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ÄNNETTE KECK, NICOLAS PETHES (HG.)<br />
Mediale Anatomien<br />
Menschenbilder <strong>als</strong> Medienprojektionen<br />
[transcript]
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme<br />
Mediale Anatomien :<br />
Menschenbilder <strong>als</strong> Medienprojektionen I<br />
Annette Keck ; Nicolas Pethes (Hg.) -<br />
Bielefeld : Transcript, 2001<br />
ISBN 3-933127-76-9<br />
© 2001 transcript Verlag, Bielefeld<br />
Umschlaggestaltung und Innenlayout<br />
Kordula Röckenhaus, Bielefeld<br />
Satz: digitron GmbH, Bielefeld<br />
Druck: DIP, Witten<br />
ISBN 3-933127-76-9<br />
01--
Inhalt<br />
ANNETTE KEcK, NrcoLAs PETHES<br />
Das Bild des Menschen in den Medien.<br />
Einleitende Bemerkungen zu einer Medienanthropologie<br />
9<br />
Körperbilder, Körperbildner<br />
MARTIN ScHULz<br />
Die Re-Präsenz des Körpers im Bild<br />
33<br />
MARIANNE ScHULLER<br />
Bildfläche Gesicht.<br />
Selbstsetzung und Hingabe bei Lavater<br />
51<br />
ANNETTE KEcK<br />
Literale Anatomien.<br />
Buchstabenmenschen-Menschenbuchstaben<br />
61<br />
SusANNE REGENER<br />
Bartfrauen.<br />
Fotografien zwischen Jahrmarkt und Psychiatrie<br />
81<br />
GEORG }ONGMANNS<br />
Pikturale Personifikation und das Darstellungsformat von Webcams<br />
97<br />
CHRISTIAN BIELEFELDT<br />
Musik und Genießen, oder: Wie man den Körper komponiert.<br />
Ein Versuch, Hans Werner Henzes »Heliogabalus Imperator
Schnittstellen, Prothesen<br />
NATALIE BINCZEK<br />
Stock, Textur, Regelkreislauf.<br />
Sehen und Tasten im 17. Jahrhundert<br />
131<br />
DrETMAR ScHMIDT<br />
Das Gesicht der Mikroskopie<br />
157<br />
W ALTER SEITTER<br />
Möbel <strong>als</strong> Medien.<br />
Prothesen, Paßformen, Menschenbildner.<br />
Zur theoretischen Relevanz Alter Medien<br />
177<br />
EvAHORN<br />
Prothesen.<br />
Der Mensch im Lichte des Maschinenbaus<br />
193<br />
BENNO WAGNER<br />
»Die Welt geht ihren Gang, und Du machst Deine Fahrt. <<br />
Zur Problematik des >normalen Lebens< bei Franz Kafka<br />
(Anhang: Interview mit URSULA W ANDL, Relntra)<br />
211<br />
STEFAN RIEGER<br />
Mediale Schnittstellen.<br />
Ausdruckshand und Arbeitshand<br />
235<br />
Menschenmaschinen, Maschinenmenschen<br />
JocHEN VENUS<br />
Vitale Maschinen und programmierte Androiden.<br />
Zum Automatendiskurs des 18. Jahrhunderts<br />
253<br />
SrMON RuF<br />
Über-Menschen.<br />
Elemente einer Genealogie des Cyborgs<br />
267
Figurationen, Codierungen<br />
GREGOR ScHWERING<br />
Werbung und/oder Leibhaftigkeit.<br />
Zwei Ansichten zur Reklametechnik<br />
aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />
289<br />
lRMELA SCHNEIDER<br />
Persönlichkeit und Konsument.<br />
Zur Formation von Menschenbildern<br />
in Mediendiskursen der frühen 1950er Jahre<br />
311<br />
}ENS RUCHATZ<br />
Personenkult.<br />
Elemente einer Mediengeschichte des Stars<br />
331<br />
NICOLAS PETHES<br />
Der Test des Großen Bruders.<br />
Menschenexperiment Massenmedium<br />
351<br />
ToRSTEN HAHN, CHRISTINA BARTZ<br />
Homo conspirans.<br />
Zur Evolution >>der Paranoia>des Menschen>Mediumvorgänge sind unwichtig.
Bartfrauen.<br />
Fotografien zwischen Jahrmarkt<br />
und Psychiatrie<br />
SusANNE REGENER<br />
Fotofund<br />
Am Anfang steht die Fotografie einer Frau (Abb. 1, S. 431) . Sie hat<br />
Bartwuchs am Kinn, eine Halbglatze und buschige Augenbrauen.<br />
Die Abbildung ist aus einem Psychiatrie-Lehrbuch, das 1935 von<br />
dem Hamburger Psychiater Wilhelm Weygandt herausgegeben wurde.'<br />
Was sagt oder was soll das Zeichen aussagen? Mit diesem<br />
Fotofund am Anfang meiner Analysen eröffne ich ein größeres Feld<br />
zur Medialisierung von Frauen, Geschlechtlichkeit und Krankheit.<br />
Ich will die These gleich vorwegnehmen: am Beispiel der<br />
Darstellung von der bärtigen Frau kann die N ormierungsfunktion<br />
der Fotografie nachverfolgt werden. Das Phänomen der Bartdame<br />
selbst wäre eine harmlose Geschichte aus dem Kuriositäten-Kabinett<br />
des 19. Jahrhunderts, würden nicht im ersten Drittel des 20.<br />
Jahrhunderts fotografische Abbildungen im medizinisch-psychiatrischen<br />
Zusammenhang auftauchen und dort vor dem Hintergrund<br />
eines pathologischen Rasters gedeutet. Die Frau mit Bart ist<br />
Zeichen von Abweichung, Anormalität. Unweiblichkeit. das mit<br />
Hilfe der Fotografie popularisiert wird.<br />
In Die helle Kammer spricht Roland Barthes über die Präsenz<br />
der Fotografie:<br />
»Vielleicht hindert uns ein unbezwinglicher Widerstand, an die Vergangenheit, an die<br />
Geschichte zu glauben, es sei denn in der Form des Mythos. Die Photographie hat,<br />
1. Wilhelm Weygandt (Hg.): Lehrbuch der Nerven- und Geisteskrankheiten,<br />
Halle/Saale: Carl Marhold Verlagsbuchhandlung 1935, S. 445.<br />
81
KÖRPERBILDER, KÖRPERBILDNER<br />
zum ersten Mal, diesen Widerstand zum Schwinden gebracht: von nun an ist die Vergangenheit<br />
so gewiß wie die Gegenwart, ist das, was man auf dem Papier sieht, so<br />
gewiß wie das, was man berührt.« 2<br />
Die Abbildungsgeschichte der Bartfrauen zeigt zwar die hier behauptete<br />
Wahrnehmungszäsur, die mit der Fotografie historisch<br />
entsteht. Darüber hinaus geht es mir aber nicht nur um die Indexikalität<br />
des Fotos, sondern auch um seine Zeichenhaftigkeit. Die<br />
Bildunterschrift zu Abb. 1 (siehe S. 431) lautet: »Verblödete schizophrene<br />
Frau mit Bartwuchs
SUSANNE REGENER: BARTFRAUEN<br />
nung der Geistesstörungen 3 , in dem diese Abbildung folgendermaßen<br />
betitelt ist: >>Bartwuchs bei einer Kranken mit langjähriger<br />
Dementia praecox«. Man kann an der medialen Umverwandlung<br />
sehen, daß der Künstler! im Detail eingegriffen hat: das Dreiviertelprofil<br />
wurde etwas stärker zum Betrachter gewendet, die Fülle der<br />
Barthaare und die Gesichtszüge wurden wie auch die Körperstatur<br />
verändert, vergrößert, vergröbert.<br />
Die formale Erscheinung der Quelle: die Abbildung ist eine<br />
von 18 Farbtafeln in diesem Buch, das ansonsten mit 318, überwiegend<br />
fotografischen Textabbildungen illustriert ist. Die kolorierte<br />
Lithografie bekommt eine besondere Wertung; es ist gerade das<br />
Primat des körperlichen Zeichens, das zur Tafel-Präsentation dieses<br />
Gesichtes in Weygandts Lehrbuch führt. Aber ist diese Abbildung<br />
nicht auch ein Zeichen des institutionellen Staunens, des Tri umphes<br />
über das Zeigen eines Falles von sichtbarer Anormalität, durch<br />
den die Normalität bekräftigt wird?<br />
Die beiden Abbildungsformen (Fotografie und Lithografie),<br />
die auf ein- und dasselbe Objekt zurückgehen, gehören unterschiedlichen<br />
diskursiven Räumen an, wie Rosalind Krauss sagt:<br />
»Es ist deutlich, daß der Unterschied zwischen den beiden Bildern - der Photographie<br />
und ihrer Übersetzung - nicht von der Begabung des Photographen und der Einfältigkeit<br />
des Lithographen abhängt. Die Bilder gehören zwei getrennten Bereichen<br />
von Kultur an, sie setzen verschiedene Erwartungen im Verwender des Bildes voraus,<br />
sie übermitteln zwei voneinander verschiedene Arten des Wissens.« 5<br />
In bezug auf unserer Beispiel könnte man vorläufig behaupten, daß<br />
die Verwendung der Lithografie der Bartfrau in Weygandts Lehrbuch<br />
von 1920 auf der Entscheidung beruhte, eine Ästhetisierung<br />
vorzunehmen. Denn interessanterweise wurde die Fotografie der<br />
schizophrenen Frau erstellt, um zunächst nur <strong>als</strong> Vorlage für ein<br />
Tafel-Bild zu dienen. Die kolorierte Lithografie ist dem diskursiven<br />
Raum von Sensation, Legende, Staunen zugehörig, <strong>als</strong>o dem des<br />
Jahrmarktes, wo es um Formen des Ausstellens, des Verdeckens<br />
und der Unterhaltung geht.<br />
3. Wilhelm Weygandt: Erkennung der Geistesstörungen (Psychiatrische Diagnostik),<br />
München: Lehmann 1920.<br />
4. Nachweislich ist das einer der sogenannten Kunstmaler Herrfurth und<br />
Rothgießer.<br />
5. Siehe Rosalind Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände,<br />
München: Fink 1998, S. 41. Krauss bezieht sich auf Fotografie und Lithographie von<br />
Timothy O'Sullivan, Tufa Domes, von 1868 bzw. 1878.
KÖRPERBILDER, KÖRPERBILDNER<br />
Doch verfolgen wir einmal genau, welche Zusammenhänge<br />
es sind, in denen die beiden Bilderfunde auftauchen. Weygandts<br />
Lehrbuch von 1920 ist die zweite Auflage seines Atlas und Grundriss<br />
der Psychiatrie, der 1902 <strong>als</strong> Band 27 der Medizinischen Handatlanten<br />
im Verlag J.F. Lehmann erschienen war. 6 Schon dieses Buch<br />
ist reich illustriert, es sollte >>eine möglichst präzis gefasste Darstellung<br />
der gesamten Psychiatrie bieten und zur Veranschaulichung<br />
des ganzen Textes alle in Betracht kommenden Demonstrationsmittel«<br />
heranziehen.7 Porträtfotografien von Patienten waren <strong>als</strong> Autotypien<br />
oder Holzschnitte wiedergegeben. Die Farbtafeln, die hier<br />
auch schon eingefügt sind, zeigen in erster Linie Details aus dem<br />
Innem von kranken Körpern und Ansichten von präparierten Hirnen.<br />
Wilhelm Weygandt hatte zu dieser Zeit bereits über einen<br />
größeren Bestand an Fotografien von Patienten und Patientinnen<br />
verfügen können, die er - wie er sagte - an verschiedenen Orten<br />
selbst aufgenommen hatte. 8 Im Lehrbuch von 1920 dann wird die<br />
Anzahl der Textabbildungen von 276 auf 318 erhöht. Mit der Bildvermehrung<br />
erhält man den Eindruck, Fotografien von Patienten<br />
werden eingesetzt, um das Verrückte, das Exaltierte in Irrenanstalten<br />
wiederzugeben. Körper in Bewegungen und Verrenkungen<br />
erinnern an Studien zum Ausdruckstanz dieser Zeit- überhaupt gibt<br />
es in dieser Zeit eine fotografische Bildervermehrung, die den Ausdruck<br />
eben nicht nur des Kranken, sondern auch den von Schauspielern,<br />
Tänzern, Hypnotisierten, >Normalen< betrifft. 9<br />
Wilhelm Weygandt entwickelt sich zum Körper-Psychiater,<br />
zum Arzt, der sieht, der <strong>als</strong> Spezialist mehr sieht <strong>als</strong> andere und am<br />
Körper Merkmale von Degeneration festschreibt. Er ist ein früher<br />
Verfechter der These von der Vererbbarkeit von Geisteskrankheit.<br />
Die Fotografie kommt bei ihm geradezu obsessiv zur Anwendung.<br />
Zwar werden in dieser Zeit fast alle Lehrbücher der Psychiatrie mit<br />
Fotografien aus der klinischen Praxis illustriert, doch bei Weygandt<br />
ist die Anzahl der Fotobeispiele sehr hoch. Als Weygandt 1908 Direktor<br />
der Staatskrankenanstalt Hamburg-Friedrichsberg wird, baut<br />
er eine große klinisch-psychologische Sammlung auf, mit zehntausenden<br />
von Patientenbildern, etwa 8ooo Diapositiven und zahlrei-<br />
6. Wilhelm Weygandt: Atlas und Grundriss der Psychiatrie, München: Lehmann<br />
1902.<br />
7. Ebd ., 5. III.<br />
8. Ebd., 5. VI.<br />
9. Vgl. Gunnar 5chmidt, Gesichtete Gesichter, http:/ jwww.medienaesthetik.<br />
de vom 11.5.2001.
SUSANNE REGENER : BARTFRAUEN<br />
chen Filmen; außerdem kam dazu eine alle Patienten umfassende<br />
genealogische Kartotek. 10 Von diesem Material ist archivalisch fast<br />
nichts mehr erhalten, und es ist mir bisher nicht gelungen, die Ursachen<br />
dafür auszumachen. Wir können heute nur auf das Bildmaterial<br />
zurückgreifen, das in Weygandts Publikationen ausgebreitet wird.<br />
1920 zieht so etwas wie Jahrmarkt und Kunst in das Psychiatrie-Lehrbuch<br />
von Weygandt ein - auf bunten, kolorierten Tafeln<br />
werden ungewöhnliche Körperhaltungen, Gesichtsausdrücke und<br />
Bekleidungsformen präsentiert. Auch die bärtige Frau in dieser<br />
farbigen Übersetzung gehört einer besonderen (Wissenschafts-)<br />
Kultur an, die es zu erkunden gilt. Im Gegensatz dazu ist fünfzehn<br />
Jahre später dieselbe Person auf der Original-Fotografie in sehr viel<br />
kleinerem Maßstab (6 x 4,5 cm) und im Text einmontiert zu sehen.<br />
Es handelt sich nun um den diskursiven Raum des Beweises, der<br />
Wissenschaftlichkeit, in dem die lllustration zum Einsatz kommt:<br />
Die Fotografie legt Zeugnis ab von der Existenz des Objekts. 11 Das<br />
Lehrbuch der Nerven- und Geisteskrankheiten, in ~em der Herausgeber<br />
Wilhelm Weygandt u.a. seine Studien zur Schizophrenie publizierte,<br />
gibt insgesamt eine an rassenbiologischen Theoremen orientierte<br />
medizinisch-psychiatrische Haltung wieder. Vor diesem Hintergrund<br />
werden erbbiologisch unterscheidbare Zeichen von Krankheit/Gesundheit<br />
und Normalität/ Anormalität gesucht und via Fotografien<br />
ausgestellt. In diesem Zusammenhang der Typifizierung<br />
muß auch die Fotografie der Bartfrau gesehen werden, die die einzige<br />
lllustration in Weygandts Beschreibungen von Körpersymptomen<br />
bei Schizophrenie ist. Weder hier noch im Text des Lehrbuches von<br />
1920 gibt es direkte Erläuterungen der Abbildungen. Die Bildlegende<br />
zur Lithografie lautet »Bartwuchs bei einer Kranken mit langjähriger<br />
Dementia praecox« 12 ; im Fließtext unter der Kapitelüberschrift<br />
»Untersuchungen des körperlichen Zustandes« heißt es: >>Auf Grund<br />
endokriner Störungen kommt <strong>als</strong> Adren<strong>als</strong>ymptom manchmal Bartwuchs<br />
bei Frauen vor, insbesondere in der Dementia praecox.« 13<br />
Am Abbildungsort der schwarz-weißen Fotografie spricht Weygandt<br />
noch weniger und nur beiläufig über das, was per Abbildung zu<br />
sehen ist: >>Bei älteren schizophrenen Frauen tritt manchmal Bartwuchs<br />
auf.
KÖRPERBILDER, KÖRPERBILDNER<br />
ist selten, wenn, dann ist er angeboren und Kennzeichen für eine<br />
Form von Entartung und für psychisches Leiden, das zur Verblödung<br />
führt. Weygandt macht aus der Sensationsfigur bärtige Frau<br />
eine pathologische Figur; er benutzt eine im klinischen Umfeld<br />
selbst hergestellte Fotografie, die sich - wie ich zeigen werde - von<br />
anderen, öffentlich kursierenden Bartfrauenporträts unterscheidet.<br />
Und Weygandt reduziert mit dieser Fotografie das Krankheitsbild<br />
Schizophrenie auf ein einziges sichtbares Gesicht.<br />
Jahrmarkt und populäre Literatur<br />
Bartfrauen gehören historisch gesehen zur Gruppe der Freaks, den<br />
Anomalien und Mißgeburten, den outsiders, den »Strange people«;<br />
sie' sind lebende Kuriositäten, die im 19. Jahrhundert öffentlich<br />
ausgestellt in der europäischen und nordamerikanischen Kultur<br />
sichtbar waren. Die Bezeichnung Freaks ist, wie Leslie Fiedler in<br />
seinem gleichnamigen Standardwerk betont, eine Verkürzung von<br />
>>freak of nature« und impliziert sowohl das Groteske <strong>als</strong> auch das<br />
Anormale der so bezeichneten Menschen. 15<br />
Es gibt eine Reihe von Geschichten über die Existenz von<br />
Bartfrauen, Bearded Ladies, denen das Stigma des Zweigeschlechtlichen<br />
anhaftet. In der griechischen Mythologie hat Androgyne, das<br />
Urbild des Zwitterhaften, einen Bart. 16 Ad-hoc-Bartwuchs bei Frauen<br />
ist in der Mythologie mal <strong>als</strong> Schutz gedacht, mal Ausdruck von<br />
großem Schmerz über Verlust.<br />
Die Volksheilige Kümmernis oder Saint Wilgefortis ist eine<br />
solche Figur, die Gott um Entstellung durch einen Bart bat, <strong>als</strong> sie<br />
von einem Mann begehrt wurde. 17 Berichte über die Existenz von<br />
Bartfrauen seit dem Mittelalter werden in der Literatur über Freaks<br />
kolportiert, z.B. bei Leslie Fiedler oder Hans Scheugl in den 1970er<br />
Jahren, ohne daß es einen gesicherten Hinweis auf Quellen gäbe.<br />
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufen sich Berichte<br />
und Abbildungen über Frauen mit Bart. Die Familienzeit-<br />
15. Siehe Leslie Fiedler: Freaks. Myths & Images of the Secret Self, New York<br />
1979, s. 19.<br />
16. Hans Scheugel: Show Freaks und Monster. Sammlung Felix Adamos,<br />
Köln: Dumont Schauberg 1974, S. 48.<br />
17. Und dann vom Vater ans Kreuz geschlagen; sie möge ihrem himmlischen<br />
Brä utigam gleichen; vgl. Hiltgart L. Keller: Reclams Lexikon der Heiligen und der<br />
biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst, Stichwort:<br />
Kümmernis, Stuttgart: Reclam 3 1968.<br />
86
SUSANNE REGENER: BARTFRAUEN<br />
schrift Daheim bringt 1883 einen belehrenden Artikel über >>Haarmenschen<br />
und Bartweibermit einem ausgesprochen weiblichen<br />
Habitus und weißmehligem Teint
KÖRPERBILDER, KÖRPERBILDNER<br />
Fotografie oder Lithografie dokumentierten Kontrast männlicher<br />
(sekundärer) Geschlechtsmerkmale am Körper der Frau und bei<br />
gleichzeitiger Beteuerung echt weiblicher Seelenbeschaffenheit<br />
Annie Jones-Elliott (Abb. 4, S. 434) wurde <strong>als</strong> biblische Figur, unter<br />
der Bezeichnung »lnfant-Esau
SUSANNE REGENER: BARTFRAUEN<br />
In Zirkussen, auf Jahrmärkten und in populären Zeitschriften<br />
wird zum Alltagswissen, was von Darwinisten, Ethnologen, Literaten<br />
propagiert wurde. Durch den Gebrauch der Fotografie <strong>als</strong> Beweis<br />
wird der Prozeß der Verwunderung und Verunsicherung unterstützt.<br />
Und gleichzeitig zeigt sich, daß das bloße Schauen nichts vom<br />
Wesen der Abgebildeten verrät.<br />
Der französische Psychologe Edgar Berillon gibt zwischen<br />
1904 und 1906 in einem Fortsetzungsartikel einen kulturgeschichtlichen<br />
Rückblick auf Erwähnungen, Darstellungen, Erklärungsweisen<br />
von Bartfrauen, und auch der Wissenschaftler betont immer wieder,<br />
daß das Äußere der behaarten Frauen im krassen Gegensatz· zu<br />
ihren inneren Werten steht. 27<br />
Anhand dieser Quelle kann sehr gut studiert werden, wie es<br />
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch die Fotografie zu<br />
einem Visualisierungsschub der Bartfrauen kommt. der einhergeht<br />
mit verstärkter Zurschaustellung der Frauen.<br />
Medizin und Psychiatrie<br />
Kurz nach 1900 entdeckt die Medizin die Bartweiber, und jetzt wird<br />
erst aus der Abweichung ein Problem. Das Sichtbare wird noch<br />
einmal auf seine Aussagekraft für Beschaffenheit von Seele, Geschlecht.<br />
Krankheit befragt. In dieser Zeit konkurrieren ganz verschiedene<br />
Konzepte, die man, kurz gesagt. in solche der Toleranz<br />
und solche der Stigmatisierung einteilen kann.<br />
Die Erforschung der physiologischen und psychologischen<br />
Unterscheidungen der Geschlechtscharaktere wird von Franz von<br />
Neugebauer und Magnus Hirschfeld wesentlich vorangetrieben.<br />
Alltagssprachliche Ausdrücke wie »männliche Weiber« oder »Mannweiber«<br />
sollten nach N eugebauer differenziert betrachtet werden:<br />
»Erstreckt sich dieser Begriff immer nur auf den Virilismus im Aussehen eines Weibes,<br />
zinische Bildervom Menschen im 19. Jahrhundert, erscheint demnächst in: Köln, Wien:<br />
Böhlau Verlag 2001.<br />
27. [Edgar] Berillon: »Les Femmes a barbe. Etude psychologique et socio<br />
Logique«, in: Revue de L'Hypnotisme (1904-1906). Berillon bezieht in seine Studien<br />
auch die unter Hypertrichose Leidenden , sogenannten Haarmenschen ein. An der am<br />
ganzen Körper behaarten Julia Pastrana wird das Moment der Verstörung exemplifiziert,<br />
das Ethnologen zur gleichen Zeit (etwa Mitte des 19. Jahrhunderts) mit dem<br />
sogenannten guten, edlen Wilden entdecken. 1932 wird dieses Thema ein Letztes Mal<br />
bedient in dem Film Freaks des amerikanischen Regisseurs Todd Browning.<br />
89
KÖRPERBILDER, KÖRPERBILDNER<br />
den Feminismus im Aussehen des Mannes, auf heterosexuelle sekundäre Geschlechtscharaktere?<br />
Nein, sehr häufig ist die Bezeichnung hervorgerufen durch das psychische<br />
Verhalten des Individuums. Es existiert ebenso wie ein somatischer Virilismus<br />
und Feminismus auch ein psychischer Virilismus und Feminismus [ ... ], mit welcher<br />
teilweise .der sogenannte Homosexualismus zusammenhängt.« 28<br />
Das ist der Versuch zu relativieren, was andernorts, wie in der Kriminalanthropologie,<br />
schon zu hartnäckigen Stereotypen geführt<br />
hatte." 9 Neugebauer reproduziert viele der schon an anderen Stellen<br />
veröffentlichten Fälle von weiblichem Bartwuchs. Es geht ihm erklärtermaßen<br />
um die Vorstellung der »Kasuistik«, d. h . Abbildungen<br />
aus populären Quellen werden zusammengetragen. Die Fotografien<br />
und anderen Abbildungsformen werden in die Nähe des Index gebracht,<br />
der sagt: seht. das, worüber ich spreche, gibt es. 30 Einerseits<br />
wird das Abnorme (das Mannweib, Virago) auf einem wissenschaftlichen<br />
Niveau enträtselt, andererseits aber wird ein Archiv der Abweichung<br />
eröffnet: eine große Bilderschaufeminae barbatae.<br />
In ähnlicher Weise recycelt Magnus Hirschfeld die Abbildungen<br />
von Bartfrauen, die in dem Bildatlas seines Werkes Geschlechtskunde<br />
enthalten sind.3 1<br />
Ein Lexikon der Normalität wird von ihm<br />
hier präsentiert, d.h. allgemeine Vorstellungen über normale Weiblichkeit<br />
bzw. Männlichkeit und deren Abweichungen werden visualisiert.<br />
Bei Hirschfeld wird wissenschaftlich begründet. was auf<br />
Jahrmärkten und in populären Schriften Kuriosum war: er behandelt<br />
Abweichung/ Anormalität unter der Bezeichnung sexuelle Zwischenstufen.<br />
Deviantes an Geschlechtsorganen, körperlicher und<br />
seelischer Erscheinung wird unter Vorzeichen von Über- und Unterentwicklungen<br />
gedeutet, <strong>als</strong> sexuelle Varietäten und sexualtypologische<br />
Kbmbinationsmöglichkeiten. Bei Hirschfeld ist, grob gesagt,<br />
die Doppelgeschlechtlichkeit des Menschen mit einem Austarieren<br />
zwischen weiblich und männlich verbunden:<br />
»Alle andersgeschlechtlichen Einschläge, gleichviel ob körperlich oder seelisch, kön-<br />
28. Franz von Neugebauer: Hermaphroditismus beim Menschen, Leipzig:<br />
Klinkhardt 1908, 5. 46f.<br />
29. Siehe Kapitel »Die kriminelle Frau« in: Susanne Regener: Fotografische<br />
Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München: Fink<br />
1999, 5. 264-278.<br />
30. Vgl. Ph. Dubois: Akt (Anm. 11), 5. 78f.<br />
31. Magnus Hirschfeld: Geschlechtskunde, 4 Bde., Stuttgart: Pütmann 1926-<br />
1930.<br />
90
SUSANNE REGENER: BARTFRAUEN<br />
nen bei den Menschen in sehr verschieden hohem Grade vorhanden sein. So kommt<br />
es vor, um ein recht augenfälliges Beispiel herauszugreifen, daß ein Bartflaum im<br />
Gesicht eines Weibes nur eben kaum angedeutet ist, es kann der Bartwuchs auf der<br />
Oberlippe aber auch so erheblich sein, daß mehrm<strong>als</strong> wöchentlich die Entfernung<br />
mittels des Rasiermessers erfordert, und es kommt sogar ausnahmsweise ein stattlicher<br />
Vollbart bei einem Weibe vor.« 32<br />
Eine Femina barbata, wie Hirschfeld sich ausdrückt, sei in den meisten<br />
Fällen >in jeder sonstigen Beziehung körper-seelisch aber<br />
durchaus weiblich.>Kellnerin Anna H., die ihren Bart stehen ließ, um sich in Berliner<br />
>Destillen< <strong>als</strong> >Attraktion< (>Rätsel des 20. Jahrhunderts
KÖRPERBILDER, KÖRPERBILDNER<br />
<strong>als</strong> Varietäten und nicht <strong>als</strong> pathologische Merkmale aufgefaßt werden.36<br />
Die Sexualwissenschaft gibt den fotografischen Darstellungen<br />
von Bartfrauen eine neue Bedeutung: geschlechtliche Verunsicherungen<br />
und damit verbundene Rollenprobleme könnten bei<br />
Bartträgerinnen vorkommen; bei den meisten der durch Abbildungen<br />
dokumentierten Fälle aber würde der kuriose Kontrast zwischen<br />
Ganz-und-gar-weiblich-Sein und dem männlichen äußeren Zeichen<br />
eher zum Segen führen, der finanziell ausgenutzt werden kann.<br />
Die Darstellungen von Bartfrauen zeichnen sich dadurch aus,<br />
daß nicht die Männerrolle 37 eingenommen wird, sondern im Gegenteil<br />
gerade die besonders weibliche Kleidung, Gestik, Haartracht ins<br />
Bild gesetzt sind. Die ikonischen Zeichen der Bartfrauenfotografien<br />
zeigen zwischen Sexualwissenschaft und Jahrmarkt eine enge Beziehung.<br />
Hirschfelds medizinische Bilderschau relativiert; sie sagt:<br />
das kommt vereinzelt vor, man könnte den Makel aber auch einfach<br />
abrasieren.<br />
Parallel dazu erscheinen in anderen medizinischen Abhandlungen<br />
Fotografien von bärtigen Frauen, die diese <strong>als</strong> pathologisch<br />
stigmatisieren. In Rasse und Krankheit, einer rassenbiologischen<br />
Schrift von 1937, schreibt der Abteilungsleiter des Rasse- und Siedlungsamtes,<br />
Johannes Schottky, Programmatisches aus dem Bereich<br />
der sogenannten Rassenpsychiatrie. 38 Der Abschnitt über »Die<br />
schizophrenen Erkrankungen« behandelt wesentlich Geisteskrankheit<br />
bei Juden und ist mit zwei Fotografien illustriert, die jüdische<br />
Frauen mit Bärten darstellen. Beide Fotografien sind <strong>als</strong> Textabbildungen<br />
reproduziert, die eine trägt die Bildunterschrift: »Manie.<br />
Bärtige Jüdin«, die andere »Schizophrene Jüdin mit Bartwuchs.
SUSANNE REGENER: BARTFRAUEN<br />
Schottkys Text ist obsessiv: Seine >>Rassenpsychiatrie>daß neben nervösen AuffäHigkeiten und Nervenkrankheiten<br />
auch die Geistesstörungen bei diesem Volke Uuden] häufiger<br />
seien.« 39 Bei Schizophrenie, manisch-depressiven Erkrankungen<br />
und Epilepsie überwiege der Einfluß der Anlage, sprich Erbgut. Den<br />
empirischen Nachweis für eine erhöhte Geistesstörungsrate bei<br />
Juden hätten bereits zahlreiche Autoren angetreten. Eine einzige<br />
Fotografie (für das Krankheitsbild Schizophrenie) scheint zu genügen,<br />
so suggeriert es ihre Plazierung, um das schon Erforschte zu<br />
illustrieren. Zu Abb. 6 lautet der Fließtext >>Und für die deutschen<br />
Juden gab auch Lange (1930) zusammenfassend an, daß sich bei<br />
ihnen viel mehr Schizophrenie fände <strong>als</strong> in ihrem Umkreis.« 40 Die<br />
Fotografie wird zum Symbol für die Stigmatisierung des Juden<br />
schlechthin im Nation<strong>als</strong>ozialismus. Obwohl durch die Bildlegende<br />
<strong>als</strong> Frau ausgewiesen, ist diese Jüdin gleichzeitig <strong>als</strong> Mann konnotiert.<br />
Das sei das doppeldeutige Gesicht der Schizophrenie wird<br />
bedeutet, ein anormales Gesicht, das geschlechtlich nicht mehr<br />
eindeutig zu identifizieren ist. Zugleich wird durch die Geste des<br />
Zähne-Zeigensetwas Tierisches, ein Werwolf-Muster, evoziert.<br />
Vor diesem Hintergrund erscheinen Weygandts Abbildungsstrategien<br />
in seinen Lehrbüchem weder zufällig noch sind sie einzigartig.<br />
Zur gleichen Zeit da Weygandt das kolorierte Porträt der<br />
bärtigen Frau großformatig ausstellt, reproduzieren Franz von Neugebauerund<br />
Magnus Hirschfeld in ihrem Bildarchiv der geschlechtlich<br />
abweichenden Körper- und Gesichtsaudrücke Lithografien und<br />
Fotografien von Frauen, die sich selbst ausgestellt haben oder nicht<br />
zuletzt aufgrund ihrer Fotografie populär geworden waren. Die<br />
bunte Abbildung in Weygandts Psychiatrie-Lehrbuch gehört dieser<br />
Welt an, in der Wissenschaft Alltagserscheinungen, Jahrmarktssensationen<br />
und andere öffentlich sichtbare Erscheinungen zu ihrem<br />
Sujet macht.<br />
1935 hat sich, so sieht es aus, eine starre Trennung zwischen<br />
Alltag und Wissenschaft und zwischen Sensation und wissenschaftlichen<br />
Fakten vollzogen. Die Fotografie von der Bartfrau ist bei<br />
Weygandt, sowie jene 1937 dann bei Schottky, <strong>als</strong> Produkt eines<br />
klinischen Archives sichtbar, das auch eine eigene Ästhetik besitzt.<br />
Darüber hinaus nimmt die Abbildungszahl ab, was die ikonische<br />
Bedeutung der einzelnen Fotografie in diesen wissenschaftlichen<br />
Abhandlungen erhöht. Die rassenbiologische Stigmatisierung bei<br />
Weygandt und Schottky kommt mit wenigen Bildbeispielen aus.<br />
39. Ebd., S. 181.<br />
40. Ebd., S. 192.<br />
93
KÖRPERBILDER, KÖRPERBILDNER<br />
Schließlich sprechen sie nicht wie Neugebauer und Hirschfeld über<br />
die Normalität von Abweichungen dieser Art und ihren vielfältigen<br />
Erscheinungsformen, sondern die Rassenpsychiater sind am vererbbaren<br />
Körperzeichen interessiert, die Frau mit Bart ist zu einem<br />
psychiatrischen Fall geworden.<br />
Die eingangs genannte Unterscheidung in verschiedene<br />
diskursive Räume, denen die Abbildungen zugeordnet werden können,<br />
bezieht sich nicht nur auf die beiden Techniken Lithografie<br />
und Fotografie. Meine Ausführungen sollten einen ersten Hinweis<br />
dafür geben, daß die Wissenschaft - hier die Medizin/Psychiatrie -<br />
daran arbeitet, einen eigenen diskursiven Raum der Fotografie zu<br />
begründen.<br />
Von der Bartdame zum Damenbart<br />
Der medizinische Diskurs hatte die Welt entzaubert mit seinen Untersuchungen<br />
und Diagnosen; alles Abweichende, Gruselige und<br />
Unerklärliche wurde in Horror- und Alien-Filme buchstäblich abgedrängt.<br />
Der Frauenbart stellt sich medizinisch gesehen <strong>als</strong> eine physiologische,<br />
hormonell hervorgerufene Besonderheit dar, die nicht<br />
an einen Transsexualismus gebunden ist. Im Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
wurde daraus ein propagandistisch genutztes Zeichen für Anormalität;<br />
die Vorstellung einer krankhaften Verwandlung von Frau zum<br />
Mann wurde mithilfe einer Fotografie evoziert.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Geschichte der Bartfrauen<br />
vorbei, d. h . es gibt weder eine Zurschaustellung noch eine<br />
Psychiatrisierung der Bartfrau. Haare im weiblichen Gesicht werden<br />
jetzt <strong>als</strong> Damenbart bezeichnet, und im Zuge einer amerikanisch<br />
geprägten Körperhygiene wird empfohlen, ihn zu entfernen. Das<br />
geht zurück auf die offensive Propagierung eines idealen weiblichen<br />
Gesichtes, die schon in der Weimarer Zeit mit Hilfe der Fotografie<br />
in populärer Form wirksam wurde. 4 1<br />
Heute werden immer neue<br />
Lifestyle-Medikamente angeboten und die Haarentfernung wird von<br />
der Krankenkasse bezahlt, wenn der Damenbart psychische Probleme<br />
nachsichziehtY Solche N ormsetzungen, die im Grunde<br />
41. Siehe dazu Katharina von Ankun: »Karriere - Konsum - Kosmetik. Zur<br />
Ästhetik des weiblichen Gesichts«, in: Claudia Schmölders/Sander Gilman (Hg.), Gesichter<br />
der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Köln: Dumont<br />
2000, s. 175-190.<br />
42. Für das kosmetische Problem werden Cremes, Wachs, Rasierer, Laser<br />
Epilation angepriesen. Neueste Nachricht: der Rasierklingenhersteller Gillette will zu-<br />
94
SUSANNE REGENER : BARTFRAUEN<br />
ausdrücken, daß dieses männliche Zeichen im Gesicht einer Frau<br />
die Idee von Weiblichkeit stört, prägen die Schönheitsideologie, die<br />
allerdings durch den offensiven Umgang mit dem Haarwuchs im<br />
Gesicht auch heute noch kritisiert wird. Auch <strong>als</strong> kosmetisches Problem<br />
bleibt der Damenbart Gegenstand einer medial vermittelten<br />
Geschlechterdifferenz.<br />
Eine deutliche und provokativ gemeinte Bejahung des Damenbartes<br />
hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben: zum<br />
Beispiel in den 1g6oer und 70er Jahren im Rahmen einer Propagierung<br />
von Natürlichkeit durch Hippie- und Frauenbewegung (Vorbild:<br />
Frieda Kahlo) . Zugleich war in dieser Zeit ein offensives, starkes<br />
Auftreten von Frauen positiv konnotiert. Gleichberechtigung<br />
wurde manchmal durch ein betont männliches Outfit (Vorbild:<br />
Marlene Dietrich) demonstriert. Auch in Submilieus der Gegenwart<br />
gibt es Beispiele der Thematisierung des Damenbartes, die ich hier<br />
nur sehr kursorisch streifen kann.<br />
Susanne Betancor, die Schriftstellerin und Popette, befaßt<br />
sich auf ironisierende Weise mit dem Bart der Frau; mit Roman und<br />
Showprogramm Damenbart' 3 meint sie einem letzten Tabu in unserer<br />
Kultur zu Leibe zu rücken. Rainald Goetz beschreibt in seinem<br />
Partyroman Rave eine Frau, die er bewundert: eine Frau mit einem<br />
»süßen Damenbärtchen«, »ein jungenshafter HabituSDas war<br />
natürlich klasse.>Wir locken die Internet-Benutzer<br />
mit einem >pornographischen Versprechen< zu unserer Website,<br />
das der Erwartung dann nicht entspricht.>Früher sah man Frauen mit Bärten nur<br />
ausgestellt auf Jahrmärkten. Heutzutage hat jede Frau ihren eigenen<br />
Ladyshave, und Sie können jetzt jeden Monat ein haariges Schätzsammen<br />
mit einem Pharmakonzern eine Creme auf den Markt bringen, die die für den<br />
Bartwuchs verantwortlichen Enzyme wirksam stoppen soll. Siehe z. B. Pressenotiz aus<br />
B.Z. unter http:/ / 212 .172.17 .8/ newsarchivjak03bart.htm vom 18.5.2001.<br />
43. Susanne Betancor: Damenbart, Frankfurt/ Main : Eichborn 2000.<br />
44. Rainald Goetz: Rave, FrankfurtjMain: Suhrkamp 1998, S. 25.<br />
45. http:jjwww.dds.nl;-beards vom 3.11.2000; 11.5.2001.<br />
95
KÖRPERBILDER, KÖRPERBILDNER<br />
chen runterladen.« 46 Man kann sich über den emanzipatorischen<br />
Wert dieses Kunstprojektes streiten, doch wird hier nicht der Scheinhaftigkeit<br />
allen Seins auf sehr direkte Weise Ausdruck verliehen?<br />
Die Indexikalität der Fotografie verliert an Bedeutung, das Bild von<br />
der Frau mit Bart ist eine Frage der Kunst geworden: was sich nicht<br />
mehr zu sehen gibt kann produziert werden. Auf der Inhaltsebene<br />
wird der Transvestismus mit seinen beliebigen und austauschbaren<br />
Zeichen zur Ikone erkoren. Dabei findet ein Remake von Darstellungsmustern<br />
statt: Erinnerungen an mittelalterliche Madonnenbilder,<br />
die Esau-Lady aus dem Zirkus und an die in Dessous gekleidete<br />
Pop-Sängerio Madonna der 1g8oer Jahre werden geweckt. Wie der<br />
Beitrag gezeigt hat. findet durch eine bestimmte Kontextualisierung<br />
der Fotografie immer eine Selektion der Wahrnehmung statt ganz<br />
abgesehen von den immer schon bestandenen Möglichkeiten einer<br />
Bildmanipulation.<br />
Grundsätzlich habe ich den Eindruck, daß Damenbart haben<br />
und tragen heute kein ernsthaftes, sozusagen genderpolitisches<br />
Zeichen ist. Dennoch ist Bart immer noch Zeichen einer Differenz,<br />
das - das sollten die andeutungsweisen Schlaglichter auf zeitgenössische<br />
Thematisierungen zeigen - unterschiedliche Bewertungen<br />
erfährt. Beim Projekt » Women with Beards« wird die Austauschbarkeit<br />
der Zeichen ironisiert, normative Geschlechtszuschreibungen<br />
werden nicht in Frage gestellt. Die Verbreitungsform im Internet hat<br />
Schaustellerische Ankläge, der historische Jahrmarkt scheint in dem<br />
postmodernen Angebot wieder auf. Bart abrasieren, wachsen lassen<br />
oder ankleben - an diese Alternativen knüpft sich nicht die Frage<br />
nach Weiblichkeit. Der Mann aber scheint seinen exklusiven Anspruch<br />
auf sein sekundäres Geschlechtsmerkmal verloren zu haben.<br />
46. Ebd.<br />
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