Happinez 3/2014
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REISE<br />
Vom<br />
höchsten<br />
Glück<br />
Sennerin sein für einen Sommer: Als Petra Kaiser diesen<br />
Entschluss fasst, hat sie keine Ahnung, wie man Kühe melkt oder<br />
Käse macht. Hoch oben in den Schweizer Alpen lernt sie beides –<br />
und noch viel mehr. Nämlich, dass wahres Glück ganz einfach ist<br />
Das Läuten der Kuhglocken verstummt nie. Es ist immer<br />
da, unerschütterlich, immer gleichbleibend. Ein sanftes<br />
Wogen, das niemals aus dem Takt gerät. Es heißt, ein<br />
erfahrener Älpler erkenne jedes seiner Tiere, ohne den<br />
Blick heben zu müssen, allein am Klang ihres Glockengeläuts.<br />
Mich hält dieses Geräusch wach. Ich liege in meinem<br />
Bett, lausche dem beständigen Gesang der Glocken,<br />
finde keinen Schlaf. Meine Gedanken? Kreisen. Knapp<br />
sechs Monate lang werde ich hier sein, auf 1700 Metern<br />
Höhe. In einem anderen Leben, in einer anderen Welt<br />
verkaufe ich Handys und Internet tarife. Jetzt bin ich<br />
Sennerin für einen Sommer auf dem Urnerboden, einem<br />
Hochtal inmitten der Schweizer Alpen, das eingekeilt<br />
liegt zwischen 3000 Meter hohen Gipfeln. Ich werde Kühe<br />
melken. Käse machen. Die Tiere auf die Weide treiben.<br />
Ich habe keine Ahnung, wie das geht, und ich weiß nicht<br />
einmal, wie ich die Kühe eigentlich ausein anderhalten<br />
soll, aber ich werde es tun …<br />
„Ja mei, eigentlich wollt’ ich scho’ lieber a Schweizerin<br />
haben“, hatte mir Franz am Telefon erklärt. „Aber wenn<br />
nichts Besseres kommt, nehm ich eben Dich.“ Das war vor<br />
einer Woche. Über eine Online-Plattform hatte ich mich<br />
>
Jede Kuh gibt rund zehn Liter<br />
Milch am Tag – diese wird in<br />
großen Kupfer kesseln erhitzt, um<br />
Mutschli, den Schweizer Käse, zu<br />
machen. Jeder Laib reift rund<br />
sechs Wochen und muss täglich<br />
von Hand gepflegt werden.<br />
Rechts: Der Blick vom Urnerboden<br />
hinab ins Tal<br />
120 | happinez
REISE
„Die Tage auf der Alm<br />
schenken mir keine Sekunde,<br />
und doch gewähren sie mir alle<br />
Zeit der Welt.“<br />
für den Job als Sennerin auf seiner Alm beworben. Warum?<br />
So genau kann ich das gar nicht mehr sagen. Es gab<br />
Tausend Gründe und doch niemals den einen Moment, in<br />
dem ich bewusst diese Entscheidung traf. Meine Ehe war<br />
gerade gescheitert, die Trennung schmerzhaft gewesen.<br />
Ich war wieder eine Suchende; sehnte mich nach Frei -<br />
heit, nach Anerkennung, nach all den Dingen, die sich<br />
so lautlos aus meinem Leben geschlichen hatten in den<br />
vergangenen Jahren. In der Firma meines Bruders arbeitete<br />
eine Frau, die seit Jahren ihre Sommer immer wieder<br />
auf der Alp verbrachte – wir sprachen oft davon, bewunderten<br />
sie, sagten Dinge wie: „Irgendwann mache ich das<br />
auch einmal.“ Nur der Zeitpunkt für dieses Irgendwann,<br />
der kam nie. Bis zu jenem Tag, an dem ich den einen<br />
Satz aussprach: „Ich werde es tun – ich gehe auf die Alp.“<br />
Ich traf meine Entscheidung, einfach so. Und von dem<br />
Augen blick an ging auf einmal alles ganz schnell.<br />
Sechs Monate in einer anderen Welt<br />
Drei Tage nach dem Telefonat mit Franz setze ich mich<br />
ins Auto und fahre los, 280 Kilometer Richtung Süden.<br />
Im Gepäck: Gummistiefel. Regenmantel. Zwei Hosen.<br />
T-Shirts. Unterwäsche. Sonnencreme. Meine gesamte<br />
Habe für die kommenden Monate – auf das Wesentliche<br />
reduziert. Ein gutes Gefühl. Leicht. Frei. Wahrhaftig. Im Tal<br />
angekommen, steige ich in die Seilbahn, schaukle hinauf<br />
auf die Alp Wannelen. Die Fahrt dauert zehn Minuten,<br />
und beinahe ist es, als ließe ich mit jedem Meter ein<br />
kleines Stück von meinem alten Leben, von meinem<br />
alten Ich zurück. Ich spüre: Eine Tür fällt hinter mir zu.<br />
Ganz leise und ohne großes Brimborium. Oben kommt<br />
mir Franz, der Senn, mit großen Schritten entgegen.<br />
Ich denke: Auwei, ein echter Älpler! Dann umschließt er<br />
meine Hände mit Riesenpranken, herzlich, warm. Ich<br />
lächle, fühle mich sofort wohl. Willkommen. Seit 60 Jahren<br />
lebt Franz auf dem Urnerboden; er ist hier geboren<br />
und aufgewachsen, übernahm die Alm als Ältester von<br />
zehn Geschwistern und blieb als Einziger. Er führt mich in<br />
mein Zimmer – Bett, Nachttisch, Schrank – und erzählt:<br />
Von den insgesamt 1200 Kühen, die auf dem Urnerboden<br />
gesömmert werden. Von seiner eigenen Herde, die<br />
27 Kühe umfasst, die von Mai bis Ende September zwischen<br />
verschiedenen Weidegründen zügeln.<br />
Glockengesang gegen böse Geister<br />
Rund alle sechs Wochen, so erklärt Franz, werden die Tiere<br />
auf neue Wiesen getrieben, damit sie stets das beste,<br />
kräftigste Grün abgrasen. Denn die Qualität ihrer Milch<br />
entscheidet auch über die Qualität des Mutschlis, des<br />
typischen Schweizer Käses, der hier oben gemacht wird.<br />
Ich lausche seinen Worten, diesen Worten, in denen er die<br />
einfachen, simplen Gesetzmäßigkeiten des Lebens erläutert.<br />
Höre zu, wie er erzählt, dass die Kühe traditionell bei<br />
jedem Auftrieb mit großen, schweren Glocken behängt<br />
werden, deren Geläut die bösen Geister vertreiben soll;<br />
dass die Tiere mit Blumen und Fähnchen geschmückt den<br />
Abtrieb begehen, um das Ende einer guten Reise zu<br />
zelebrieren. Ich lausche, spüre, wie sich etwas in mir löst.<br />
Sich löst – und mich glücklicher zurücklässt.<br />
Die Tage auf der Alm schenken mir keine Sekunde, und<br />
doch gewähren sie mir alle Zeit der Welt. Es ist merkwürdig:<br />
Ich stehe jeden Morgen um kurz nach vier Uhr<br />
auf, am Himmel funkelt noch der Morgenstern. Ich gehe<br />
hinab in den Käsekeller, bereite die Laibe für das Salzbad<br />
vor. Um fünf Uhr trinke ich mit Franz und Vreni, seiner<br />
Magd, meinen ersten Kaffee. Dann brechen wir auf, um<br />
die Kühe von der Weide zu holen. Um sechs Uhr wird<br />
gemolken, um acht Uhr gefrühstückt, zwischen 13 und<br />
122 | happinez
REISE<br />
happinez-Autorin Petra Kaiser teilt die Liebe zur<br />
alpinen Natur mit ihrem neuen Partner<br />
15 Uhr habe ich frei, danach wiederholt sich der gesamte<br />
Prozess von vorne. Die Tage sind immer gleich, jeder<br />
Handgriff tausendfach ausgeführt. Ich schufte so hart wie<br />
nie zuvor in meinem Leben, schleppe schwere Milchkübel,<br />
wasche riesige Käsebretter und Melkgeschirre, pflege<br />
jeden Tag den reifenden Käse. Ich hüte Kühe, treibe sie in<br />
den Stall, melke sie und jeden Abend falle ich hundemüde<br />
und bis auf die Knochen erschöpft ins Bett. Meine Tage<br />
sind ausgefüllt. Im wahrsten Sinne des Wortes: Hier oben<br />
auf der Alm finde ich Erfüllung, zum ersten Mal seit sehr<br />
langer Zeit. Auf einmal bedarf mein Leben keiner komplizierten<br />
Pläne mehr; ich muss nicht abwägen, nicht überlegen,<br />
ob das, was ich tue, richtig ist oder falsch. Es ist, wie<br />
es ist, und es folgt einem Rhythmus, der vom Leben selbst<br />
bestimmt wird: Man kann eben keinen Käse machen,<br />
bevor die Kühe nicht gemolken sind. So einfach ist das.<br />
Franz und Vreni nehmen mich mit offenen Armen auf.<br />
Ich, die blutige Anfängerin, bin vom ersten Moment an ein<br />
Teil dieser Alm, gehöre dazu, ganz fest. Meine Arbeit ist<br />
ebenso viel wert wie die aller anderen, und auch das lehrt<br />
mich etwas Wesentliches: Vertrauen. Vertrauen darauf,<br />
dass andere mich wertschätzen. Genau so, wie ich bin.<br />
Lektionen in Hingabe<br />
Ich erlebe Glück. Nicht das laute, rauschende Hoch eines<br />
kurzen, überschwänglichen Augenblicks. Sondern simples<br />
Glück, die Geborgenheit im Jetzt. Es ist da, wenn ich<br />
morgens auf die Weide hinausgehe und die schlafenden<br />
Kühe betrachte; wenn ich ihre Namen rufe und sie mich<br />
aus großen, blinzelnden Augen betrachten, bevor sie sich<br />
langsam erheben. Es ist da, wenn ich in die dunkle Stille<br />
des Käsekellers hinabsteige und die reifenden Käse pflege,<br />
so, wie Franz es mich gelehrt hat, mit Liebe und Hingabe,<br />
als sei jeder einzelne von ihnen ein Kind, das mit<br />
ebensolcher Hingabe gehegt und umsorgt werden muss.<br />
Ich lerne, hinzusehen. Das Kleine zu betrachten, das<br />
Besondere wahrzunehmen. Den Schwung eines Kuhhorns,<br />
den es nur ein einziges Mal genau so gibt auf<br />
>
REISE<br />
„Ich bin keine andere;<br />
ich bin – ich.<br />
Aus tiefstem Herzen.“<br />
dieser Welt. Die Regentropfen, die am Rande unserer Alm<br />
direkt an uns vorbeifallen, 1700 Meter tief, bis sie unten<br />
im Tal die Erde berühren. Ich betrachte den Sternenhimmel,<br />
lausche dem Läuten der Kuhglocken, spüre das Holz<br />
der schweren Käsebretter unter meinen Händen – alles,<br />
als sei es zum ersten Mal.<br />
Am Ende frei und stärker denn je<br />
Als der Sommer sich dem Ende nähert, spüre ich: Meine<br />
Reise ist noch nicht vorüber. Franz und Vreni zügeln mit<br />
den Kühen hinab ins Winterquartier; gemeinsam schmücken<br />
wir kleine Melkschemel mit Fähnchen und bunten<br />
Bändern, die wir den Tieren an die Hörner binden – ein<br />
Dank an die Götter, an das Leben, für diesen guten<br />
Sommer. Ich bleibe allein zurück, hoch oben auf der Alm.<br />
Allein mit mir selbst, der Stille, die nun nicht einmal mehr<br />
vom Gesang der Glocken durchdrungen wird. Bis Ende<br />
Oktober biete ich Reisenden unseren Mutschli an, diesen<br />
Käse, den ich selbst erschaffen habe, mit meinen eigenen<br />
Händen. Ich kassiere 17 Schweizer Franken pro Laib.<br />
Unbändiger Stolz erfüllt mich. Erst im Herbst trete ich<br />
die Heimreise an, packe meinen Koffer, steige in die<br />
Seilbahn, die mich zurückbringt in diese andere Welt,<br />
die ich fast ein halbes Jahr lang hinter mir gelassen habe.<br />
Als sich die Türen unten im Tal öffnen, weiß ich: Die Alm<br />
hat mich verändert. Ich bin keine andere; aber ich bin –<br />
ich. Ich. Aus tiefstem Herzen, frei und stärker denn je.<br />
Jeden Tag seitdem ist die Alm bei mir. Die Kraft, die mir<br />
das Leben dort oben geschenkt hat, verlässt mich nie<br />
wieder; sie rückt die Perspektiven bis heute zurecht. Und<br />
manchmal, wenn ich die Augen schließe, höre ich es noch<br />
immer, das Läuten der Kuhglocken. Ein sanftes Wogen,<br />
das niemals aus dem Takt gerät. So einfach und<br />
unerschüt ter lich – wie das Leben selbst.<br />
Ein Jahr nach ihrem Arbeitssommer auf der Alp<br />
besuchte Petra Kaiser erneut den Urnerboden – mit<br />
ihrem neuen Partner. Gemeinsam haben die beiden<br />
jetzt eine sehr liebevolle und professionelle Website<br />
eingerichtet, auf der Interessenten alle Infos rund um<br />
das Thema Alpenauszeit finden: www.alpauszeit.com.<br />
Ein weiteres Info-Portal mit Jobangeboten auf der<br />
Alm: www.zalp.ch<br />
TEXT PETRA KAISER FOTO PETRA KAISER SHUTTERSTOCK<br />
ANETTA GELLNER/ANZENBERGER BASSET IMAGES PLAINPICTURE<br />
GETTY IMAGES FLORA PRESS<br />
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