PDF (1,6 MB) - Mohr Siebeck Verlag
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C. Sachlicher Gewährleistungsumfang<br />
Kap. 16<br />
bestehen. Der EGMR hält sich hier aus guten Gründen partiell zurück, hat aber auch<br />
zu prüfen, ob die für die Einmischung des Staates in Familienangelegenheiten angeführten<br />
Gründe relevant und ausreichend sind. 201 Im Hinblick auf das Recht auf Achtung<br />
der Wohnung ist festzustellen, dass die konventionsrechtliche Garantie im Gegensatz<br />
zu Art. 13 Abs. 2 GG keinen ausdrücklichen Richtervorbehalt enthält und ein<br />
solcher auch nicht richterrechtlich entwickelt worden ist. 202 Allerdings verlangt der<br />
EGMR verfahrensrechtliche Sicherungen 203 und prüft dort, wo es auf nationaler Ebene<br />
an einem Richtervorbehalt fehlt, besonders intensiv die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.<br />
Ganz ähnlich fordert der Gerichtshof bei Eingriffen in das Recht auf Achtung<br />
der Korrespondenz wirksame und effektive Kontrollmöglichkeiten auf nationaler<br />
Ebene. 205 Intensiv hat sich der Gerichtshof gerade auch mit der Verhältnismäßigkeit<br />
entsprechender Eingriffe auseinander gesetzt und relativ hohe Maßstäbe gesetzt. So<br />
darf der Briefverkehr zwischen einem Gefangenen und dessen Anwalt nicht gelesen,<br />
sondern nur zur Kontrolle dessen, was im Umschlag steckt, geöffnet werden. 206<br />
25 Auch wenn das grundgesetzliche System von der Schrankensystematik der EMRK<br />
im Bereich des Privat- und Familienlebens strukturell abweicht, so lassen sich doch<br />
aufgrund der von der Straßburger Spruchpraxis zu Art. 8 EMRK im Rahmen der Verhältnismäßigkeitskontrolle<br />
entwickelten Fallgruppen zahlreiche Parallelen ausmachen.<br />
Dies gilt insbesondere für die Gewichtung der einzelnen Abwägungsbelange.<br />
Gleichwohl bleiben einige zentrale Unterschiede bestehen. Dies gilt zunächst für den<br />
Schutz von Ehe und Familie, in den Eingriffe nach der grundgesetzlichen Systematik<br />
nur zulässig sind, wenn sie auf verfassungsunmittelbaren Schranken beruhen. 207<br />
Auch wenn dies häufig der Fall sein dürfte, ist die besondere Wertigkeit von Art. 6<br />
Abs. 1 GG nicht zu verkennen, zumal die Lehre von der Institutsgarantie auch wie eine<br />
Schranken-Schranke wirken kann. 208 Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen<br />
beiden Grundrechtskatalogen besteht darin, dass das GG sowohl bei Eingriffen<br />
in die Individualkommunikation (Art. 10 Abs. 2 GG) wie auch bei Durchsuchungen<br />
und dem sogenannten Lausch- und Spähangriff (Art. 13 Abs. 2 GG) explizit einen<br />
Richtervorbehalt normiert. Beides findet sich in der EMRK weder ausdrücklich noch<br />
auf der Grundlage der Spruchpraxis der Straßburger Organe (→ Rn. 101). Einen dritten<br />
strukturellen Unterschied kann man in der vom EGMR häufig zurückgenommenen<br />
Kontrolldichte sehen, die allerdings ganz wesentlich damit zusammenhängt, dass der<br />
Gerichtshof die unterschiedlichen Wertvorstellungen (→ Rn. 97, 105) in den Konventionsstaaten<br />
nicht durchweg »harmonisieren« will, sondern zumeist Mindeststandards<br />
und diese absichernde Verfahrensregeln einfordert. Dies ist ein klassisches Problem<br />
regionaler wie auch internationaler Gerichtsbarkeit und konterkariert das beiden<br />
Grundrechtskatalogen zugrunde liegende menschenrechtliche Grundanliegen nicht.<br />
25<br />
201<br />
EGMR Nos. 39221/98 u. 41963/98, Rep. 2000-VIII, § 148 – Scozzari u. Giunta (GK);<br />
No. 25702/94, Rep. 2001-VII, § 168 – K. u. T. v. Finnland (GK).<br />
202<br />
Dies betont Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 45.<br />
203<br />
EGMR No. 11471/85, A 256-B, § 39 – Crémieux.<br />
204<br />
EGMR No. 21353/93, Rep. 1997-VIII, § 45 – Camenzind.<br />
205<br />
EGMR No. 13710/88, A 251-B, § 37 – Niemietz.<br />
206<br />
EGMR No. 13590/88, A 233, § 48 – Campbell.<br />
207<br />
Pieroth/Schlink, Rn. 707 f.<br />
208<br />
Pieroth/Schlink, Rn. 718.<br />
Thilo Marauhn/Judith Thorn 895