VOORTREKKING UTOPIA - Disputationsrede - Sven Merzbach
VOORTREKKING UTOPIA - Disputationsrede - Sven Merzbach
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Öffentliche Disputation zur Verteidigung der vorliegenden Dissertationsarbeit:<br />
<strong>VOORTREKKING</strong> <strong>UTOPIA</strong><br />
Geistesgeschichtliche Bezüge.<br />
Soziokulturelle Phänomene.<br />
Bildungstheoretische Aspekte<br />
der Fernsehserie STAR TREK<br />
von <strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong><br />
Veranstaltung der Universität Hamburg vom 11. Mai 2005<br />
Prolog: Präsentation eines Videoclips aus The Drumhead (TNG)<br />
„Wissen Sie, als ich ein Schuljunge war, habe ich einige Worte gehört: «Mit dem ersten Glied ist<br />
die Kette geschmiedet. Wenn die erste Rede zensiert, der erste Gedanke verboten, die erste Freiheit<br />
verweigert wird, sind wir alle unwiderruflich gefesselt.» Diese Worte wurden ausgesprochen<br />
[...] als Weisheit und Warnung. Wenn die Freiheit eines Menschen zum ersten Mal beschnitten<br />
wird, ist das ein Schaden für alle.“<br />
Ausschnitt der Rede des Captain Picard vor dem Tribunal (Übersetzung: Paramount).<br />
Erster Akt: Einführung in das Thema<br />
Was veranlaßt mich, eine Dissertation über eine Science-Fiction-Serie im Fachbereich Erziehungswissenschaften<br />
zu schreiben:<br />
Welche Zukunft ist für unsere Gesellschaft denkbar? Es geht mir um wichtige Idealbilder<br />
aber auch um eine Darstellung realistisch-glaubwürdiger Wege hinsichtlich Individualentwicklung<br />
und Gesellschaftsstruktur.<br />
Was kann dazu beitragen, die Freude und Lust an neuen Erkenntnissen und am Lernen<br />
wiederzubeleben? Es geht mir dabei nicht nur um das Lernen in einem akademischem Kontext,<br />
sondern auch in allgemeineren Erziehungs- und Bildungsprozessen, die unter den Schlagworten<br />
Wissensbereitschaft jedes Einzelnen, sowie politisches und soziales Lernen zusammenzufassen<br />
sind. Nicht zuletzt geht es dabei m.E. auch um eine entsprechende Lust an der Erkenntnisvermittlung.<br />
So verstehe ich meine Überlegungen auch als Anregung und (im wahrsten Sinne)<br />
phantasievolles didaktisches Angebot, sich auf Neues und Fremdes einzulassen, ohne dabei vorgefertigte<br />
Meinungen und Antworten zu produzieren.
<strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong>: Voortrekking Utopia (<strong>Disputationsrede</strong>) 2<br />
Welche Bilder eignen sich dazu, um die junge Generation in Zeiten großer Wertunsicherheit<br />
und scheinbarer Ausweglosigkeit für einen individuellen und gesellschaftlichen Einsatz<br />
zu motivieren? Ich meine hier die Forderung zur Etablierung eines alternativen Gegenbildes<br />
hinsichtlich des technologischen Fortschritts, persönlicher Entwicklungschancen und zukünftiger<br />
sozialer Formen des Zusammenlebens, insbesondere im Hinblick auf multikulturelle Phänomene,<br />
wie sie sowohl in unserem Land als auch im sog. „globalen Dorf“ anzutreffen sein werden.<br />
Wie können die Orte des Pädagogischen in der Zukunft aussehen, und was können sie leisten?<br />
Ich möchte hier vor allem den Versuch machen, mögliche Antworten auf die Frage nach<br />
erziehungswissenschaftlicher Verantwortung und neuen Orten der Pädagogik (hinsichtlich der<br />
neuen Medien wie Fernsehen, Kino und Internet) zu finden.<br />
Welche Werte und Normen sollen fürderhin gelten? Ich spreche hier von normativen Zielsetzungen<br />
und ihre Problematik im Sinne westlicher Verantwortungsethik; aktuelle und zukünftige<br />
Wertigkeit von Ritualen, z.B. in Form der Einführung in die Gesellschaft und individuellen Positionierungen<br />
als prozeßhaftem Lernen (Identitätsgenese). Weiterhin erscheint mir eine Darstellung<br />
der Probleme und Gefahren wichtig, die sich möglicherweise auch bei ausgesprochen<br />
positiven Weltsicht ergeben (z.B. im Hinblick auf missionarisches Eiferertum und Aspekten des<br />
Kulturimperialismus).<br />
Wie kann man der Etablierung inhaltlicher und sprachlicher Stereotypen begegnen? Ich<br />
sehe in der Art der Darstellung medialer Bilder, wie sie uns vor allem durch das Fernsehen<br />
(Nachrichten, Talkshows, Dokudramen und Werbung), aber auch in Kinofilmen präsentiert werden,<br />
eine große Gefahr gesellschaftlicher Beeinflussung mittels fragwürdiger Stereotypen, besonders<br />
im Hinblick auf das gegenwärtige Bild von „Gut und Böse“ : z.B. „the evil doers“<br />
(Bush), „Hitler – Aufstieg des Bösen“ (Fernsehfilm bei VOX), „Der Manger des Bösen“ (aktueller<br />
Spiegel-Titel). Ich halte eine gesteigert Aufmerksamkeit dieser Art der Darstellung gegenüber<br />
für zwingend erforderlich.<br />
Der eingangs gezeigte Filmausschnitt steht im Kontext einer Gerichtsverhandlung (wie der Titel<br />
„The Drumhead“ andeutet, handelt es sich dabei eindeutig um ein sog. „Standgericht“), in der<br />
einer virtuellen Figur im wesentlichen aufgrund seiner Abstammung der Prozeß gemacht werden<br />
soll. Aufgrund eines Vorfalls, der zunächst als Sabotage-Akt interpretiert wird und sich erst im<br />
nachhinein als technischer Defekt herausstellt, benötigt die Gesellschaft offenbar einen Sündenbock.<br />
Alle Personen, welche sich im Laufe der Handlung zu seiner moralischen Unterstützung<br />
bekennen, geraten dabei ebenfalls auf die Anklagebank. Dieses heute mehr denn je aktuelle<br />
Thema veranschaulicht die Gefahren und Folgen einer Vor-Urteil behafteten Schein-Logik bis<br />
hin zu offenen rassistischen Anfeindungen, die sich heute wieder überall ereignen. Eben deshalb<br />
und weil die Serie in diesem Punkt immer wieder eine klare Position gegen Intoleranz, a priori<br />
Ablehnung des „Fremden“ und polemischen Ethnozentrismus und für Weltoffenheit, ideelle<br />
demokratische Umgangsformen und Menschenrechte, sowie antirassistische Erziehung bezieht,<br />
stelle ich meine Überlegungen in den Kontext der „Dialektik der Aufklärung“, wie sie von<br />
HORKHEIMER und ADORNO bereits in den sechziger Jahren aufgestellt wurde:
<strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong>: Voortrekking Utopia (<strong>Disputationsrede</strong>) 3<br />
„Wir hegen keinen Zweifel [...], daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken<br />
unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben<br />
dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft,<br />
in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute<br />
überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in<br />
sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“<br />
Dieses Gesellschaftsverständnis verbunden mit der Forderung, „... daß Auschwitz nicht noch<br />
einmal sei ...“ ist als „roter Faden“ meiner Arbeit zu verstehen, stellt sie doch so etwas wie eine<br />
Minimalethik der Gegenwart dar, mit der sich zwar natürlich nicht jeder Bildungsanspruch erfüllen<br />
läßt, die aber doch ein wesentliches Element von Erziehungswissenschaft darstellen sollte<br />
– besonders da eine berechtigte Vermutung besteht, daß jede Erziehung ohne diese Minimalethik<br />
m.E. ins Leere laufen muß.<br />
Zweiter Akt: Kurzdarstellung der Inhalte meiner Arbeit<br />
Ich möchte nun im folgenden die Inhalte meiner Arbeit skizzieren und dabei besonders meine<br />
erziehungswissenschaftliche Argumentation erläutern.<br />
TEIL 1: Bereits im ersten Kapitel meiner Arbeit Das klassische Utopia und das moderne Science-Fiction-Genre<br />
skizziere ich einige grundlegende Theorien, die ganz bewußt einen deutlichen<br />
Fokus auf erziehungswissenschaftlich relevante Aspekte (wörtlich: „Betrachtungsweise“)<br />
legen und auf die ich im Laufe meiner Arbeit immer wieder Bezug nehme. Es handelt sich dabei<br />
u.a. um entsprechende Konzepte von PLATON (im sog. „Höhlengleichnis“), Thomas MORUS<br />
(Vernunft, Toleranz, Gemeinschaft), Niccolo MACCHIAVELLI (Führungsstrategien), Jean-<br />
Jacques ROUSSEAU (Natur und Spiel), Immanuel KANT (Kategorischer Imperativ) und Friedrich<br />
HÖLDERLIN (Hinwendung zur „Mythologie“ der sinnlichen Erfahrungswerte). Auch jüngere<br />
Autoren werden dort bereits von mir behandelt: neben HORKHEIMER und ADORNO<br />
(„Dialektik der Aufklärung“), Peter SINGER („How are we to live?“), Umberto ECO (Umgang<br />
mit der Jahrtausendwende, Deformation des Wissens), James Ogilvy („future studies and nomative<br />
scenarios“) und Richard SLAUGHTER („critical future studies and educational strategy“),<br />
sowie Stefan AUFENANGER („Ort des Pädagogischen“), um nur einige zu nennen. Ich verfolge<br />
in diesem Kapitel das Hauptanliegen, einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang zwischen<br />
antiken Atlantis-Vorstellungen, neuzeitlichen Utopien sowie aktuellen Thesen der Geisteswissenschaften<br />
herzustellen. Ich habe diesen Ansatz gewählt, weil ich der Meinung bin, daß gerade<br />
hinsichtlich der pädagogischen Wirkung die sozialpopulären Phänomene unserer Zeit im wesentlichen<br />
mit Aspekten der Kulturgeschichte verbunden sind. Ich gehe dabei von der Prämisse<br />
aus, daß die utopischen Aspekte des Science Fiction Genres als legitime Fortführung der klassischen<br />
Philosophie-Konzepte gesehen werden können.<br />
TEIL 2: Die relativ ausführlichen Überlegungen im zweiten Teil Science-Fiction-Filme im<br />
Spiegel der Zeitgeschichte haben vor allem den Hintergrund, den Blick auf die „konkreten histo-
<strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong>: Voortrekking Utopia (<strong>Disputationsrede</strong>) 4<br />
rischen Formen“ zu richten, welche die von HORKHEIMER und ADORNO angemahnte, dem<br />
sog. Fortschrittsdenken immanente „Rückschrittlichkeit“ demonstrieren soll. Ich stimme deutlich<br />
mit beiden überein, daß eine entsprechende Reflexion nicht nur für ein Verständnis dieser Zusammenhänge<br />
sinnvoll, sondern sogar notwendig ist. Die gegenwärtige Entwicklung (und ich<br />
spreche hier nicht nur von der PISA-Studie) legt zumindest nahe, daß der befürchtete Rückschritt<br />
bereits eine Tatsache ist. Einen deutlichen Fokus habe ich dabei auf die Entwicklungsgeschichte<br />
der Serie Star Trek gelegt, welche die Problematik der Zeitläufte m.E. beispielhaft demonstriert.<br />
Auch wenn es sich hierbei um ein Ausnahmephänomen im positiven Sinne handelt, sollte deutlich<br />
werden, daß auch diese Filmbilder fragwürdige Propaganda und Chancen zu normativer<br />
Veränderung zugleich beinhalten.<br />
TEIL 3: Das dritte Kapitel ist zwar als Geisteswissenschaftliche Interpretationen ausgewiesen,<br />
steht aber inhaltlich im deutlichen Kontext erziehungswissenschaftlicher Forderungen, z.B. in<br />
der normativen Bildung zu vernunftmäßigen Handeln, sozial-toleranten Umgangsformen, Emanzipation<br />
und Gleichberechtigung, sowie insbesondere der Einstellung gegenüber dem „Fremden“<br />
bzw. dem LACANschen „Anderen“ als „a special delight in the small differences“ (RODDEN-<br />
BERRY) zwischen den Kulturen – eine Forderung, die m.E. Grundlage jedes interkulturellen<br />
Bildungsanspruches sein sollte. Des weiteren habe ich in meinen Ausführungen die o.a. Forderung<br />
ADORNOs ernst genommen und diese auf ein virtuelles Medium übertragen, das möglicherweise<br />
heute ein machtvolleres Bildungsinstrument darstellt als die Curriculae der schulischen<br />
Lehrpläne. Konkret problematisiert werden hier das Bild der Vereinten Föderation der<br />
Planeten, ihre Gesetze und Institutionen (allen voran die Sternenflotte), das hier dargestellte<br />
Menschenbild und nicht zuletzt die Darstellung des Fremden in Gestalt der verschiedenen Star<br />
Trek-Kulturen, die ich insbesondere mit der Phänomenologieforschung der „Erfahrung des<br />
Fremden“ (WALDENFELS) in Zusammenhang gebracht habe. In erster Linie ging es mir also<br />
hier um die Dechiffrierung der Bilder, welche sich im Meta-Text solcher Fantasie-Produkte verbergen.<br />
Ich habe dies im besonderen am Thema der Fremdenphänomenologie hervorgehoben, da<br />
sich dieses Thema angesichts des Konzepts der Entdeckungsreisen zu interplanetaren Welten<br />
m.E. geradezu anbietet. Dabei mögen die kulturkritischen Momente, wie ich sie in meiner Arbeit<br />
formuliert habe, zwar nicht immer eindeutig in den Bereich der Erziehungswissenschaft gehören,<br />
machen aber doch einen Großteil (inter)kultureller Bildung aus.<br />
TEIL 4: Das abschließende vierte Kapitel Bildungstheoretische Aspekte eines modernen Mythos<br />
dient nicht zuletzt der Betrachtung der Serie unter im weitesten Sinne erziehungs- und bildungstheoretischen<br />
Gesichtspunkten, also hinsichtlich der hier angebotenen konkreten Erziehungssituationen.<br />
Im ersten Abschnitt beschäftige ich mich zuförderst mit der formalen Struktur der Episoden.<br />
Inwiefern die Theatertheorien von ARISTOTELES und BRECHT, wie ich sie im Kontext der<br />
Serie in Abschnitt eins Die Dramaturgie von Star Trek besprochen habe, als „Bildungstheorie“<br />
gesehen werden können, stelle ich gerne zur Diskussion. Ich möchte jedoch schon hier darauf<br />
hinweisen, daß sie im Rahmen der theaterpädagogischen Arbeit unzweifelhaft als erziehungswissenschaftlich<br />
relevant anerkannt worden sind. Ihre Verwendung für eine so zu nennende „Film-
<strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong>: Voortrekking Utopia (<strong>Disputationsrede</strong>) 5<br />
pädagogik“ erscheint mir schon deshalb angebracht, weil sie dem inneren Verständnis der<br />
Handlung und ihrer strukturellen Rezeption dienlich sein können, und weil die formale Ähnlichkeit<br />
der meisten Spielfilme und vieler Serienepisoden (zumindest der Star Trek Serie) mit Bühnendramen<br />
kaum von der Hand zu weisen ist. Wie ich ausführlich dargestellt habe, steht der erklärte<br />
Anspruch beider Autoren, mit einem virtuellen dramatischen Geschehen entsprechende<br />
Erkenntnisprozesse anzuregen eindeutig in der Tradition bildungstheoretischen Denkens, wie es<br />
auch bei KANT oder HUMBOLDT zu finden ist.<br />
Im zweiten Abschnitt Gesellschaftsstrukturen und Leitfiguren widme ich mich insbesondere<br />
den normativen Gesellschaftsbildern und normativen Leitfiguren, wie sie in der Serie dargestellt<br />
werden und m.E. mustergültig hinsichtlich positiveren Einschätzungen und optimistischmotivierenderer,<br />
ästhetischer Zukunftsperspektiven sein können, als dies derzeit in sowohl in<br />
wissenschaftlichen Analysen als auch in literarischen Vorgaben der Fall ist. Außerdem habe ich<br />
hier versucht, entsprechende konkrete Identifikationsmöglichkeiten zu interpretieren.<br />
Wie gesagt, leben wir heute in einer Welt, die zunehmend von Werteunsicherheit und Ausweglosigkeit<br />
geprägt ist, in der uns reale Perspektiven und Vorbilder abhanden gekommen zu sein<br />
scheinen, und in der darüber hinaus eine ständige Gefahr besteht, in maßlosen Angeboten, die<br />
sich jedoch oft als inhaltlos und zu unverbindlich herausstellen. Es stellt sich nun die Frage nach<br />
Alternativen, die zwar allerorten eingefordert aber m.E. nirgends ernsthaft etabliert werden.<br />
Woran sollen wir uns nun orientieren, wenn unsere Gesellschaft und Kultur (und das meine ich<br />
durchaus auch ideell) überleben will? Oder anders ausgedrückt: was wollen wir unseren Kindern<br />
in einer Realität beibringen, die mehr und mehr von Selbstsucht, Ignoranz, Geiz und Gier, sowie<br />
wieder aufkeimenden Ressentiments und Intoleranz gegenüber allem Fremden bestimmt wird?<br />
Hier haben wir einen erneuten Fingerzeig auf das „rückläufige Moment“ des sog. Fortschritts. Ist<br />
es in Ermangelung „realer“ Perspektiven nicht wichtig, daß wir wenigstens eine „virtuelle“ Idee<br />
davon erhalten, wohin wir uns eigentlich weiterentwickeln wollen? Diesbezüglich habe ich im<br />
letzten Kapitel meiner Arbeit versucht, ein Gegenbild zu etablieren – eine virtuelle Welt, die<br />
zwar nicht perfekt, aber von dem stetigen Wunsch nach ihr, also von Perfektibilität, beseelt ist.<br />
Natürlich ging es mir dabei auch um den Aspekt kritischer Auseinandersetzung mit derart präsentierten<br />
Vor-Bildern, die nie gänzlich unproblematisch aufzufassen sind.<br />
Im dritten Abschnitt Autorität und Motivation behandle ich einen Aspekt aus der Erwachsenenbildung,<br />
wie er besonders in wirtschaftlichen Organisationsstrukturen Eingang gefunden hat und<br />
in der allgemeinen Motivationspsychologie diskutiert wird. Hierbei geht es mir allerdings weniger<br />
um ökonomische Effektivität als vielmehr um die Qualität und Wirksamkeit individueller<br />
und sozialer Lehr- und Lernprozesse im Zusammenhang mit Gruppenprozessen, welche nicht<br />
zuletzt besonders ethische Gesichtspunkte betreffen. Außerdem soll schlicht herausgestellt werden,<br />
unter welchen Bedingungen sich zu lernen und zu arbeiten lohnt.<br />
Im vierten Abschnitt widme ich mich schließlich ausgesuchten Szenarien für die Identitäts- und<br />
Charakterbildung der virtuellen Figuren, wie sie maßgeblich für konkrete Unterrichtssituationen<br />
sein können – weil sie oft im übertragenen Sinne, gelegentlich auch sehr konkret eine Wirklich-
<strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong>: Voortrekking Utopia (<strong>Disputationsrede</strong>) 6<br />
keit illustrieren, wie sie mittlerweile in jeder Schulklasse Realität geworden ist. Dabei habe ich<br />
folgende erziehungstheoretisch relevante Themen hervorgehoben, deren Grundgedanken sich<br />
jedoch meistens über mehrere Unterkapitel verteilen:<br />
– Problematik der Sozialisation, u.a. im Zusammenhang mit der sog. „Antiautoritären<br />
Erziehung“<br />
– „Projektunterricht“ und „Erlebnispädagogik“ im „Eigenen“ und im „Fremden“<br />
(„Integrationspädagogik“)<br />
– Möglichkeiten und Gefahren einer „interkulturellen Bildung“ im sog. „Melting Pot“<br />
– Solidarität und Gemeinschaftssinn<br />
– Standpunkte zur Alltagsbewältigung<br />
– ritueller Umgang mit individueller Sozialentwicklung und Problemsituationen<br />
Mit der ausführlicheren Darstellung konkreter normativer Szenarios habe ich weiterhin versucht,<br />
entsprechenden Forderungen nachzukommen, wie sie insbesondere von der Erziehungswissenschaft<br />
im Rahmen der „Medienbildung“ aufgestellt wurden (beispielsweise bei SLAUGHTER,<br />
1996 und AUFENANGER, 1997). Schließlich habe ich noch einige Überlegungen darauf verwandt,<br />
ob die Serie in ihrer Gesamtheit tatsächlich geeignet ist, eine optimistische Zukunftsvision<br />
zu vermitteln. Letztendlich ging es mir um die Frage, ob die Serie Star Trek als virtuelle Konstruktion<br />
ein glaubwürdiges und erstrebenswertes Modell für die Zukunft darzustellen imstande<br />
ist.<br />
Für die konkrete Rezeption ergeben sich mehrere Möglichkeiten:<br />
(1) aus dem Blickwinkel der Figuren als Identifikationsschablone<br />
(ein Prinzip des ARISTOTELES)<br />
(2) aus der vergleichsweise distanzierten Sicht des Zuschauers zum Text<br />
(die Methode BRECHTs)<br />
(3) als Grundlage der weiteren Analyse des Subtextes im Zusammenhang sozialer, politischer<br />
bzw. historischer Gestaltformation (deren Schwerpunkte möglicherweise variabel sind)<br />
In jedem Fall ist die Positionierung des Betrachters wichtig, welche immer auch vom sozialen<br />
und kulturellen Hintergrund determiniert ist. Wenn wir von „pädagogischen Bildungsprozessen“<br />
sprechen, kann dies vieles heißen, läßt sich aber durchaus in der Sache konkretisieren. Ich<br />
möchte betonen, daß es bei ihrer Beurteilung weniger um statische Begrifflichkeiten als vielmehr<br />
um „Grundfiguren“ geht, die einem konkreten Welt- und Selbstverständnisses des Betrachters<br />
obliegen und deshalb veränderbar sind (ganz im Sinne individueller flexibler Bildungsprozesse).<br />
Allerdings muß auch klar sein, daß der kulturelle Bezug hinsichtlich des Bildungsverständnisses<br />
bestimmte Sichtweisen und gewissermaßen auch Vor-Urteile vorgibt. So gehen wir in der westlichen<br />
Welt gemeinhin davon aus, daß „Bildung“ in erster Linie eine individuelle Dimension<br />
besitzt. Wir gehen also von einer universell behaupteten Autonomie des Subjekts (Bildung als<br />
ontologische Konstruktion) aus, die näher besehen vollkommen artifiziell kulturell ist. Viele<br />
Menschheitskulturen (z.B. die Mehrheit der zentralafrikanischen Völker, konkret: die Bamileké<br />
in Kamerun, wie von Rainer KOKEMOHR in seinen Studien überzeugend dargestellt) setzen
<strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong>: Voortrekking Utopia (<strong>Disputationsrede</strong>) 7<br />
beispielsweise die Gruppenkultur vor das Subjekt, für sie ist soziale Kontrolle ein Sicherheitsfaktor<br />
und keine Mißachtung individueller Ansprüche, die ja grundlegend in der Aufrechterhaltung<br />
der Gruppe liegen. (Vgl. z.B. die Borg)<br />
Diese völlig andere Sichtweise verändert allerdings auch den Umgang mit Fiktionen und stellt<br />
ein ernsthaftes Problem mit möglicher Interkulturalität dar, die sich in gewisser Weise auf gemeinsame<br />
Bezugspunkte stützen muß, sofern sie den begrifflichen und pragmatischen Ansprüchen<br />
genügen will. Ich möchte diese Thema hier nicht weiter vertiefen, aber dennoch darauf<br />
hinweisen, daß die Konstruktion des LACANschen „Anderen“ immer kulturell gebunden bleibt.<br />
Dritter Akt: Eine Fernsehserie als virtueller Ort interkultureller Pädagogik<br />
Wir leben heute in einer Zeit, in der wir mehr denn je miteinander auskommen müssen. Die so<br />
oft zitierte „multikulturelle Gesellschaft“ und mittlerweile auch das sog. „globale Dorf“ sind<br />
keine theoretischen Hypothesen mehr, sie sind Tatsachen geworden – ob es uns nun gefällt oder<br />
nicht. Daher müssen wir lernen miteinander auszukommen. Wie dieses Zusammenleben aussehen<br />
kann, dafür bietet die Serie Star Trek einen großen Fundus von Geschichten, Metaphern und<br />
Bildern, – welche jedoch immer auch interpretierbar und diskutierbar bleiben müssen.<br />
Wenn ich bei der Verwendung des vorliegenden Materials meiner Arbeit insbesondere an die<br />
Lehrer der Oberstufen denke, welche anhand ausgewählter Filmepisoden ihren Schülern aktuelle<br />
Problematiken näherbringen können, so ersetzt das nicht deren Phantasie zum Umgang mit dem<br />
vorliegenden Material. Meine Arbeit ist nicht als didaktische Unterweisung und schon gar nicht<br />
als Schulbuch zu verstehen, das als konkreter Lehrplan dienen kann.<br />
In erster Linie soll meine Arbeit dazu geeignet sein, an den vielfältigen Themen zu partizipieren,<br />
welche die Serie bietet. Sie ermöglicht hoffentlich einen Zugang mit anderem Blickwinkel, der<br />
manchmal helfen kann, scheinbare Tatsachen mit den Augen des „Anderen“ anders zu sehen,<br />
ohne sich im „Eigenen“ angegriffen zu fühlen – obwohl oder gerade weil keine der dargebotenen<br />
Perspektiven eine eindeutige Allegorie ist. Dennoch bleiben die Filmbilder so verständlich, daß<br />
sich jeder Jugendliche damit identifizieren kann.<br />
Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß eine Lektüre meiner Arbeit die lebendigen Bilder nicht<br />
ersetzen kann. Ohne einen entsprechenden Bezug müssen sie defizitär bleiben. So verstehe ich<br />
meine Dissertation in erster Linie als Anregung und Aufforderung, sich auf andere Perspektiven<br />
einzulassen. „Unendliche Vielfalt in unendlichen Kombinationen“ lautet ein Lehrsatz einer der<br />
virtuellen Kulturen von Star Trek . Wenn es gelingen kann, diese Anforderung nicht als Bedrohung<br />
sondern als Chance aufzufassen (und dies legen die Filmbilder eindeutig nahe), muß niemand<br />
mehr Gefahr laufen, in einer Welt voller bunter, aber inhaltloser und unverbindlicher Angebote<br />
verlorenzugehen.<br />
Ich habe in meiner Arbeit einige Aspekte herausgegriffen, die das Phänomen des „Fremden“<br />
erläutern sollten und bin dabei von einer gewissen Beliebtheitskala der Figuren ausgegangen.
<strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong>: Voortrekking Utopia (<strong>Disputationsrede</strong>) 8<br />
Das kann helfen, einen konträren kulturellen Ansatz besser nachvollziehen zu können. Ob ich<br />
mich nun mit den Vulkaniern, Klingonen oder sonst einer anderen Alien-Kultur von Star Trek<br />
befasse, muß vor allem eines klar sein – es handelt sich hier oft nicht um wirkliches „Fremdes“<br />
im WALDENFELSschen Sinne. Es fällt beispielsweise ins Auge, daß die meisten Star Trek<br />
Kulturen mehr oder weniger humanoid, d.h. menschenähnlich, sind, was in einem universellen<br />
Kontext etwas befremdlich wirken muß. Es gibt allerdings auch andere, für einen wissenschaftlichen<br />
Diskurs möglicherweise sehr ergiebige Beispiele (z.B. die Borg), weil hier die klassische<br />
Vorstellung von Bildungstheorie nicht mehr ganz greifen kann; allerdings würde ich diesen<br />
Aspekt gern für die folgende Diskussion zurückstellen.<br />
Wichtig erscheint mir aber, daß eine derartige relative Ähnlichkeit, welche auch die unsrige ist,<br />
helfen sollte, Stereotypen und Vorurteile abzubauen, Akzeptanz und Toleranz aufzubauen, anstatt<br />
uns an den offenbar unwesentlicheren Unterschieden zu verlieren. Mir ist bewußt, daß dies<br />
spontan kaum realisierbar ist und daß eine Fernsehserie kaum die Probleme dieser Welt lösen<br />
wird. Möglicherweise kann jedoch eine Mikroanalyse des konkreten virtuellen Geschehens entsprechende<br />
kognitive Auseinandersetzungen mit diesem Phänomen auslösen und helfen, die<br />
Probleme erst einmal aufzudecken, evtl. in der Folge auch vergleichbare Spannungen abzubauen.<br />
Schließlich geht es bei jeder sozialen Kompetenz immer auch um die Einstellung des „Eigenen“<br />
zum „Anderen“. Dazu gehört jedoch die Bereitschaft, aus der eigenen egozentrischen Kulturperspektive<br />
herauszutreten und dem anderen zuzuhören, um seine Perspektive zu verstehen, ohne<br />
sie als persönliche Bedrohung aufzufassen. Um dies sinnvoll zu interpretieren, erscheint mir jedoch<br />
ein klares Verständnis für die eigene Kultur sowie das Zustandekommen der eigenen Enkulturation<br />
absolut notwendig – auch hier liefere ich in meiner Arbeit zahlreiche Beispiele.<br />
Abschließend möchte ich Ihnen nun eine Szene präsentieren, in der viele der angesprochenen<br />
Aspekte eines normativen interkulturellen Umgangs vorhanden sind: Bereitschaft zur Empathiefähigkeit<br />
und Perspektivenwechsel, Abbau von Stereotypen und Vorurteilen (obwohl die Szene<br />
natürlich auch damit arbeitet), respektvoller Umgang, sowie konkrete Auseinandersetzung vs.<br />
Pauschalität. Ich habe die Szene vor allem deshalb ausgesucht, weil ihre Protagonisten Teenager<br />
sind, denen es trotz ihrer Unterschiedlichkeit gelingt, einen kulturell bedingten Zwist zu bereinigen.<br />
Die Szene stammt aus dem Teil der Serie, den ich aus verschiedenen Gründen für den problematischsten<br />
halte, was ich allerdings hier nicht weiter vertiefen will. Dennoch halte ich das<br />
„Fort am Ende der Galaxis“ und ihre Bewohner in Star Trek – Deep Space Nine für die interessanteste<br />
Metapher für unser „multikulturelles Boot“, weil hier eigentlich keine der Kulturen ein<br />
wirkliches Übergewicht hat; die Chancen sind sozusagen ausgeglichen. Dies verweist darauf,<br />
daß eine Unterscheidung zwischen „Zivilisierten“ und „Barbaren“ weder im eigenen Lande noch<br />
in der Fremde einen Sinn macht, der stetige Versuch des gleichberechtigten Miteinanders allerdings<br />
schon. Das heißt nicht, daß jedes Zusammentreffen unproblematisch verlaufen muß oder<br />
kann. Die Bereitschaft aufeinander zuzugehen, sollte jedoch immer eine Chance haben.<br />
Während Sie sich die folgende Szene ansehen, möchte ich Sie bitten, sich bewußt zu machen,<br />
daß sie überall stattfinden könnte – auch in einem beliebigen Klassenzimmer in Steilshoop oder
<strong>Sven</strong> <strong>Merzbach</strong>: Voortrekking Utopia (<strong>Disputationsrede</strong>) 9<br />
Mümmelmannsberg. Und daß die eigentlichen Chancen für ein ideales Miteinander im Gespräch<br />
liegen – wenn es gelingt, dazu anzuregen.<br />
Epilog: Präsentation eines Videoclips aus Life Support (DS9)<br />
– Also, wieso sind wir hier drin?<br />
– Ist ja schon gut! Ich habe darum gebeten, uns hier einzusperren, weil ich mit dir reden wollte.<br />
– Hier drin?<br />
– Ich hatte gedacht, du würdest mir sonst nicht zuhören.<br />
– Also jetzt bin ich aber gespannt!<br />
– Ich wollte dir sagen ... daß es mir leid tut. Ich hatte einfach vergessen, daß Du ein Ferengi bist.<br />
– Das hast du vergessen? Für die meisten sind meine Ohren ein todsicheres Merkmal!<br />
– Was ich meine, ist, wir haben soviel Zeit miteinander verbracht, und wir schienen uns so ähnlich<br />
zu sein! ... Nun äh, ich vergesse manchmal, daß wir unterschiedlich sind.<br />
– Das weiß ich doch auch. Ich meine, jeder, der einer Frau das Gefühl gibt, er hätte Respekt vor<br />
ihr, der ist einfach kein Ferengi! ... Ich fand es widerlich! ... Urgh!<br />
– Was denn? Du redest von widerlich? Als Riska dein Essen kleinschneiden sollte, das war widerlich!<br />
– Ich hätte auch verlangen können, daß sie es vorkaut!<br />
– Vorkauen?<br />
– Ja, wie es sich gehört! ... In traditionellen Ferengi-Familien machen die Frauen das Essen mit<br />
ihren Zähnen weich, damit die Männer es ohne Anstrengung genießen können.<br />
– Das ist ja ekelhaft!<br />
– Ich wußte, daß du so reagieren würdest. Und deshalb habe ich das auch nicht von ihr verlangt.<br />
– Hast du etwa noch andere Ferengi-Sitten auf Lager, von denen ich wissen sollte?<br />
– Jede Menge! Es existieren aber auch viele menschliche Sitten, die mich anekeln.<br />
– Na toll! Also ekeln wir uns gegenseitig an. Ich schätze, je älter wir werden, desto ekliger wird<br />
es. Aber eines weiß ich: ich will dich als Freund nicht verlieren.<br />
– Gut, wenn das so ist, dann sind die doppelten Rendevous von der Liste gestrichen.<br />
– Geht klar! Und wir werden uns mit dem Rest unserer ekelhaften Sitten auseinandersetzen,<br />
wenn sie auftreten.<br />
– Ich denke, das ist akzeptabel. ... Fühlst Du dich jetzt besser?<br />
– Ja.<br />
– Gut. ... Können wir dann jetzt gehen?<br />
– Sicher!<br />
Szenenausschnitt aus: Life Support (Übersetzung: Paramount).