Spatial Turn â Topographical Turn â Topological ... - Stephan Günzel
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<strong>Spatial</strong> <strong>Turn</strong> – <strong>Topographical</strong> <strong>Turn</strong> –<br />
<strong>Topological</strong> <strong>Turn</strong>. Über die Unterschiede<br />
zwischen Raumparadigmen<br />
STEPHAN GÜNZEL<br />
1 <strong>Spatial</strong> <strong>Turn</strong><br />
Der spatial turn ist in die Kritik geraten. Wie sich immer deutlicher herausstellt,<br />
nicht ganz zu unrecht: Die Hinwendung zum Raum scheint in<br />
einigen ihrer Ausprägungen hinter ihren systematischen und damit gleichfalls<br />
auch hinter ihren theoriegeschichtlichen Ausgangspunkt zurückzufallen,<br />
welcher der Anlass für die Beschäftigung mit Fragen der Räumlichkeit<br />
war: So hatte Michel Foucault räumliche Aspekte deshalb betont, weil<br />
er auf eine Dominanz der historischen Betrachtungsweise mit Hilfe eines<br />
Gegengewichtes reagierte. 1 Geschichte, die mit Hegel gleichermaßen zum<br />
Apriori und zum Zweck von Kultur erhoben wurde, gilt seither nur noch<br />
als eine Bedingung neben anderen. 2 Hierin besteht die Leistung und Relevanz<br />
des spatial turn. 3 Die Abwendung vom Glauben an die Wirkungsmächtigkeit<br />
der historischen Zeit und die Hinwendung zum Raum als einem<br />
bedingenden Faktor bringt aber ein nicht unbedeutendes Problem mit sich:<br />
1 Vgl. Foucault: „Von anderen Räumen“. Der vielleicht wichtigste Kritiker<br />
und damit auch ein Weichensteller des spatial turn ist ohne Zweifel<br />
Friedrich Nietzsche, der in seiner Frühschrift Vom Nutzen und Nachtheil der<br />
Historie für das Leben von 1874 einem synchronistischen Modell Vorschub<br />
leistete, indem er die Geschichte als aus einem Moment unhistorischer<br />
Aktualität oder gegenwärtiger Konstellation bestimmt sieht.<br />
2 Einen ersten Reflexionsschritt im 20. Jahrhundert stellte Husserls Kritik des<br />
„historischen Apriori“ dar, die von Foucault aufgegriffen und gegen den<br />
historisierenden Diskurs der Geisteswissenschaften gewendet wird. Vgl.<br />
Husserl: „Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie“, S. 222ff. und<br />
Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 453.<br />
3 Dies entspricht der Minimaldefinition des spatial turn, wie er etwa von<br />
Edward Soja vertreten wird. Vgl. Soja: „Trialektik der Räumlichkeit“.
220 │ STEPHAN GÜNZEL<br />
Insbesondere Vertreter der Humangeographie erinnern daran, dass Raum<br />
als Focus der Betrachtung soziokultureller Zusammenhänge letztlich auf<br />
eine Gleichbehandlung von Gesellschaft und Naturraum hinauslaufe. 4 Mit<br />
anderen Worten, einige der Positionen, die unter spatial turn firmieren,<br />
wiederholen den Fehler des historischen Denkens unter anderem Vorzeichen:<br />
Was dort als inhärente und zielgerichtete Entwicklung der Geschichte<br />
interpretiert wurde, wird hier als Bedingung einer realräumlichen Ortschaft<br />
identifiziert. 5<br />
Ob nun der Raum oder die Zeit determiniert, ist im Blick dieser Kritik<br />
nebensächlich; allemal wird eine nur mögliche Interpretation als Deutung<br />
schlechthin ausgegeben. Dieser Kritik ist insofern zuzustimmen, als die<br />
Tendenz zu einem vulgärräumlichen Denken besteht, das sich tatsächlich<br />
nicht wesentlich von den raumdeterministischen Ansätzen des frühen 20.<br />
Jahrhunderts unterscheidet, wenn der Raum nun ungebrochen zum Anlass<br />
und Gegenstand jeglicher Beschäftigung erhoben wird. 6 Dennoch gibt es<br />
daneben andere Weisen der Hinwendung zu Fragen der Räumlichkeit,<br />
welche auf keine Gleichschaltung von Kulturraum und Naturraum<br />
hinauslaufen, da sie nicht bei einem physikalisch-substantiellen Begriff<br />
von Raum ansetzt. Kurz gesagt: Es gibt Momente in der Raumtheorie der<br />
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich nicht unter Determinismus<br />
subsumieren lassen und deren Potential in der Kritik am spatial turn in der<br />
Gefahr ist, vergessen zu werden. Sie lassen sich unter dem Begriff der<br />
Topologie fassen. 7<br />
In Abgrenzung zum Ausdruck spatial turn und zur Verdeutlichung<br />
wird im Folgenden die Bezeichnung topological turn verwendet, um herauszustellen,<br />
worum es bestimmten Ansätzen ging und noch geht, die gemeinhin<br />
der Raumkehre im ersten Sinne zugerechnet werden und darüber<br />
unzutreffender Weise dem Vorwurf einer Naturalisierung von Kultur<br />
ausgesetzt sind. Damit soll weder eine Urheberschaft reklamiert sein, 8<br />
4 Vgl. etwa Weichhart: „Vom ‚Räumeln‘ in der Geographie und anderen<br />
Disziplinen“.<br />
5 Dieser Vorwurf wird vor allem gegen Karl Schlögel erhoben, der dezidiert<br />
von einer „Wiederkehr des Raumes“ spricht und damit nicht die Wiederkehr<br />
von Raumtheorie, sondern die Relevanz der realen Topographie meint. Vgl.<br />
dazu den gleichnamigen Vortrag anlässlich der Verleihung des Anna-<br />
Krüger-Preises des Wissenschafts-Kollegs zu Berlin.<br />
6 Zu denken ist hier an zahllose Publikationen der vergangenen Jahre, die allesamt<br />
einen mehr oder minder losen Bezug zur Raumthematik im Titel signalisieren.<br />
Als ein Beispiel sei hier der Band Mitterbauer/Scherke: Entgrenzte<br />
Räume genannt. Dies soll nicht heißen, dass die Beiträge nicht Qualität besitzen,<br />
nur wird der Raumbegriff hier zum Passepartout ohne Notwendigkeit.<br />
7 Vgl. hierzu auch den vom Verf. herausgegebenen Band Topologie.<br />
8 Erste Verwendungen des Ausdrucks finden sich insbesondere in der<br />
Architekturtheorie. Vgl. etwa Massumi: „Sensing the Virtual“ von 1998.<br />
Von einem topological turn spricht 1994 auch Rapaport in Bezug auf Lacan,<br />
welcher topologische Figuren, insbesondere Knoten, zur Beschreibung
SPATIAL TURN – TOPOGRAPHICAL TURN – TOPOLOGICAL TURN │ 221<br />
noch wird behauptet, dass diese Alternative der alleinige und legitime<br />
Zugang zum Problemfeld ist. Generell gilt, dass begriffliche Enthaltsamkeit<br />
angebracht ist und das Ausrufen von turns mit Vorsicht betrieben werden<br />
sollte. 9 Gerade aus diesem Grund ist es jedoch sinnvoll, die bereits<br />
kursierende Bezeichnung topological turn beizubehalten und den Ausdruck<br />
spezifisch zu verwenden – und das heißt eben gerade nicht als ein<br />
Substitut für den spatial turn. Die Spezifität besteht darin, dass das, was in<br />
den Theorien der Räumlichkeit vor allem in der zweiten Hälfte des 20.<br />
Jahrhunderts Relevanz besaß, sich deutlich vom Raumdenken der Vorkriegszeit<br />
(namentlich: dem geopolitischen Diskurs) absetzt. Anders<br />
gesagt: Unter der topologischen Wende können diejenigen Elemente eines<br />
Denkens von Räumlichkeit gefasst werden, welche das spezifisch Neue<br />
gegenüber einer bloßen Aufwertung der Kategorie Raum – gleich ob im<br />
formalen oder substantiellen Sinne – zu betonen versuchen.<br />
Die topologische Wende zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht<br />
dem Raum zuwendet, wie dies dem spatial turn nachgesagt wird, sondern<br />
sich vielmehr vom Raum abwendet, um Räumlichkeit in den Blick zu nehmen.<br />
In diese Richtung zielte 2002 bereits auch eine Tagung des Graduiertenkollegs<br />
Technology and Science an der Universität Darmstadt zum<br />
<strong>Topological</strong> <strong>Turn</strong> in den Technikwissenschaften. 10 Der Haupttitel der<br />
unbewusster Strukturen nutzte. Vgl. Rapaport: Between the Sign and the Gaze,<br />
S. 80; vgl. dazu auch Kleiner: „Der borromäische Knoten“. Letztlich kann<br />
topological turn auch schlichtweg zur Bezeichnung der Veränderung einer<br />
DNA-Struktur herangezogen werden. Zum topologischen Ansatz der Architektur<br />
vgl. auch Berressem: „Architeχkturen“, und insbesondere Huber: Urbane<br />
Topologien. Die Popularisierung des topologischen Ansatzes, der seine Wurzeln<br />
in der Algebraisierung der Geometrie hat und mit unterschiedlichen Akzenten<br />
auf Leibniz, Euler und Gauß zurückgeht, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
vor allem in Frankreich durch Poincaré bekannt. Den Namen Topologie<br />
verwendet erstmals der Gaußschüler Johann Benedict Listing als Ersatz<br />
für den bis dahin nach Leibniz gebräuchlichen Terminus analysis situs. Vgl.<br />
hierzu auch Heuser: „Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff ‚Topologie‘“.<br />
9 Einen Überblick über eine Vielzahl von Wendungen, die allesamt dem<br />
Betreiben der Kulturwissenschaften zugesprochen werden, gibt jüngst Doris<br />
Bachmann-Medick. Sie führt den spatial turn an, nimmt aber keine ausdrückliche<br />
Binnendifferenzierung vor, sondern spricht vom topographical turn<br />
als dessen „Unterströmung“ (Bachmann-Medick: Cultural <strong>Turn</strong>s, S. 299).<br />
Anhand des pictorial turn versuchte Lüdeking dagegen zu zeigen, dass die<br />
Bezeichnung turn einzig in Bezug auf Sprache sinnvoll sei, da nur diese eine<br />
Basis bietet, von der aus alles und alles anders zu denken ist. Bild und<br />
a fortiori Raum sind demnach nicht zu einer Generalperspektivierung fähig,<br />
sondern lassen eben nur Bilder oder Räumliches in den Blick kommen. Vgl.<br />
Lüdeking: „Was unterscheidet den pictorial turn vom linguistic turn?“.<br />
10 Für eine Dokumentation der Beiträge vgl. Hård u.a.: Transforming Spaces.<br />
Die Tagung nahm Peter Matussek zum Anlass, um eine antitopologische<br />
Bewegung in der Gegenwartskunst zu konstatieren, die sich insbesondere<br />
vom euphorischen Begriff der Vernetzung distanziert. Vgl. Matussek:<br />
„Without Addresses“.
222 │ STEPHAN GÜNZEL<br />
Tagung artikuliert dabei geradezu kontrafaktisch den Kern des topologischen<br />
Ansatzes: Transforming Spaces. Diese Charakterisierung könnte<br />
allerdings einem Missverständnis Vorschub leisten, denn Topologie hat es<br />
nicht mit der Transformation des Raumes als solchem zu tun, sondern<br />
vielmehr mit dem, was sich trotz einer Transformation nicht verändert:<br />
Eine topologische Beschreibung weist zunächst nicht auf Veränderung hin,<br />
sondern auf Gleichbleibendes. 11 Es geht um Relationen, die selbst nicht<br />
räumlich (im Sinne von Ausdehnung oder Materialität) sind. 12<br />
Veranschaulichend gesprochen, besagt der Grundgedanke der Topologie,<br />
dass, gleich wie stark ein Körper vergrößert oder deformiert wird –<br />
wie etwa ein Luftballon, der aufgeblasen wird –, sein variables Volumen<br />
in topologischer Hinsicht keine Rolle spielt. 13 Solange der Körper oder<br />
seine Hülle nicht zerstört wird bzw. Risse bekommt, sind die Nachbarschaftsbeziehungen<br />
der Orte auf der Außen- wie auch der Innenseite<br />
unveränderlich. Von Raumtransformationen im Hinblick auf Topologie zu<br />
sprechen, muss in der Konsequenz heißen, sich primär gerade nicht den<br />
veränderten Räumlichkeiten anzunehmen, sondern vielmehr den trotz aller<br />
Veränderungen gleichbleibenden Relationen.<br />
2 <strong>Topographical</strong> <strong>Turn</strong><br />
Mit der Rückführung des Topologiebegriffs auf seine Bedeutung im<br />
mathematischen Kontext kann auch eine Konturierung zu dem von Sigrid<br />
Weigel 2002 proklamierten „topographical turn“ vorgenommen werden. 14<br />
Auch diese Kehre hat eine dezidierte Bedeutung und deren Bezeichnung<br />
11 Dies gilt für den Regelfall der homöomorphen Transformation, bei der keine<br />
Zerstörung der Struktur stattfindet.<br />
12 Topologie lässt sich auf die Formel bringen: „Raum minus Metrik“ – Eine<br />
solche Betrachtungsweise geht mit dem Ansatz der Sozialgeographie insofern<br />
konform, als der Untersuchungsgegenstand dort das vom handelnden<br />
Menschen in der ‚Raumerzeugung‘ hinzugefügte Maß ist, dass eine jeweilige<br />
Topologie so und so zur Erscheinung bringt. Vgl. hierzu auch die Überlegungen<br />
zu Raummetrik und Handeln von Benno Werlen im vorliegenden<br />
Band.<br />
13 Ein Gedankenexperiment von Leibniz, mit dem er die qualitative Beschreibung<br />
(Ähnlichkeit) von einer quantitativen (Anzahl) abgrenzt, verdeutlicht<br />
dies: „Denken wir uns, es seien zwei […] Gebäude in der Weise eingerichtet,<br />
dass sich in dem einen nichts finden lässt, was sich nicht auch in dem anderen<br />
vorfände […] und [das] […] die Winkel in beiden gleich sind […]. […]<br />
Denkt man sich, dass der Zuschauer gleichsam nur ein geistiges Auge besitzt<br />
[…] und weder in Wirklichkeit noch in seiner sinnlichen Vorstellung über<br />
Vergleichsgrößen verfügt […] so wird gar kein Unterschied zutage treten.“<br />
(Leibniz: „Zur Analysis der Lage“, S. 72f.)<br />
14 Vgl. Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“.
SPATIAL TURN – TOPOGRAPHICAL TURN – TOPOLOGICAL TURN │ 223<br />
sollte daher ebenfalls nicht entgrenzend verwendet werden: 15 Ebenso wie<br />
zwischen dem Raum und der Topologie ein Unterschied besteht, gibt es<br />
einen Unterschied zwischen Topographie und Topologie. Weigel hatte<br />
versucht, eine Position innerhalb der Kulturwissenschaften stark zu<br />
machen, welche insbesondere Fragen der Konstruktion von Raum als<br />
einem territorialen und historischen Gebilde betont: Gegenüber den anglophonen<br />
Cultural Studies, denen es im Hinblick auf Räumlichkeit vornehmlich<br />
um Fragen des Verstehens anderer Kulturen gehe, zeichneten<br />
sich die Kulturwissenschaften hierzulande dadurch aus, dass etwa technische<br />
Verfahren der Raumvermessung im Vordergrund stehen. In erster<br />
Linie hat Weigel dabei die Kartographie selbst vor Augen und damit<br />
sowohl den medialen Status von Karten als auch die politische Macht,<br />
welche Kartographen in ihrer Beschreibung der Welt auszuüben in der<br />
Lage sind. In gewisser Weise kann das als eine Tieferlegung der Kulturwissenschaften<br />
bezeichnet werden, weshalb sich Hartmut Böhme auch für<br />
die Verwendung des Singulars Kulturwissenschaft ausgesprochen hat, 16<br />
wenn denn aus einem solchen Verständnis heraus gearbeitet würde.<br />
Weiterhin rücken im topographical turn Settings verschiedener Art in<br />
den Blick. Zu denken ist hierbei insbesondere an Räume des Wissens 17 ,<br />
also an die räumlichen Situationen in Laboren, Schreibstuben und Analysezimmern.<br />
Im topographical turn geht es somit vordringlich um Kontingenz:<br />
So, wenn etwa die Wissenssoziologen Bruno Latour und Steven<br />
Woolgar die Ergebnisse aus medizinischen Laboren weniger an den<br />
Ergebnissen der Testreihen festmachen, als vielmehr daran, welcher Laborant<br />
neben welchem saß, wer gerade Schichtdienst hatte und welches<br />
medizinische Journal bei der Interpretation der Testergebnisse aufgeschlagen<br />
auf dem Tisch lag. 18 Ausgehend hiervon entstanden eine Reihe von<br />
aufschlussreichen Studien, die sich der Arbeitsteiligkeit in Laboren des<br />
frühen Industriezeitalters widmeten, 19 aber auch der Analysesituation in<br />
der Wohnung des Dr. Freud, welcher den Patienten stets von ihm abgewandt<br />
und mit Blick auf eine Sammlung von Repliken antiker Miniaturstatuen<br />
auf der Couch zum Liegen kommen ließ. 20 Andere Arbeiten<br />
wiederum weisen auf Strukturähnlichkeiten zwischen den militärischen<br />
Exerzierpraktiken nach der Heeresreform in den Niederlanden hin und<br />
dem dualistischen Weltbild bei Descartes: Der Raum des Schlachtfeldes,<br />
15 Gleichsetzungen von Topographie und Topologie finden sich häufig. Vgl.<br />
etwa den Sammelband von Becker u.a.: Räume bilden.<br />
16 Vgl. Böhme: „Was ist Kulturwissenschaft?“<br />
17 So auch der Titel des einschlägigen Sammelbandes zum gleichnamigen Forschungsschwerpunkt<br />
am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in<br />
Berlin von Rheinberger u.a.: Räume des Wissens.<br />
18 Vgl. Latour/Woolgar: Laboratory Life.<br />
19 Vgl. hierfür die Beiträge in dem Band von Schmidgen u.a.: Kultur im<br />
Experiment.<br />
20 Vgl. hierzu einschlägig Mayer: Mikroskopien der Psyche.
224 │ STEPHAN GÜNZEL<br />
so konstatiert etwa der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schäffner, gleicht<br />
der res extensa, der Befehlsstand des Kommandanten dem davon ausgenommenen<br />
Ort des Cogito. 21<br />
3 <strong>Topological</strong> <strong>Turn</strong><br />
Bereits im kursorischen Überblick deutet sich an, wo die Grenzen des<br />
topographischen Ansatzes liegen: Das Bekenntnis zur historischen Kontingenz<br />
würde in der Konsequenz die Preisgabe des minimalen Anspruchs<br />
von Wissenschaftlichkeit bedeuten, der darin besteht, das Empirische nicht<br />
nur in seinem Aggregatzustand zu registrieren, sondern wiederkehrende,<br />
mithin wesentliche Momente zu identifizieren und das Kontingente auf<br />
homologe Merkmale hin zu vergleichen.<br />
Positionen, die einen topologischen Ansatz verfolgen, geht es dagegen<br />
in gesteigertem Maße um die Bestimmung solcher Kongruenzen: So etwa,<br />
wenn die Entsprechung des dualistischen Denkmodells mit einer technischen<br />
Apparatur festgestellt wird. 22 Hier ist weniger entscheidend, ob ein<br />
bestimmtes topographisch nachweisbares Setting ursächlich für dieses<br />
Modell war, sondern, dass beide strukturell ähnlich sind. 23 Es ist daher<br />
kaum verwunderlich, dass aus dem strukturalistischen Ansatz heraus ausdrücklich<br />
eine Anwendung der zunächst mathematischen Idee von Topologie<br />
auf die Gesellschaft, die Psyche und auch die Welt gefordert wurde.<br />
Das geschah maßgeblich unter der Bedingung, dass von zentralen Theoremen<br />
des 19. Jahrhunderts Abstand genommen wurde: Allen voran von<br />
der Figur teleologischer Diachronizität, von einem emphatischen Subjektbegriff<br />
sowie von anderen Konzepten idealistischen Denkens – nicht zuletzt<br />
auch vom euklidisch-newtonschen Raumbegriff als dem formalen<br />
Apriori der Wahrnehmung. 24 Entsprechend formulierte Gilles Deleuze<br />
21 Vgl. Schäffner: „Operationale Topographie“.<br />
22 Wie das Jonathan Crary für die Camera obscura in Bezug auf Descartes’<br />
Ontologie feststellt, so dass beide einem gemeinsamen Paradigma oder einer<br />
bestimmten Episteme angehören. Vgl. Crary: Techniken des Betrachters,<br />
S. 37ff.<br />
23 Topologie und Topographie in Beziehung setzt etwa Borsò: „Grenzen,<br />
Schwellen und andere Orte“.<br />
24 Ein nicht unwichtiger Vermittler ist hierbei auch Jean Piaget, der mit seiner<br />
Arbeit über den Strukturalismus den direkten Zusammenhang zwischen mathematischem<br />
und sozialwissenschaftlichem Strukturdenken aufzeigte. Vgl.<br />
Piaget: Der Strukturalismus. Geradezu paradox mutet es an, dass Piaget in<br />
seinen frühen Untersuchungen zur Raumwahrnehmung selbst einen Topologiebegriff<br />
vertritt, der einem gewissen Primitivismus das Wort redet: Piaget<br />
geht davon aus, dass die frühe Raumwahrnehmung zunächst topologische<br />
Zusammenhänge begreift. Das Modell hierfür sind aber wiederum Figuren,<br />
welche zu Zwecken der Veranschaulichung mathematischer Zusammenhänge<br />
kreiert wurden, die selbst aber unanschaulich sind. Kinderzeichnungen
SPATIAL TURN – TOPOGRAPHICAL TURN – TOPOLOGICAL TURN │ 225<br />
den emblematischen Satz, dass es im Strukturalismus entgegen traditioneller<br />
Ansätze um die Bestimmung eines „reinen spatium“ 25 gehe: „Der<br />
wissenschaftliche Ehrgeiz des Strukturalismus ist nicht quantitativ, sondern<br />
topologisch und relational.“ 26 In der Tat, das Motiv der Relation oder<br />
relationalen Bestimmungen ist durch den gesamten Strukturalismus hin<br />
durch anzutreffen und geradezu dessen Markenzeichen: 27 Angefangen bei<br />
Saussures’ Auffassung des Sprachsystems als einem differentiellen Geflecht<br />
von Lautkombinationen 28 über Levi-Strauss’ Beschreibung von Verwandtschaftsbeziehungen<br />
29 bis hin zu Lacans Wiederaufnahme der Freudschen<br />
Topik des Unbewussten. 30<br />
Als Sinnbild des Topologischen fungiert im Strukturalismus mithin das<br />
Schachspiel, insofern es als Veranschaulichung dient, durch die Relationsbeziehungen<br />
zwischen den Figuren und Handlungsmöglichkeiten ausgehend<br />
von den Positionen deutlich gemacht werden können. 31 Solcherart<br />
war der Strukturalismus auch für marxistische Theoretiker wie Louis<br />
Althusser akzeptabel: Ging es doch darum, zu zeigen, wie es um die Verhältnisse<br />
der Produktionsmittel bestellt ist, welche einem Produkt innerhalb<br />
des Verblendungszusammenhangs selbst nicht anzusehen sind. Als<br />
eine aktuellere Variante des topologischen Ansatzes können die Arbeiten<br />
von Giorgio Agamben genannt werden, der sich unter Rekurs auf den<br />
werden von Piaget entsprechend und ungebrochen als solche Modellzeichnungen<br />
angesehen. Vgl. Piaget/Inhelder: Die Entwicklung des räumlichen<br />
Denkens beim Kinde, sowie dazu auch Wittmann: „Linkische und rechte<br />
Spiegelungen“.<br />
25 „Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, präextensiver<br />
Raum, reines spatium, das sich nach und nach als Ordnung der Nachbarschaft<br />
herausgebildet hat und in dem der Begriff der Nachbarschaft<br />
zunächst einen ordinalen Sinn hat und nicht eine Bedeutung in der Ausdehnung.“<br />
(Deleuze: „Woran erkennt man den Strukturalismus?“, S. 253.)<br />
26 Ebd., S. 253f.<br />
27 Am konsequentesten findet sich die Idee unter dem Begriff der Topologie<br />
wohl erstmals bei Jurij Lotmann umgesetzt. Vgl. Lotman: „Zur Metasprache<br />
typologischer Kultur-Beschreibung“, S. 343ff.<br />
28 Vgl. Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft.<br />
29 Vgl. Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft.<br />
30 Das Unbewusste begreift Lacan als Geflecht von Symbolischem, Imaginärem<br />
und Reellem anstelle von Freuds Identifikation der Fakultäten Über-Ich,<br />
Ich und Es. Vgl. Lacan: „Die Topik des Imaginären“.<br />
31 „Die edelsten Spiele wie Schach sind jene, die eine Kombinatorik der Plätze<br />
in einem reinen spatium organisieren, das unendlich tiefer ist als das tatsächliche<br />
Ausmaß des Schachbretts und die imaginäre Ausdehnung jeder Figur.“<br />
(Deleuze, „Woran erkennt man den Strukturalismus?“, S. 256.) Das Go-<br />
Spiel wird von Deleuze und Guattari dagegen als Sinnbild für die Transformation<br />
einer topologischen Struktur angesehen, während beim Schach die<br />
Topologie erhalten bleibt: „Beim Schach geht es darum, sich einen begrenzten<br />
Raum einzuteilen […]. Beim Go geht es darum, sich einen offenen<br />
Raum einzuteilen […]. […] Beim Schach wird der Raum codiert und decodiert<br />
[…].“ (Deleuze/Guattari: „Abhandlung über Nomadologie“, S. 484.)
226 │ STEPHAN GÜNZEL<br />
Philosophen und Mathematiker Alain Badiou direkt auf Modelle der Mengentheorie<br />
bezieht: 32<br />
So ist nach Agamben die Position des Souveräns nicht allein durch die<br />
Figur eines Herrschers zu beschreiben, sondern vor allem mittels der Positionierung<br />
in dem Gefüge, durch welches er souverän ist. 33 Mengentheoretisch<br />
gesprochen, ist der Souverän eine Singularität: Er repräsentiert<br />
eine Menge oder Gruppe (das Volk), ohne dass er dieser Gruppe selbst<br />
zugehört. Die Relation zu dem, für das er steht, ist eine der Nichtteilhabe;<br />
gleichwohl ist es genau diese Beziehung, welche ihn zum Souverän<br />
macht. 34 Zuvor hatte bereits Pierre Bourdieu den Versuch unternommen,<br />
den topologischen Ansatz für die Soziologie fruchtbar zu machen: 35 Auch<br />
wenn er die Bezeichnung in seinem Gesamtwerk kaum weiter verwendet,<br />
so ist seine Beschreibung der Gesellschaft anhand differentieller<br />
Beziehungen, die durch Geschmack, Einkommen und Status definiert<br />
werden, vor allem der Versuch eines relationalen Gesellschaftsmodells,<br />
das sich gut durch ein Diagramm veranschaulichen lässt, wie es Bourdieu<br />
etwa 1979 in La distinction verwendet. 36<br />
Diagrammatische Beschreibungen kommen nicht ganz zufällig im<br />
topologischen Kontext vor: Das Diagramm nämlich ist der bildhafte –<br />
wenngleich nicht abbildhafte – Ausdruck einer topologischen Relation. 37<br />
Zu denken ist hier etwa an den Plan einer Untergrundbahn oder an andere<br />
Darstellungen eines Verkehrsnetzes. Diese Illustrationen sind keine Repräsentationen<br />
mehr: Sie erhalten keine Informationen über die topographische<br />
Beschaffenheit eines Geländes oder seine räumliche Ausdehnung,<br />
sondern über topologische Lagebeziehungen (Abb. 1-3).<br />
32 Vgl. hierfür insbesondere Badious Hauptwerk: Das Sein und das Ereignis.<br />
33 Agamben: Homo sacer, S. 34-36.<br />
34 Analoges gilt für die topologische Exklusion des ausgestoßenen Homo sacer,<br />
wodurch beide für einander Konstituenten bilden: „Der politische Raum der<br />
Souveränität hätte sich demnach durch eine doppelte Ausnahme als Exkreszenz<br />
[d.h., in eine Situation eingeschlossen zu sein, ohne dazuzugehören; der<br />
Verf.] des Profanen im Religiösen und des Religiösen im Profanen konstituiert,<br />
die eine Zone der Ununterschiedenheit zwischen Opfer und Mord bildet.<br />
Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen<br />
und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht<br />
opferbar ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.“ (Ebd.: S. 93.)<br />
35 Vgl. Bourdieu: „Sozialer Raum und ‚Klassen‘“.<br />
36 Vgl. Bourdieu: „Sozialer Raum, symbolischer Raum“, S. 357.<br />
37 Diagrammatisch bedeutet nach Charles Sanders Peirce zunächst ganz allgemein<br />
das Auseinandersetzen im Sinne der Analyse; im speziellen zeichentheoretischen<br />
Sinne ist die diagrammatische Beziehung aber eine Unterart<br />
der ikonischen Bezugnahme, die nicht auf einer erscheinungsmäßigen, sondern<br />
eben auf einer strukturellen Ähnlichkeit beruht: So ist der Abdruck (das<br />
Diagramm) eines Reifens einem bestimmten Reifenprofil ‚ähnlich‘, gleicht<br />
aber nicht dem Reifen in seiner körperlichen Erscheinung wie etwa die Fotografie<br />
in einem Reifenkatalog. Vgl. hierzu auch Bogen/Thürlemann: „Jenseits<br />
der Opposition von Text und Bild“.
SPATIAL TURN – TOPOGRAPHICAL TURN – TOPOLOGICAL TURN │ 227<br />
Abb. 1-3: Plan der Londoner Untergrundbahn in den Jahren 1908, 1927 u.<br />
1933 mit Modifikation der Topographie unter Beibehaltung der Topologie 38<br />
38 Black: Maps and Politics, S. 49.
228 │ STEPHAN GÜNZEL<br />
Ein Großteil der Arbeiten Foucaults können von daher als diagrammatische<br />
Beschreibungen verstanden werden: 39 Die von Foucault analysierten<br />
Gefüge gehören zum Versuch, etwas zu schildern, das selbst nicht erscheinen<br />
kann, sondern nur durch den Vergleich seiner Ausprägungen greifbar<br />
wird: nämlich soziale und politische Macht. Insbesondere hat Foucault das<br />
Panopticon (Abb. 4) als diagrammatische Darstellung eines jeglichen<br />
möglichen Vorkommens dieser besonderten Relation im Raum identifiziert:<br />
„Das Panopticon“, so eine zentrale Formulierung Foucaults, „ist das<br />
Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus.“ 40<br />
Für dessen Analyse ist es daher nur umso bezeichnender, dass das Panopticon<br />
selbst nie in der von Jeremy Bentham geplanten Gestalt gebaut<br />
wurde; denn eben das ist völlig unerheblich für die topologische Beschreibung:<br />
Auch eine noch so exakte Umsetzung der architektonischen Zeichnung<br />
hätte nur zu einem Exempel, einer äußerlichen – und räumlich<br />
ausgedehnten – Variante der panoptischen Struktur geführt.<br />
Abb. 4: Panopticon, Entwurf von Jeremy Bentham, 1791<br />
Die Anfänge des topologischen Denkens oder vielmehr der Anwendung<br />
der Idee außerhalb der Mathematik liegen jedoch nicht allein im Strukturalismus,<br />
sondern ebenso und vielleicht in gesteigertem Maße in der<br />
Phänomenologie des 20. Jahrhunderts. 41 Was Edmund Husserl mit dem<br />
Vorgehen der phänomenologischen Reduktion im Sinn hatte, ist nichts<br />
weniger als die Rückführung empirischer Gegebenheiten auf notwendige<br />
39 Auch diese Kennzeichnung geht auf einen Hinweis von Deleuze zurück.<br />
Vgl. die hierfür einschlägige Foucault-Interpretation von Deleuze: „Topologie“.<br />
40 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 264.<br />
41 Vgl. dazu ausführlich Günzel: „Phänomenologie der Räumlichkeit“.
SPATIAL TURN – TOPOGRAPHICAL TURN – TOPOLOGICAL TURN │ 229<br />
Bedingungen; nur – dies ist der elementare Unterschied zum transzendentalen<br />
Ansatz im Idealismus – sind diese Bedingungen selbst Teil der Welt,<br />
worin sie in Variationen auftreten. 42 Wie der Strukturalismus so zielt auch<br />
der phänomenologische Ansatz auf eine Beschreibung (topologischer)<br />
Relationen. Allen voran ist hierbei der Intentionalitätsgedanke zu nennen:<br />
Intentionalität besteht nach Husserl in der Bezogenheit des Bewusstseins<br />
auf die Welt. 43 Im Zuge dessen wird Wahrnehmung als die Konstitution<br />
von Objekten im Feld möglicher Sichtbarkeit verstanden: Unabhängig<br />
davon, wo sich ein Ego im Raum befindet, ist dessen Bewusstsein vektoriell<br />
verfasst, und das heißt: auf die Objektwelt bezogen. 44 Gegenstände im<br />
Blickfeld sind daher abgeschattet, weil sie notwendig perspektivisch gesehen<br />
werden. Folglich haben Hier und Dort, so konstatierte nach Husserl<br />
der Sprachwissenschaftler Karl Bühler übereinstimmend, 45 nur einen<br />
„Sinn“, wenn es ein Ich – oder einen Ich-Pol der Relation – gibt, das an<br />
einem Ort steht, (von) wo es spricht. Entscheidend für die Beschreibung ist<br />
aber nicht der Ort, sondern, dass die Artikulation erfolgt. Anders gesagt:<br />
Der Ort ist zwar im Raum, aber seine Bedeutung besteht darin, dass er in<br />
einer Hier-Dort-Relation eingebunden ist. 46<br />
Ansätze zum topologischen Denken sind außerhalb der Mathematik<br />
und der Naturwissenschaft zum Anfang des 20. Jahrhunderts in verstärktem<br />
Maße zu beobachten: Wissensgeschichtlich mag es sich dabei auch<br />
um eine Auswirkung der Nicht-euklidischen Geometrie gehandelt haben,<br />
zu deren Plausibilisierung Hermann von Helmholtz und andere wiederholt<br />
Gedankenexperimente über Raumformen angestellt haben, deren Beschrei-<br />
42 Deleuze verwendet für ein solches Vorgehen die Bezeichnung „transzendentaler<br />
Empirismus“ (Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 186).<br />
43 Husserl bezieht sich hierbei wiederum auf seinen Lehrer Brentano, von dem<br />
der Intentionalitätsgedanke erstmals in dieser Hinsicht vorgebracht wurde.<br />
Vgl. Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, S. 124ff. Zur<br />
Konsequenz des Husserlschen Gedankens für die Raumkonzeption vgl. auch<br />
Sartre: „Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls“.)<br />
44 Statt von Subjekt und Objekt spricht Paul Virilio daher vom „Trajekt“<br />
(Virilio: Die Sehmaschine, S. 167).<br />
45 Vgl. Bühler: Sprachtheorie, S. 102.<br />
46 Eine andere Anverwandlung der Topologie findet sich bei dem Psychologen<br />
Kurt Lewin: Sein Interesse zielte vor allem auf den Wegeraum (hodologischer<br />
Raum), der sich durch die Entscheidung von Menschen konstituiert.<br />
Vgl. Lewin: „Der Richtungsbegriff in der Psychologie“. Einerseits negiert<br />
die topologische Sichtweise Lewins nicht den räumlichen Niederschlag<br />
menschlicher Handlungsweisen, andererseits reduzierte sie Handlungen auch<br />
nicht auf ein innerpsychisches Ereignis oder Motivationslagen. In der Topologie<br />
Lewins geht es somit darum, ‚im Raum‘ genau das zu bestimmen, was<br />
ihn verändert, zugleich aber die sich wiederholenden Muster dieser Veränderung<br />
aufzuzeigen. Vgl. Lewin: Grundzüge der topologischen Psychologie.<br />
Für die Genese des topologischen Ansatzes bei Lewin vgl. Lück: Die Feldtheorie<br />
und Kurt Lewin.
230 │ STEPHAN GÜNZEL<br />
bung auf Mittel außerhalb der Euklidik rekurrieren muss. 47 Innerhalb der<br />
Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften ist jedoch von Bedeutung, dass<br />
im Strukturalismus wie auch der Phänomenologie Beschreibungen zu finden<br />
sind, die eine dezidierte Alternative für die Analyse von Räumlichkeit<br />
angebahnt haben. Es ist allein von daher nicht angebracht, die Termini des<br />
Räumlichen und des Topologischen oder auch des Topographischen austauschbar<br />
zu verwenden. Das heißt keineswegs, dass sie nicht aufeinander<br />
bezogen wären: Eine topologische Beschreibung macht nur Sinn, wenn es<br />
eine räumliche Entsprechung der Struktur gibt, auf welche die Beschreibung<br />
zutrifft.<br />
Ebenso wie Topologie und Raum aufeinander bezogen sind, stehen<br />
Topographie und Topologie in Beziehung: Eine topographische Beschreibung<br />
von Settings kann vor allem quantitativ mehr erfassen als eine<br />
topologische Beschreibung. Gleichwohl hat die topographische Beschreibung<br />
als kulturwissenschaftliche Methode eine Grenze: Und diese wird<br />
überschritten, wenn jede Kontingenz zur Notwendigkeit erklärt wird und<br />
jedes materiale Vorkommnis im Raum als gleichwertig behandelt wird –<br />
oder letztlich als gleichwertig behandelt werden muss, wenn eine topographische<br />
Beschreibung konsequent verfolgt wird.<br />
4 Karten<br />
Es sind maßgeblich Bilder und weniger Texte, welche die Kapazität besitzen,<br />
topologische Relationen und Strukturen zum Ausdruck zu bringen.<br />
Karten wiederum sind Diagramme, welche dezidiert dazu in der Lage sind,<br />
räumliche Relationen wiederzugeben. 48<br />
Hersteller von Karten sind gegenüber dem Naturraum insofern frei als<br />
dass der physikalische Raum nicht gänzlich vorgeben kann, wie eine Karte<br />
auszusehen hat. Zumeist wird dieser Umstand negativ gewertet: Karten<br />
seien Mittel der Ideologie und vermittelten ein trügerisches Bild der Welt.<br />
Sie seien manipulativ (und) würden im politischen Interesse eingesetzt.<br />
Eine solche Auffassung bildet nicht nur den Hintergrund der Cultural Studies,<br />
sondern letztlich auch des topographical turn, da beide die Möglichkeit<br />
einer objektiven Darstellung implizieren – denn wenn es Karten gibt,<br />
welche die Welt manipulieren oder konstruieren, muss es auch Karten geben,<br />
die dies nicht tun. Ansonsten ist die Annahme der Manipulation durch<br />
Kartengebrauch identisch mit dem, was Kartographen schon immer wussten:<br />
Karten stellen die Welt selektiv – in Abhängigkeit vom intendierten<br />
47 Zur Wirkung dieser Phase der Mathematik und Physik insbesondere auf die<br />
Populärkultur vgl. Weitzenböck: Der vierdimensionale Raum.<br />
48 Vgl. Nöth: „Kartensemiotik und das kartographische Zeichen“, S. 35.
SPATIAL TURN – TOPOGRAPHICAL TURN – TOPOLOGICAL TURN │ 231<br />
Gebrauch – dar. Daher gibt es keine Karte, die nicht manipuliert: Wie alle<br />
Medien besitzen sie Vermittlungscharakter. 49<br />
Noch etwas anderes fällt in der bisherigen Analyse von Karten in den<br />
Kulturwissenschaften auf: Es besteht eine Tendenz, sie entgegen ihres diagrammatischen<br />
Charakters vorrangig als Texte zu behandeln. 50 Vorhandene<br />
Analysemethoden der Literaturwissenschaften werden daher auf<br />
Karten appliziert und diese darüber dem Kanon der Textgattungen hinzugefügt.<br />
Das ist nicht zuletzt deshalb möglich, weil Karten auch Textelemente<br />
enthalten, aber eine solche hermeneutische Herangehensweise an<br />
Karten kann eines nicht leisten: Nämlich beschreiben, wie eine Karte für<br />
ihren Benutzer aussieht und wie sie ihm etwas in ihrer spezifischen<br />
Erscheinungsweise vermittelt.<br />
Karten enthalten nicht nur Schrift, sondern auch Bilder. Sie sind daher<br />
ein synoptisches Medium. 51 Dies gilt sowohl für mittelalterliche Karten<br />
mit vorrangig symbolischen Elementen und Ausdrucksformen als auch für<br />
jüngere Karten. Karten können nicht zuletzt deshalb als Teil einer räumlichen<br />
Praxis verstanden werden, weil ihre Benutzung zunächst nicht erfordert,<br />
dass sie linear „gelesen“ werden, sondern nur, dass das Arrangement<br />
vom Blick synchron erfasst werden kann. Michel de Certeau etwa bestimmt<br />
daher eine topographische Karte, in der alle Elemente, die Hinweise<br />
auf ihr erfahrungsräumliches Zustandekommen geben könnten, getilgt<br />
sind, als ein „Bild“ 52 im stärksten Sinne: nämlich als ein Bild der Welt.<br />
Worin besteht nun aber das Besondere der Karten und was hat dies mit<br />
dem „topological turn“ zu tun? Kartenbilder sind per se mit der Veränderung<br />
von Räumlichkeit befasst und stellen zugleich doch eine Präsentation<br />
dessen dar, was von der Varianz gerade ausgenommen ist. Dies liegt<br />
zunächst in dem einfachen Umstand begründet, dass jeder Karte – ebenso<br />
wie jedem figürlichen Bild – zwei Geometrien inhärent sind: Einmal diejenige<br />
der Projektion (Abb. 5), zum anderen die der Transformation<br />
(Abb. 6-8). 53 Die erste Geometrie (die Projektionsgeometrie) gibt Auskunft<br />
darüber, ob und nach welchem Projektionsgrundsatz eine räumliche<br />
Gegebenheit erfasst wurde, die zweite (die Transformationsgeometrie)<br />
darüber, in welcher Weise die Projektionsfläche sowie der Zweck der<br />
Karte einen Einfluss auf die Abbildung hatte.<br />
49 Das ist die klassische Argumentation von Hans Magnus Enzensberger: Es gibt<br />
per Definition keinen unschuldigen Mediengebrauch. Vgl. Enzensberger:<br />
„Baukasten zu einer Theorie der Medien“, S. 268-271.<br />
50 Das scheint vom umgangssprachlichen Ausdruck des „Kartenlesens“ her zunächst<br />
auch naheliegend, den etwa auch Schlögel in diesem starken Sinne<br />
gebraucht. Vgl. Schlögel: „Kartenlesen, Augenarbeit“. Beispiele für die literaturwissenschaftliche<br />
Annäherungen an Karten gibt der Band von Stockhammer:<br />
TopoGraphien der Moderne.<br />
51 Vgl. Pápay: „Die Beziehung von Kartographie, allgemeiner Bildwissenschaft<br />
und Semiotik“.<br />
52 Certeau: „Praktiken im Raum“, S. 348.<br />
53 Vgl. hierfür Willats: Art and Representation, S. 37-89.
232 │ STEPHAN GÜNZEL<br />
Abb. 5: Erste Geometrie: Zylinderprojektion<br />
Abb. 6: Zweite Geometrie: Transformation des Projektionsergebnisses<br />
zugunsten der Abstandstreue<br />
Abb. 7: Zweite Geometrie: Transformation des Projektionsergebnisses<br />
zugunsten der Längentreue<br />
Abb. 8: Zweite Geometrie: Transformation des Projektionsergebnisses<br />
zugunstender der Winkeltreue (Mercator-Projektion) 54<br />
54 Abb. 5-8 nach Wagner: Kartographische Netzentwürfe.
SPATIAL TURN – TOPOGRAPHICAL TURN – TOPOLOGICAL TURN │ 233<br />
Bei Karten, die der Orientierung dienen sollen, wird versucht, mit Modifikationen<br />
im Rahmen der zweiten Geometrie, dem Projektionsergebnis der<br />
ersten Geometrie entgegenzuwirken: War dieses also aufgrund des Standorts<br />
des Vermessers oder einer Überflugkamera in jedem Moment der<br />
Datenaufnahme notwendig zentralperspektivisch, so wird im Rahmen der<br />
zweiten Geometrie versucht, die Ortsgebundenheit dieses Standpunktes<br />
herauszunehmen; wie das etwa in der Orthofotografie – der Korrektur von<br />
zusammengesetzten zentralperspektivischen Luftbildaufnahmen – geschieht.<br />
55<br />
Abb. 9: Korrigierte Luftbildaufnahme (Orthofoto) von Oberweimar 1945<br />
Die Karte ist daher nicht eine Verzerrung der Wirklichkeit im pejorativen<br />
Sinne, wohl aber eine Verzerrung im eigentlichen Sinne – und das gar in<br />
doppeltem Maße: Einmal eine Verzerrung im Rahmen der ersten Geometrie,<br />
ein anderes Mal durch die Modifikation des vorausliegenden Projektionsergebnisses<br />
zu Zwecken des Kartengebrauchs. Karten sind weniger<br />
ein Abbild räumlicher Kontingenz, als vielmehr Ausdruck dessen, was der<br />
Mensch in ihnen feststellt. Diese spezifische menschliche Raumaneignung<br />
ist topologischer Art. Aufgrund dieser Einschätzung von Karten kann also<br />
55 Auch die Materialität des Mediums oder die Beschaffenheit des Bildträgers<br />
spielt daher eine Rolle: Ein runder Globus bietet dabei andere Möglichkeiten<br />
der Korrektur als eine plane Papierkarte. Doch nicht allein die Trägereigenschaften<br />
entscheiden über die endgültige Darstellung, sondern letztlich der<br />
Gebrauchszusammenhang, für den sie hergestellt wird. – Im Beispiel des<br />
Plans der Untergrundbahn: Dieser taugt nicht zur oberirdischen Orientierung,<br />
wohl aber zur Benutzung des unterirdischen Verkehrsnetzes.
234 │ STEPHAN GÜNZEL<br />
behauptet werden, dass das soziale oder kulturelle am Raum weder in<br />
einer materialen Bedingung noch in einem formalen Grundsatz allein<br />
gefunden werden kann, sondern vielmehr auch in topologischen Konfigurationen.<br />
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