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Nico Graf: Festival de la tête coupée. Kürbis und Kopf ab. Chaos ...

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Dublin. Singsang aus einer kleinen<br />

schwarzen Lautsprecherbox: We must clear all the<br />

Halloween, where can you find it, quäkt die Box,<br />

Where can you get it, we must clear all the Halloween.<br />

Die Lautsprecherbox hängt über <strong>de</strong>r Tür eines<br />

engen La<strong>de</strong>ns. Es ist <strong>de</strong>r 31. Oktober, nachmittags<br />

um 15 Uhr. Der Betreiber <strong>de</strong>s La<strong>de</strong>ns hat ein Problem:<br />

Er muss bis eier<strong>ab</strong>end seinen ganzen Halloweenkram<br />

verschleu<strong>de</strong>rn, sonst bleibt er drauf sitzen,<br />

auf all <strong>de</strong>m Hexen- <strong>und</strong> Teufelszeug. Noch gibt<br />

es <strong>Kürbis</strong>se, Hexenkessel, Dreizacke, Riesenbrüste,<br />

Horrormasken – alle aus P<strong>la</strong>stik –, Theaterblut,<br />

Makeup, Augenk<strong>la</strong>ppen, Hexenbesen, <strong>Kürbis</strong>gir<strong>la</strong>n<strong>de</strong>n<br />

aus Papier, le<strong>de</strong>rmausgir<strong>la</strong>n<strong>de</strong>n, Hexengir<strong>la</strong>n<strong>de</strong>n.<br />

Was man so braucht für eine horrormäßige Party.<br />

Wirkt alles sehr amerikanisch, Halloween ist als<br />

Kommerzwelle nach Ir<strong>la</strong>nd geschwappt. Zurückgeschwappt.<br />

Kettensägenmassaker<br />

<strong>Nico</strong> <strong>Graf</strong><br />

estival <strong>de</strong> <strong>la</strong> <strong>tête</strong><br />

Halloween<br />

Indianapolis, Indiana. Midwest, wo er am<br />

mittelwestlichsten ist, f<strong>la</strong>ch, Mais, Soja, Autos.<br />

Ich höre Polizeifunk, ich höre Sirenen von Polizei-<br />

<strong>und</strong> Rettungswagen, ich höre gar nichts. Vor<br />

mir liegt ein Auge. Vor mir liegt ein Messer. Und<br />

ein Bleistift. Ein Totenkopf. Der Augenball ist blutunter<strong>la</strong>ufen,<br />

die Iris zieht schwarze ä<strong>de</strong>n, die Pupille<br />

hat die orm eines Totenkopfes. Das Auge ist<br />

in Zellophan eingesch<strong>la</strong>gen. Ein Vampirauge; Ich<br />

möchte gar nicht wissen, wie das Vampirauge<br />

schmeckt.<br />

Das Messer heißt Pumpkin-carving-knife. Die<br />

Klinge ist ein dünnes B<strong>la</strong>tt, stumpfe Spitze, wellenförmige<br />

Schnei<strong>de</strong>. Das Messer ist Ma<strong>de</strong> in Taiwan.<br />

Ich h<strong>ab</strong>e einem <strong>Kürbis</strong> damit ein Gesicht geschnitzt,<br />

die Klinge bog sich durch <strong>und</strong> rutschte<br />

aus <strong>de</strong>m Griff heraus. Das Messer hat 99 Cent gekostet.<br />

Der Bleistift ist mit <strong>Kürbis</strong>sen verziert, <strong>la</strong>chen<strong>de</strong><br />

orangefarbene <strong>Kürbis</strong>se. Der Bleistift hat<br />

einen <strong>Kopf</strong>: Das Radiergummi am ungespitzten<br />

En<strong>de</strong> ist ein <strong>Kürbis</strong>. Der Totenkopf ist winzig <strong>und</strong><br />

aus P<strong>la</strong>stik. Ein Ring für an <strong>de</strong>n inger, ma<strong>de</strong> in<br />

China. 30 P<strong>la</strong>stikschä<strong>de</strong>l kosten 69 Cent. Auf <strong>de</strong>r<br />

Packung wird gewarnt: Die Schä<strong>de</strong>l gehören nicht<br />

in die Hän<strong>de</strong> von Kleinkin<strong>de</strong>rn, sie könnten die<br />

Schä<strong>de</strong>l verschlucken <strong>und</strong> daran ersticken.<br />

Ich h<strong>ab</strong>e <strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>n Bleistift, das Messer<br />

<strong>und</strong> das Auge in Indianapolis gekauft. An Halloween.<br />

Indianapolis, Indiana. Maisfeld an Maisfeld.<br />

Amber waves of grain, steht auf <strong>de</strong>n Autop<strong>la</strong>ketten.<br />

Bernsteinfarbene Maiswellen. In <strong>de</strong>r Stadt ist davon<br />

nichts zu sehen.<br />

Indianop<strong>la</strong>ce, sagt Lenen, <strong>de</strong>r re<strong>und</strong> von<br />

Susan, <strong>de</strong>r Rockmusiker.<br />

Indianapolis – 500 Meilen fahren sie dort im<br />

Kreis, Indy- fiveh<strong>und</strong>red. rüher waren sie einen<br />

ganzen Tag unterwegs, sagt eine alte rau, heute ist<br />

das Rennen in ein paar Stun<strong>de</strong>n rum.<br />

Indianapolis: eine Stadt im <strong>la</strong>chen, 200 Kilometer<br />

südlich von Chicago, Crossroads of America<br />

nennt sie sich, Kreuzung aller Kreuzungen, wer mit<br />

<strong>de</strong>m Auto quer durch <strong>de</strong>n Kontinent fährt, muss<br />

hier durch. Und die Stadt ist stolz darauf, dass alles<br />

durchfährt.<br />

Indianapolis: fast eine Million Einwohner, viel<br />

Industrie – früher heavy, heute light, ein schlechtes<br />

ootballteam, die Indianapolis-Colts, die ohlen,<br />

ein gutes Basketballteam, die Pacers, die<br />

Schrittmacher.<br />

Downtown Indianapolis: Das sind 20 Hochhäuser,<br />

dazwischen zerfallen<strong>de</strong> Kleinhäuser, im<br />

Sü<strong>de</strong>n 15 Kilometer Einkaufszentrum an Einkaufszentrum,<br />

dazwischen Hamburger-Restaurants. Die<br />

Menschen wohnen woan<strong>de</strong>rs. Wie Susan <strong>und</strong> Lenen.<br />

Sie wohnen auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Stadt, nördlich<br />

<strong>de</strong>r 10. Straße. Es gibt nur auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> in<br />

<strong>de</strong>r Stadt. Der Stadtp<strong>la</strong>n ist ein Gestrichel, je<strong>de</strong><br />

haarfeine Linie eine Straße. Je<strong>de</strong> Linie be<strong>de</strong>utet<br />

eine Abfolge von kleinen Häusern <strong>und</strong> Rasenstükken<br />

<strong>und</strong> weitere kleine Häuser <strong>und</strong> Rasenstücke.<br />

Die Häuser sind aus Holz, die Rasenstücke sind<br />

grün. Die Häuser h<strong>ab</strong>en eine Veranda <strong>und</strong> eine<br />

Doppeltür, die Stechmücken sollen draußen bleiben.<br />

Suburbia mitten in <strong>de</strong>r Urbs.<br />

SEITE 24<br />

STRECKENLÆUER NR. 16


<strong>Nico</strong> <strong>Graf</strong>,<br />

Die Bäume zwischen <strong>de</strong>n Häusern brennen in<br />

allen Herbstfarben <strong>de</strong>s Indianersommers. Vor <strong>de</strong>n<br />

Häusern stehen Gr<strong>ab</strong>steine. An <strong>de</strong>n Häusern hängen<br />

große Spinnweben. In <strong>de</strong>n enstern riesige<br />

Spinnen. le<strong>de</strong>rmäuse f<strong>la</strong>ttern. Gespenster. Das<br />

rankensteinmonster. Dracu<strong>la</strong>. Und auf fast je<strong>de</strong>r<br />

Veranda ein <strong>Kürbis</strong>. Und in vielen Vorgärten ein<br />

P<strong>la</strong>stikkürbis, in <strong>de</strong>m welke Blätter stecken.<br />

In <strong>de</strong>n Supermärkten gibt es Süßkram in Riesenpackungen<br />

zu kaufen, es gibt Schwerter <strong>und</strong><br />

Lanzen, Dreizacke <strong>und</strong> Krummsäbel, Sicheln <strong>und</strong><br />

Dolche, alles ohne Waffenschein zu erwerben <strong>und</strong><br />

aus P<strong>la</strong>stik. Und sie bieten schwarze Hexenkessel<br />

an <strong>und</strong> kürbisförmige Kessel mit Henkel, orangefarben<br />

<strong>und</strong> aus P<strong>la</strong>stik.<br />

En<strong>de</strong> Oktober: Indianapolis, <strong>de</strong>r ganze mittlere<br />

Westen, die ganzen Vereinigten Staaten, bereiten<br />

sich auf Halloween vor, die Gespensternacht<br />

vom 31. Oktober auf <strong>de</strong>n 1. November.<br />

Die Regeln <strong>la</strong>uten: Die Darsteller<br />

dürfen Sie nicht berühren, Sie dürfen<br />

die Darsteller nicht berühren. Es wird<br />

kein euerzeug benutzt <strong>und</strong> kein Blitzlicht.<br />

Stecken Sie Wertsachen in die<br />

Tasche, Sie könnten sie verlieren. Wenn<br />

die Darsteller Ihnen raten, etwas zu<br />

tun, gehorchen Sie. Es könnte zu Ihrer<br />

Sicherheit sein o<strong>de</strong>r Teil <strong>de</strong>r Show. Und<br />

wenn Sie erwischt wer<strong>de</strong>n, dass Sie<br />

etwas zerstören, wer<strong>de</strong>n Sie rausgeschmissen.<br />

Die r<strong>ab</strong>iaten Regeln sind<br />

die Benimmregeln in<br />

einem Spukhaus.<br />

<strong>coupée</strong><br />

Ein kalter<br />

Oktober<strong>ab</strong>end ein<br />

paar Tage vor Halloween.<br />

Ich stehe mit Susan <strong>und</strong> ihrer Schwe- ster vor<br />

einem großen viktorianischen Holzhaus. Die Gegend<br />

ist ö<strong>de</strong>: Da gibt es eine Ölstation, da kriegt<br />

man für ein paar Dol<strong>la</strong>r <strong>de</strong>n schnellen Ölwechsel<br />

am Auto, ein »Toys’R’us«-La<strong>de</strong>n, Spielzeug <strong>und</strong><br />

Krempel, Vi<strong>de</strong>ospiele <strong>und</strong> Barbiepuppen.<br />

Nervöses Gekicher.<br />

Das Haunted house steht an <strong>de</strong>r East Washington<br />

Street, eigentlich die Bun<strong>de</strong>sstraße 40, die von<br />

Küste zu Küste geht, quer durch <strong>de</strong>n Kontinent. Wir<br />

stehen Sch<strong>la</strong>nge für <strong>de</strong>n Spuk, kommen <strong>de</strong>m Eingang<br />

immer näher, Susan ist nervös <strong>und</strong> spielt die<br />

Nervöse: Alles Mögliche kann jetzt passieren.<br />

Und dann geht die Tür auf <strong>und</strong> wir sind drin.<br />

Stockdunkel, alles schwarz gestrichen, schwarze<br />

Tücher, schiefe Ebenen, Spinnweben fahren mir<br />

übers Gesicht. Wir sehen nichts, gehen hintereinan<strong>de</strong>r,<br />

auf Tuchfühlung. Schlimmer als Geisterbahn,<br />

weil wir uns <strong>de</strong>n Weg selbst suchen müssen.<br />

Und dann: Spukgestalt, rauenschreie. Aus einer<br />

Ecke springt uns ein Typ an <strong>und</strong> brüllt, hat eine Axt<br />

im <strong>Kopf</strong>, Würmer kr<strong>ab</strong>beln aus seinen Augen. An<br />

<strong>de</strong>r Wand hängt etwas halb Verwestes, das spricht:<br />

Komm zu mir!, hohlstimmig. Brüllen<strong>de</strong> Gespenster<br />

von allen Seiten, wir wissen nicht mehr, wohin wir<br />

uns verkrümeln sollen.<br />

Im Dunkeln tasten wir uns durch schwarze<br />

Vorhänge, Contenance wechselt mit Gänsehaut,<br />

Herzklopfen mit Alles-halb-so-wild-Gedanken. Und<br />

das Massaker. Kettensägen kreischen, rauen<br />

schreien.<br />

Susan liegt zusammengekrümmt an einer<br />

Wand, vor ihr steht einer, hat die Maske eines Eishockey-Torwarts<br />

an <strong>und</strong> fuchtelt mit einer Motorsäge.<br />

An mir, merk ich, sind die Spukgestalten wenig<br />

interessiert, sie spuken hetero.<br />

Es geht treppauf, es geht trepp<strong>ab</strong>, wir müssen<br />

unter Brettern durchkriechen, durch Räume, in<br />

<strong>de</strong>nen Nebel w<strong>ab</strong>ert, durch ein Zimmer voller Bälle,<br />

durch Stroboskoplicht. Ab <strong>und</strong> zu zischen uns<br />

fehlgesch<strong>la</strong>gene genetische Experimente an. In einer<br />

zwielichtigen Ecke steht ein Käfig, darin wuselt<br />

es pelzig: Rats, did you see those rats? (Susan).<br />

Ein paar letzte Schrecken, wir stolpern an die<br />

frische Luft, sind im Hinterhof <strong>de</strong>s Spukhauses,<br />

gehen zwischen aufgestellten schwarzen Brettern,<br />

sehen endlich Ölwechsel, Spielzeug<strong>la</strong><strong>de</strong>n <strong>und</strong> Mc<br />

Donald, <strong>de</strong>n ganz normalen Horror, <strong>ab</strong>er von hinten;<br />

da geht es wie<strong>de</strong>r los, Motorsäge ist uns gefolgt,<br />

jagt Susan, bis sie mit <strong>de</strong>m Rücken an einem<br />

Baum steht <strong>und</strong> nur noch schreit. Doch was soll<br />

<strong>de</strong>r Typ machen, die Säge hat keine Zähne, <strong>de</strong>r<br />

Krach wird auf die Dauer <strong>la</strong>ngweilig, <strong>de</strong>r Schreck<br />

verfliegt, also zurück ins Haus, dort sind sie noch<br />

schreckhaft. Susan <strong>la</strong>cht <strong>und</strong> schwitzt <strong>und</strong> keucht.<br />

Trick-or-Treat:<br />

ein Kin<strong>de</strong>rhilfswerk?<br />

Sechs Leute, Stu<strong>de</strong>nten, arbeiten in <strong>de</strong>m Spukhaus,<br />

erschrecken die spukwilligen Gäste. 800 waren<br />

es am reitag, 1000 am Samstag, 5 Dol<strong>la</strong>r Ein-<br />

Luxemburger Schriftsteller,<br />

geboren 1955<br />

<strong>und</strong> aufgewachsen in<br />

Senningerberg, lebt<br />

in Hamburg, arbeitet<br />

als freier Autor,<br />

Hörfunkjournalist <strong>und</strong><br />

Polizeireporter. 1981<br />

Aufenthaltsstipendium<br />

in Berlin-Wannsee,<br />

1987 ör<strong>de</strong>rstipendium<br />

<strong>de</strong>r Stadt Saarbrükken,<br />

1991 Aufenthaltsstipendium<br />

in<br />

Iowa. Zahlreiche eatures,<br />

Reportagen,<br />

Kritiken für <strong>de</strong>n<br />

unk. Gedichte in<br />

Zeitschriften <strong>und</strong> Anthologien.<br />

Hörspiel:<br />

Infarkt, SR 1985.<br />

Letzte Buchveröffentlichungen:<br />

Elleklöppel, Bruchstücke;<br />

ein Buch über<br />

Senningerberg; éditions<br />

phi, Echternach<br />

1990, DM 28.-, ISBN<br />

3-8886-080-1;<br />

Räuber <strong>und</strong> Gens<br />

d’Armes, Sieben Sachen<br />

für <strong>de</strong>n unk;<br />

gesammelte Reportagen<br />

<strong>und</strong> eatures für <strong>de</strong>n<br />

Saarländischen R<strong>und</strong>funk;<br />

PoCul, Saarbrücken<br />

1993, DM 12.-<br />

ISBN 3-929435-06-3<br />

Bei estival <strong>de</strong> <strong>la</strong><br />

<strong>tête</strong> <strong>coupée</strong> han<strong>de</strong>lt<br />

es sich um die überarbeitete<br />

<strong>und</strong> ergänzte<br />

assung <strong>de</strong>s unkfeatures<br />

Halloween.<br />

<strong>Kürbis</strong> <strong>und</strong> <strong>Kopf</strong> <strong>ab</strong>.<br />

<strong>Chaos</strong> <strong>und</strong> Karneval.<br />

Produktion: SR. Erstsendung:<br />

SR2<br />

1.11.1995.<br />

Zum gleichen Thema<br />

schrieb <strong>Nico</strong> <strong>Graf</strong> in<br />

STRECKENLÆUER 12:<br />

Rüben in Munzen o<strong>de</strong>r:<br />

Halloween in Luxemburg;<br />

eine Reportage<br />

über einheimische Reste<br />

keltischer <strong>Kopf</strong>jägerkulte.<br />

Zuletzt von <strong>Nico</strong> <strong>Graf</strong><br />

im STRECKENLÆUER (in<br />

Nr. 14): ingrid, ein<br />

porno. Eine Reportage<br />

aus Bad Segeberg.<br />

Das oto von K<strong>la</strong>us<br />

Behringer zeigt <strong>Nico</strong><br />

<strong>Graf</strong> bei <strong>de</strong>r Recherche<br />

in einer urkeltischen<br />

Gegend, nämlich<br />

in Otzenhausen.<br />

STRECKENLÆUER NR. 16 SEITE 25


Halloween als asching. Lenen erinnert sich:<br />

Ich lebte mit Mutter <strong>und</strong> Vater auf einem Campingp<strong>la</strong>tz,<br />

<strong>und</strong> je<strong>de</strong>s Jahr zu Halloween g<strong>ab</strong>s einen Wettbewerb<br />

für die Campingp<strong>la</strong>tzgemein<strong>de</strong> in einem Gemeinschaftshaus<br />

im Park. Die Leute klei<strong>de</strong>ten ihre<br />

Kin<strong>de</strong>r in Halloweenkostüme, auch die Erwachsenen<br />

zogen Halloweenkostüme an. Dann g<strong>ab</strong> es Preise: für<br />

das schönste Kostüm, das ein Kind gemacht hatte,<br />

für das schönste Kostüm, das die Eltern gemacht hatten,<br />

für das gruseligste Kostüm, für das lustigste.<br />

Alles selbst gemacht. Man kann ja auch fertige Kostüme<br />

im Kaufhaus erstehen, du befolgst die Gebrauchsanweisung<br />

<strong>und</strong> nichts geht schief.<br />

Ich erinnere mich, meine amilie, meine Großmutter,<br />

meine Tante, mein Vater, alle arbeiteten an<br />

mir <strong>und</strong> meinem Halloweenkostüm. Es sollte was<br />

Großartiges wer<strong>de</strong>n, was können wir diesmal machen,<br />

was können wir kreieren, dass es ein gruseliges<br />

Halloweenkostüm wird. Ich trug immer Makeup,<br />

eine Perücke, falsche Lippen, einmal hatte ich große<br />

Kr<strong>ab</strong>benscheren statt Hän<strong>de</strong>n. Ich sah aus wie ein<br />

Außerirdischer o<strong>de</strong>r ein Astronaut aus <strong>de</strong>r Tiefsee,<br />

aus At<strong>la</strong>ntis o<strong>de</strong>r so. Ich h<strong>ab</strong> drei o<strong>de</strong>r viermal <strong>de</strong>n<br />

Wettbewerb gewonnen in <strong>de</strong>r kurzen Zeit, in <strong>de</strong>r wir<br />

auf <strong>de</strong>m Campingp<strong>la</strong>tz wohnten.<br />

Meine Masken waren keine typisierten Monster,<br />

Vampire o<strong>de</strong>r Kobol<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r le<strong>de</strong>rmäuse. Es war<br />

mehr meine eigene Science-iction, etwas, das ich<br />

aus meinem eigenen <strong>Kopf</strong> herausholte. Das war immer<br />

sehr lustig, die Auswahl <strong>de</strong>r Kostüme, die ganzen<br />

I<strong>de</strong>en.<br />

Halloween als Karneval, ein wenig gruselig.<br />

Und dann war da noch was:<br />

Ich erinnere mich nicht, dass man mir Halloween<br />

erklärt hätte. Es war einfach ein esttag. Die Erklärung,<br />

die man am häufigsten hörte, war: Halloween<br />

ist eine Zeit, um Süßigkeiten zu bekommen. Du gehst<br />

raus, klopfst an die Türen <strong>und</strong> kriegst Candy. Wenn<br />

du ein kleines Kind bist, kann sich <strong>de</strong>in ganzes Leben<br />

um Süßigkeiten drehen <strong>und</strong> du blockst alles an<strong>de</strong>re<br />

<strong>ab</strong>, auch Leute, die dir erklären, was Halloween<br />

wirklich ist.<br />

Das vor allem ist es – schreibt Josef Haslinger<br />

in seinem Buch Das Elend Amerikas – was Halloween<br />

heute be<strong>de</strong>utet: Es ist eine Art eiertag <strong>de</strong>r<br />

amerikanischen Zuckerl- <strong>und</strong> Maskenindustrie –<br />

<strong>und</strong> natürlich <strong>de</strong>r Zahnärzte.<br />

Treat – Genuß, reu<strong>de</strong>, Zuckerl, Süßkram –<br />

nennen die Amerikaner das, was die Heischegänger<br />

bekommen: Bonbons, Schokoriegel, Vampiraugen<br />

aus Kaugummi; rüher g<strong>ab</strong> es Nüsse <strong>und</strong><br />

Äpfel.<br />

Die Treats sind Teil eines Doppelpacks, sie<br />

kommen immer als Trick or treat daher, Zoff o<strong>de</strong>r<br />

Süßes, gibst du mir was sonst kriegste was. Eine<br />

kleine Erpressung: Ich spiel dir einen Streich,<br />

wenn du mir keine Süßigkeiten gibst. Die Kin<strong>de</strong>r<br />

drohen – merkwürdig genug – <strong>de</strong>n Erwachsenen.<br />

Und oft verselbstständigen sich die Tricks. Streiche<br />

wer<strong>de</strong>n gespielt, ob es Süßes gegeben hat o<strong>de</strong>r<br />

nicht. Ein großer Hauptspaß war früher, draußen<br />

das separate Klohäuschen aus Holz umzuschmeitritt,<br />

offen ist <strong>de</strong>n ganzen Oktober hindurch mit<br />

<strong>de</strong>m krönen<strong>de</strong>n Abschluss an Halloween. Ein Privatunternehmen,<br />

das Gewinn macht, davon geht<br />

ein Teil an ein Kin<strong>de</strong>rhilfswerk. Das Horrorhaus ist<br />

ein altes Restaurant, in <strong>de</strong>m es seit drei Jahren<br />

kommerziell spukt.<br />

Jahr für Jahr gibt es 75 dieser Gespensterhäuser<br />

im Großraum Indianapolis, ein Zubrot für ganze<br />

amilien, Studiengeld für junge Leute, Spen<strong>de</strong>nquelle<br />

für Hilfswerke, reiner Gewinn für an<strong>de</strong>re.<br />

Und es gibt auch noch Haunted barns <strong>und</strong><br />

Haunted hayri<strong>de</strong>s, Scheunen, in <strong>de</strong>nen es spukt <strong>und</strong><br />

Ritte durchs Heu. Dort reitet <strong>de</strong>r kopflose Soldat<br />

<strong>und</strong> Wölfe mit Glühaugen heulen die Landbesucher<br />

an.<br />

Ich wohne bei Susan <strong>und</strong> Lenen. Susan arbeitet<br />

in einem Restaurant, Lenen in einem Öko<strong>la</strong><strong>de</strong>n,<br />

gesun<strong>de</strong>s Essen verkauft er, Räucherstäbchen <strong>und</strong><br />

Holzpantoffeln. Susan liebt Bücher über Vampire,<br />

Lenen ist nebenberuflich Musiker in einer Rockband.<br />

Die bei<strong>de</strong>n sind Toblerone-Junkies, ich h<strong>ab</strong><br />

ihnen einen riesigen Riegel mitgebracht. Er hält<br />

drei Tage vor, dann ist das Pf<strong>und</strong> weg.<br />

SEITE 26<br />

STRECKENLÆUER NR. 16


ßen. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Das Haus als Häuschen<br />

– wur<strong>de</strong> zuoberst gekehrt, auf <strong>de</strong>n <strong>Kopf</strong> gestellt<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Eingang zur Unterwelt, zur Er<strong>de</strong>, zur An<strong>de</strong>rswelt,<br />

wur<strong>de</strong> offen gelegt.<br />

Wir h<strong>ab</strong>en alles gemacht, erzählt Lenen, womit<br />

wir durchkamen. Sehr üblich war, einen <strong>Kürbis</strong> zu<br />

k<strong>la</strong>uen <strong>und</strong> ihn auf <strong>de</strong>r Straße zu zerschmettern.<br />

enster einseifen z. B. das war was Schlechtes, <strong>ab</strong>er<br />

nicht so richtig. Man kann das machen <strong>und</strong> sich richtig<br />

als jemand Böses fühlen ohne jeman<strong>de</strong>n zu verletzen.<br />

Die Nachbarn wussten ja immer wer’s gewesen<br />

war. Es war mehr eine Tradition, wir fühlten uns<br />

fast gezwungen, sie fortzuführen. Und dann die Aufregung,<br />

das war so spannend, nachts rumzu<strong>la</strong>ufen,<br />

schwarz geklei<strong>de</strong>t schlichen wir um Autos <strong>und</strong> Häuser<br />

– irgendwo hörst du einen H<strong>und</strong> bellen, jemand<br />

schlägt eine Tür zu o<strong>de</strong>r läuft hinter dir her, du<br />

kriegst einen Adrenalinschub.<br />

NACHRICHT: Minneapolis (ddp). Der<br />

frühere USA-Gewichthebertrainer rank<br />

Pelegri ist jetzt in Morris (Bun<strong>de</strong>sstaat<br />

Minnesota) zu 325 Tagen Haft<br />

verurteilt wor<strong>de</strong>n. Er hatte am vorjährigen<br />

Allerheiligen (1. November) fünf<br />

seiner Athleten bei <strong>de</strong>r Scheinhinrichtung<br />

von zwei schwarzen Mannschaftskamera<strong>de</strong>n<br />

durch Erhängen unterstützt. An<br />

diesem christlichen eiertag kommt es<br />

in <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten alljährlich<br />

zu ausufern<strong>de</strong>n »Scherzen« junger Männer,<br />

jedoch kaum in <strong>de</strong>rartigem Ausmaß.<br />

Der hässlichste Streich, <strong>de</strong>n er je gespielt, berichtet<br />

Lenen, ist ein Dummejungenstreich: Sie h<strong>ab</strong>en<br />

<strong>de</strong>m Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r Universität Eier ins<br />

Sch<strong>la</strong>fzimmerfenster <strong>und</strong> gegen die Haustür geworfen,<br />

sind <strong>la</strong>chend wegge<strong>la</strong>ufen, als jemand<br />

kam.<br />

Susan erzählt: Das ging los in <strong>de</strong>r Schule, wir<br />

schmückten die K<strong>la</strong>ssenräume, eine große Party wur<strong>de</strong><br />

vorbereitet, wir verklei<strong>de</strong>ten uns als Kobol<strong>de</strong> <strong>und</strong><br />

Gespenster, Kostümwettbewerb, wir paradierten<br />

durch die ganze Schule, aßen je<strong>de</strong> Menge Halloweensüßkram,<br />

schnitzten Rübengesichter.<br />

In <strong>de</strong>r Nachbarschaft g<strong>ab</strong> es ein Gemein<strong>de</strong>haus.<br />

Da gingen wir dann hin zu einer Halloweenparty.<br />

Die wollten uns von <strong>de</strong>r Straße runter h<strong>ab</strong>en, weil<br />

von Haus zu Haus gehen <strong>und</strong> Betteln gefährlich ist.<br />

Leute mischen was in die Süßigkeiten o<strong>de</strong>r versuchen,<br />

<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn was anzutun.<br />

Irgendwie ist Halloween die Nacht, in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r<br />

Horrortyp in Amerika unter seinem Stein hervorgekrochen<br />

kommt, wo er sich das ganze Jahr über versteckt<br />

hält, <strong>und</strong> spielt <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Menschen übel<br />

mit, steckt G<strong>la</strong>ssplitter o<strong>de</strong>r Gift in die Süßigkeiten,<br />

o<strong>de</strong>r schießt jeman<strong>de</strong>n über <strong>de</strong>n Haufen. Einem Kind<br />

aus <strong>de</strong>r Nachbarschaft mussten sie <strong>de</strong>n Magen leer<br />

pumpen. Es hatte einen Strohhalm bekommen, <strong>de</strong>r<br />

war gefüllt mit Gift. Sie konnten das Kind gera<strong>de</strong><br />

noch retten. Und da war einer – h<strong>ab</strong> ich gehört – <strong>de</strong>r<br />

steckte G<strong>la</strong>s in Äpfel, die er <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn g<strong>ab</strong>. Aus<br />

irgen<strong>de</strong>inem Gr<strong>und</strong> kommen in <strong>de</strong>r Nacht die Verrückten<br />

heraus <strong>und</strong> verletzen an<strong>de</strong>re. Es gibt ja die<br />

Legen<strong>de</strong>n, was Halloween wirklich ist, dass man sich<br />

verklei<strong>de</strong>t, um die Gespenster, die Untoten zu erschrecken,<br />

sie davon <strong>ab</strong>zuhalten, hinter <strong>de</strong>n Masken<br />

leben<strong>de</strong> Menschen zu erkennen. Maskierte sind unauffällig<br />

unter <strong>de</strong>n Wie<strong>de</strong>rgängern. Das sind so die<br />

Legen<strong>de</strong>n, die man hört. Und dann sehen die Leute<br />

im ernsehen diese blutrünstigen Horrorfilme. Sie<br />

vergessen die Legen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>nken, es sei eine Terrornacht,<br />

sie müssten rausgehen <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Leute<br />

zu To<strong>de</strong> erschrecken. So ist Halloween eben eine Terrornacht,<br />

eine Dämonennacht; die wirklich gemeinen<br />

Leute, die unter uns leben, die kommen raus. Es<br />

ist eine <strong>de</strong>r Nächte mit <strong>de</strong>r höchsten Mordrate im<br />

ganzen Jahr.<br />

Holy Evening<br />

Halloween ist keine amerikanische Erfindung.<br />

Das est kam mit <strong>de</strong>n katholischen Iren nach Nordamerika,<br />

als sie Mitte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts vor<br />

<strong>de</strong>m Hunger über <strong>de</strong>n großen Teich flüchteten.<br />

Halloween, das Wort be<strong>de</strong>utet: Heilig<strong>ab</strong>end, genauer:<br />

<strong>de</strong>r Abend vor Allerheiligen, das christliche<br />

est, das am 1. November gefeiert wird. Der Vor<strong>ab</strong>end<br />

<strong>de</strong>s 1. November war allerdings bereits ein<br />

heiliger Abend, bevor das Christentum sich in Europa<br />

ausbreitete. Am 1. November fing das neue<br />

keltische Jahr an, die Nachtstun<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>m<br />

alten Jahr <strong>und</strong> <strong>de</strong>m neuen waren eine Zwischenzeit,<br />

gehörten nicht mehr richtig zum alten Jahr<br />

<strong>und</strong> noch nicht zum neuen.<br />

Halloween ist eigentlich ein keltisches est,<br />

<strong>und</strong> da wo es am spätesten hinkam – nach Amerika<br />

– da hat es sich am besten gehalten. Am zweitbesten<br />

in Ir<strong>la</strong>nd, wo es herkommt.<br />

Halloween 1993 in Greysteel, einem Dorf in<br />

<strong>de</strong>r Nähe von Derry in Nordir<strong>la</strong>nd. In <strong>de</strong>m Pub<br />

»Rising Sun« wartet eine große Menschenmenge<br />

auf eine Country-and-Western-Band.<br />

Unter <strong>de</strong>n Gästen Karen, 19 Jahre alt, schreibt<br />

die Zeitung »Irish In<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nt«:<br />

Um 10 Uhr tippte ein Mann Karen Thompson<br />

auf die Schulter <strong>und</strong> sagte: Trick<br />

or treat? Karen – sie wollte sich an<br />

Weihnachten mit ihrem re<strong>und</strong> aus Kin<strong>de</strong>stagen,<br />

Stephen, verloben –, Karen<br />

g<strong>ab</strong> zurück: Das ist nicht lustig. Das<br />

waren ihre letzten Worte. Der Mann<br />

antwortete nicht. Statt<strong>de</strong>ssen hob er<br />

sein Gewehr an <strong>und</strong> tötete sie mit <strong>de</strong>r<br />

ersten Salve. Der Schütze <strong>und</strong> seine<br />

Komplize, bei<strong>de</strong> maskiert, leerten dann<br />

ihr automatisches Gewehr <strong>und</strong> ihre<br />

Maschinenpistole in die Menschenmenge<br />

an <strong>de</strong>r Bar. Unter <strong>de</strong>n Getöteten war<br />

Stephen. Die Killer lu<strong>de</strong>n nach <strong>und</strong><br />

feuerten auf die noch Leben<strong>de</strong>n, die<br />

verzweifelt <strong>und</strong> schreiend Schutz suchten.<br />

STRECKENLÆUER NR. 16 SEITE 27


Bi<strong>la</strong>nz: sieben Tote <strong>und</strong> sechs Verletzte. Die Täter<br />

waren protestantische Ulster reedom ighters. Das<br />

Blutbad ging als Trick-or-treat-Massaker in die Geschichte<br />

<strong>de</strong>s nordirischen Bürgerkrieges ein.<br />

Auch in Dublin sind die Kin<strong>de</strong>r unterwegs <strong>und</strong><br />

halten die Hand auf.<br />

Samhain zwischen Licht<br />

<strong>und</strong> Dunkel<br />

Patricia Lysaght ist Dozentin am Institut für<br />

olklore, für Volkskun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Universität Dublin.<br />

Sie ist sch<strong>la</strong>nk, blond, ein herbes, knochiges Gesicht:<br />

sehr keltisch, sagen manche Leute, sehe sie<br />

aus. Sie gibt altirisches, keltisches Wissen an ihre<br />

Stu<strong>de</strong>nten weiter. Halloween ist – erklärt sie – <strong>de</strong>r<br />

christliche Namen <strong>de</strong>s estes, das die Kelten Samhain<br />

nannten.<br />

Samhain war das alte keltische est am Winteranfang.<br />

Nun muss man <strong>ab</strong>er wissen, dass die Kelten<br />

ihre este am Vor<strong>ab</strong>end <strong>de</strong>r este feierten; alle ihre<br />

este waren Grenz-este: Sie führten aus <strong>de</strong>r einen<br />

Saison hinaus <strong>und</strong> in die an<strong>de</strong>re hinein, die Perio<strong>de</strong><br />

dazwischen war sozusagen die Rückkehr zum ursprünglichen<br />

<strong>Chaos</strong>.<br />

Der Vor<strong>ab</strong>end <strong>de</strong>s 1. November, das est auf<br />

<strong>de</strong>r Grenze zum keltischen Neujahr, ein est auf<br />

<strong>de</strong>r Kippe zwischen Sommer <strong>und</strong> Winter, zwischen<br />

Licht <strong>und</strong> Dunkel, eine magische Zwischenzeit:<br />

Während dieser Zeit <strong>de</strong>s Übergangs von einer Jahreszeit<br />

zu <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren fan<strong>de</strong>n auch karnevalähnliche<br />

Veranstaltungen statt. Es war auch die Zeit, während<br />

<strong>de</strong>r das Jenseits erreichbar war, Magie wur<strong>de</strong> ausgeübt,<br />

die Zukunft wur<strong>de</strong> vorausgesagt, das Wetter<br />

etwa o<strong>de</strong>r die wirtschaftlichen Aussichten o<strong>de</strong>r auch<br />

persönliche Dinge für das kommen<strong>de</strong> Jahr.<br />

Alles Wichtige fand am Vor<strong>ab</strong>end von Samhain<br />

statt. In <strong>de</strong>r frühen irischen Literatur lesen wir, dass<br />

<strong>de</strong>r Vor<strong>ab</strong>end von Samhain stark verknüpft ist mit<br />

<strong>de</strong>m Tod. Viele große Hel<strong>de</strong>n starben an Samhain.<br />

In alten Geschichten lesen wir, dass die Männer aus<br />

Ulster nach Sü<strong>de</strong>n zogen, dort feierten <strong>und</strong> dann in<br />

die Irre geführt <strong>und</strong> umgebracht wur<strong>de</strong>n.<br />

Samhain hat irgendwie überlebt bei <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn,<br />

die sich verklei<strong>de</strong>n, Kostüme <strong>und</strong> Masken anziehen<br />

<strong>und</strong> von Haus zu Haus ziehen um einzusammeln,<br />

was früher die rüchte <strong>de</strong>r letzten Ernte waren: Nüsse<br />

<strong>und</strong> Äpfel. Heute bekommen sie immer noch Äpfel<br />

<strong>und</strong> Nüsse, <strong>ab</strong>er sie mögen auch Süßigkeiten <strong>und</strong><br />

Biskuits <strong>und</strong> Geld. Die Älteren machen irgendwo eine<br />

Party mit <strong>de</strong>m Geld.<br />

Samhain war im alten Europa nicht <strong>de</strong>r einzige<br />

esttag am 1. November. Die Römer feierten ein<br />

Erntedankfest am 1. November: das est <strong>de</strong>r Göttin<br />

Pomona. Aus <strong>de</strong>m Wort Pomona leitet sich das<br />

französische <strong>la</strong> pomme, <strong>de</strong>r Apfel, <strong>ab</strong>. Ovid erzählt<br />

in seinen »Metamorphosen« von Pomona. Pomona<br />

ist die Göttin <strong>de</strong>r rüchte <strong>und</strong> sie hat <strong>de</strong>n grünen<br />

Daumen:<br />

Ja, auch <strong>de</strong>n Namen trug sie davon:<br />

nicht Wäl<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Ströme / Liebte sie,<br />

son<strong>de</strong>rn das Land <strong>und</strong> obstüber<strong>la</strong><strong>de</strong>ne<br />

Äste. / Nicht mit <strong>de</strong>m Speer ist die<br />

Hand ihr bewaffnet: Sie trägt die<br />

gekrümmte / Hippe, mit welcher sie bald<br />

die zu üppig wuchern<strong>de</strong>n Zweige / Bändigt<br />

<strong>und</strong> schnei<strong>de</strong>t <strong>und</strong> bald die Rin<strong>de</strong><br />

zerspaltet, ein neues / Reislein aufzupropfen<br />

<strong>und</strong> Säfte <strong>de</strong>m Pflegling zu<br />

spen<strong>de</strong>n. / Dürsten läßt sie die Pf<strong>la</strong>nzen<br />

mitnichten.<br />

Alles schön <strong>und</strong> gut, <strong>ab</strong>er die Pf<strong>la</strong>nzenlieben<strong>de</strong> hat,<br />

schreibt Ovid, »keine Sehnsucht nach Venus«,<br />

Pomona ist prü<strong>de</strong>.<br />

Ihre Gärten schließt sie von innen; sie<br />

mei<strong>de</strong>t <strong>und</strong> wehrt es, / dass Männer ihr<br />

nahen.<br />

Das kann so nicht weitergehen, <strong>und</strong> auf tritt ein<br />

wechselhafter Geselle, ein Gestaltwandler – auch<br />

sein Name ist Programm: Er heißt Vertumnus, <strong>ab</strong>geleitet<br />

von vertere, was drehen, wen<strong>de</strong>n, wechseln<br />

be<strong>de</strong>utet. Er dreht <strong>und</strong> wen<strong>de</strong>t sich, ist mal<br />

Schnitter, mal Winzer, mal Soldat; Erfolg bei <strong>de</strong>r<br />

angebeteten Pomona hat er <strong>ab</strong>er erst – als alte<br />

rau. Er nimmt die Gestalt einer Greisin an, tritt<br />

vor die Geliebte <strong>und</strong> preist <strong>de</strong>n Vertumnus, also<br />

sich selbst, <strong>de</strong>r freudig das Obst begehrt, <strong>und</strong> sie<br />

solle sich doch <strong>de</strong>s Glühen<strong>de</strong>n erbarmen. Rückverwandlung<br />

in <strong>de</strong>n Vertumnus, <strong>de</strong>r strahlt wie die<br />

Sonne – das sind Ovids Worte – <strong>und</strong> sie schmilzt<br />

mal eben vor plötzlicher Liebe dahin. Soweit Ovid.<br />

La saison <strong>de</strong>s pommes-pommes<br />

Nach <strong>de</strong>r Eroberung Galliens durch die Römer<br />

verbin<strong>de</strong>t sich das keltische Neujahrsfest Samhain<br />

mit <strong>de</strong>m römischen Erntedankfest <strong>de</strong>r Pomona.<br />

Und die Zutaten <strong>de</strong>r antiken Geschichte – Obst,<br />

ruchtbarkeit, Erntedank, die wechseln<strong>de</strong>n Jahreszeiten,<br />

das Licht <strong>de</strong>r Sonne, die Voraussage <strong>de</strong>r<br />

Liebe <strong>und</strong> die Liebe – das sind alles wichtige Elemente,<br />

auch noch 2000 Jahre später. An Halloween.<br />

Patricia Lysaght erklärt: An je<strong>de</strong>m keltischen<br />

esttag spielten die rüchte eine große Rolle bei <strong>de</strong>r<br />

eier. An Samhain waren es die rüchte, die es gera<strong>de</strong><br />

g<strong>ab</strong>: Äpfel <strong>und</strong> Nüsse, später Kartoffeln <strong>und</strong><br />

Kohl. Äpfel waren die magischen rüchte <strong>de</strong>s Jenseits.<br />

rauen aus <strong>de</strong>m keltischen Jenseits h<strong>ab</strong>en oft<br />

als Attribut <strong>de</strong>n Apfel, eine sehr wichtige rucht im<br />

alten Ir<strong>la</strong>nd, wie auch die Nüsse. Diese rüchte wur<strong>de</strong>n<br />

benutzt, um die Zukunft vorauszusagen: beim<br />

Apfelschälen zum Beispiel. Das h<strong>ab</strong>e ich als Kind<br />

noch gemacht: Du schälst <strong>de</strong>n Apfel in einer <strong>la</strong>ngen<br />

Spirale, <strong>und</strong> d<strong>ab</strong>ei sagst du das Alph<strong>ab</strong>et auf; wenn<br />

die Schale reißt, fängt <strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>ines Zukünftigen<br />

mit <strong>de</strong>m Buchst<strong>ab</strong>en an, bei <strong>de</strong>m du gera<strong>de</strong> angekommen<br />

bist.<br />

Ähnliches macht man mit Nüssen. Da schreibt<br />

man Initialen drauf, <strong>de</strong>ine <strong>und</strong> die <strong>de</strong>s Auserkorenen.<br />

Die Nüsse wer<strong>de</strong>n an die Hitze <strong>de</strong>s offenen euers<br />

gelegt <strong>und</strong> wenn sie zusammen in <strong>de</strong>r Hitze sprin-<br />

SEITE 28<br />

STRECKENLÆUER NR. 16


gen, wer<strong>de</strong>t ihr bei<strong>de</strong> im Laufe <strong>de</strong>s nächsten Jahres<br />

heiraten.<br />

Eine an<strong>de</strong>re Art <strong>de</strong>r Voraussage ging so: Eine<br />

Reihe Schalen wird aufgestellt. In <strong>de</strong>r einen ist Wasser,<br />

in <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Er<strong>de</strong>, in einer weiteren ein Ring,<br />

<strong>und</strong> ein Stück Holz in <strong>de</strong>r vierten. Man kriegt die<br />

Augen verbun<strong>de</strong>n <strong>und</strong> muss die Hand in eine <strong>de</strong>r<br />

Schalen legen. Legst du die Hand ins Wasser, wan<strong>de</strong>rst<br />

du aus; die Er<strong>de</strong> be<strong>de</strong>utet Tod, du wirst während<br />

<strong>de</strong>s nächsten Jahres begr<strong>ab</strong>en wer<strong>de</strong>n; legst du<br />

die Hand auf <strong>de</strong>n Ring – <strong>de</strong>n wollte natürlich je<strong>de</strong>r<br />

– wirst du heiraten; das Stück Holz verhieß Armut.<br />

Ein an<strong>de</strong>res Spiel hieß: »Bobbing for Apples«. Das<br />

spielten die Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> spielen es heute noch. Man<br />

braucht einen Bottich voller Wasser, da sind Äpfel<br />

drin; du musst <strong>de</strong>n <strong>Kopf</strong> reinstecken <strong>und</strong> in einen<br />

Apfel beißen.<br />

NACHRICHT: Washington. Beim Halloweenfest<br />

wer<strong>de</strong>n die Türeingänge mit ausgehöhlten<br />

<strong>Kürbis</strong>sen geschmückt, die durch<br />

Kerzen erleuchtet wer<strong>de</strong>n. Die Stadt<br />

Keene im US-Bun<strong>de</strong>sstaat New Hampshire<br />

brach am Samstag ihren eigenen Rekord,<br />

in<strong>de</strong>m sie 10.540 <strong>Kürbis</strong>se aufstellte.<br />

Das Guinessbuch hatte die Einwohner von<br />

Keene bisher mit einem Rekord von 4.817<br />

<strong>Kürbis</strong>sen verzeichnet. (afp)<br />

Laterne, Laterne...<br />

Der Halloweenkürbis hat einen irisch-schottischen<br />

Vorläufer, <strong>de</strong>r erdiger <strong>und</strong> knolliger <strong>und</strong> dreckiger<br />

ist: die Rübe. Eine ausgehöhlte Rübe, in die<br />

ein Gesicht geschnitzt ist, <strong>und</strong> innen drin brennt<br />

eine Kerze, das nannten die Iren Jack-o-<strong>la</strong>ntern. So<br />

wer<strong>de</strong>n heute noch die Halloweenkürbisse genannt.<br />

Jack-o-<strong>la</strong>ntern, das ist Jack <strong>und</strong> seine Laterne.<br />

Jack war ein übler Kerl, erzählt die irische Sage:<br />

Er war zu schlecht, um in <strong>de</strong>n Himmel zu kommen,<br />

<strong>ab</strong>er <strong>de</strong>n Teufel hatte er zu Lebzeiten so oft gepiesackt,<br />

dass <strong>de</strong>r Teufel ihn nicht in die Hölle ließ.<br />

Er bekam sein Stück von <strong>de</strong>r Hölle, ein Stück glühen<strong>de</strong><br />

Kohle, <strong>und</strong> mit dieser Privathölle muss er<br />

in alle Ewigkeit auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> umgehen. Ich gehe mit<br />

meiner Laterne <strong>und</strong> meine Laterne mit mir, singen<br />

heute noch die Kin<strong>de</strong>r im Herbst, sie tragen Laternen,<br />

die mal als Sonne, mal als Gesicht, also <strong>Kopf</strong>,<br />

geformt sind. Jack-o-<strong>la</strong>ntern ist ein Wie<strong>de</strong>rgänger,<br />

ein Untoter, ein Zombie, mit einem verräterischen<br />

Licht in <strong>de</strong>r Hand. Jack irrlichtert. Als Synonym<br />

von Jack-o-<strong>la</strong>ntern nennen britische Wörterbücher<br />

das Wort Willo-the-wisp <strong>und</strong> das be<strong>de</strong>utet Irrlicht.<br />

Auch in an<strong>de</strong>ren Sprachen – z. B. auf <strong>de</strong>m Kontinent,<br />

z. B. in Luxemburg bezeichnet ein <strong>und</strong> dasselbe<br />

Wort das Irrlicht wie das Rübenlicht. »Traulicht«<br />

nennen es die Luxemburger. Ein Mann aus<br />

Senningerberg erklärt: Ein Traulicht ist eine ausgehöhlte<br />

Rübe, in <strong>de</strong>r Augen <strong>und</strong> Nase als Löcher herausgeschnitten<br />

sind, <strong>und</strong> innen drin steht eine Kerze,<br />

die brennt, um die Mä<strong>de</strong>ls zu erschrecken.<br />

Der Linguist <strong>und</strong> Volksk<strong>und</strong>ler A<strong>la</strong>in Atten erklärt<br />

das Wort Traulicht: Ist es ein Traulicht, ein<br />

Licht, <strong>de</strong>m man misstraut o<strong>de</strong>r traut – das ist dann<br />

die Volksetymologie dazu – o<strong>de</strong>r ist [es] ein Raulicht,<br />

ein raues Licht, das mit <strong>de</strong>n Raunächten zusammenhängt,<br />

<strong>de</strong>n zwölfen zum Jahresen<strong>de</strong>, vor <strong>de</strong>m Jahresanfang.<br />

Auf je<strong>de</strong>n all ist ein Irrlicht gemeint. Ein<br />

Irrlicht ist – naturwissenschaftlich gesehen – etwas<br />

Phosphoreszieren<strong>de</strong>s, ein Licht, das<br />

man auf Baumstümpfen sieht, die<br />

eventuell feucht sind. Wie das chemikalisch<br />

auseinan<strong>de</strong>rzu<strong>de</strong>finieren ist,<br />

muss ich <strong>de</strong>m Chemisten über<strong>la</strong>ssen,<br />

<strong>ab</strong>er das sieht man <strong>und</strong> das wan<strong>de</strong>rt,<br />

<strong>und</strong> wenn man in <strong>de</strong>n Sumpf gerät,<br />

dann kann man das mit <strong>de</strong>m Leben<br />

büßen in <strong>de</strong>r Nacht. rüher ist man<br />

ja sehr weit ohne Laterne gegangen,<br />

<strong>und</strong> dann hieß es eben diesem Irrlicht<br />

nicht folgen, bzw. man hat diesem<br />

Licht angedichtet, es führe bewusst<br />

irre.<br />

Die Rüben<strong>la</strong>ternen h<strong>ab</strong>en jedoch<br />

eine Schutzfunktion, erzählt<br />

ein Mann aus <strong>de</strong>n luxemburgischen<br />

Ar<strong>de</strong>nnen: rüher, wenn die Leute<br />

im Herbst die Kühe zurück in die<br />

Ställe brachten, h<strong>ab</strong>en sie links <strong>und</strong><br />

rechts von <strong>de</strong>r Stalltür brennen<strong>de</strong><br />

Traulichter hingestellt. Wenn die Kühe<br />

durch die Stalltür zwischen <strong>de</strong>n<br />

Traulichtern hindurchgingen, sollten<br />

sie frei wer<strong>de</strong>n von Krankheiten, <strong>und</strong> die Geister, die<br />

sich während <strong>de</strong>r Sommermonate im Stall gesammelt<br />

hatten, die sollten vertrieben wer<strong>de</strong>n.<br />

Aber – trotz dieser Stallgeschichte – soll man<br />

ihnen vertrauen o<strong>de</strong>r ihnen misstrauen, <strong>de</strong>n Rübenlichtern,<br />

<strong>de</strong>n Traulichtern? Der Volksk<strong>und</strong>ler<br />

Atten vom Kontinent meint: ür das Volk hat es immer<br />

einen Sinn geh<strong>ab</strong>t, wem man trauen soll. Dem<br />

Irrlicht soll man nicht trauen. So <strong>la</strong>g es auf <strong>de</strong>r<br />

Hand, wie die Volksetymologie sich weiter entwickelt<br />

hat: aus <strong>de</strong>m rauen Licht kommt eben ein Traulicht,<br />

ein Licht, <strong>de</strong>m man nicht trauen soll. Und das erscheint<br />

ja auf Kirchhöfen, soll eventuell von ungeborenen<br />

Kin<strong>de</strong>rn stammen o<strong>de</strong>r von Missetätern, die<br />

die Ruhe nicht fin<strong>de</strong>n.<br />

Die ungeborenen Kin<strong>de</strong>r, die vielleicht im Mutterleib<br />

erstickt wur<strong>de</strong>n – man weiß ja eigentlich wenig<br />

über Empfängnisverhütung von früher, es kann auch<br />

von getöteten Kin<strong>de</strong>rn sein, von ungetauften vor allem.<br />

Die sollen auch zu Diebszwecken gut sein; man<br />

muss sich die Hand eines im Mutterleib getöteten<br />

Kin<strong>de</strong>s besorgen o<strong>de</strong>r eines getöteten, ungetauften<br />

Kin<strong>de</strong>s. Dessen Hand zeigt dann Schätze an. Ein Dieb<br />

hat also manchmal so eine Leiche auf <strong>de</strong>m Kirchhof<br />

ausgegr<strong>ab</strong>en – die kamen ja auch in eine beson<strong>de</strong>re<br />

Ecke <strong>de</strong>s Kirchhofs, das waren die Kin<strong>de</strong>r, die in <strong>de</strong>n<br />

Kuckuckshimmel kamen, wie es hieß. Es waren eben<br />

ungetaufte Seelen, man konnte sie nicht in die Hölle<br />

schicken, <strong>ab</strong>er in <strong>de</strong>n Himmel kamen sie auch<br />

STRECKENLÆUER NR. 16 SEITE 29


nicht. Und dann kann es sein, dass dieses Kind ein<br />

Wie<strong>de</strong>rgänger wird, man weiß es nicht, also so hat<br />

man im Volk gedacht.<br />

Wie kommt es nun <strong>ab</strong>er, dass ein Irrlicht vor<br />

Irrlichtern schützen, dass eine gespenstische Laterne<br />

mit groteskem Gesicht Geister <strong>ab</strong>schrecken<br />

kann? Atten meint, das h<strong>ab</strong>e apotropäischen Charakter,<br />

das sei ein Simi<strong>la</strong>rg<strong>la</strong>ube, Unheil vertreibe<br />

Unheil, Gruseliges verjage Gruseliges.<br />

In Luxemburg ist die Tradition <strong>de</strong>r Rübenlichter<br />

so gut wie ausgestorben, <strong>de</strong>nn die Sümpfe sind<br />

ausgetrocknet, es gibt kaum noch Rüben, <strong>und</strong><br />

kaum jemand geht noch nachts zu uß über Land.<br />

Allerdings sterben auch die Dörfer aus, weil die<br />

Bauern ihren Betrieb aufgeben, Schuster <strong>und</strong><br />

Schreiner h<strong>ab</strong>en keine Arbeit mehr, die kleinen<br />

Lebensmittellä<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Einkaufszentren<br />

verdrängt. In dieser Situation h<strong>ab</strong>en die Erwachsenen<br />

in <strong>de</strong>m Ar<strong>de</strong>nner Dorf Munzen die Rübenlichter<br />

wie<strong>de</strong>r ausgepackt. Die Kin<strong>de</strong>r sollen<br />

das lernen <strong>und</strong> nachmachen, was die Erwachsenen<br />

noch konnten. Hintergedanke: Wenn das auf vielen<br />

Ebenen passiert – z.B. bei alten Agrartechniken<br />

– wird das Dorf zu einer Rarität, einem lebendigen<br />

Museum. Die Traulichter, die Rübenlichter<br />

sollen die neuen Wie<strong>de</strong>rgänger, die Touristen, anlocken.<br />

Man nannte die Rübenlichter nicht überall<br />

Traulichter, in manchen Gegen<strong>de</strong>n blieb man bei<br />

<strong>de</strong>r wohl ursprünglichen Wahrheit. Ein Mann aus<br />

<strong>de</strong>m industriellen Sü<strong>de</strong>n Luxemburgs berichtet:<br />

Ich erinnere mich, vor gut 50 Jahren h<strong>ab</strong>en wir als<br />

Kin<strong>de</strong>r auch Traulichter gemacht. Bloß: wir h<strong>ab</strong>en<br />

sie »Totenköpfe« genannt. Es war genau das Gleiche,<br />

die ausgehöhlte Rübe, das Gesicht, die Kerle. Das<br />

sieht ja auch einfach aus wie ein Schä<strong>de</strong>l: das nackte<br />

Gesicht, die Augenhöhlen, <strong>de</strong>r M<strong>und</strong>, nur noch das<br />

Knochengerüst <strong>de</strong>s Schä<strong>de</strong>ls. Wenn wir ein Rübenlicht<br />

schnitzten, sagten wir dazu: wir machen einen<br />

Totenkopf.<br />

Das kennt auch A<strong>la</strong>in Atten, vom Hörensagen<br />

<strong>und</strong> noch naturbe<strong>la</strong>ssener: Das hat man früher<br />

auch mit Totenschä<strong>de</strong>ln gemacht. Ich weiß <strong>de</strong>n Gebrauch<br />

noch aus <strong>de</strong>n Vororten von Luxemburg.<br />

Wenn man solche gefun<strong>de</strong>n hat, hat man eben künstlich<br />

Irrlichter geschaffen, hat die auf die riedhofsmauer<br />

gestellt, das war dann beson<strong>de</strong>rs gruselig. Diesen<br />

Unfug hat man getrieben auf sehr vielen riedhöfen,<br />

wo es ein Beinhaus g<strong>ab</strong>.<br />

Einen sehr handfesten Gebrauch machten die<br />

Kin<strong>de</strong>r im luxemburgischen Sü<strong>de</strong>n von ihren Rübenschä<strong>de</strong>ln;<br />

sie dienten als Wegweiser: Was h<strong>ab</strong>en<br />

wir mit <strong>de</strong>n Totenköpfen gemacht? Wir h<strong>ab</strong>en<br />

nicht die Leute erschreckt. Abends, nach <strong>de</strong>r Schule,<br />

wenn es schon dunkel war im Winter <strong>und</strong> schon<br />

Schnee <strong>la</strong>g, sind wir Schlitten gefahren. Wir hatten<br />

eine Piste, die <strong>la</strong>g zwischen Hecken, mit vielen Kurven<br />

drin. Um <strong>de</strong>n Weg zu fin<strong>de</strong>n – es g<strong>ab</strong> ja noch<br />

keine Straßenbeleuchtung – h<strong>ab</strong>en wir in die Kurven<br />

zwei, drei <strong>de</strong>r Totenköpfe aufgestellt. So hielten<br />

wir die Richtung. Wir sind Schlitten gefahren <strong>und</strong> die<br />

Rübenlichter, die Totenköpfe, waren die Wegbeleuchtung.<br />

In <strong>de</strong>r keltischen Religion war <strong>de</strong>r <strong>Kopf</strong> <strong>de</strong>r Sitz<br />

<strong>de</strong>r Seele. Die Kelten waren <strong>Kopf</strong>jäger, die keltischen<br />

Krieger köpften ihre ein<strong>de</strong> <strong>und</strong> benutzten<br />

sie als Schmuck, berichtet <strong>de</strong>r antike Historiker<br />

Diodorus Siculus: Sie schnei<strong>de</strong>n die Köpfe ihrer im<br />

Kampf ersch<strong>la</strong>genen ein<strong>de</strong> <strong>ab</strong> <strong>und</strong> befestigen sie an<br />

<strong>de</strong>r Mähne ihrer Pfer<strong>de</strong>. Sie reichen ihren Dienern die<br />

blutbefleckten Trophäen <strong>und</strong> führen sie als Kriegsbeute<br />

mit, d<strong>ab</strong>ei brechen sie in Lobpreisungen aus<br />

<strong>und</strong> singen Siegeslie<strong>de</strong>r; <strong>und</strong> sie nageln diese rüchte<br />

<strong>de</strong>s Sieges an ihre Häuser, genau wie es jene tun,<br />

die nach <strong>de</strong>r Jagd die wil<strong>de</strong>n erlegten Tiere zur Schau<br />

stellen. Die Köpfe ganz berühmter ein<strong>de</strong> balsamieren<br />

sie mit Ze<strong>de</strong>rnöl <strong>und</strong> bewahren sie in einer Truhe<br />

auf. Sie zeigen sie ihren Gästen.<br />

Bis in die Wortwahl hinein ist bei <strong>de</strong>m antiken<br />

griechischen Geografen Str<strong>ab</strong>o das Gleiche zu lesen,<br />

dass sie die Köpfe <strong>de</strong>r ein<strong>de</strong> am Pferd befestigen,<br />

dass sie die Trophäen am Eingang <strong>de</strong>s Hauses<br />

festnageln, dass sie die wertvollsten in Ze<strong>de</strong>rnöl<br />

einbalsamieren <strong>und</strong> damit angeben. Interessant<br />

nur: Str<strong>ab</strong>o schreibt explizit gegen die Gallier,<br />

nennt sie dumm <strong>und</strong> barbarisch, ein Stück eindpropaganda.<br />

Auch Titus Livius beschreibt in seiner Geschichte<br />

Roms <strong>de</strong>n <strong>Kopf</strong>kult <strong>de</strong>r Gallier. Nach<strong>de</strong>m<br />

diese – mit einer reichlich magisch anmuten<strong>de</strong>n<br />

Taktik (angesägte Bäume, die auf zwei(!) Legionen<br />

Römer fallen, Panik, Nie<strong>de</strong>r<strong>la</strong>ge) – die Soldaten<br />

<strong>de</strong>s Lucius Postumius besiegt hatten, fiel auch<br />

<strong>de</strong>r tapfer gegen die Gefangennahme kämpfen<strong>de</strong> Postumius.<br />

Stücke von seinem Körper <strong>und</strong> <strong>de</strong>r <strong>ab</strong>geschnittene<br />

<strong>Kopf</strong> <strong>de</strong>s Generals wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Galliern<br />

nach Hause in <strong>de</strong>n Tempel getragen, <strong>de</strong>n sie am<br />

meisten verehren. Nach<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>l gereinigt<br />

hatten, verzierten sie ihn mit Gold, wie es ihre Sitte<br />

ist. Und er diente ihnen als heiliges Gefäß für Getränkeopfer<br />

an die Götter sowie als Trinkgefäß für die<br />

Priester <strong>und</strong> die Tempeldiener. (Ab urbe condita,<br />

XXIII, 24)<br />

Der Schä<strong>de</strong>l also als Gefäß für heilige Getränke.<br />

Und <strong>de</strong>r Schluck aus <strong>de</strong>m Schä<strong>de</strong>l heißt Schä<strong>de</strong>ltrunk.<br />

Hier gerät man unversehens in Gefil<strong>de</strong>,<br />

wo einem Angst <strong>und</strong> Bange wer<strong>de</strong>n kann. Denn es<br />

geht gera<strong>de</strong>wegs auf die Gralslegen<strong>de</strong> zu. Der Gral<br />

gilt gemeinhin – <strong>und</strong> christlich – als <strong>de</strong>r Kelch, in<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>s gekreuzigten Christi Blut aufgefangen<br />

wur<strong>de</strong>. Das ist ein forsche Übernahme eines weiteren<br />

keltischen Motives, das nicht aus <strong>de</strong>r Welt zu<br />

kriegen war.<br />

Gastmahl <strong>de</strong>s <strong>Kopf</strong>es<br />

Ein Gral, <strong>la</strong>t. gradalis, ist nichts an<strong>de</strong>res als ein<br />

Teller, ein P<strong>la</strong>tte zum Auftragen von isch. Weil<br />

<strong>ab</strong>er darauf etwas liegt, weil <strong>de</strong>r Teller funkelt,<br />

bekam er je<strong>de</strong> Menge mythochristliche Be<strong>de</strong>utungen<br />

angeheftet. Und was liegt eigentlich darauf?<br />

SEITE 30<br />

STRECKENLÆUER NR. 16


Ein <strong>ab</strong>gesch<strong>la</strong>gener blutiger <strong>Kopf</strong>.<br />

Im walisischen Peredur, einem Parzifal-Nebeno<strong>de</strong>r<br />

Vorläufer, wird in <strong>de</strong>r großen Gralsszene ein<br />

Teller hereingetragen, auf <strong>de</strong>m ein <strong>Kopf</strong> liegt. Peredur<br />

ist eine Rachegeschichte – <strong>de</strong>r König ist am<br />

Bein (lies: Genitalien) verletzt, sein Land darbt<br />

<strong>de</strong>swegen, er muss gerächt wer<strong>de</strong>n. Rache führt<br />

über <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s ein<strong>de</strong>s, das be<strong>de</strong>utet <strong>de</strong>r bluten<strong>de</strong><br />

<strong>Kopf</strong>. Der also zwei<strong>de</strong>utig ist: für <strong>de</strong>n Geköpften<br />

ein unschöner Zustand, für <strong>de</strong>n Gerächten<br />

Satisfaktion, Reichtum, blühen<strong>de</strong> Landschaften,<br />

Potenz, ruchtbarkeit.<br />

Ein walisischer Text altkeltischen Ursprungs<br />

belegt dies beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich. Im zweiten <strong>de</strong>r vier<br />

Zweige <strong>de</strong>s Mobinogion muss <strong>de</strong>r Riese Bendigeidfran<br />

seine Schwester rächen. Er wird im Kampf<br />

verletzt, am uß (lies: Genital) <strong>und</strong> muss sterben.<br />

Da befiehlt er seinen überleben<strong>de</strong>n Kamera<strong>de</strong>n,<br />

dass man ihm das Haupt <strong>ab</strong>sch<strong>la</strong>ge.<br />

(...) Und ihr wer<strong>de</strong>t eine <strong>la</strong>nge Zeit<br />

unterwegs sein. In Hard<strong>de</strong>lech wer<strong>de</strong>t<br />

ihr sieben Jahre <strong>la</strong>ng festlich tafeln,<br />

<strong>und</strong> die Vögel Rhiannons wer<strong>de</strong>n für euch<br />

singen. Und das Haupt wird euch so gute<br />

Gesellschaft leisten, wie es das tat,<br />

als es noch auf meinen Schultern saß.<br />

Man nennt das, was folgt, das Gastmahl <strong>de</strong>s <strong>Kopf</strong>es,<br />

Saus <strong>und</strong> Braus, Speis <strong>und</strong> Trank <strong>und</strong> Gesang,<br />

sieben Jahre <strong>la</strong>ng <strong>und</strong> dann noch einmal achtzig<br />

Jahre <strong>la</strong>ng.<br />

Und wegen <strong>de</strong>r achtzig Jahre nannte man<br />

dies die Versammlung <strong>de</strong>s erh<strong>ab</strong>enen<br />

Hauptes.<br />

Dazu eine Parallele: In vielen – christlichen –<br />

Gralstexten erschafft <strong>de</strong>r – jetzt heilige – Gral ein<br />

Sch<strong>la</strong>raffen<strong>la</strong>nd, ein ast-ood-Restaurant, die<br />

Gralsritter sitzen an Tischen, die sich vor Speisen<br />

biegen, eine Erinnerung an <strong>de</strong>n keltischen <strong>Kopf</strong>kult.<br />

Archäologische un<strong>de</strong> bestätigen die Literatur.<br />

Die Kelten waren <strong>Kopf</strong>jäger, nagelten die Köpfe<br />

<strong>de</strong>r ein<strong>de</strong> an Türen <strong>und</strong> setzten sie in Säulennischen.<br />

Zum Beispiel in Entremont, Provence, einem<br />

befestigten Ort. Da weiß dann <strong>de</strong>r Michelinführer:<br />

Zwischen zwei Türmen <strong>de</strong>r Nordmauer stand<br />

eine Art Portikus – vermutlich ein öffentliches Gebäu<strong>de</strong>,<br />

in <strong>de</strong>m die Schä<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r besiegten ein<strong>de</strong> ausgestellt<br />

wur<strong>de</strong>n. Und im Museum in Aix-en-Provence<br />

gibt es ganze Trauben von <strong>ab</strong>geschnittenen Köpfen<br />

zu bewun<strong>de</strong>rn, Skulpturen aus Stein <strong>und</strong> eine<br />

Säule mit stilisierten Schä<strong>de</strong>ln, alle aus keltoligurischer<br />

Zeit.<br />

Eine wichtige Rolle spielt in <strong>de</strong>r Bendigeidfran-<br />

Geschichte noch ein Kessel. In <strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n die toten<br />

Krieger reingesteckt, sie leben <strong>und</strong> kämpfen<br />

weiter, bloß: Sie können nicht mehr re<strong>de</strong>n, ein<br />

Zeichen, dass sie magisch behan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n sind.<br />

Kessel <strong>und</strong> <strong>Kopf</strong> h<strong>ab</strong>en gemeinsam, dass sie ein<br />

Gefäß sind, man kann aus bei<strong>de</strong>n trinken, bei<strong>de</strong><br />

bringen ewiges o<strong>de</strong>r halbwegs ewiges Leben, sie<br />

sind nichts an<strong>de</strong>res als Versprechen von guten Ernten,<br />

ruchtbarkeit, Wun<strong>de</strong>rhörner, horn of plenty.<br />

Cornucopia.<br />

Mein kleiner Halloween-P<strong>la</strong>stikschä<strong>de</strong>l, ma<strong>de</strong><br />

in China, hat eine <strong>la</strong>nge blutige Heilsgeschichte.<br />

In <strong>de</strong>n USA, <strong>ab</strong>er auch Ir<strong>la</strong>nd können die Kin<strong>de</strong>r<br />

sich <strong>Kürbis</strong>se aus P<strong>la</strong>stik kaufen <strong>und</strong> Kessel aus<br />

P<strong>la</strong>stik. Bei<strong>de</strong> Behälter dienen dazu, <strong>de</strong>n eingesammelten<br />

Süßkram, Candy, reinzuwerfen. Die heutigen<br />

üllhörner sind aus P<strong>la</strong>stik <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n mit<br />

Junkfood gefüllt.<br />

Halloween: <strong>de</strong>r letzte sehr lebendige Rest <strong>de</strong>r<br />

Gralslegen<strong>de</strong>, <strong>de</strong>s keltischen <strong>Kopf</strong>kultes. estival<br />

<strong>de</strong> <strong>la</strong> <strong>tête</strong> <strong>coupée</strong>.<br />

Trick <strong>und</strong> Treat fallen zusammen, Horror <strong>und</strong><br />

Heil sind eins. Die Mexikaner, <strong>ab</strong>er dies nur als<br />

An<strong>de</strong>utung am Ran<strong>de</strong>, treiben die Synthese am<br />

weitesten: Dort wird die Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>de</strong>s <strong>Kopf</strong>es<br />

dargestellt als <strong>de</strong>r zu essen<strong>de</strong> Schä<strong>de</strong>l, Köpfe<br />

aus Zucker wer<strong>de</strong>n verspeist; die amilien schlemmen<br />

auf <strong>de</strong>n Gräbern ihrer Toten. An Allerheiligen.<br />

Rübenlichter <strong>und</strong> <strong>Kürbis</strong><strong>la</strong>ternen sind <strong>ab</strong>geschnittene<br />

Köpfe. Aber erleuchtete. Der <strong>Kürbis</strong>, <strong>de</strong>r<br />

von innen heraus leuchtet, sieht aus wie ein rot<br />

glühen<strong>de</strong>r Kessel auf <strong>de</strong>m euer.<br />

Es gibt die Geschichten in <strong>de</strong>r keltischen Literatur,<br />

wo Riesen in Metallhäusern, also Menschen<br />

in Kesseln, verbrannt wer<strong>de</strong>n sollen. Die Geschichten<br />

en<strong>de</strong>n mit Befreiung, also Wie<strong>de</strong>rgeburt.<br />

Unsere Vorfahren: <strong>Kopf</strong>jäger<br />

Das ganze gallische Volk,<br />

schreibt Cäsar in seinem Gallischen Krieg,<br />

ist sehr fromm. Wenn daher jemand<br />

schwer erkrankt o<strong>de</strong>r Kämpfen <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren<br />

Gefahren ausgesetzt ist, so bringt<br />

er unter Mitwirken <strong>de</strong>r Drui<strong>de</strong>n ein<br />

Menschenopfer dar o<strong>de</strong>r gelobt es. Man<br />

ist nämlich <strong>de</strong>r Ansicht, die unsterblichen<br />

Götter seien nur dadurch zu versöhnen,<br />

dass man für ein Menschenleben<br />

ein an<strong>de</strong>res opfert. Auch von Staats<br />

wegen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>rgleichen Opfer regelmäßig<br />

veranstaltet. An<strong>de</strong>re Stämme kennen<br />

ungeheuer große Götzenbil<strong>de</strong>r aus Wei<strong>de</strong>ngeflecht,<br />

in die man leben<strong>de</strong> Menschen<br />

steckt. Dann zün<strong>de</strong>t man sie von<br />

unten an, <strong>und</strong> die Menschen kommen in<br />

<strong>de</strong>n <strong>la</strong>mmen um. Wie man g<strong>la</strong>ubt, sind<br />

die bei Diebstahl, Raub o<strong>de</strong>r sonst<br />

einem Vergehen Ertappten <strong>de</strong>n unsterblichen<br />

Göttern als Opfer am willkommensten.<br />

ehlt es <strong>ab</strong>er an solchen Leuten,<br />

so entschließt man sich auch zur Opferung<br />

Unschuldiger.<br />

STRECKENLÆUER NR. 16 SEITE 31


Rechte Seite: Im Museum<br />

in Aix-en-Provence:<br />

ganze Trauben<br />

von <strong>ab</strong>geschnittenen<br />

Köpfen aus Entremont,<br />

kelto-ligurische<br />

Skulpturen aus Stein.<br />

Sie stammen aus einem<br />

keltischen Heiligtum<br />

in einem Oppidum, das<br />

die Römer vollständig<br />

zerstörten <strong>und</strong> wo sie<br />

nie wie<strong>de</strong>r eine Ansiedlung<br />

<strong>de</strong>r Urbevölkerung<br />

er<strong>la</strong>ubten.<br />

Manche Köpfe tragen<br />

die schwere Hand <strong>de</strong>s<br />

Siegers auf <strong>de</strong>m<br />

Scheitel.<br />

In eine Säule (unten<br />

links, oben rechts)<br />

sind stilisierte<br />

Schä<strong>de</strong>l eingegr<strong>ab</strong>en,<br />

ohne M<strong>und</strong>, also tot.<br />

Was Cäsar über die Kelten berichtet, ist eindpropaganda;<br />

er macht die Gallier schlecht, das<br />

rechtfertigt die Eroberung ihrer Län<strong>de</strong>r. Bloß:<br />

Cäsar – o<strong>de</strong>r vielmehr sein Ghostwriter – hat nur<br />

bei an<strong>de</strong>ren Autoren <strong>ab</strong>geschrieben, was die über<br />

die Kelten erzählten – es passte ihm gut in <strong>de</strong>n<br />

politischen Kram. Alle – antike Autoren wie heutige<br />

Archäologen <strong>und</strong> Historiker – sind sich einig:<br />

Die Kelten waren <strong>Kopf</strong>jäger <strong>und</strong> brachten Menschenopfer<br />

dar: Sie verbrannten Menschen in großen<br />

euern.<br />

Von all <strong>de</strong>m Verfeuern gibt es Reste in heutigen<br />

Kulturen: etwa das Verbrennen von riesigen<br />

iguren mit ausgebreiteten Armen; die Bonfires –<br />

die reu<strong>de</strong>nfeuer – an Halloween <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren<br />

esttagen in Großbritannien <strong>und</strong> in Ir<strong>la</strong>nd; die<br />

Brän<strong>de</strong>, die an Halloween in Detroit gelegt wer<strong>de</strong>n.<br />

Zurück zu <strong>de</strong>n Köpfen: Auch die Römer machten<br />

kein spitzes Mündchen, wenn es ums Decapitieren<br />

ging: Cäsar, im Gallischen Krieg, berichtet<br />

von seinem Unterfeldherrn L<strong>ab</strong>ienus, <strong>de</strong>r immer<br />

von <strong>de</strong>m Treverer Indutiomarus geärgert wird; die<br />

Truppen <strong>de</strong>s L<strong>ab</strong>ienus machen einen Ausfall, einziges<br />

Ziel: unter all <strong>de</strong>n Galliern <strong>de</strong>n Chef zu erwischen.<br />

Das Glück erwies <strong>de</strong>n P<strong>la</strong>n <strong>de</strong>s römischen<br />

eldherrn als gut <strong>und</strong> zweckmäßig, <strong>de</strong>nn<br />

da alle nur <strong>de</strong>s einen ein<strong>de</strong>s h<strong>ab</strong>haft<br />

zu wer<strong>de</strong>n versuchten, konnte er in <strong>de</strong>r<br />

urt eines lusses gera<strong>de</strong> noch gestellt<br />

wer<strong>de</strong>n. Indutiomarus wird nie<strong>de</strong>rgehauen<br />

<strong>und</strong> sein Haupt in das Lager gebracht.<br />

(...) Nach diesem Ereignis bekam Cäsar<br />

etwas mehr Ruhe in Gallien.<br />

Ich halte dies für eine magische gallisch-keltischrömische<br />

Geschichte. Denn L<strong>ab</strong>ienus – schreibt<br />

Cäsar – hatte gallische Verbün<strong>de</strong>te; die waren es<br />

wahrscheinlich, die <strong>de</strong>n Trierer Indutiomarus<br />

köpften, an magischem Ort: einer urt, da<br />

wird in keltischen Texten immer viel gezaubert<br />

<strong>und</strong> geköpft. Wie auch immer: Cäsar<br />

hatte etwas mehr Ruhe.<br />

Köpfe, Köpfe, <strong>ab</strong>er wo sind die dazugehörigen<br />

Körper?<br />

In Amerika zumin<strong>de</strong>st gibt es dazu eine<br />

Geschichte, die je<strong>de</strong>s Schulkind liest <strong>und</strong> je<strong>de</strong>r<br />

Erwachsene noch kennt: The legend of<br />

Sleepy Hollow, aus <strong>de</strong>m Jahr 1819, von Washington<br />

Irving, besser bekannt als die Geschichte<br />

vom Reiter ohne <strong>Kopf</strong>, d i e Halloweengeschichte<br />

überhaupt. In einer idyllischen<br />

Gegend am luß Hudson soll es spuken:<br />

Ein hessischer Soldat, <strong>de</strong>n eine Kanonenkugel<br />

enthauptet hat, soll nachts auf seinem<br />

Pferd umherirren. In dieser Gegend – es ist<br />

auch noch Herbst <strong>und</strong> Erntedankzeit – verliebt<br />

sich <strong>de</strong>r <strong>ab</strong>ergläubische Lehrer namens<br />

Ich<strong>ab</strong>od Crane in seine schönste <strong>und</strong> reichste<br />

Schülerin. Er will um ihre Hand anhalten. Die<br />

Schöne <strong>ab</strong>er läßt Ich<strong>ab</strong>od <strong>ab</strong>blitzen, <strong>de</strong>nn sie<br />

liebt einen an<strong>de</strong>ren. Damit wäre eigentlich alles<br />

geklärt, <strong>und</strong> doch beginnt die Geschichte erst hier,<br />

<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Nebenbuhler <strong>de</strong>s Lehrers erschrickt <strong>de</strong>n<br />

traurig nach Hause reiten<strong>de</strong>n Ich<strong>ab</strong>od fast zu To<strong>de</strong>:<br />

Er erscheint ihm als Gespenst auf einem Pferd;<br />

d<strong>ab</strong>ei hat er ein Laken übergestülpt <strong>und</strong> hält seinen<br />

<strong>Kopf</strong> in <strong>de</strong>r Hand. Er verfolgt <strong>de</strong>n Lehrer, ein<br />

wil<strong>de</strong>r Ritt, ein <strong>Kopf</strong>-an-<strong>Kopf</strong>-Rennen, bis zum<br />

Showdown:<br />

Ich<strong>ab</strong>od warf einen Blick nach hinten,<br />

vielleicht wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verfolger ja in<br />

einem Blitz von euer <strong>und</strong> Schwefel<br />

verschwin<strong>de</strong>n. Aber in genau <strong>de</strong>m Augenblick<br />

sah er, wie <strong>de</strong>r gespenstische<br />

Reiter sich in <strong>de</strong>n Steigbügeln<br />

aufstellte <strong>und</strong> seinen <strong>Kopf</strong> nach ihm<br />

schleu<strong>de</strong>rte. Ich<strong>ab</strong>od versuchte, <strong>de</strong>m<br />

schrecklichen Geschoss auszuweichen,<br />

<strong>ab</strong>er zu spät. Es traf seinen Schä<strong>de</strong>l<br />

mit einem riesigen Krach, er stürzte<br />

kopfüber in <strong>de</strong>n Staub, <strong>und</strong> sein Pferd<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r gespenstische Reiter galoppierten<br />

vorbei <strong>und</strong> davon wie ein Wirbelwind.<br />

Am an<strong>de</strong>ren Morgen fin<strong>de</strong>t man nur noch <strong>de</strong>n Hut<br />

<strong>de</strong>s Lehrers <strong>und</strong> daneben einen zerschmetterten<br />

<strong>Kürbis</strong>; das Gespenst heiratet die reiche Bauerntochter.<br />

NACHRICHT: Washington. afp: Bei <strong>de</strong>n<br />

traditionellen Halloween-eiern in <strong>de</strong>n<br />

USA sind am Wochenen<strong>de</strong> zwei Kin<strong>de</strong>r<br />

getötet wor<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Teufelsnacht in<br />

Detroit wur<strong>de</strong>n Brän<strong>de</strong> in leer stehen<strong>de</strong>n<br />

Häusern <strong>und</strong> in <strong>de</strong>n Straßen gelegt.<br />

D<strong>ab</strong>ei starb ein Kind an Rauchvergiftung,<br />

vier weitere Menschen wur<strong>de</strong>n<br />

verletzt. Die »Teufelsnacht«, ein<br />

Maskenumzug von Hexen, Teufeln <strong>und</strong><br />

Gespenstern, bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Auftakt <strong>de</strong>s<br />

Halloweenfestes. Bei <strong>de</strong>n Vorbereitungen<br />

zum est erstach in New York ein Mann<br />

einen 12-jährigen Jungen, weil er mit<br />

seinen Kamera<strong>de</strong>n Eier auf Passanten<br />

geworfen hatte.<br />

Die irische Volksk<strong>und</strong>lerin Patricia Lysaght<br />

weiß, warum das alles passiert: An Samhain fielen<br />

alle Schranken zwischen dieser Welt <strong>und</strong> <strong>de</strong>m keltischen<br />

Jenseits, <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>rwelt. Die Leute hoben z. B.<br />

Nachbars Haustore aus <strong>de</strong>n Angeln. Die Tradition<br />

er<strong>la</strong>ubte diese Übergriffe auf an<strong>de</strong>rer Leute Besitz.<br />

Man legte z. B. Steine auf <strong>de</strong>n Schornstein, um die<br />

Bewohner aus <strong>de</strong>m Haus herauszuräuchern. Die<br />

Grenzen wur<strong>de</strong>n also geöffnet, Symbol für die offenen<br />

Grenzen zwischen Diesseits <strong>und</strong> Jenseits. Es<br />

wur<strong>de</strong>n auch Rüben<strong>la</strong>ternen auf <strong>de</strong>n Kaminsims gestellt.<br />

Kohlstrünke wur<strong>de</strong>n herausgerissen <strong>und</strong> an die<br />

assa<strong>de</strong>n geworfen. Die Tradition billigte diese Taten<br />

an Samhain, wo die Linien zwischen <strong>de</strong>n Welten<br />

nicht mehr <strong>de</strong>utlich waren. Dieses <strong>Chaos</strong>element ist<br />

sehr <strong>de</strong>utlich, heutzutage <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r alten Literatur.<br />

SEITE 32<br />

STRECKENLÆUER NR. 16


STRECKENLÆUER NR. 16 SEITE 33


Das ist das Eigentümliche an diesem An<strong>de</strong>rweltfest.<br />

Die Tradition sanktionierte das <strong>Chaos</strong> in Bezug auf<br />

die Nachbarn, auf das eigene Leben, wenn die An<strong>de</strong>rwelt<br />

an die Oberfläche, in die Menschenwelt, kam.<br />

Das <strong>Chaos</strong> war natürlich begrenzt auf <strong>de</strong>n Vor<strong>ab</strong>end<br />

von Samhain, es ging bis zum Tagesanbruch, dann<br />

wars vorbei. Das <strong>Chaos</strong> war also für eine genau begrenzte<br />

kurze Zeit er<strong>la</strong>ubt. Aber es war nur so eine<br />

Art <strong>Chaos</strong>, es war <strong>de</strong>r Tod, es war die An<strong>de</strong>rwelt, das<br />

Jenseits, das übergriff auf die Menschenwelt, <strong>und</strong> was<br />

die Menschen machten, stellte all dies dar.<br />

Trickreiche Kin<strong>de</strong>ropfer<br />

rancis Rodgers, 35 Jahre alt, war Zeremonienmeister.<br />

Er war es, <strong>de</strong>r das alljährliche große<br />

Halloween-reu<strong>de</strong>nfeuer für die Kin<strong>de</strong>r aus seiner<br />

Nachbarschaft in Dublin organisierte. Holz sammeln,<br />

aufschichten, anzün<strong>de</strong>n, auf die Kin<strong>de</strong>r mit<br />

ihren Krachern <strong>und</strong> Böllern aufpassen. rancis<br />

Rodgers, berichtet die »Irish In<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nt«, ist tot.<br />

NACHRICHT: Dublin. Die 9 Jahre alte<br />

Janet musste mit ansehen, wie ihr Vater<br />

an Halloween bei einem reu<strong>de</strong>nfeuer<br />

erschossen wur<strong>de</strong>. Hintergr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Tat:<br />

Drogengeschäfte. Zeugen sagten aus, <strong>de</strong>r<br />

Angreifer sei in <strong>de</strong>m Brach<strong>la</strong>nd zwischen<br />

<strong>de</strong>n Häusern ruhig auf rancis Rodgers<br />

zugegangen, <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> mit 20 Kin<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>n Holzstoß anzün<strong>de</strong>n wollte. Rodgers<br />

sagte noch: Bitte nicht vor <strong>de</strong>m Kind.<br />

Der Killer stieß das Kind zur Seite,<br />

schoß Rodgers zweimal ins Bein, <strong>de</strong>r<br />

fiel zu Bo<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Mann schoß ihm<br />

in <strong>de</strong>n <strong>Kopf</strong>. Dann lief er zu einem<br />

luchtauto, das vor <strong>de</strong>m »Bonny-and-<br />

Cly<strong>de</strong>«-Pub an <strong>de</strong>r nächsten<br />

Straßenecke wartete.<br />

Eine Episo<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m Drogenkrieg in<br />

Dublin. Es geht um Heroin <strong>und</strong> viel,<br />

viel Geld. Halloween horror of drugs<br />

killing resümierte eine Zeitung, Bonfire<br />

of <strong>de</strong>ath, reu<strong>de</strong>nfeuer <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s,<br />

<strong>la</strong>utete die Sch<strong>la</strong>gzeile.<br />

Bei <strong>de</strong>n Kelten fan<strong>de</strong>n diese Rituale<br />

nicht nur, <strong>ab</strong>er immer auch an Samhain<br />

statt. Ritueller Königsmord –<br />

schreibt <strong>de</strong>r Mythologe Ward Rutherford<br />

– ist <strong>de</strong>r tiefe Sinn <strong>de</strong>r altirischen<br />

Geschichten, in <strong>de</strong>nen an Samhain die<br />

Hel<strong>de</strong>n ermor<strong>de</strong>t, geköpft wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> manchmal mit brennen<strong>de</strong>n Herbergen<br />

in <strong>la</strong>mmen aufgehen.<br />

Und da ist noch mehr Grausiges:<br />

Dem Gott <strong>de</strong>r Unterweltssonne <strong>und</strong><br />

Totengott <strong>de</strong>r Kelten, Cromm Cruach,<br />

wur<strong>de</strong> am Samhain-est das Opfer <strong>de</strong>r<br />

Erstgeborenen gebracht, <strong>de</strong>nn die<br />

Mächte <strong>de</strong>r Unterwelt verleihen ruchtbarkeit<br />

<strong>und</strong> müssen <strong>de</strong>shalb mit <strong>de</strong>n<br />

»besten rüchten« <strong>de</strong>s Ackers, <strong>de</strong>r Viehher<strong>de</strong>n <strong>und</strong> sogar<br />

<strong>de</strong>r Menschenkin<strong>de</strong>r beschenkt wer<strong>de</strong>n. In Jahren<br />

<strong>de</strong>r Missernte sollen ihm bis zu zwei Drittel aller<br />

Erstgeborenen geopfert wor<strong>de</strong>n sein, resümiert<br />

die Religionswissenschaftlerin Ingeborg C<strong>la</strong>rus ein<br />

Gedicht aus <strong>de</strong>m Book of Leister. Was sie nicht<br />

sagt: Die Geschichte von Cromm Cruach ist von<br />

einem Christen geschrieben, soll die alten Hei<strong>de</strong>n<br />

schlecht machen, eindpropaganda auch hier.<br />

Denn – so die Sage – <strong>de</strong>r Heilige Patrick, Ir<strong>la</strong>nds<br />

Nationalheiliger, hat das steinerne Götzenbild <strong>de</strong>s<br />

Cromm Cruach im County Cavan zerstört.<br />

Ein Kin<strong>de</strong>ropfer als Gr<strong>und</strong> für spätere Geschenke?<br />

Rituelle Wie<strong>de</strong>rgutmachung für schreckliche<br />

Rituale aus <strong>de</strong>r Vergangenheit?<br />

Ich kenne min<strong>de</strong>stens zwei halbwegs religiöse<br />

Traditionen mit ähnlicher Struktur: In <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />

wur<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r umgebracht, <strong>und</strong> Jahrhun<strong>de</strong>rte<br />

später – heute – wer<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r zu dieser Gelegenheit<br />

beschenkt.<br />

Die eine ist <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rmord in Bethlehem <strong>und</strong><br />

die Geschenke unterm Weihnachtsbaum.<br />

Die an<strong>de</strong>re: Eine Sage erzählt von drei kleinen<br />

Jungen, die sich ver<strong>la</strong>ufen hatten. Ein böser Metzger<br />

sch<strong>la</strong>chtete sie, machte aus ihnen leisch in<br />

Aspik. Und servierte einem vorbeikommen<strong>de</strong>n Bischof<br />

diese Spezialität. Der Bischof – Niko<strong>la</strong>us –<br />

erkennt die Kin<strong>de</strong>r im Aspik <strong>und</strong> das Wun<strong>de</strong>r geschieht:<br />

Er zieht die Buben lebend aus <strong>de</strong>m<br />

Sch<strong>la</strong>chterbottich heraus.<br />

Sch<strong>la</strong>chterbottich gleich ritueller Wie<strong>de</strong>rgeburtskessel?<br />

Ich <strong>de</strong>nke, ja. Die Geschichte <strong>de</strong>r zerstückelten<br />

Kin<strong>de</strong>r, die von einem Gott/Heiligen<br />

wie<strong>de</strong>r herausgezogen <strong>und</strong> zusammengefügt wer<strong>de</strong>n,<br />

zieht sich durch die Mythologie vieler Völker.<br />

Eine schöne Bescherung.<br />

SEITE 34<br />

STRECKENLÆUER NR. 16


Es lohnt sich, Hänsel <strong>und</strong> Gretel – Hungersnot<br />

<strong>und</strong> Knusperhaus, Tod <strong>de</strong>r Hexe im euer – noch<br />

einmal zu lesen. Und auch das Märchen vom<br />

Machan<strong>de</strong>lbaum, hier im Zeitraffer: Die Stiefmutter<br />

köpft <strong>de</strong>n Stiefsohn mit <strong>de</strong>m schweren Deckel<br />

einer Truhe, sein <strong>Kopf</strong> fällt unter die Äpfel, bobbing<br />

for apples, dann setzt ihn die Stiefmutter –<br />

wie die Schä<strong>de</strong>l in Entremont <strong>und</strong> Roquepertuse,<br />

wie die <strong>Kürbis</strong>se auf amerikanischen Verandas, wie<br />

die Rüben in Luxemburg – vor das Haus, die<br />

Schwester ohrfeigt ihn, <strong>de</strong>r <strong>Kopf</strong> fliegt runter, <strong>de</strong>r<br />

Vater kriegt <strong>de</strong>n Körper zum Mittagessen serviert,<br />

es mun<strong>de</strong>t ihm prächtig. Auf tritt ein magischer<br />

Vogel <strong>und</strong> <strong>de</strong>r magische Baum, das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geschichte:<br />

Tod <strong>de</strong>r Stiefmutter, Wie<strong>de</strong>rauferstehung<br />

<strong>de</strong>s Sohnes, Reichtum für die Überleben<strong>de</strong>n. Wenn<br />

das kein Trick-or-treat-, Trick-and-treat-Märchen<br />

ist. Himmel <strong>und</strong> Hölle heißt das Spiel.<br />

Den lieben Kleinen wur<strong>de</strong> <strong>und</strong> wird übel mitgespielt<br />

in <strong>de</strong>n heiligen Nächten.<br />

Pixy Stix<br />

Zwei To<strong>de</strong>sfälle h<strong>ab</strong>en Halloween in Amerika<br />

<strong>de</strong>n Stempel aufgedrückt: 1970 starb ein 5jähriger<br />

Bub; er hatte seinem Onkel ein Stück Schoko<strong>la</strong><strong>de</strong><br />

stibitzt, das mit Heroin versetzt war.<br />

1974 starb ein acht Jahre alter Junge an einer<br />

B<strong>la</strong>usäurevergiftung. Er hatte Pixy Stix gegessen,<br />

die ihm sein eigener Vater zugesteckt hatte. Der<br />

Mann hatte eine Lebensversicherung über 20.000<br />

Dol<strong>la</strong>r auf seine bei<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r <strong>ab</strong>geschlossen;<br />

auch bei seiner Tochter fand die Polizei vergiftete<br />

Süßigkeiten.<br />

Seit<strong>de</strong>m herrscht in <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten<br />

eine Sicherheitsparanoia an Halloween. Man<br />

wünscht sich nicht nur »Happy Halloween«, son<strong>de</strong>rn<br />

vor allem »Safe Halloween«. Vor <strong>de</strong>m historischen<br />

<strong>und</strong> mythischen Hintergr<strong>und</strong> Halloweens<br />

ein Nonsense, grad so, als wür<strong>de</strong> man sich »Traurige<br />

Weihnachten« o<strong>de</strong>r »Ostern ohne Eier« wünschen.<br />

Greg Bebrack ist Sergeant bei <strong>de</strong>r Polizei in<br />

Indianapolis. Er sitzt im Polizeihochhaus <strong>de</strong>r Stadt<br />

hinter einem klotzigen Schreibtisch <strong>und</strong> erläutert<br />

das Sicherheitsprogramm <strong>de</strong>r Polizei für die Halloweennacht.<br />

Zwar ist in Indianapolis noch nie etwas<br />

Ernsthaftes passiert an Halloween. Die Angst<br />

ist größer als sie sein müsste. Man will sich hinterher<br />

keine Vorwürfe machen <strong>la</strong>ssen. Die Polizei<br />

hat ein Bürgertelefon eingerichtet, das Ratschläge<br />

an besorgte Eltern gibt, <strong>und</strong> sie gibt Tipps auf<br />

einem lugb<strong>la</strong>tt für die kleinen Trick-or-treat-Gespenster,<br />

die unterwegs sein wer<strong>de</strong>n:<br />

Wir raten <strong>de</strong>n Eltern, ihre Kin<strong>de</strong>r sollen helle<br />

Klei<strong>de</strong>r anziehen, wenn sie auf die Straße gehen; die<br />

Klei<strong>de</strong>r sollen kurz sein, damit sie nicht stolpern. Ein<br />

paar Rückstrahler auf <strong>de</strong>n Klei<strong>de</strong>rn wären auch gut,<br />

dann können die Autofahrer sie besser sehen. Die<br />

Kin<strong>de</strong>r sollen durch ihre Masken hindurch gute Sicht<br />

h<strong>ab</strong>en. Die Erwachsenen sollen die Kin<strong>de</strong>r begleiten.<br />

Das Trick-or-treat soll zwischen 5 <strong>und</strong> 7 Uhr <strong>ab</strong>ends<br />

stattfin<strong>de</strong>n, ziemlich früh also, da ist es noch nicht<br />

so dunkel; auf keinen all sollte noch jemand nach<br />

9 Uhr <strong>ab</strong>ends unterwegs sein. Die Kin<strong>de</strong>r sollten in<br />

<strong>de</strong>r Nachbarschaft bleiben, die<br />

sie gut kennen, wo sie die Leute<br />

kennen, wo die Eltern die Bewohner<br />

kennen. Sie sollten auf<br />

die Autos achten. Und nur Süßigkeiten<br />

annehmen, die noch<br />

eingepackt sind. Zu Hause sollte<br />

man sich die Süßigkeiten genau<br />

ansehen <strong>und</strong> wenn es damit<br />

Probleme gibt, unsere Hotline<br />

anrufen. Das gilt auch für<br />

<strong>de</strong>n all, dass Sie irgen<strong>de</strong>twas<br />

Verdächtiges beobachten.<br />

Alles durchorganisiert, alles<br />

im Griff. Bloß, das Hauptproblem,<br />

das ist schwierig zu<br />

lösen. Denn in einer k<strong>la</strong>ssischen<br />

Autofahrerstadt im<br />

amerikanischen Mittelwesten<br />

sind plötzlich auftauchen<strong>de</strong> ußgänger natürlich<br />

ein Verkehrshin<strong>de</strong>rnis allererster Ordnung. Wo es<br />

kaum Bürgersteige gibt <strong>und</strong> mehr Autos als Menschen,<br />

wo man auch kürzeste Distanzen fährt <strong>und</strong><br />

nicht geht, da leben kleine ußgänger gefährlich.<br />

Zumal wenn auch die Erwachsenen Gespensterpartys<br />

feiern <strong>und</strong> was trinken:<br />

Ganz k<strong>la</strong>r, was <strong>de</strong>n Straßenverkehr anbe<strong>la</strong>ngt,<br />

da müssen wir extra Streifenwagen draußen h<strong>ab</strong>en.<br />

Es sind viel mehr Kin<strong>de</strong>r unterwegs an <strong>de</strong>m Abend<br />

als normal. Wir wollen, dass sie sicher von Tür zu<br />

Tür gehen <strong>und</strong> die Straßen überqueren können. Und<br />

außerhalb von Indianapolis, da wur<strong>de</strong> auch an <strong>de</strong>n<br />

Süßigkeiten herumgepfuscht o<strong>de</strong>r Sachen hineingesteckt<br />

o<strong>de</strong>r die Kin<strong>de</strong>r bekamen gefährliche Sachen<br />

zugesteckt. Wir tun alles, damit das in Indianapolis<br />

nicht passiert. Wir hatten solche Probleme in <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />

noch nicht, <strong>ab</strong>er wir wollen alles dafür<br />

tun, ein sicheres Halloween hier in dieser Stadt zu<br />

h<strong>ab</strong>en.<br />

Die schlimmen Sachen – Rasierklingen in Äpfeln,<br />

Gift in <strong>de</strong>r Schoko<strong>la</strong><strong>de</strong> – die kennt auch <strong>de</strong>r<br />

Polizist nur aus Zeitung <strong>und</strong> ernsehen. Trotz<strong>de</strong>m:<br />

Safe Halloween ist ein Muss. An ganz besorgte Eltern<br />

verteilen sogar Polizisten <strong>und</strong> Sheriffs beson<strong>de</strong>rs<br />

kontrollierte Süßigkeiten, <strong>de</strong>nn: We want it to<br />

be a safe night.<br />

NACHRICHT (AP): Mit einem schaurigen<br />

To<strong>de</strong>sfall hat ein Maskenball im US-<br />

Bun<strong>de</strong>sstaat Texas geen<strong>de</strong>t. Die örtliche<br />

Polizei teilte mit, einer <strong>de</strong>r Gäste<br />

h<strong>ab</strong>e auf einem Halloweenfest in <strong>de</strong>r<br />

Stadt Corpus Christi seine eigene<br />

Hinrichtung simuliert <strong>und</strong> sich d<strong>ab</strong>ei<br />

tatsächlich stranguliert. Der 31jährige<br />

William Chadwick h<strong>ab</strong>e eine Monstermaske<br />

aufgesetzt <strong>und</strong> sich mit zwei Seilen<br />

aufgehängt. Das eine hielt seinen<br />

STRECKENLÆUER NR. 16 SEITE 35


<strong>Kopf</strong> <strong>ab</strong> in Saarbrükken:<br />

Saarbahnwerbung<br />

1997<br />

Körper, das an<strong>de</strong>re<br />

hatte er um <strong>de</strong>n<br />

Hals gelegt <strong>und</strong><br />

simulierte <strong>de</strong>n<br />

tödlichen Strang.<br />

Die Polizei vermutet,<br />

dass sich <strong>de</strong>r<br />

Knoten <strong>de</strong>s einen<br />

Seils löste, woraufhin<br />

sich die<br />

Schlinge <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren<br />

zuzog. Im<br />

Trubel <strong>de</strong>s Halloweenfestes<br />

hätten<br />

die an<strong>de</strong>ren Partygäste<br />

zunächst<br />

nicht bemerkt, dass<br />

Chadwick auf einmal<br />

tatsächlich am<br />

Strick hing. Je<strong>de</strong><br />

Hilfe für Chadwick<br />

sei zu spät gekommen.<br />

Susan sitzt auf <strong>de</strong>r<br />

Veranda ihres kleinen<br />

Holzhauses. Sie hat 2<br />

<strong>Kürbis</strong>se besorgt. Die wer<strong>de</strong>n jetzt ausgenommen,<br />

Gesichter reingeschnitzt. Susan hat bereits einen<br />

Deckel <strong>ab</strong>geschnitten <strong>und</strong> wühlt mit <strong>de</strong>r Hand im<br />

<strong>Kürbis</strong>. ühlt sich glitschig an, schleimig, klebrig,<br />

eingeweidig. Aber es muss sein: Den Geistern soll<br />

heimgeleuchtet wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>n <strong>Kopf</strong> wird eine Kerze<br />

gestellt, mit <strong>de</strong>m erleuchteten <strong>Kürbis</strong>. Susan<br />

nimmt <strong>de</strong>n <strong>Kopf</strong> aus, holt das Gehirn heraus, um<br />

es zu essen, meint sie. Und bereitet die Gesichtszüge<br />

vor, zeichnet das Spukgesicht vor; dann braucht<br />

sie mein Spezialmesser – ma<strong>de</strong> in Taiwan, 99 Cent<br />

– um die eckigen Augen, Nase <strong>und</strong> Zähne herauszuschnei<strong>de</strong>n.<br />

Ich schnippele mit <strong>de</strong>m Skalpell an<br />

ihm herum, kommentiert sie, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Wind rauscht<br />

<strong>und</strong> die Blätter wirbeln darin. Und Susan schnei<strong>de</strong>t<br />

auch noch einem zweiten <strong>Kürbis</strong> <strong>de</strong>n <strong>Kopf</strong> auf,<br />

mehr Eingewei<strong>de</strong>, mehr Gehirn, das Messer wird<br />

glitschig, die Schnei<strong>de</strong> flutscht aus <strong>de</strong>m Griff, <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>r Griff flutscht aus <strong>de</strong>r Hand. Kurze Reparatur,<br />

dann wird ein zweites Gesicht geschnitzt, eine Kerze<br />

in <strong>de</strong>n <strong>Kürbis</strong> gestellt.<br />

re<strong>und</strong> Lenen sitzt im Haus <strong>und</strong> meint: Die Leute<br />

versuchen, ein böses Gesicht o<strong>de</strong>r ein urcht einflößen<strong>de</strong>s<br />

Gesicht hinzukriegen, durch das Licht im<br />

<strong>Kürbis</strong> kann man das schreckliche Gesicht nachts<br />

sogar besser sehen als am Tage. Was noch interessant<br />

ist: Wenn man am Gesicht vorbeiblickt ins Innere<br />

– dann ist da nichts. Viele Halloweengestalten<br />

– Schreckensfiguren, böse Charaktere – h<strong>ab</strong>en was<br />

am Gehirn – es ist vom Bösen schlechthin übernommen<br />

wor<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r man sagt, ein Krimineller, ein<br />

Dieb, sei ein ganz normaler Mensch, <strong>ab</strong>er etwas h<strong>ab</strong>e<br />

von seinem Gehirn Besitz ergriffen, das Böse, die<br />

Mächte <strong>de</strong>r insternis h<strong>ab</strong>en ihn übernommen, er ist<br />

ein Zombie, eine Mumie.<br />

Just nothing left<br />

Die ersten Kin<strong>de</strong>r h<strong>ab</strong>en sich auf <strong>de</strong>n Weg gemacht,<br />

suchen nach <strong>de</strong>m Candy-Gral. Sie kommen<br />

ans Haus von Lenen <strong>und</strong> Susan, <strong>de</strong>nn sie h<strong>ab</strong>en die<br />

zwei <strong>Kürbis</strong>se gesehen, links <strong>und</strong> rechts auf <strong>de</strong>r<br />

Veranda. Wo <strong>Kürbis</strong>se stehen, ist ein Mensch, <strong>de</strong>r<br />

Süßigkeiten verteilt. Die Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>de</strong>s<br />

<strong>Kopf</strong>es. Eine kleine Hexe kommt durch die Herbstblätter<br />

angestratzt, sie hat einen Hexenkessel in<br />

<strong>de</strong>r Hand, halb gefüllt mit Candy, <strong>und</strong> sie sagt das<br />

Richtige: Trick or treat?<br />

Susan <strong>und</strong> Lenen verteilen ihre Vorräte an<br />

Vampiraugen <strong>und</strong> an Schokoriegeln.<br />

Ich <strong>la</strong>sse sie allein mit <strong>de</strong>n kleinen Gespenstern,<br />

die ihre üllhörner auffüllen wollen. Denn<br />

ich bin ver<strong>ab</strong>re<strong>de</strong>t. Mit Brenda <strong>und</strong> Norris, bei<strong>de</strong><br />

so um die 50, drei erwachsene Kin<strong>de</strong>r. Sie wohnen<br />

in einer Parallelstraße. Sie h<strong>ab</strong>en eine richtige Instal<strong>la</strong>tion<br />

vorbereitet für die Kin<strong>de</strong>r an Halloween.<br />

Ein wenig Erntedankfest, ein wenig Horror:<br />

Brenda beschreibt die Instal<strong>la</strong>tion: Wir h<strong>ab</strong>en<br />

hier einen Heuballen, echte Maiskolben, die mein<br />

Mann aufgehängt hat, wir h<strong>ab</strong>en mehrere <strong>Kürbis</strong>se,<br />

wir h<strong>ab</strong>en eine Hexe mit ihrem Kessel, eine Gir<strong>la</strong>n<strong>de</strong><br />

mit <strong>Kürbis</strong>lichtern aus P<strong>la</strong>stik, da ist ein Gr<strong>ab</strong>stein<br />

– zwei Hän<strong>de</strong> kommen heraus aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> -,<br />

dann Spinnweben <strong>und</strong> Skelettlichter, wir wer<strong>de</strong>n<br />

Schwarzlicht anzün<strong>de</strong>n, da sind noch mehr Maiskolben,<br />

ja, das ist es so ungefähr.<br />

Aber eben nur ungefähr, <strong>de</strong>nn da ist noch gespenstische<br />

Musik aus <strong>de</strong>m Kassettenrecor<strong>de</strong>r, <strong>und</strong><br />

auf einem Stuhl sitzt eine mit Stroh ausgestopfte<br />

Vogelscheuche. Die hält einen Teller mit Süßigkeiten<br />

in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n.<br />

Bevor die Kin<strong>de</strong>r kommen, erklärt mir Brenda,<br />

dass Halloween heutzutage keinen Spaß mehr<br />

macht. Zu viel Leute, sagt sie, seien fies zu <strong>de</strong>n<br />

Kin<strong>de</strong>rn, man müsse höllisch aufpassen. Und sie<br />

kennt doch tatsächlich jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m übel mitgespielt<br />

wur<strong>de</strong>: Eines <strong>de</strong>r Mädchen aus meinem Bekanntenkreis<br />

hatte eine Rasierklinge im Apfel. Sie<br />

schnitt <strong>de</strong>n Apfel auf <strong>und</strong> fand die Rasierklinge. Besser<br />

<strong>de</strong>n Apfel aufschnei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nke ich, als sich <strong>de</strong>n<br />

M<strong>und</strong> in Stücke schnei<strong>de</strong>n. Es gibt schon gemeine<br />

Leute. Aber wir machen das hier je<strong>de</strong>s Jahr, um uns<br />

zu amüsieren mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn, wir sind nicht gemein.<br />

Es fängt an zu regnen. Aber immer noch – in<br />

<strong>de</strong>r Dämmerung mittlerweile – sind verklei<strong>de</strong>te<br />

Kin<strong>de</strong>r unterwegs, die ihr Trick-or-treat aufsagen.<br />

Ein kleiner Junge – ein ängstlich schauen<strong>de</strong>r Power-Ranger<br />

– kommt durch Regen <strong>und</strong> schaurige<br />

Musik auf <strong>de</strong>n improvisierten riedhof von Brenda<br />

<strong>und</strong> Norris zu. Nimm dir ein Stück Schoko<strong>la</strong><strong>de</strong>,<br />

for<strong>de</strong>rt ihn Brenda auf.<br />

Das Kind geht auf die Vogelscheuche zu, nimmt<br />

sich sein Stück Candy – <strong>und</strong> die Vogelscheuche<br />

streckt die Hand aus <strong>und</strong> brüllt das Kind an: I will<br />

get you!, Schreck <strong>und</strong> Weinen, <strong>und</strong> die Erwachsenen<br />

von allen Seiten: War doch nur Spaß, sagen sie<br />

<strong>und</strong> <strong>la</strong>chen; tut mir leid, sagt Norris zur Mutter <strong>de</strong>s<br />

SEITE 36<br />

STRECKENLÆUER NR. 16


Kin<strong>de</strong>s; das ist schrecklich, sagt die Vogelscheuche;<br />

Junge, Junge, sagt Brenda; er hat die Schoko<strong>la</strong><strong>de</strong><br />

hinter sich geworfen vor Schreck <strong>und</strong> hat sofort<br />

geweint; ich will doch nicht, dass sie weinen, sagt<br />

sie; alles <strong>la</strong>cht.<br />

Brendas erwachsene Tochter hat alles auf Vi<strong>de</strong>o<br />

aufgenommen. In <strong>de</strong>r Vogelscheuche steckt ihr<br />

Mann, er will <strong>de</strong>n ganzen Abend da sitzen <strong>und</strong> die<br />

Kin<strong>de</strong>r erschrecken.<br />

Was <strong>ab</strong>er nicht k<strong>la</strong>ppt, <strong>de</strong>nn es beginnt zu regnen.<br />

Norris <strong>und</strong> ich stellen uns unter das Vordach,<br />

auf das <strong>de</strong>r Regen hämmert.<br />

Es geht ihm nicht so beson<strong>de</strong>rs, erzählt Norris.<br />

Er wird gera<strong>de</strong> umgeschult, hatte einen Arbeitsunfall:<br />

In <strong>de</strong>r Möbelschreinerei ist er mit <strong>de</strong>m Arm in<br />

eine Maschine geraten, zerrissene Muskeln, gebrochene<br />

Knochen, <strong>ab</strong>er <strong>la</strong>ngsam wird es wie<strong>de</strong>r.<br />

Mehr als 5 Pf<strong>und</strong> kann er mit <strong>de</strong>m linken Arm nicht<br />

heben. Jetzt lernt er am Computer zu schreinern,<br />

alles per Knopfdruck <strong>und</strong> automatisch, die Säge<br />

gehorcht <strong>de</strong>m Computer.<br />

Brenda <strong>und</strong> Norris machen mit beim Neighborhood<br />

crime watch, sie halten die Augen auf <strong>und</strong><br />

sehen sich rem<strong>de</strong> genau an. Denn die 10. Straße<br />

ist nicht weit weg, <strong>und</strong> bis Downtown ist es auch<br />

nicht weit, <strong>und</strong> auf <strong>de</strong>r 10. Straße Ost, da sind all<br />

die Bars, da gibt es alles: Carjackings, Schießereien,<br />

Messerstechereien, Mor<strong>de</strong>, Raube.<br />

Brenda wirft einen Scanner an, <strong>de</strong>n Polizeifunk;<br />

<strong>de</strong>r Scanner sucht sich Polizei <strong>und</strong> euerwehr.<br />

Im hinteren Teil <strong>de</strong>s Wohnzimmers sieht sich<br />

Brendas Tochter das frisch gedrehte Halloweenvi<strong>de</strong>o<br />

an.<br />

Dieser Scanner läuft jetzt die ganze Nacht durch,<br />

sagt Brenda, eben weil Halloween ist. Das Gemeinste,<br />

was Menschen einan<strong>de</strong>r antun, das tun sie Kin<strong>de</strong>rn<br />

an; <strong>und</strong> dann die Raube, die Brän<strong>de</strong>, die Mor<strong>de</strong>,<br />

die ganze Nacht geht das so. Du weißt erst was<br />

Probleme sind, wenn du einen Scanner hast, <strong>und</strong> das<br />

hier die ganze Nacht anhörst. Der Scanner quäkt<br />

irgen<strong>de</strong>twas von Crashsite, wir überhören es alle:<br />

Die Polizisten re<strong>de</strong>n von einer Absturzstelle. Eine<br />

Stun<strong>de</strong> später berichten alle ernsehsen<strong>de</strong>r darüber:<br />

Bei Chicago ist ein lugzeug <strong>ab</strong>gestürzt, lugnummer<br />

4184 von Indianapolis nach Chicago. Das<br />

Pendlerflugzeug ist im strömen<strong>de</strong>n Regen in ein<br />

<strong>ab</strong>geerntetes eld gestürzt <strong>und</strong> in winzige Teile<br />

zerbrochen. 68 Tote, keine Überleben<strong>de</strong>n, just nothing<br />

left.<br />

Tragisches Halloween, wird am nächsten Tag<br />

die Zeitung »USA today« sch<strong>la</strong>gzeilen. Aber davon<br />

wissen wir noch nichts. Norris macht dieweil Pläne<br />

für zukünftige Halloweenfeiern: ür nächstes<br />

Jahr hat er sich was Beson<strong>de</strong>res vorgenommen. Da<br />

will er an Halloween auf <strong>de</strong>n riedhof vor seinem<br />

Haus einen Sarg stellen. Der wird sich öffnen mit<br />

<strong>la</strong>utem Knarren, <strong>und</strong> heraus kommt ein Leichnam,<br />

wenn die Kin<strong>de</strong>r ihre Bonbons nehmen. Der gewünschte<br />

Effekt:<br />

Die wer<strong>de</strong>n sich in die Hosen machen, wir wer<strong>de</strong>n<br />

sie zu To<strong>de</strong> erschrecken. c<br />

STRECKENLÆUER NR. 16 SEITE 37

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