Statement Almut Oswald
Statement Almut Oswald
Statement Almut Oswald
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Almut</strong> M. <strong>Oswald</strong><br />
<strong>Statement</strong> für den Landespsychiatrietag am 16.06.2012<br />
aus Sicht einer Lebenskrisen-Erfahrenen<br />
Langeweile, das Gefühl, überflüssig zu sein und keinen Sinn in den verschiedenen<br />
Bereichen des eigenen Lebens zu sehen - dies sind für viele Menschen wohl die<br />
wichtigsten Auslöser seelischer Krisen. Auch wenn Momente der Stille, inneren<br />
Einkehr und der Besinnung notwendig für ein gelingendes Leben sind, so ist es doch<br />
über längere Dauer hinweg sehr kränkend und krankmachend, wenn uns unser<br />
Zeiterleben und -empfinden signalisiert, dass die Weile zu lange dauert, dass die Zeit<br />
auf unangenehme Weise gar nicht vergehen will.<br />
Gelegentlich Langeweile zu erleben, ist aber auch eine wichtige Erfahrung, damit ich<br />
meine Lebenszeit bewusster wahrnehme und motiviert werde, mir zu überlegen, wie<br />
ich mein Leben sinnvoll gestalten kann. Deutlich erlebte Langeweile kann der<br />
Beweggrund sein, sich eine sinnvolle Beschäftigung zu suchen.<br />
Gar keine Aufgabe zu haben, gar keine Beschäftigung, das führt zur elementarsten<br />
Form der Langeweile. Es gibt aber noch eine zweite, sehr existentielle Form der<br />
Langeweile: So kann ich mit den Händen und nach außen hin sehr beschäftigt sein,<br />
aber mich aufgrund von seelischer und geistiger Unterforderung innerlich dabei heftig<br />
langweilen. Mir geht es zum Beispiel bei manchen sehr notwendigen<br />
Haushaltstätigkeiten so. Aber was sein muss, muss sein. Da hilft nur eines -<br />
Abwechslung, nicht zu lange am Stück dasselbe!<br />
Was aber sind Qualitätskriterien einer guten und sinnvollen Beschäftigung?<br />
Hier folgt eine Auswahl an Merkmalen, wie sie mir ganz persönlich einfallen:<br />
- Bei einer Beschäftigung - gleichgültig, ob als bezahlte Arbeit oder einfach nur<br />
in der Freizeit - komme ich mit meinem Zeitempfinden auf eine gute Weise<br />
ganz in die Gegenwart und kann mich selbst auf gewisse Art vergessen. Ich<br />
mag den ungenauen englischen Begriff „flow“ nicht - der Begründer der<br />
Logotherapie, Viktor Frankl, spricht statt dessen von „Selbsttranszendenz“:<br />
„Selbsttranszendenz heißt, dass der Mensch ganz er selbst wird und ganz<br />
Mensch ist genau in dem Maße, in dem er sich übersieht und vergisst, in dem<br />
er sich selbst hinter sich lässt, im Dienst an einer Sache, in der Erfüllung eines<br />
Sinnes oder in der Hingabe an eine Aufgabe oder an einen anderen<br />
Menschen, einen Partner, da wird er ganz er selbst.“<br />
Und ein paar Abschnitte davor schreibt Frankl:<br />
„Das Wesen menschlicher Existenz ist aber die Selbsttranszendenz. … Der<br />
Mensch reagiert nicht die Triebe ab, er reagiert nicht auf Reize - er agiert in<br />
eine Welt hinein, in eine Welt von Aufgaben, die zu erfüllen er sich sehnt, in<br />
eine Welt von Partnern, die er lieben könnte, aber nicht in eine Welt von<br />
Leuten, die gerade gut genug sind, dass er seine sexuellen Triebe abreagiert,<br />
oder Sachen, die gerade gut genug sind, dass er seine Aggressionen<br />
abreagiert.“1
Um zu unserem eigentlichen Wesen zu finden, wie es Frankl hier beschreibt, legen<br />
wir Menschen jedoch normalerweise einen langen Weg voller Abwege und Umwege<br />
zurück. Wir brauchen dabei oftmals viele Hilfen, da eine solche bewusste<br />
Ausrichtung des Lebens keine Selbstverständlichkeit ist, die von alleine käme.<br />
Weitere Qualitätskriterien einer guten und sinnvollen Beschäftigung, die uns auf den<br />
Lebensweg zu unserem eigentlichen Wesen führen kann, sind meines Erachtens:<br />
- Anregung und Schulung der Selbstreflexion und des Denkens ganz allgemein.<br />
- Forderung und Förderung unseres kreativen Potentials<br />
- Ausgleich von seelischer Anspannung<br />
- Möglichst viel Selbstbestimmung<br />
- Beschäftigung verhilft zu positiven sozialen Kontakten<br />
- Absicherung der grundlegenden Versorgung<br />
- Ein gewisses Maß an Tagesstruktur (nicht zu viel!)<br />
- Gesundheitsförderung<br />
Es gibt wohl kaum eine Beschäftigung, die sämtliche Kriterien auf einmal erfüllt, aber<br />
je mehr davon, desto besser.<br />
Eine wichtige Voraussetzung dafür, sich allgemein gut und sinnvoll zu beschäftigen,<br />
ist meiner Erfahrung nach eine freie emotionale Schwingungsfähigkeit und ein klares<br />
Bewusstsein in Kombination mit einem einigermaßen guten Körper-gefühl - den<br />
Begriff „Lebensqualität“ hören viele Psychiatrie-Fachkräfte ja nicht so gerne!<br />
Letzteres heißt für mich ganz konkret: Ich bin sehr froh, dass ich langjährig bei einem<br />
Nervenarzt in Behandlung bin, der mich minimal dosiert und in Monotherapie, also<br />
mit nur einem einzigen Dauermedikament, behandelt. Daher habe ich nur noch<br />
minimale kognitive und körperliche Nebenwirkungen, meine durch früher extrem<br />
hoch dosierte Psychopharmaka geschädigten kognitiven Funktionen haben sich<br />
ziemlich gut regeneriert.<br />
Hoch dosierte Psychopharmaka oder Psychopharmaka-Cocktails dienen nicht den<br />
Interessen von Altenheim-Bewohnern und auch nicht von uns Psychiatrie-<br />
Erfahrenen, sondern dem Wirtschaftsinteresse der Pharma-Industrie und der<br />
Bequemlichkeit von Psychiatrie-Profis und manchen Angehörigen.<br />
Ich bin sehr froh, dass die Jahre der medikamentös erzeugten Passivität,<br />
Gleichgültigkeit und Apathie für mich vorbei sind. Dies ermöglicht es mir, wieder zu<br />
arbeiten. Andererseits brauche ich auch keine Aufputschmittel und erst recht keine<br />
angeblich die Gehirnleistung steigernden Designer-Psychopharmaka, mit Fachbegriff<br />
„Brain-Enhancement“ genannt. Ich lehne nämlich den gesellschaftlichen Zwang, für<br />
den ersten Arbeitsmarkt 150 % funktionieren zu müssen, ab. Zu einer „schönen“,<br />
neuen Welt der psychopharmaka-erzeugten, leicht fremd steuerbaren Designer-<br />
Persönlichkeiten sage ich „Nein, danke!“<br />
„Lebensqualität“ heißt für mich auch noch, als Mensch mit Grenzen und Schwächen<br />
in dieser Gesellschaft akzeptiert zu werden, Gefühle haben und ausdrücken zu<br />
dürfen. Und selbstverständlich Menschen um mich herum zu haben, die daran<br />
aufrichtig Anteil nehmen.<br />
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit.
Literaturhinweise:<br />
Viktor E. Frankl / Franz Kreuzer: Im Anfang war der Sinn: Von der Psychoanalyse zur<br />
Logotherapie: Ein Gespräch. Verlag R. Piper GmbH & Co. KG, München 1991 (2.<br />
Auflage).<br />
Ulrich Siegrist / Martin Luitjens: 30 Minuten Resilienz. GABEL Verlag GmbH,<br />
Offenbach 2011.<br />
Otto Friedrich Bollnow: Neue Geborgenheit: Das Problem einer Überwindung des<br />
Existentialismus. Verlag W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 1972 (3. Auflage).<br />
Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen. Verlag: Klostermann, Frankfurt<br />
am Main (mehrere Auflagen seit 1941).