Sprache als Medium - ak dmaw
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Jan Georg Schneider<br />
Die Grenzen der 'Kommunikation' – <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>Medium</strong><br />
Der Titel meines Vortrags enthält zwei Reizbegriffe, die in der Sprach- und Kommunika-<br />
tionswissenschaft äußerst uneinheitlich gebraucht und kontrovers diskutiert werden: den<br />
Begriff der Kommunikation und den Begriff des <strong>Medium</strong>s. Daß ich den Ausdruck 'Kommu-<br />
nikation' hierbei in Anführungszeichen gesetzt habe, hat seinen Grund: Ich möchte Ihnen im<br />
folgenden einerseits darlegen, warum das heute vorherrschende Kommunikationsmodell<br />
weitgehend ungeeignet ist, menschliche Kommunikation zu beschreiben, und Ihnen anderer-<br />
seits Grundzüge eines alternativen Kommunikations- und Medienmodells skizzieren, das auf<br />
einer bestimmten Vorstellung von <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> einem zentralen menschlichen Kommunika-<br />
tionsmedium beruht. – Mein Vortrag ist in drei Teile gegliedert:<br />
1. Die Grenzen des vorherrschenden Kommunikations- und Medienmodells<br />
2. Ein alternatives Modell – Medien <strong>als</strong> Verfahren<br />
3. Pr<strong>ak</strong>tische Konsequenzen am Beispiel der E-Mail-Kommunikation<br />
1. Die Grenzen des vorherrschenden Kommunikations- und Medienmodells<br />
Wie der Ausdruck 'Kommunikationsmedium' bereits andeutet, sind die Begriffe 'Kommuni-<br />
kation' und '<strong>Medium</strong>' semantisch eng miteinander verknüpft: Wer kommuniziert, bedient sich<br />
dabei immer verschiedener Medien. Tasten wir uns <strong>als</strong>o zunächst an den Begriff des Medi-<br />
ums heran. Was bezeichnen wir in der Alltagssprache gemeinhin <strong>als</strong> <strong>Medium</strong>? – Fernsehen,<br />
Radio, Printmedien, Internet, Telefon, E-Mail, Computer, Schrift, Schallwellen, Bilder, Musik,<br />
Kunst, <strong>Sprache</strong> ... – Ein solch weitgefaßter Medienbegriff deckt sich in puncto Vielfalt weit-<br />
gehend mit dem, was die 'Ahnherren' der modernen Medientheorie, Harold Innis und<br />
Marshall McLuhan, unter Medien verstanden. Beeinflußt durch seinen Lehrer Innis, ent-<br />
wickelt McLuhan in den Sechzigerjahren seinen wahrnehmungstechnischen, extrem weitge-<br />
faßten Medienbegriff, indem er Medien generell <strong>als</strong> "Ausweitungen der menschlichen Sinne" 1<br />
begreift: Neben <strong>Sprache</strong>, Schrift, Buchdruck, Fernsehen, Radio und Telefon erscheinen hier<br />
u. a. Licht, Geld, ja sogar die Eisenbahn und das Rad <strong>als</strong> Medien.<br />
Demgegenüber besteht in der heutigen empirisch orientierten Medienwissenschaft, die in<br />
Deutschland vor allem mit Namen wie Werner Faulstich und Ulrich Saxer verbunden ist, seit<br />
einiger Zeit die starke Tendenz, sich allein auf technische Verbreitungsmedien wie Fern-<br />
sehen, Radio, Printmedien und Internet zu konzentrieren. Faulstich z. B. konstatiert zwar,<br />
daß der Ausdruck '<strong>Medium</strong>' alltagssprachlich und "bildlich" 2<br />
1<br />
2<br />
Vgl. McLuhan 1968, S. 13, 28 und öfter.<br />
Vgl. Faulstich 2004, S. 11.<br />
1<br />
auf verschiedenste Weise
gebraucht werde, seine fachwissenschaftliche, d. h. medienwissenschaftliche Bedeutung<br />
jedoch stehe fest. Gleich zu Beginn seines Buches Medienwissenschaft wird die Definition<br />
formuliert:<br />
"Ein <strong>Medium</strong> ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikationskanal<br />
von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz." (Faulstich 2004, S.<br />
12)<br />
Diese Definition ist in mehrfacher Hinsicht typisch für die heutige Medienwissenschaft: Kenn-<br />
zeichnend ist hier nicht nur die Beschränkung auf technische Verbreitungsmedien, sondern<br />
auch der Begriff des 'Kommunikationskan<strong>als</strong>'. Die Verwendung des Ausdrucks 'Kanal' im<br />
Zusammenhang mit der Definition des Kommunikationsmediums ist char<strong>ak</strong>teristisch für das<br />
heute übliche Kommunikationsmodell, das ich <strong>als</strong> 'Transportmodell' bzw. 'Sender-Empfän-<br />
ger-Modell' der Kommunikation bezeichnen möchte. Dieses Modell geht historisch bekannt-<br />
lich auf Shannon und Weaver zurück, die es am Leitbild (nachrichten-)technischer Kommu-<br />
nikation entwickelten: Das Problem der Kommunikation besteht demnach darin, eine Nach-<br />
richt von einer Nachrichtenquelle aus in möglichst kurzer Zeit und bei möglichst geringem<br />
Informationsverlust über einen Kanal zu einem Nachrichtenziel zu transportieren. Dazu<br />
bedarf es eines Senders, der die Nachricht mittels Kodierungsregeln in ein Signal überführt,<br />
und eines Empfängers, der das Signal wiederum decodiert und somit wieder in eine Nach-<br />
richt rückübersetzt.<br />
Dieses Kommunikationsmodell hat – so meine erste These – sowohl unser<br />
alltagssprachliches Verständnis von Medien <strong>als</strong> auch das fachwissenschaftliche bis heute<br />
nachhaltig geprägt. 3<br />
Man orientiert sich am Paradigma der technischen Nachrichtenübermitt-<br />
lung und weitet den so gewonnenen einseitigen Medienbegriff auf nichttechnische Kommu-<br />
nikation aus. Die Nachricht, die 'Information' und dann auch der 'Sinn', der jeweils zu 'über-<br />
mitteln' ist, werden <strong>als</strong> ein 'Etwas', <strong>als</strong> etwas Bestimmtes, Festes aufgefaßt, das vom Kopf<br />
des Senders in den Kopf des Empfängers transportiert werden soll. – Besonders drastisch<br />
zeigt sich dies in Mediendefinitionen wie der von Klaus Boeckmann, die hier nur beispielhaft<br />
für viele andere steht:<br />
3<br />
Natürlich bin ich mir im klaren darüber, daß das Modell von Shannon und Weaver in der<br />
beschriebenen primitiven Form in der heutigen technischen Kommunikation nicht mehr verwendet<br />
wird. Und auch in der Kommunikations- und der Medienwissenschaft wird es nur noch selten<br />
explizit vertreten. Dies tut der folgenden Argumentation jedoch keinen Abbruch, da es mir vor<br />
allem darauf ankommt zu zeigen, daß die Sender-Empfänger-Metaphorik – auch die von<br />
elaborierteren Modellen – generell irreführend ist, wenn es darum geht, Humankommunikation zu<br />
beschreiben. Es geht mir nicht darum, technische Kommunikationsmodelle <strong>als</strong> solche zu<br />
kritisieren, sondern vielmehr darum, einen Mythos offenzulegen; und das Modell von Shannon und<br />
Weaver kann durchaus <strong>als</strong> eine der Gründungsurkunden des Mythos von Humankommunikation<br />
2
"Ein Kommunikationsmedium ist alles, was den Bezug zwischen den Gedanken des Senders<br />
und den Gedanken des Empfängers ermöglicht." (Boeckmann 1994, S. 34)<br />
Kommunikation soll demnach darin bestehen, Gedanken mittels eines <strong>Medium</strong>s (möglichst<br />
ohne 'Informationsverlust') vom Sender zum Empfänger zu transportieren. <strong>Sprache</strong> wird da-<br />
bei häufig gar nicht <strong>als</strong> <strong>Medium</strong> aufgefaßt, vielmehr werden <strong>Sprache</strong> und Medien geradezu<br />
<strong>als</strong> Gegensätze konzeptualisiert: <strong>Sprache</strong> ist kein <strong>Medium</strong>, vielmehr wird sie in/mit Medien<br />
transportiert. Sprachlich gefaßte Gedanken 'werden kommuniziert'. Diese neudeutsche Wort-<br />
schöpfung verrät viel über das verbreitete Kommunikationsmodell: Man kommuniziert nicht<br />
mehr mit jemandem, sondern man kommuniziert etwas. Hierbei wird stillschweigend unter-<br />
stellt, der Sprecher habe die vollkommene Kontrolle über das von ihm 'Gemeinte'; er ver-<br />
schlüsselt den Sinn, den der Adressat, der Empfänger, zu entschlüsseln hat.<br />
Was hierbei völlig unterschlagen wird, ist, daß Sinn kein Gegenstand ist, der transportiert<br />
werden könnte, sondern etwas, das immer wieder neu in Verständigungsprozessen, in der<br />
Kommunikation, erzeugt wird. Sprachliche Face-to-Face-Kommunikation ist hierfür – dies<br />
haben große Sprach- und Kommunikationsforscher wie Wilhelm von Humboldt schon vor ca.<br />
200 Jahren erkannt – ein Paradebeispiel. Wer spricht, 'sendet' nicht nur etwas, er hört sich<br />
auch selbst beim Sprechen zu ('Self-Monitoring'). Insofern ist auch das Sprechen ein rezepti-<br />
ver Vorgang. Umgekehrt ist das Zuhören nicht nur ein rezeptiver, sondern auch ein kreativer<br />
Prozeß: Man führt den Satz des anderen innerlich zuende, man spinnt seine Gedanken<br />
weiter. Kurzum: Sinn ist etwas, was gemeinsam erzeugt wird. Am Ende eines Gesprächs<br />
versteht man das, was man eingangs gesagt und gemeint hat, häufig ganz anders <strong>als</strong> am<br />
Anfang. – Dies ist das erste Argument, daß gegen das Sender-Empfänger-Modell anzufüh-<br />
ren ist: Die Metapher von menschlicher Kommunikation <strong>als</strong> einem Transportvorgang ist ein-<br />
seitig und irreführend.<br />
Folgt man diesem Argument, so ergeben sich auch gravierende Konsequenzen für den<br />
Begriff des <strong>Medium</strong>s. Wenn sich Kommunikation nicht adäquat <strong>als</strong> Transportvorgang<br />
beschreiben läßt, dann kann es auch nicht Aufgabe von Medien sein, Sinn zu 'transportie-<br />
ren'. Schauen wir uns <strong>als</strong>o den Medienbegriff nocheinmal genauer an – vielleicht lohnt sich<br />
ein kurzer Blick auf die Etymologie: Etymologisch betrachtet, kann '<strong>Medium</strong>' sowohl<br />
(topologische) 'Mitte', <strong>als</strong> auch 'Vermittlung', <strong>als</strong> auch 'Mittel' bzw. 'Werkzeug' bedeuten. 4<br />
– Ist<br />
ein <strong>Medium</strong> <strong>als</strong>o ein Ding oder ein Verfahren? Wie sich unschwer erahnen läßt, geht das<br />
vorherrschende Kommunikationsmodell generell mit einer verdinglichenden Medienauffas-<br />
sung einher: Das <strong>Medium</strong> erscheint <strong>als</strong> bloßes Werkzeug bzw. Instrument, das einzig und<br />
4<br />
<strong>als</strong> einem Transportvorgang betrachtet werden. – Zum Einfluß des Sender-Empfänger-Modells auf<br />
moderne Medientheorien vgl. auch Jäger 2000.<br />
Vgl. hierzu auch Margreiter 2003, S. 152; Sandbothe 2001, S. 109.<br />
3
allein dazu dient, Gedanken, Inhalte, Nachrichten, Sinn – wie immer man es nennen mag –<br />
zu übermitteln.<br />
2. Ein alternatives Modell – Medien <strong>als</strong> Verfahren<br />
Wie die bisherige Darstellung gezeigt hat, besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem<br />
Mythos von Kommunikation <strong>als</strong> einem Transportvorgang auf der einen Seite und einem<br />
dinglichen Medienbegriff auf der anderen. Diese beiden irreführenden Vorstellungen müssen<br />
– so meine zweite These – überwunden werden, wenn man zu einem adäquateren<br />
Kommunikations- und Medienmodell gelangen will.<br />
Einen Schritt in diese Richtung hat z. B. die Medienphilosophin Sybille Krämer in ihrem<br />
Aufsatz das <strong>Medium</strong> <strong>als</strong> Spur und <strong>als</strong> Apparat unternommen. In diesem Aufsatz versucht<br />
Krämer zu zeigen, inwiefern Medien nicht bloß eine "sinntransportierende" sondern auch<br />
eine "sinnmiterzeugende" Funktion haben. 5<br />
Hierbei sieht sie sich allerdings von vorneherein<br />
mit dem Problem konfrontiert, daß die Annahme, Medien seien nicht bloße Vehikel, sondern<br />
maßgeblich am Sinn des jeweils Mediatisierten beteiligt, durch unsere Alltagserfahrung kei-<br />
neswegs gestützt wird:<br />
"Wir hören nicht Luftschwingungen, sondern den Klang der Glocke; wir lesen nicht Buchstaben,<br />
sondern eine Geschichte; wir tauschen im Gespräch nicht Laute aus, sondern Meinungen<br />
und Überzeugungen, und der Kinofilm läßt gewöhnlich die Projektionsfläche vergessen."<br />
(Krämer 1998, S. 74)<br />
Hier werden Beispiele für sehr verschiedene Arten von Medien angeführt, die allerdings<br />
eines gemeinsam haben: Das <strong>Medium</strong> gerät <strong>als</strong> solches gar nicht in den Blick, es 'agiert'<br />
gewissermaßen im Verborgenen. In diesem Sinne vergleicht Krämer die Wirkung von<br />
Medien mit der von Fensterscheiben: Sie erfüllen ihre Aufgabe umso besser, "je durchsichti-<br />
ger sie bleiben, je unauffälliger sie unterhalb der Schwelle unserer Aufmerksamkeit verhar-<br />
ren". Medien sind – so Krämers griffige These – "der blinde Fleck im Mediengebrauch". 6<br />
Ein Beispiel: In der mündlichen Face-to-Face-Kommunikation achten wir in der Regel<br />
nicht auf das Lautbild oder die Syntax, sondern auf das Gemeinte; die medialen Eigen-<br />
schaften des <strong>Medium</strong>s orale <strong>Sprache</strong> (Lautlichkeit, Zeitlichkeit, Möglichkeit zu unmittelbarer<br />
Re<strong>ak</strong>tion und Korrektur, starke Kontextgebundenheit) bleiben normalerweise unthematisch.<br />
Sie werden <strong>als</strong> solche erst dann fokussiert, wenn eine wie auch immer geartete Störung vor-<br />
liegt; z. B. wenn Ausdruck und Bedeutung in irgendeiner Weise 'auseinandertreten': Jemand<br />
hat einen auffällig abweichenden Sprachgebrauch, hat eine merkwürdige Stimme, verwendet<br />
ungewöhnliche Satzkonstruktionen usw. Im Normalfall aber bleibt das <strong>Medium</strong> orale <strong>Sprache</strong><br />
– metaphorisch gesprochen – 'unsichtbar'. Wir neigen im Alltag dazu, alle Aspekte einer Äu-<br />
5<br />
Vgl. Krämer 1998, S. 73<br />
4
ßerung der Kompetenz des Sprechers zuzurechnen. Aufgabe des Medientheoretikers ist<br />
aber, jeweils zu untersuchen, was an der jeweiligen Äußerung (der jeweiligen 'Performanz',<br />
wie wir auch sagen), auf das Konto des Akteurs geht und was auf das Konto des <strong>Medium</strong>s.<br />
Ein weiteres Beispiel: Schrift. – Zweifelsohne geht es auf das Konto der schriftstellerischen<br />
Kompetenz eines Thomas Mann, brillante, ästhetisch ansprechende Sätze, die sich mitunter<br />
über zwölf, dreizehn Zeilen erstrecken, zu formulieren. Notwendige Bedingung hierfür ist<br />
aber das 'persistente' <strong>Medium</strong> Schrift, das beliebig häufige Korrektur und Überarbeitung<br />
ermöglicht – wobei gerade dieses Beispiel verdeutlicht, wie schwer es in einigen Fällen ist,<br />
eine klare Grenze zwischen Medialität und Kompetenz zu ziehen.<br />
Diese Beispiele verweisen auf Eigenschaften von Performanzen, die nicht der Kompe-<br />
tenz des Akteurs zuzurechnen sind, sondern dem jeweiligen <strong>Medium</strong>. – Nichts anderes<br />
besagt Krämers an McLuhan anknüpfende These, daß sich an der 'Botschaft' stets die Spur<br />
des <strong>Medium</strong>s bewahre. 7<br />
Die 'Botschaft' weist Eigenschaften auf, die nicht ihr, sondern dem<br />
jeweiligen <strong>Medium</strong> zuzuschreiben sind. – Nun könnte man natürlich geneigt sein einzuwen-<br />
den, daß es sich bei diesen medialen Unterschieden doch letztlich nur um stilistische Unter-<br />
schiede handele und daß die intendierte, 'eigentliche' Botschaft bei allen medialen Unter-<br />
schieden identisch bleibe. – Mit diesem Einwand würde man sich jedoch wiederum nur <strong>als</strong><br />
verkappter Anhänger des Transport-Modells entpuppen und der Versuchung erliegen,<br />
menschliche Kommunikation auf Informationsübertragung zu reduzieren. Daß dies nicht<br />
nicht nur ein theoretischer Irrtum ist, sondern sehr konkrete pr<strong>ak</strong>tische Konsequenzen hat,<br />
zeigt z. B. so manche gescheiterte E-Mail-Kommunikation, in der einer oder mehrere Akteure<br />
den Versuch unternommen haben, Face-to-face-Kommunikation zu 'verschriften' und dabei<br />
die Relevanz medialer Eigenschaften wie Intonation sowie Mimik und Gestik außer acht lie-<br />
ßen – auch das E-Mailen ist ein <strong>Medium</strong>, mit dessen Medialität man sich auskennen muß.<br />
(Mehr hierzu im Schlußkapitel.)<br />
Alle diese Beispiele zeigen auch, inwiefern Medien nicht <strong>als</strong> Dinge oder Werkzeuge son-<br />
dern <strong>als</strong> komplexe Verfahren bzw. Prozesse, die allerdings auch immer eine materielle Kom-<br />
ponente (Schallwellen, Tinte auf Papier usw.) aufweisen, betrachtet werden müssen. – Ein<br />
Werkzeug benutzen wir immer zu einem bestimmten Zweck, wobei es dem jeweiligen Zweck<br />
allerdings in der Regel äußerlich bleibt: man hätte auch ein anderes Werkzeug benutzen<br />
können. Beim <strong>Medium</strong> dagegen verhält es sich völlig anders. Die jeweilige Performanz ist<br />
aufs engste an ein bestimmtes <strong>Medium</strong> gebunden, von dem sie nicht losgelöst werden kann,<br />
denn sonst wäre es eben eine andere Performanz 8<br />
; z. B. kann ich nur tanzen, indem ich mich<br />
6<br />
7<br />
8<br />
Vgl. Krämer 1998, S. 74.<br />
Vgl. Krämer 1998, S. 81.<br />
Vgl. Stetter 2002, S. 4; vgl. auch Seel 1998, S. 246.<br />
5
des <strong>Medium</strong>s der Körperbewegung bediene, sprechen kann ich nur, indem ich mich des<br />
<strong>Medium</strong>s der <strong>Sprache</strong> bediene.<br />
Am Beispiel des <strong>Medium</strong>s orale <strong>Sprache</strong> kann man besonders gut studieren, was für<br />
Medien im allgemeinen gilt: Sie ist nicht Starres, sondern etwas Bewegliches. Sie ist kein<br />
Ding und weist dennoch eine materielle Seite auf. In diesem Sinne schlage ich folgende<br />
Mediendefinition vor:<br />
Medien sind sozial konstituierte Verfahren bzw. Prozesse, die auf bestimmte materielle<br />
Substrate oder Apparaturen gestützt sind und in denen Darstellungen bestimmter Gestalt<br />
erzeugt werden. 9<br />
Zum Beispiel ist das <strong>Medium</strong> Schrift ein auf Apparaturen wie Pinsel, Bleistift, PC, Papier<br />
usw. gestütztes Verfahren zur visuellen Darstellung sprachlicher Inhalte.<br />
Mein Vorschlag, nicht erst die Schrift, sondern bereits die orale <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> Kommunika-<br />
tionsmedium anzusehen, hat zwei entscheidende Vorteile: Erstens ergibt sich erst so die<br />
Möglichkeit, die orale <strong>Sprache</strong> mit anderen Medien zu vergleichen, und zweitens ist die Auf-<br />
fassung von <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>Medium</strong> eine notwendige Bedingung dafür, das Transportmodell zu<br />
überwinden: Unterscheidet man zwischen <strong>Sprache</strong> auf der einen Seite und Medien auf der<br />
anderen, so unterstellt man, daß Gedanken, Inhalte, Nachrichten zunächst sprachlich gefaßt<br />
und dann in Medien übermittelt werden. Der hier entwickelte Ansatz ist aber weitaus radika-<br />
ler: Er weist den Medien eine viel entscheidendere Rolle in der Kommunikation zu, denn er<br />
geht davon aus, daß Gedanken immer medial vermittelt sind. Jeder Gedanke, jeder Inhalt<br />
braucht etwas Materielles, etwas Zeichenhaftes in dem er sich manifestieren kann. Diesen<br />
fundamentalen medientheoretischen Sachverhalt hat wohl kaum ein Autor deutlicher gese-<br />
hen <strong>als</strong> Ludwig Wittgenstein. In einem oft zitierten Abschnitt seines Hauptwerks Philosophi-<br />
sche Untersuchungen antwortet Wittgenstein seinem imaginären Dialogpartner auf dessen<br />
Frage "Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen?" mit der Gegen-<br />
frage: "Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen." (PU 504) – Als<br />
kommunizierende Wesen bewegen wir uns immer in verschiedenen Zeichensystemen, in<br />
verschiedenen Medien. Unabhängig von Symbolisierung und Performanz gibt es weder ein<br />
Verstehen noch ein Meinen.<br />
3. Pr<strong>ak</strong>tische Konsequenzen am Beispiel der E-Mail-Kommunikation<br />
Ich hoffe, meine bisherige Darstellung konnte verdeutlichen, inwiefern das Sender-Empfän-<br />
ger-Modell ungeeignet ist, menschliche Kommunikation zu beschreiben. Der verbreitete<br />
Mythos, Kommunizieren bestünde darin, die Gedanken des Sprechers möglichst identisch in<br />
6
den Kopf des Hörers zu leiten, ist vollkommen irreführend. Vielmehr ist – wie schon Hum-<br />
boldt sinngemäß schrieb – jedes Verstehen immer auch mit einem Mißverstehen<br />
verbunden. 10<br />
In der Kommunikation haben wir es wesentlich mit einem ständigen Oszillieren<br />
von Verständigung, Mißverstehen und Unverständnis zu tun. Wenn es unser Ziel ist,<br />
Mißverständnisse zu minimieren, so müssen wir unter anderem lernen, uns intelligent in<br />
verschiedenen Medien zu bewegen. Ein reflektierter Umgang mit Medien setzt voraus, sich<br />
über die spezifischen medialen Eigenschaften der jeweils verwendeten Medien klar zu<br />
werden. Dies erfordert ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit, da die Medialität von<br />
Medien, wie wir gesehen haben, in der Alltagskommunikation normalerweise gar nicht<br />
zutage tritt. Ein <strong>Medium</strong> beherrschen heißt eine Kulturtechnik, eine kulturelle Praxis<br />
beherrschen. 11<br />
Bei den 'alten Medien' haben sich hier im Laufe der Zeit mehr oder weniger klare<br />
Konventionen eingespielt: Einen Geschäftsbrief an jemanden, den man nicht kennt, beginnt<br />
man mit "Sehr geehrte Frau ... bzw. "Sehr geehrter Herr ...". Beim Vorstellungsgespräch<br />
redet man anders <strong>als</strong> beim abendlichen Kneipenbesuch. Am Telefon meldet man sich mit<br />
Namen. Man läßt den anderen zuende reden – wobei es hier, gerade die Länge der jeweili-<br />
gen Pausen betreffend, erhebliche kulturelle Unterschiede gibt. Im einzelnen kann man über<br />
solche Konventionen streiten, aber im großen und ganzen sind sie eingespielt.<br />
Anders verhält es sich bei den sogenannten Neuen Medien, insbesondere bei der –<br />
bereits erwähnten – E-Mail-Kommunikation. Hier ist mitunter eine starke Uneinheitlichkeit<br />
und eine auffällige Unsicherheit über die Gültigkeit von Konventionen erkennbar. Hochschul-<br />
dozenten erhalten von Studenten regelmäßig E-Mails, die mit Anreden wie "Hallo, Herr ...",<br />
oder "Hallo, ..." oder am besten "Hallo !!!" beginnen. Manchmal ist auch weder eine Anrede<br />
noch eine Unterschrift vorhanden. Man kann so etwas <strong>als</strong> unhöflich oder unangemessen<br />
empfinden. Man kann es auch gelassener sehen und es auf Unsicherheit bezüglich der Kon-<br />
vention oder gar auf ein Nichtvorhandensein einer Konvention zurückführen. – Daß E-Mail-<br />
Nutzer dazu neigen, sich stilistisch an Face-to-Face- oder Telefon-Kommunikation zu<br />
orientieren, stellt im privaten Bereich in der Regel kein Problem dar. Je besser man<br />
jemanden kennt, desto weniger Mißverständnisse tauchen auf. Bei der Übertragung auf den<br />
nicht privaten, vor allem auf den beruflichen Bereich führt dies jedoch schnell zu Irritationen,<br />
und es zeigt sich: E-Mail ist ein Kommunikationsmedium, das seine spezifische Medialität<br />
hat: Man kann sehr schnell antworten, man braucht keinen Briefumschlag und keine<br />
Briefmarke, man muß nicht zur Post gehen. So besteht generell die Neigung zu Recht-<br />
9<br />
10<br />
11<br />
Vgl. hierzu Stetter 2005, S. 34-37.<br />
Vgl. GS, Bd. 5, S. 396.<br />
Vgl. hierzu auch PU 199.<br />
7
schreibfehlern 12<br />
und einem informellen, umgangssprachlichen Stil. Zudem verleitet die<br />
Möglichkeit, eine E-Mail in kurzer Zeit zu verfassen und zu senden, nicht selten zu<br />
'Schnellschüssen', zu voreiligen, unbedachten Formulierungen. Hierbei ist unter anderem zu<br />
bedenken, daß der Adressat die Nachricht normalerweise nicht sofort liest; er ist in einer<br />
ganz anderen Umgebung <strong>als</strong> ich, Mißverständnisse können nicht sofort durch Gestik, Mimik<br />
und Korrektur ausgeräumt werden (auch Emoticons o. ä. bieten hier nur eine schwache<br />
Kompensation). In diesem Sinne teilt die E-Mail-Kommunikation manche medialen<br />
Eigenschaften mit der Face-to-Face-Kommunikation, manche mit dem Telefonieren, manche<br />
mit dem Chatten und manche auch mit dem Briefeschreiben. Unsicherheit und inadäquates<br />
Kommunizieren sind somit programmiert.<br />
Langsam bilden sich aber auch hier Gelingensbedingungen heraus. Schreibe ich im<br />
beruflichen Bereich eine E-Mail an jemanden, den ich noch nicht kenne (einen Geschäfts-<br />
partner, einen Kunden, einen Hochschuldozenten usw.), dann versuche ich die erste Mail so<br />
zu formulieren, <strong>als</strong> ob ich einen Brief schreiben würde. Geht die Kommunikation schnell hin<br />
und her, so kann ich nach einer Weile auf die Anrede verzichten; hier bedarf es immer einer<br />
gewissen Urteilskraft, eines Fingerspitzengefühls, um den richtigen Moment abzupassen.<br />
Die erste Frage, die man sich in diesem Zusammenhang – wie überhaupt in der Kommuni-<br />
kation – stellen muß, lautet: In welcher Situation, in welcher medialen Umgebung befindet<br />
sich der Adressat, wie wird er die Mail voraussichtlich auffassen? Ganz kontrollieren kann<br />
man dies natürlich nie; man kann aber die Gefahr des Scheiterns der Kommunikation verrin-<br />
gern. Voraussetzung dafür ist es immer, das <strong>Medium</strong> und seine Rolle bei der Kommunikation<br />
ernst zu nehmen. Der Vertreter des Sender-Empfänger-Modell neigt potentiell dazu, seine<br />
guten Absichten, seine Intentionen für hinreichend zu halten, Wittgenstein jedoch würde ihm<br />
antworten: "Wir haben beide nur unsere Zeichen, und diese sind medial vermittelt."<br />
12<br />
Vgl. hierzu Runkehl / Schlobinski / Siever 1998, S. 36-38.<br />
8
Zitierte Literatur<br />
Boeckmann, K. (1994): Unser Weltbild aus Zeichen. Zur Theorie der Kommunikationsmedien.<br />
Wien: Braumüller.<br />
Faulstich, W. (2004): Medienwissenschaft. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag (= UTB 2494).<br />
Humboldt, W. von (1968): Gesammelte Schriften. Hg. von A. Leitzmann u. a. Berlin 1903 ff.<br />
Photomechanischer Nachdruck Berlin 1968. – Zitiert <strong>als</strong> GS.<br />
Jäger, L. (2000): Die Sprachvergesssenheit der Medientheorie. Ein Plädoyer für das <strong>Medium</strong><br />
<strong>Sprache</strong>. In: W. Kallmeyer (Hg.) (2000): <strong>Sprache</strong> und neue Medien. Berlin / New York:<br />
de Gruyter 2000 (= IDS Jahrbuch 1999), S. 9-30.<br />
Innis, H. A. (1991): The Bias of Communication. Toronto: University of Toronto Press.<br />
Krämer, S. (1998): Das <strong>Medium</strong> <strong>als</strong> Spur und <strong>als</strong> Apparat. In: S. Krämer (Hg.) (1998):<br />
Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Ffm.: Suhrkamp,<br />
S. 73-94.<br />
Margreiter, R. (2003): Medien / Philosophie: Ein Kippbild. In: S. Münker / A. Roesler / M.<br />
Sandbothe (Hg.) (2003): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Ffm.:<br />
Fischer, S. 150-171.<br />
McLuhan, M. (1968): Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf / Wien: Econ.<br />
Runkehl, J. / Schlobinski, P. / Siever, T. (1998): <strong>Sprache</strong> und Kommunikation im Internet.<br />
Überblick und Analysen. Opladen / Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.<br />
Sandbothe, M. (2001): Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin<br />
im Zeitalter des Internet. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.<br />
Seel, M. (1998): Medien der Realität und Realität der Medien. In: S. Krämer (Hg.) (1998):<br />
Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Ffm.: Suhrkamp,<br />
S. 244-268.<br />
Stetter, Ch. (2002): Was ist Kommunikationsmanagement?<br />
http://www.semantics.de/service/publikationen/kommunikationsmanagement/index.html<br />
(zuletzt eingesehen am 04.01.2005).<br />
Stetter, Ch. (2005): System und Performanz. Umrisse einer symboltheoretisch begründeten<br />
Sprachwissenschaft [Typoskript].<br />
Wittgenstein, L. (1984): Philosophische Untersuchungen. In: Ders. (1984): Werkausgabe,<br />
Bd. 1. Ffm.: Suhrkamp. – Zitiert <strong>als</strong> PU mit Angabe der Abschnittsnummer.<br />
Adresse des Autors:<br />
Dr. Jan Georg Schneider<br />
RWTH Aachen<br />
Institut für Sprach- und<br />
Kommunikationswissenschaft<br />
Eilfschornsteinstr. 15<br />
52056 Aachen<br />
Tel.. 0241/8096088<br />
E-Mail: j.schneider@isk.rwth-aachen.de<br />
http://www.isk.rwth-aachen.de<br />
9