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HAT DER MENSCH KULTUR ODER BRAUCHT DER MENSCH KULTUR? Über ...

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<strong>HAT</strong> <strong>DER</strong> <strong>MENSCH</strong> <strong>KULTUR</strong> O<strong>DER</strong> <strong>BRAUCHT</strong> <strong>DER</strong> <strong>MENSCH</strong> <strong>KULTUR</strong>?<br />

<strong>Über</strong> Menschenwürde und Kultur<br />

Referat am Forum Kultur und Oekonomie<br />

27./28.Januar 2005 in Lausanne<br />

Dr. Dr.h.c. Gret Haller, Publizistin, Bern<br />

___________________________________<br />

Menschenwürde und Kultur lautet gemäss Programm der Titel meines Referates.<br />

Ursprünglich war als Titelfrage vorgesehen: Hat der Mensch Kultur ? Dies wurde im letzten Herbst<br />

diskutiert, und inzwischen fanden in unserem Land ja bekanntlich Kulturdebatten statt, auf<br />

verschiedenen politischen Niveaus und ich möchte fast sagen auch sonst auf verschiedenen<br />

Niveaus. Nicht etwa, dass diese Debatten das verändert hätten, war ich hier in etwa auszuführen<br />

beabsichtigte. Aber es ist in den letzen Wochen und Monaten sehr viel an Kulturdebatte in Gang<br />

gekommen - und darüber kann man sich eigentlich nur freuen. So lautet die Titelfrage nun: Hat der<br />

Mensch Kultur oder braucht der Mensch Kultur ?<br />

Bitte verlangen Sie von mir jetzt nicht einen Ueberblick über die Art und Weise, wie<br />

historisch gesehen in den verschiedenen Epochen und durch welche Leute in diesen Epochen diese<br />

Frage beantwortet worden wäre. Ich möchte von einer ganz anderen Seite her in das Thema<br />

einsteigen. Vorangegangen ist das Referat zum Thema Staat und Kultur, Herr Couchepin als<br />

Kulturminister war ja von Amtes wegen verpflichtet, sich zu diesem Verhältnis zu äussern, denn er<br />

ist sozusagen der oberste Schirmherr der Schweizerischen Kultur. Das Thema am Nachmittag lautet<br />

Wirtschaft und Kultur. Wenn ich die Kultur in einen Zusammenhang stellen soll zur<br />

Menschenwürde, so ergibt das gleichsam ein Dreieck. Ich muss die Kultur zu den beiden Bereichen<br />

in Beziehung setzen, zum Staat und zur Wirtschaft. Für beide ergeben sich die selben Fragen. Was<br />

braucht die Kultur von der Wirtschaft ? Was braucht die Wirtschaft umgekehrt von der Kultur ?<br />

Und andererseits, was braucht die Kultur vom Staat ? Was braucht der Staat umgekehrt von der<br />

Kultur ? Eigentlich könnte ich die Titelfrage bereits hier mit einer „Wenn - Dann - Konstruktion“<br />

beantworten: Wenn der Mensch Kultur hat, dann kann man den Umgang mit der Kultur getrost der<br />

Wirtschaft überlassen. Dann ist nämlich die Kultur etwas, das man auf dem Markt einbringen kann,<br />

jeder kann so viel einbringen, wie er oder sie anzubieten hat. Wenn hingegen der Mensch Kultur<br />

braucht, dann wird sich der Staat dem Umgang mit der Kultur nicht entziehen können, weil sich<br />

dann irgend jemand darum kümmern muss, warum und wieviel wer von welcher Kultur braucht,<br />

und wie man das organisieren könnte.<br />

Nun muss ich natürlich zugeben, dass ich diese etwas saloppe vorläufige Antwort auf die<br />

Titelfrage nur deshalb so habe geben können, weil ich ja noch gar nicht definiert habe, was ich in<br />

diesem Zusammenhang unter Kultur verstehe. Das will ich nun in einem nächsten Schritt<br />

versuchen, und auch dazu erwarten Sie von mir bitte nicht einen Ueberblick über die Art und<br />

Weise, was historisch gesehen in den verschiedenen Epochen unter Kultur verstanden worden ist.<br />

Kultur kann alles sein, oder Kultur kann fast nichts mehr sein. Wenn wir den Begriff der Kultur<br />

demjenigen der Natur gegenüberstellen, dann ist Kultur alles, was die Menschen jemals erfunden<br />

haben, vom ersten Werkzeug der Steinzeitmenschen und den intellektuell gewonnen Einsichten,<br />

welche zur Erfindung dieses Werkzeuges geführt haben, bis zu allem Schönen und Unschönen, was<br />

die Menschheit heute materiell oder intellektuell über diesen Planeten oder sogar ins Weltall hinaus<br />

verbreitet. Dies ist der weitest mögliche denkbare Kulturbegriff. Ein sehr enger Kulturbegriff<br />

beschränkt umgekehrt Kultur zunächst einmal auf das eigentliche Kulturschaffen, und innerhalb<br />

dieses Kulturschaffens wird dann je nach dem noch weiter unterschieden, in schöne und hässliche


Kultur, vielleicht in annehmbare und unannehmbare Kultur, weitergehend dann sogar in zulässige<br />

und unzulässige Kultur, was sich niederschlagen kann in einer Unterscheidung zwischen<br />

unterstützungswürdiger und nicht unterstützungswürdiger Kultur, und schliesslich sollten wir nie<br />

vergessen, dass man vor bald 100 Jahren man aus völkischer Sicht zu unterscheiden begann<br />

zwischen entarteter und nicht entarteter Kunst. Auf diese Weise kann sich der Kulturbegriff immer<br />

mehr verengen, bis er am Ende dieser Entwicklung möglicherweise im schwarzen Loch seiner<br />

eigenen Definition verschwindet. Ich möchte nun aus diesem ganzen Spektrum zwei<br />

Begrifflichkeiten auswählen. Zum einen als einen engeren Begriff jenen des Kulturschaffens, wobei<br />

ich aber ausdrücklich keine weiteren Einschränkungen im eben beschriebenen Sinne machen will.<br />

Und zum anderen einen weiteren Begriff der Kultur, der umschreiben soll, wie die Menschen ihr<br />

Zusammenleben oder ihre gemeinsame Existenz in etwa organisiert haben. Ich schliesse in diesen<br />

weiteren Begriff also Bereiche ein wie zum Beispiel die Rechtskultur, die Staatskultur, die<br />

politische Kultur, aber auch die Unternehmenskultur, die Kultur des Umgangs miteinander, etc.<br />

Lassen Sie mich nun bei diesem weiteren Kulturbegriff einsetzen. Wenn wir uns überlegen,<br />

was es alles braucht, damit die Menschheit überhaupt funktioniert und weiterexistiert, entsteht eine<br />

ganze Liste von notwendigen Funktionen. Die Menschheit muss sich fortpflanzen, sie muss sich<br />

ernähren, was heute nicht mehr vorwiegend über jagen und sammeln passiert, sondern über die<br />

Herstellen von Lebensmitteln durch Anbau und Tierhaltung. Ausser Nahrung brauchen die<br />

Menschen Kleidung, Behausung und in gewissen Breitengraden auch mehr Wärme als sie die Natur<br />

abgibt. Es müssen also Güter produziert werden und Dienstleistungen, es muss Handel betrieben<br />

werden mit diesen Gütern und Dienstleistungen, dann aber müssen die Leute auch befähigt werden,<br />

alle diese Dinge zu bewältigen, es braucht Generierung des Wissen, also Forschung, es braucht die<br />

Weitergabe des Wissens, also Ausbildung und Bildung ganz generell. Schliesslich - und damit<br />

schlage ich einen Bogen zurück zur Reproduktion der Menschheit - bringt es die menschliche<br />

Existenz mit sich, dass nicht in jedem Lebensalter und nicht in jeder Lebenslage aktiv zu all diesen<br />

Tätigkeiten beigetragen werden kann, der Mensch sich aber vor und nach der aktiven Phase<br />

dennoch materiell und immateriell versorgen - oder versorgt werden - will. Und in der Kindheit<br />

sowie im hohen Alter oder während Krankheiten bedarf der Mensch selber der Betreuung durch<br />

andere Menschen. Betreuung bedeutet auch emotionale Zuwendung, und damit erschliesst sich der<br />

immaterielle Bereich von Funktionen, die für die menschliche Existenz unerlässlich sind, nämlich<br />

im weitesten Sinne die Kommunikation zwischen den Menschen, sei es, dass sich der Austausch<br />

auf eine der vorgenannten Funktionen bezieht, sei es, dass die Menschen einfach sonst miteinander<br />

Austausch pflegen, weil sie sich miteinander auseinandersetzen wollen, oder weil es ihnen einfach<br />

Freude macht, Stichworte wie Freundschaft, Liebe oder Sexualität, wobei die letztere dann ja<br />

wiederum mit der Fortpflanzung der Menschheit zu tun hat.<br />

Diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig, aber auch so können die verschiedenen<br />

Funktionen verschiedenen Kategorien zugeordnet werden. Einige dieser Funktionen sind nämlich<br />

so ausgestaltet, dass jener, der sie ausübt, in der Regel eine Gegenleistung erhält. Andere dieser<br />

Funktionen sind so ausgestaltet, dass derjenige, der sie ausübt, dafür etwas bezahlen muss. Wieder<br />

andere bewegen sich im Bereich aussenhalb des Geldverkehrs, was nicht heisst, dass nicht in irgend<br />

einer Weise eine tauschweise Gegenleistung erwartet wird, also eine nicht direkt geldwerte<br />

Gegenleitung. Dann gibt es Funktionen, welche in den verschiedenen Kategorien gleichzeitig<br />

figurieren können, weil sie sowohl entgeltlich als auch unentgeltlich erbracht oder ausgeübt<br />

werden. Ich bin sicher, dass irgendwelche Oekonomen längst Modelle entwickelt haben, mit<br />

welchen man alle diese Funktionen bewerten und gegeneinander aufrechnen kann, aber darum geht<br />

es hier nun nicht, sondern es geht um etwas Anderes.<br />

Je nach dem, von was für einem Menschenbild man ausgeht, nimmt man die Zuteilung dieser<br />

Funktionen in die verschiedenen Kategorien unterschiedlich vor. Ich möchte hier vor allem zwei<br />

Menschenbilder unterscheiden, die sich beide in dem Raum bemerkbar machen, welchen wir in der


Regel als den westlichen Kulturkreis bezeichnen. Neben diesen zwei Menschenbildern gibt es vor<br />

allem dann weitere und über diese beiden hinausgehende Variationen des Menschenbildes, wenn<br />

wir den asiatischen, den afrikanischen und sogar auch den südamerikanischen Raum<br />

miteinbeziehen, die ich nun aber beiseite lassen werde. Die beiden westlichen Varianten werde ich<br />

bewusst überspitzt und in ihrem Extrem umschreiben, um deutlich zu machen, worin sie sich<br />

unterscheiden. Ich benenne die beiden als Leistungsvariante einerseits und Existenzvariante<br />

andererseits. In der Leistungsvariante muss der Mensch sich alles verdienen, in der<br />

Existenzvariante muss er sich nichts verdienen. Im Extrem gezeichnet ist es in der Existenzvariante<br />

sogar so, dass der Mensch theoretisch gar nichts selber verdienen darf, denn auf Grund der<br />

ungleichen Erwerbsfähigkeiten der verschiedenen Menschen würden sonst Ungleichheiten<br />

entstehen. Dies gilt es in dieser extrem gedachten Variante zu vermeiden, weshalb möglichst alle<br />

gesellschaftsnotwendigen Funktionen gleichmässig verteilt werden. Theoretisch ist dies auch sehr<br />

weitgehend möglich, scheitern dürfte es erst in den Bereichen der Kommunikation, insoweit diese<br />

auch Sympathie oder gar Liebe voraussetzt, denn in diesem Bereich lässt sich der Mensch nicht<br />

leicht programmieren. Verschiedene Karikaturen dieses Denkens sind uns in den Ländern des real<br />

existierenden Sozialismus vorgeführt worden, es sind letztlich für die Menschheit nicht lebbare<br />

Modelle. Aber auch die Leistungsvariante ist in ihrem Extrem nicht lebbar, denn sie landet in<br />

Rechtlosigkeit, die sich im Recht des Stärkeren manifestiert, und letztlich führt sie ins Chaos, sei<br />

dies nur über Revolutionen oder über den Krieg oder über beides. Auf längere Dauer betrachtet<br />

akzeptieren die Menschen das Ueberschreiten eines gewissen Masses an Ungleichheit<br />

offensichtlich nicht, weil dies mit der menschlichen Lebenserfahrung nicht übereinstimmt, oder<br />

genauer gesagt mit der menschlichen Lebens- und Todeserfahrung. Genau so wie die reine<br />

Existenzvariante in ihrem Extrem die Gleichheit ad absurdum führt, so führt die reine<br />

Leistungsvariante in ihrem Extrem die Ungleichheit ad absurdum.<br />

Wenn wir uns die beiden Varianten auf einer Achse denken, mit den beiden Extremen an den<br />

beiden Enden, so können wir diese Achse geradesogut zu einem Kreis umgeformt denken, in<br />

welchem sich die beiden Extreme unten wieder berühren, denn die beiden Extreme führen letztlich<br />

zu Gesellschaftsformen, welche gleich unfrei sind und vielleicht sogar aufgrund der selben<br />

Merkmale dem Menschsein überhaupt nicht entsprechen. Was dem Menschen entspricht, ist im<br />

Grunde genommen ein relativ kleiner Sektor des so gezeichneten Kreises, und dieser Sektor liegt<br />

dem Berührungspunkt der beiden Extreme genau gegenüber. In diesem relativ schmalen Sektor<br />

greifen die Leistungs- und die Existenzvariante sinnvoll ineinander, sie überlagern sich gegenseitig.<br />

Bevor ich versuche, die beiden eingangs definierten Kulturbegriffe zu diesem schmalen<br />

Sektor in Beziehung zu setzen, möchte ich kurz auf den anderen Bereich eingehen, dessen<br />

Verhältnis zur Kultur als Ganzem Thema meines Referates ist, nämlich auf die Menschenwürde.<br />

Beides, die Uebersteigerung der Ungleichheit wie auch die Uebersteigerung der Gleichheit<br />

bedrohen offensichtlich die Menschwürde, wie die beiden Extremvarianten zeigen. Uebersteigerung<br />

der Ungleichheit ergibt sich in der Regel aus schrankenlosen Marktmechanismen, Uebersteigerung<br />

der Gleichheit ergibt sich in der Regel aus unkontrollierbar gewordener Staatlichkeit. Sicher ist die<br />

Reduktion der gesamten Menschheitsgeschichte auf die Frage „Staat oder Markt“ verfehlt. Aber<br />

derjenige Teil der Menschheit, der jedenfalls zur Zeit noch aufgrund seiner wirtschaftlichen<br />

Ueberlegenheit den weltweiten Ton angibt, hat nun einmal geschichtlich verschiedene Experimente<br />

hinter sich - oder vielleicht auch noch vor sich -, welche man sehr verkürzt entweder als<br />

Uebersteigerung des Staates zulasten des Marktes oder umgekehrt als Uebersteigerung des Marktes<br />

zulasten des Staates bezeichnen kann. Und diese Experimente beruhen auf einem dogmatisch<br />

einseitigen Umgang mit dem Verhältnis zwischen Gleichheit und Ungleichheit, ein Thema, welches<br />

die Philosophie beschäftigt hat, schon lange bevor viele der erwähnten Experimente in Tat<br />

umgesetzt wurden.


Die Idealtypen des Marktes und des demokratischen Staates bieten sich eben sehr wohl an,<br />

um Gleichheit und Ungleichheit abzuhandeln, und zwar vor allem auf der Ebene der<br />

Entscheidungsabläufe. Wenn sich - um mit den marktwirtschaftlichen Abläufen zu beginnen - sehr<br />

viele Leute gleich verhalten, wenn sie also zum Beispiel gewisse Produkte nicht mehr und<br />

stattdessen andere kaufen, und wenn sie dadurch eine Veränderung des Marktes bewirken, so geht<br />

dies auch mit relativ kleinem Einsatz von Mitteln. Die grossen Entscheidungen laufen hingegen so<br />

ab, dass der Einsatz der Mittel die Entscheidung bestimmt. Wer investieren kann, hat das Sagen,<br />

und er hat so viel zu sagen, wie er investiert.In den staatlichen Entscheidungsabläufen gilt hingegen<br />

- soweit sie direkt oder indirekt demokratisch sind - der republikanische Grundsatz „eine Person -<br />

eine Stimme“. In Wahlen und Abstimmungen spielen zwar die eingesetzten Gelder der Wahl- oder<br />

Abstimmungskampagnen auch eine gewisse Rolle, aber dies alles ist immerhin öffentlich einsehbar.<br />

Was den eigentlichen Mitwirkungsakt anbelangt, sind die Menschen gleichgestellt. Es liegt im<br />

Wesen des republikanischen Gedankens, dass er immer weitere Kreise einbezieht. Zuerst waren in<br />

der französischen Revolution nur die männlichen Bürger mitwirkungsberechtigt, anfänglich sogar<br />

an vielen Orten nur jene, die sich über Eigentum ausweisen konnten. Diese Bedingung wurde später<br />

aufgehoben, auch nicht-grundbesitzende Männer wurden mitwirkungsberechtigt. Noch später<br />

kamen die Frauen hinzu - in den verschiedenen Ländern bekanntlich früher oder später. Und heute<br />

beobachtet man die Tendenz, die demokratische Mitwirkungsberechtigung nicht mehr überall von<br />

der Staatsangehörigkeit abhängig zu machen. Es gibt in der Europäischen Union das unionsweite<br />

Gemeindewahlrecht auch für Nicht-Staatsangehörige, und sogar in der Schweiz kennen<br />

verschiedene Gemeinden bereits das Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer.<br />

Wenn der republikanische Gedanke einmal Fuss gefasst hat, schliesst er notwendigerweise immer<br />

weitere Kreise ein, Demokratie ist sozusagen „inklusiv“, also einbeziehend. Und genau so ist<br />

umgekehrt die Marktwirtschaft in einer Weise „exklusiv“, sie verlangt Vorleistungen, damit man<br />

sich einmischen kann, man muss nämlich zu Geld gekommen sein, das man einsetzen kann, und<br />

dies sowohl im Kleinen als auch im Grossen. Deshalb ist der Republikanismus, der in der<br />

Staatlichkeit und ihren Entscheidungsabläufen zum Ausdruck kommt, zum Inbegriff der Gleichheit<br />

geworden.<br />

Was bedeutet dies nun für die Menschenwürde ? Menschenwürde gibt es nur als gleiche<br />

Würde aller Menschen. Sobald ich einem anderen Menschen weniger Würde zugestehe als mir<br />

selber, möglicherweise aufgrund irgend eines Kriteriums wie Nationalität, familiäre oder<br />

geografische Herkunft, Rasse, Geschlecht, Religion oder was mir auch sonst als Kriterium in den<br />

Sinn kommen mag, genau in dem Moment habe ich in den Augen dieser anderen Person auch<br />

weniger Würde als sie selber, denn in den Augen dieser Person bin ich ja genau so anders als sie,<br />

nur umgekehrt. Die Garantie der Menschenwürde kann deshalb nur aus dem Bereich des<br />

Staatlichen kommen, welche für den Grundsatz der Gleichheit steht. Und so wird es heute ja auch<br />

gehandhabt, denn es sind die Staatsverfassungen, welche diese Garantien enthalten, insbesondere<br />

auch die völkerrechtlichen Verträge zu den Menschenrechten, welche im Zusammenwirken der<br />

verschiedenen Staaten abgeschlossen werden. Die Garantien werden auch von internationalen - also<br />

interstaatlichen - Gerichten geschützt, jedenfalls in Europa, in mehr oder weniger ausgebildeten<br />

Ansätzen aber auch auf anderen Kontinenten und weltweit. Hier muss allerdings noch eine<br />

Differenzierung angebracht werden: Der Vergleich der beiden Extremvarianten in der Umsetzung<br />

eines Menschenbildes hat gezeigt, dass beide Extremvarianten zu menschenunwürdigen<br />

Verhältnissen führen. Die Menschenwürde kann also sowohl durch den Staat als auch durch die<br />

Wirtschaft verletzt werden, oder besser formuliert sowohl durch willkürliche Uebergriffe des zu<br />

mächtig gewordenen Staates als auch durch Exzesse einer Wirtschaft, die nicht oder nicht mehr<br />

eingebunden ist in ein Konzept des richtigen und menschenverträglichen Zusammenspiels zwischen<br />

Gleichheit und Ungleichheit. Halten wir also fest: Verletzt werden kann die Menschenwürde<br />

sowohl durch den Staat als auch durch die Wirtschaft, garantiert werden kann die Menschenwürde<br />

aber nur durch den staatlichen Bereich. Und eben diese Aussage verlangt sofort nach einer zweiten<br />

Differenzierung. Wissen wir eigentlich so genau, was Menschenwürde ist ? Nein, wir hätten die


grösste Mühe, eine positive Definition abzugeben, obwohl sich internationale Organisationen auf<br />

ihren entsprechenden Gebieten immer wieder - und zu Recht - um solche Definitionen bemühen.<br />

Wir wissen nur immer dann, was Menschenwürde ist, wenn diese Würde verletzt wird. Das heisst,<br />

dass die positive Garantie der Menschenwürde durch den staatlichen Bereich immer etwas hinkt,<br />

und dennoch ist die Existenz der Garantie äusserst wichtig, nämlich gerade im Hinblick auf den<br />

Fall der Verletzung.<br />

Um die Kultur im bisher Ausgeführten festzumachen - oder dies wenigstens zu versuchen -<br />

möchte ich die beiden eingangs definierten Kulturbegriffe nun getrennt angehen, und ich streife<br />

zunächst kurz den engeren Begriff des Kulturschaffens. Der relativ schmale Sektor des Kreises, den<br />

ich eingangs beschrieben habe, der den Extremvarianten der beiden im Westen verbreiteten<br />

Menschenbilder gegenüberliegt und in welchem die Leistungs- und die Existenzvariante sinnvoll<br />

ineinander übergehen, dieser schmale Sektor hat trotz seiner Schlankheit zwei Enden auf dem<br />

Kreisbogen. Es gibt also auch innerhalb des dem Menschen zuträglichen verschiedene denkbare<br />

Lösungen der Ueberlagerung von Gleichheit und Ungleichheit, und die ganze Diskussion über Staat<br />

oder Markt spielt sich zwischen den beiden Endpunkten dieses Sektors ab, jedenfalls dann, wenn<br />

diese Diskussion einigermassen vernünftig geführt wird. Im Bereich des Kulturschaffens können<br />

die beiden Endpunkte des Sektors sogar geografisch recht genau verortet werden, nämlich in den<br />

Vereinigten Staaten und in Europa. Jenseits des Atlantiks liegt die Förderung des Kulturschaffens<br />

praktisch ausschliesslich in den Händen von privaten Stiftungen, was mir für jenes<br />

Gesellschaftsmodell übrigens auch gar nicht als abwegig erscheint. In Europa bestehen<br />

Unterschiede von Land zu Land, jedoch kann man generell sagen, dass sich die öffentliche Hand<br />

ins Kulturschaffen durchaus einmischt. Und dieser Unterschied zwischen Europa und den<br />

Vereinigten Staaten hat nun entscheidend mit dem Bereich zu tun, den ich eingangs als Kultur im<br />

weiteren Sinne bezeichnet habe.<br />

Ich glaube sogar, dass sich der transatlantisch unterschiedliche Umgang mit dem<br />

Kulturschaffen, also mit der Kultur im engeren Sinne, deutlich wiederspiegelt oder<br />

wiederzuerkennen ist im Umgang mit dieser Kultur im weiteren Sinne, also mit der Rechtskultur,<br />

der Staatskultur, die politischen Kultur, oder der Kultur der Unternehmungen, der Kultur des<br />

Umgangs der Menschen miteinander, etc. Für allen diese Bereichen wiegt in den Vereinigten<br />

Staaten die Leistungsvariante im Menschenbild etwas schwerer als die Existenzvariante, während<br />

es in Europa - trotz kleinen Binnen-Unterschieden im Durchschnitt gesehen umgekehrt ist.<br />

Inwieweit diese transatlantische Differenz auch religiös bedingt ist, muss ich hier offen lassen.<br />

Immerhin sei der Hinweis erlaubt, dass dazu dem Aufsatz von Max Weber über die Protestantische<br />

Ethik und den Geist des Kapitalismus wohl einige nach wie vor gültige Erklärungsansätze zu<br />

entnehmen sind. Da ich hier auch nicht einzeln auf die transatlantischen Differenzen in den<br />

verschiedenen Bereichen eingehen kann, die ich in den weiteren Kulturbegriff einbezogen habe (1),<br />

möchte ich mich auf ein Ereignis oder vielmehr auf ein Phänomen konzentrieren, welches die<br />

europäische Oeffentlichkeit in letzter Zeit in regelmässigen Abständen immer wieder in Atem hält,<br />

und welches Europa in letzter Zeit eine gemeinsame Identität zum Bewusstsein gebracht hat, wie<br />

kaum etwas zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. Ich meine das Verhältnis zur<br />

Gewaltanwendung und insbesondere zu kriegerischen Auseinandersetzungen.<br />

Dass Europa die Existenzvariante im Menschenbild ebenso gewichtet wie die<br />

Leistungsvariante, hat unter anderem zwei Wurzeln. Zum einen hat dieser Kontinent so viel<br />

Verwüstung über sich selber und auch in andere Kontinente gebracht, dass in einem bestimmten<br />

Moment die Frage der Menschenwürde absolut zentral wurde, wenn die Europäer überhaupt noch<br />

in der Lage sein wollten, mit der dadurch auf sich geladenen Schuld weiterzuleben. Die Gleichheit<br />

der Menschen - in ihrer gleichen Würde - ist darin nur ein Element. Das andere Element ist die<br />

Gleichheit der Staaten, welche miteinander vereinbarten, dass gewisse Dinge nicht mehr<br />

vorkommen dürften. Ich nenne hier nur die Jahrzahl 1648, Westfälischer Frieden zur


Ueberwindung des religiösen Fundamentalismus, welcher dem Dreissigjährigen Krieg zugrundelag,<br />

sowie die Gründung der Europäischen Union zur Ueberwindung des nationalen Fundamentalismus,<br />

der seinen schrecklichen Höhepunkt im zweiten Weltkrieg erlebt hatte. Die Gleichheit der<br />

Menschen und die Gleichheit der Staaten wiederspiegeln sich gegenseitig, und im weltweiten<br />

Massstab leitet sich daraus ein grundsätzlich positives Verhältnis zum Völkerrecht und zu den<br />

Vereinten Nationen ab. Das zweite Element liegt darin, dass Europa keine Revolutionen riskieren<br />

will und deshalb immer wieder nach einem Ausgleich sucht, der Gleichheit und Ungleichheit in<br />

einem bestimmten Rahmen zusammenbringt. Herrmann Schwengel hat dieses europäische System<br />

so umschrieben, dass man verfassungsrechtliche Sperren gegenüber einer sich selbst verstärkenden<br />

politischen Oekonomie der Ungleichheit entwickelt habe, weil man „die Selbststeuerung durch<br />

Krise, Aufruhr und Krieg“ nicht gelten lassen wolle. (2)<br />

Das sind nur einige Beispiele als Illustration für das, was ich mit dem weiteren Kulturbegriff<br />

meine. Aber es sind Beispiele sozusagen aus dem Herzstück der europäischen politischen Kultur.<br />

Diese politische Kultur gibt es auch auf der Ebene der einzelnen Staaten, und was den<br />

Republikanismus samt dem ihm zugrundeliegenden Gleichheitsideal anbelangt, ist die Geburtsstätte<br />

dieser Kultur sogar klar auf der Ebene der Nationalstaaten angesiedelt. Damit möchte ich<br />

zurückkommen auch auf unser Land und auf die vier Fragen, die ich eingangs erwähnt habe. Was<br />

braucht die Kultur vom Staat ? Was braucht der Staat von der Kultur ? Und - vielleicht noch<br />

brisanter zu beantworten - was braucht eigentlich die Wirtschaft von der Kultur ? Und was braucht<br />

die Kultur von der Wirtschaft ?<br />

Sowohl die Wirtschaft als auch das Kulturschaffen brauchen vom Staat eine ganz wichtige<br />

Vorleistung: Dass er nämlich dank der von ihm getragenen politischen Kultur die rechtliche<br />

Ordnung und den gewaltfreien Raum garantiert, in welchem sowohl die Wirtschaft als auch das<br />

Kulturschaffen erst existieren können. Diese Aussage betrifft Friedenszeiten. Ich möchte hier doch<br />

kurz darauf hinweisen, dass es im belagerten Sarajewo über weite Strecken vor allem<br />

Kulturschaffende waren, welche unter äusserst widrigen und bedrohlichen Umständen über alle<br />

ethnischen Grenzen hinweg weiter zusammenarbeiteten und dadurch in vielen Menschen einen<br />

Funken Hoffnung aufrechterhalten konnten - ich erwähne das durchaus als Hommage an jene<br />

Kulturschaffenden. Damit er diese Vorleistung erbringen kann, braucht der Staat von den<br />

Kulturschaffenden wiederum etwas ganz wichtiges: Sie sind auch dazu da, durch das<br />

Kulturschaffen genau diese Kultur im weiteren Sinne immer wieder zu hinterfragen. Und<br />

hinterfragen heisst auch kritisieren, auf Unzulänglichkeiten hinweisen, sich also durchaus in einer<br />

für die Mächtigen nicht sehr angenehmen Weise mit Begriffen wir Demokratie, Republik, und vor<br />

allem mit Macht auseinanderzusetzen. Politische Kultur ist nie etwas, das ein Gemeinwesen auf<br />

immer erworben hätte. Vielleicht verhält es sich ähnlich wie mit der Menschenwürde, indem man<br />

erst und gerade dann realisiert, was politische Kultur bedeutet, wenn sie in Gefahr kommt.<br />

Kulturschaffen darf auch als Frühwarnsystem in diesem Bereich tätig sein und hat wohl sogar diese<br />

Funktion. Wichtig ist hier nun aber der Hinweis, dass diese Funktion des Kulturschaffens auch der<br />

Wirtschaft zugute kommt. Denn auch sie ist angewiesen ist auf die kulturelle Vorleistung des<br />

Staates, damit sie überhaupt funktionieren kann - oder vielelicht sollte ich heute sagen, sie sei<br />

angewiesen auf die kulturellen Vorleistung aus dem Bereich der „Staatlichkeit“, denn dieser Begriff<br />

schliesst die verschiedenen Ebenen auch einer neuen Art von übernationaler Staatlichkeit und der<br />

internationalen Organisationen ein.<br />

So komme ich abschliessend zu einem Versuch, die Titelfrage doch noch etwas<br />

differenzierter zu beantworten. Zweifellos hat der Mensch Kultur, aber das heisst noch nicht, dass<br />

er keine braucht. Die Menschheit braucht heute mehr denn je die Weiterentwicklung jenes<br />

Bereiches, den ich als Kultur im weiteren Sinne bezeichnet habe. Und dazu leistet auch das<br />

Kulturschaffen einen wichtigen Beitrag, in dem es die Res publica, das Oeffentliche immer wieder<br />

hinterfragt. Was das Kulturschaffen selbst anbelangt, kann die Antwort nicht so einfach sein, wie


ich sie am Anfang etwas salopp zu geben versucht habe. Zur Förderung dieses Kulturschaffens<br />

braucht es das Zusammenwirken von Markt und Staat. Es ist unerlässlich, dass der Staat das<br />

Kulturschaffen fördert. Dabei muss er diesem Kulturschaffen ganz bewusst den Freiraum lassen,<br />

sich gerade mit diesem Staat selbst kritisch auseinanderzusetzen, mit seiner politischen Kultur und<br />

seinem ganzen Handeln. Der Staat wird in der Förderung des Kulturschaffens wohl immer vor<br />

allem auch den existentiellen Aspekt im Auge haben, er wird also jene Bereiche unterstützten,<br />

welche ohne diese Unterstützung untergehen würden.<br />

Wenn die Wirtschaft in der Kulturförderung tätig ist, dann muss sie auf all dies nicht<br />

Rücksicht nehmen, sie kann und soll marktmässig entscheiden. Es ist der Wirtschaft unbenommen,<br />

auch jenes Kulturschaffen zu unterstützen, welches ganz direkt ihre Aufgabe der Kritik im Rahmen<br />

an der politischen Kultur wahrnimmt. Was die Wirtschaft aber nicht tun sollte, das ist den Anspruch<br />

zu erheben, dass sie anstelle der staatlichen Förderung des Kulturschaffens wirkt und diese<br />

staatliche Förderung damit für obsolet erklärt. Warum dies nicht geschehen sollte, habe ich<br />

dargelegt: Sowohl der Staat als auch die Wirtschaft können sich so verhalten, dass die Würde des<br />

Menschen verletzt wird. Aber die Garantie der Menschenwürde kann nur aus dem Bereich des<br />

Staatlichen kommen, welcher auch das von den Staaten vereinbarte Völkerrecht umfasst und auf<br />

dem republikanischen Grundgedanken der Gleichheit basiert. Deshalb weist für mich persönlich die<br />

Kontroverse über staatliche oder marktmässige Kulturförderung einen Zusammenhang auf mit dem<br />

Begriff der Menschenwürde. absurd. Und deshalb erscheint mir - ich muss das gestehen - diese<br />

Kontroverse als absurd.<br />

Kulturschaffen hat immer eine Marktseite, muss es haben und soll es auch haben. Ich glaube,<br />

dass Kulturschaffen aber immer auch eine Staats-Seite hat. Natürlich nicht als eine Art „Staats“-<br />

Kultur. Und auch nicht, weil etwa immer staatliche Finanzierungsmittel im Spiel sein müssten,<br />

durchaus nicht. Aber ich vermute, dass letztlich die beiden Kulturbegriffe, wie ich sie eingangs<br />

definiert habe, eben gar nicht völlig voneinander getrennt werden können. Jedes Kulturschaffen<br />

spielt sich nicht nur im gesamtgesellschaftlichen Rahmen ab und beeinflusst diesen wiederum,<br />

sondern jedes Kulturschaffen prägt die Kultur im weitern Sinne ebenfalls mit. Und Kultur im<br />

weiteren Sinne ist auch Rechtskultur, Staatskultur, politische Kultur. Jean Monnet, einer der<br />

Erfinder der Idee einer künftigen Europäischen Union soll am Ende der Sechziger Jahre folgenden<br />

Satz gesagt haben: „Wenn der Bau Europas noch einmal von vorn begonnen werden müsste, wäre<br />

es besser, mit der Kultur anzufangen“. (3) Ich glaube, das sagt fast alles.<br />

_____________________<br />

(1) zu diesen anderen Bereichen: Gret Haller „Die Grenzen der Solidarität. Europa und die<br />

USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion“, Aufbau-Verlag Berlin 2002 (Taschenbuch<br />

Berlin 2004), S.35 ff<br />

(2) Herrmann Schwengel, „Globalisierung mit europäischem Gesicht. Der Kampf um die<br />

politische Formel der Zukunft“, Berlin 1999, S.73<br />

(3) zit. nach Jeremy Rifkin, „Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht“,<br />

Frankfurt a.M. 2004, S.255

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