsprinzip jedoch dessen traditionelle Ausformulierung: Es konzentriert sich auf<br />

die systemischen Wechselwirkungen zwischen Zivilisation und Natur und leitet<br />

Handlungskonsequenzen aus den hier auftretenden Gefährdungen ab. Retinität zielt auf<br />

ein Denken in Zusammenhängen, das sich <strong>der</strong> natur- und sozialwissenschaftlichen<br />

Analysen über komplexe Systeme für eine Abschätzung <strong>der</strong> Handlungsfolgen und damit<br />

auch für eine ethische Entscheidungstheorie bedient und möglichst ausgewogene<br />

Zuordnungen von ökologischen, sozialen und individuellen Erfor<strong>der</strong>nissen anstrebt.<br />

Im gemeinsamen Wort <strong>der</strong> Kirchen zur sozialen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland<br />

„Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) wird eine Erweiterung<br />

<strong>der</strong> sozialethischen Begrifflichkeit angemahnt. Das gemeinsame Wort umschreibt die<br />

notwendige Erweiterung mit den Begriffen „Nachhaltigkeit“ und „Vernetzung“ (vgl.<br />

Textziffern 122-125). In <strong>der</strong> Erklärung „Handeln für die Zukunft <strong>der</strong> Schöpfung“ <strong>der</strong><br />

Arbeitsgruppe für ökologische Fragen <strong>der</strong> Bischofskonferenz wird dies aufgegriffen und<br />

im Sinne des Retinitätsprinzips präzisiert.<br />

Zusammenfassend kann man den Begriff Retinität als Grundfor<strong>der</strong>ung ökologischer<br />

Ethik unter folgenden Aspekten charakterisieren:<br />

- Rückbindung <strong>der</strong> menschlichen Zivilisationsentwicklung in das sie tragende<br />

Netzwerk <strong>der</strong> ökologischen Regelkreise<br />

- Vernetzung <strong>der</strong> Bemühungen um ökologisches Bewahren und technische Innovationen<br />

- Vernetzung von ökonomischen und ökologischen Stoffkreisläufe<br />

- Vernetzung sozialer und ökologischer Rhythmen (z.B. jahreszeitgemäße<br />

Nahrungsmittel)<br />

- Vernetzung ökonomischer, ökologischer und sozialer Indikatoren im Verständnis<br />

von Wohlstand<br />

- Demokratische Erneuerung <strong>der</strong> Zivilgesellschaft durch vielfältige Netzwerke<br />

gesellschaftlicher Initiativen<br />

- Vernetzung <strong>der</strong> zunehmend von Spezialistentum geprägten Einzelbereiche in<br />

Wissenschaft und Gesellschaft<br />

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